See you soon - Kristin Lukas - E-Book

See you soon E-Book

Kristin Lukas

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  • Herausgeber: TWENTYSIX
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Die Gucci-Gang nennen sich vier Soziologie-Studierende, deren ganzes Streben auf Klicks, Likes und Follower im Netz gerichtet ist. Zwei von ihnen sterben, beide wurden vergiftet. Kommissarin Sudhoff sucht den Mörder im Uni-Umfeld. Vor allem Zoe, Doktorandin an der Berliner Uni, scheint mehr zu wissen, als sie zugibt. Zoe hat tatsächlich ein Geheimnis, das sie unbedingt hüten möchte, denn davon hängt ihre Karriere ab. Während sie versucht, ihre eigenen Spuren vor der Polizei zu verwischen, nimmt ein Unbekannter Kontakt zu ihr auf. Ein Student? Ein Spinner? Erst nach und nach erkennt Zoe, dass der anonyme Schreiber mehr über die Todesfälle weiß, als ihr lieb ist.

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Seitenzahl: 328

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Die Autorin

Kristin Lukas, geboren 1976 in Hagen, studierte Architektur in Berlin, Paris und Zürich, bevor sie an der Universität St. Gallen ihre Dissertation schrieb. Parallel zu ihrer Beratungstätigkeit in der freien Wirtschaft arbeitet sie als Professorin für Immobilienmanagement und Projektentwicklung.

Als Thrillerautorin hat sie sich mit der Marie-Wagenfeld-Trilogie Das Letzte, was du siehst, Der Zorn, der dich trifft und Das Böse, das du bist einen Namen gemacht.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Nachwort

1

»Als wir noch zusammen waren, war er nicht so. Da war er ganz anders. Ich erkenne ihn nicht wieder. Die Leute, mit denen er jetzt unterwegs ist, sind die reinsten Yuppies. Sie sind gerade alle zusammen in Dubai. Das ist doch nicht er!«

Zoe stößt sich mit einem Ruck vom Tresen ab, erträgt den Herzschmerz von ihrem unbekannten Nebenmann nicht mehr, dem die Jeans so tief auf den Hüften sitzt, dass seine Pospalte sichtbar ist. Sie hat einen bösen Streit mit Paul hinter sich, was der Grund dafür ist, dass sie sich jetzt bereits ihren vierten Drink bestellt hat. Mit dem ergatterten Havana Club Cola in den Händen kehrt sie zurück auf die Tanzfläche. Der Club ist wie jeden Mittwoch um diese Zeit proppenvoll. Das Stroboskop flimmert, die Bässe wummern, automatisch reagieren ihre Füße auf die Musik. Sie ist eine der wenigen, die sich an der Bar hat bedienen lassen. Auf den meisten Rücken der rhythmisch zuckenden Körper baumeln Plastikflaschen an bunten Kordeln, aufgefüllt mit Leitungswasser. Der Spaßfaktor wird durch etwas anderes als Alkohol erhöht. Das ist an den erweiterten, flimmernden Pupillen deutlich erkennbar.

Zoe schließt die Augen und folgt den Klängen des DJs. Die Luft ist stickig, der Sauerstoff nach der langen Nacht fast verbraucht. Durch die vernagelten Fenster des alten Wasserwerks dringen erste Strahlen des Morgenlichts. Von der frühen Stunde unbeeindruckt, feiert die Meute ekstatisch weiter, bewegt sich wie eine homogene Masse im fiebrigen Licht. Das ist ihre Welt. Dicht gedrängt inmitten dieser Leiber, unter lauter Fremden. Zoe liebt die Anonymität, sie gibt ihr Sicherheit.

Im nächsten Moment trifft sie ein Ellenbogen hart im Nacken. Sie gerät ins Stolpern, fällt auf ihr Gegenüber und stützt sich mit einer Hand an einem verschwitzen, nackten Oberkörper ab. Der Typ reagiert, greift blitzschnell nach ihrem Handgelenk und bewahrt sie vor einem Sturz. Nun steht Zoe auf sicherem Boden, jedoch ist ihr Shirt über und über mit brauner Flüssigkeit durchtränkt.

Sie richtet sich auf, nass und klebrig und erstaunlicherweise mit noch heilem Glas in der Hand. Ihr Blick schweift auf der Suche nach ihrem Retter durch die Menge, doch sie sieht nur noch einen tätowierten Rücken in der Masse des zuckenden Partyvolks verschwinden. Vom Übeltäter ist erst recht keine Spur zu erkennen.

Im Schwarzlicht des Toilettenraums wäscht sie ihr neongelbes Shirt aus. Sie blickt in den Spiegel, den gleich mehrere Sprünge zieren, und kneift die Augen zusammen. Ihre Wimperntusche ist verlaufen und dünne Strähnen ihres blonden Haars kleben am Hals. Sämtliche Versuche, es länger wachsen zu lassen als schulterlang, sind kläglich gescheitert. Es ist zu fusselig.

Krachend fliegt die Tür zu den Waschräumen auf und ein knutschendes Pärchen stolpert herein. Die Hände unter dem T-Shirt des anderen verschwinden die beiden in einer der WC-Kabinen. In ihrer hitzigen Erwartung schenken sie Zoe keinen Blick. Nehmen nicht wahr, dass sie halb nackt ist. Zoe sieht wieder in den Spiegel und zuckt ebenso desinteressiert die Schultern. Ihre Brüste sind so winzig, dass sie nie einen BH trägt.

Als Zoe die schwere Metalltür aufstößt und das ehemalige Wasserwerk verlässt, fröstelt sie. Die warme Juliluft kann der Feuchte ihres Oberteils nicht genug entgegensetzen. Sie legt sich das schwere Kettenschloss ihres BMX-Rads um den Bauch, nun fühlt es sich an, als hinge zudem ein kalter Aal um ihren Körper.

Kraftvoll tritt sie in die Pedale und fährt die Auffahrt des Berliner Clubs hinunter. Auf der Straße angelangt, kommt ihr mit lautem Martinshorn ein Krankenwagen entgegen. Eine Überdosis, denkt sie. Es wäre nicht die erste.

2

Zoe hat gerade ihr Cola-Shirt gegen eine weiße Bluse getauscht und ihr dünnes Haar zu einem Zopf gebunden, als die Tür des Büros aufschwingt. Alexander Steinfurt predigt eine Politik der offenen Tür, was vor allem für die Bürotüren seiner Mitarbeiter gilt. Von seinem Schwung überrollt, lässt sich Zoe in ihren Schreibtischstuhl fallen.

»Frau Mandy Meister«, beginnt der Soziologieprofessor der Berliner Humboldt-Universität förmlich und Zoe verzieht demonstrativ das Gesicht wegen ihres verhassten Namens. Mandy nennt sie sich Jahren nicht mehr. Sie hat sich für Zoe entschieden, als sie in der zwölften Klasse im Philosophieunterricht erfahren hat, dass es die altgriechische Bezeichnung für Leben ist.

»Haben Sie die Notenliste für den Grundkurs I schon erstellt? Sind die Durchfallquoten wie im letzten Se…« Steinfurt rümpft die Nase. »Haben Sie hier geraucht?«

»Nein, auf keinen Fall!«, entrüstet sich Zoe.

»Herrje, Sie haben sich wieder die Nacht um die Ohren geschlagen und sind direkt ins Büro gekommen.«

»Das schon eher«, gibt Zoe zu, ohne Spur eines schlechten Gewissens.

Der Professor kann kann ihre Begeisterung für lange Clubnächte nicht teilen und zieht die Stirn kraus. »Wie dem auch sei. Bitte bereiten Sie die Listen für das Prüfungsamt …«

Wieder kommt Steinfurt nicht zum Abschluss seines Satzes. Hinter ihm klopft jemand an die Türzarge. Obwohl die Tür offen steht, kann Zoe die Person nicht erkennen. Sie wird völlig durch die kräftige Statur des Professors verdeckt. Eine Größe, die ihm in jungen Jahren als Handballspieler zugutegekommen ist. Weniger behände als noch zu seinen sportlichen Zeiten, fährt der Professor herum.

»Sudhoff. Christine Sudhoff«, hört Zoe eine feste Stimme, noch immer ohne ein Gesicht zu sehen. »Kriminalkommissariat Berlin. Ich suche Frau Meister. Mandy Meister. Bin ich hier richtig?«

Jetzt kann Zoe nicht länger auf ihrem Stuhl verharren. Sie springt auf und schiebt sich an Steinfurt vorbei. Als sie vor der Kommissarin steht, verkündet sie: »Ja, das bin ich.«

Ein Moment der Stille entsteht. Zoe wartet auf eine Erklärung, doch die Kommissarin gibt ihr keine. Mustert sie still. Sie überragt Zoe nur um ein, zwei Zentimeter, sodass sich die beiden von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Zoe wird unbehaglich. Was soll die Taxierung dieser fremden Frau? Aber so fremd erscheint sie ihr gar nicht. Sudhoff ist älter und doch erkennt Zoe Gemeinsamkeiten. Die Kommissarin hat die gleiche schmale Figur wie sie selbst, die nur an der Hüfte ein wenig Kurven formt. Das gleiche dünne blonde Haar, was sie sicher oft nach dem Aufstehen zur Weißglut bringt. Und selbst die Augen sind durch ein ähnliches wässriges Blau wie das ihre gekennzeichnet. Zoe lässt ihren Blick weiterwandern und bemerkt, dass das Alter Spuren zeigt. Auf den Händen der Kommissarin zeichnen sich erste Altersflecke ab.

Zoes Chef räuspert sich, kann die Stille nicht länger aushalten. »Also, wenn ich mich vorstellen darf. Professor Steinfurt ist mein Name.« Dann streckt er seine Hand aus.

Noch eine weitere Sekunde vergeht, bis die Kommissarin sich aus ihrer Starre löst und völlig unverblümt und mit frischem Elan die Hand ergreift. »Freut mich!« Ihr Gesicht strahlt, als würde sie es ernsthaft so meinen. Dann senkt sie ihren Blick wieder und richtet ihn auf Zoe: »Aber noch mehr freut es mich, Sie zu treffen.« Jetzt ist es die Hand der Kommissarin, die die Luft durchschneidet.

Zoe ergreift sie zögerlich. Als sich die Finger der Kommissarin um ihre schließen, spürt sie eine Ambivalenz. Die dünne, pergamentartige Haut steht ganz im Gegensatz zu dem kräftigen Händedruck.

»Darf ich mich setzen?« Frau Sudhoff weist in Richtung eines Besucherstuhls, der allerdings noch von einem Stapel Klausuren belegt ist.

»Sicher«, meldet sich Steinfurt beflissentlich zu Wort und gibt den Weg frei.

Zoe verfrachtet den Papierstapel auf eine freie Stelle ihres Schreibtischs. Dann geht sie zurück zu ihrem eigenen Platz, jedoch nicht ohne sich von der Tischplatte ein Radiergummi zu fischen. Das Spiel mit dem weichen Material beruhigt sie.

»Sie sind Tutorin für Statistik!«

Am Ende des Satzes der Kommissarin steht hörbar ein Ausrufezeichen. Dennoch fühlt Zoe sich genötigt, mit einem verhaltenen »Ja« zu antworten.

Trotz der Bestätigung zeigt die Kommissarin keine Reaktion. Begnügt sich erneut damit, Zoe mit ihren blassblauen Augen zu taxieren. In Zoe wächst das Unbehagen. Was will die Polizei von ihr?

Erst hält Zoe der Begutachtung stand, dann weicht sie dem Blick scheu aus und nach weiteren Sekunden regt sich Widerstand in ihr. Herausfordernd fragt sie: »Brauchen Sie Nachhilfe?«

Auf dem Gesicht der Kommissarin erscheint ein mildes Lächeln, als hätte sich ein Kind vor ihr mit Eis bekleckert. »Nein, nein«, schüttelt sie den Kopf, sodass sich eine blond gefärbte Strähne aus ihrem Zopf löst. »Da ist jede Mühe vergeblich.« Dann wird sie wieder ernst. »Aber jemand anderes, der hat Ihre Hilfe gesucht.«

»Und wer?« Zoes innere Aufregung hat sich nicht gelegt.

»Das weiß ich nicht«, antwortet die Kommissarin und zieht dabei die Stirn kraus. »Ich hoffe, Sie können es mir sagen.«

Zoe kneift die Augen zusammen, der Radiergummi in ihrer Hand dreht sich. »Aha«, stößt sie aus. »Und wie soll das gehen?«

Die Kommissarin zieht aus ihrem Jackett ein Smartphone, tippt auf das Display und streckt es Zoe entgegen. Steinfurt, der den Raum nicht verlassen hat, tritt einen Schritt näher, verrenkt sich über dem Schreibtisch und kann doch keinen Blick erhaschen. Die Kommissarin kümmert das wenig. Ungerührt verharrt das Handy direkt vor Zoes Gesichtsfeld.

»Und? Kennen Sie die Person?«

Zoes Augen verengen sich jetzt zu richtigen Schlitzen, um die Frau auf dem Foto zu fokussieren. Sie mag um die zwanzig sein, auch wenn ihr Outfit sie älter wirken lässt. Sie trägt eine bestickte Bluse, dazu eine Perlenkette. Es fehlt nur die Bouclé-Jacke. Queen-Mum-Chic, wie ihn Zoe getauft hat. Angesagt unter ihren Studentinnen. Im Kontrast zur konservativen Bekleidung sind die blonden, langen Haare der jungen Dame zerzaust und dreckig vom Schotterboden, auf dem sie liegt. Auch in ihrem Gesicht zeigen sich Spuren vom Straßenstaub. Die Wimperntusche ist verwischt und graue Schlieren überziehen die Wangen. Zoe reckt sich noch ein paar Millimeter vor, sodass ihr Gesicht nur eine halbe Armlänge vom Handy entfernt ist. Nun kann sie die starren Pupillen der Frau erkennen. Die Lider wurden ihr noch nicht geschlossen.

»Und?«, hörte sie eine entfernte Stimme und merkt erst jetzt, wie fest sie während ihrer Beobachtung den Radiergummi in ihrer Hand zusammengepresst hat. Die Haut um ihre Fingerknöchel ist ganz weiß.

»Und?«, wiederholt Frau Sudhoff.

»Ist sie …, ist sie tot?«, fragt Zoe zaghaft.

Die Kommissarin nickt und will ihre Frage wiederholen, doch Zoe kommt ihr rasch zuvor: »Nein, ich kenne sie nicht.«

Wegen Zoes Verneinung wird jetzt der Professor interessant. Mit Schwung dreht sich die Kommissarin auf dem Stuhl und richtet das Display in seine Richtung. Wie sehr sein Gehirn arbeitet, zeigt die Menge an Falten, die sich auf seiner Stirn bildet. Dann plötzlich glättet sich die Haut. »Aber ja, das ist Frau Wiese. Julia oder Juliane mit Vornamen.«

»Julia Wiese«, stößt Zoe ungläubig aus.

»Also kennen Sie sie doch!«, stellt Frau Sudhoff fest.

»Äh, nein. Nur ihren Namen. Ich habe ihre Klausur korrigiert. Ich habe mir ihre Arbeit gleich zwei Mal angeschaut, denn sie gehört zu denjenigen, die nicht bestanden haben. Da schaue ich ganz genau hin.« Nach einem kurzen Luftzug ergänzt Zoe bitter: »Aber das ist jetzt wohl nicht mehr relevant.«

»Sie hat Sozial- und Wirtschaftswissenschaften studiert«, erklärt Professor Steinfurt von der Seite. »Sie war im siebten Semester. Kurz vor dem Beginn der Bachelorarbeit, obwohl sie ein paar Kurse wiederholen musste.«

Frau Sudhoff kramt in ihrer Jackentasche. Zieht ein gelbes Papier hervor, das auf die Größe eines Bierdeckels zusammengefaltet ist.

Zoe erkennt es sofort. Es handelt sich um die Ankündigung des Statistik-Tutoriums. Julia Wiese hat das ganze Blatt vom Schwarzen Brett entwendet, statt sich, wie vorgesehen, die Mailadresse zu notieren.

»Aber«, fragt Zoe, »hatte sie denn keinen Ausweis dabei? Kein Portemonnaie? Wieso diese Schnitzeljagd?«

»Angesichts dieses malträtierten Zettels sicher eine passende Analogie. Tatsächlich hatte sie nur Bargeld, ein Handy und eben diesen gelben Papierschnipsel bei sich. Das Telefon ist in der Technik. Die Schnitzeljagd ist zwar altmodisch, führt aber doch manchmal – wie man sieht – schnell zum Ziel.« Die Kommissarin ergänzt: »Was können Sie mir zu Julia Wiese sagen?«

»Nicht viel«, äußert sich Steinfurt, der inzwischen an einer Wand lehnt. »Ich glaube, sie kam aus Berlin. Zumindest ließ das ihr Dialekt vermuten.«

»Hatte sie Freunde? Feinde? Gab es Streit unter den Studierenden?«

Steinfurt fährt sich durch das graue Haar. »Keine Ahnung. Ich meine … also, die Studierenden …, nun.« Die Sozialwissenschaft ist sein Metier, weniger die Sozialkontakte seiner Schützlinge. Dann hellt sich seine Miene etwas auf. »Frau Meister, die Clique rund um den Herrn Stoltenbrink. Die kennen Sie doch. Da, mit denen, da war die Wiese auch mit dabei.«

»Stoltenbrink«, wiederholt die Kommissarin spitz und wendet den Blick in Richtung Zoe.

»Auch einer unserer Studierenden. Ebenfalls im siebten Semester. Viktor Stoltenbrink. Aus gutem, oder zumindest aus wohlhabendem Hause. Die Clique bezeichnet sich selbst als Gucci-Gang. Mode, vor allem teure Mode, ist ihnen sehr wichtig.«

»Und Julia Wiese gehörte dazu?« Die wasserblauen Augen von Frau Sudhoff blitzen etwas heller auf.

Zoes Lippen öffnen sich, doch es kommt kein Laut aus ihrem Mund.

Der Professor springt ihr bei: »Ich kenne mich mit Mode nicht aus, aber sie hat definitiv mit dieser Gruppe verkehrt.«

»Notieren Sie mir doch die Namen der Mitglieder dieser Gruppe«, bittet die Kommissarin und schließt direkt an: »Und können Sie mir sonst noch etwas zu Julia Wiese sagen? Oder zu dem Club, dem Wasserwerk, in dem Frau Wiese gestern gewesen ist und vor dessen Toren wir sie gefunden haben?«

Zoe zuckt bei der Nennung des Clubnamens zusammen. Ihre Reaktion wird jedoch von der lautstarken Meldung des Professors überdeckt. »Das Nachtleben ist eindeutig Frau Meisters Metier. Sie ist diejenige am Lehrstuhl, die sich die Nächte um die Ohren schlägt.«

»Sie kennen also den Laden?«

»Ja, sicher«, gibt Zoe zu.

»Verkehren Sie dort öfter?«

Zoe nickt.

»Auch gestern Abend?«

Ein erneutes Kopfnicken.

Die Kommissarin ist aufgebracht. »Wieso sagen Sie das erst jetzt?«

»Aber«, verteidigt sich Zoe, »Sie haben nicht danach gefragt. Und woher soll ich wissen, dass Julia Wiese in der Nähe des Wasserwerks gestorben ist!«

Die Kommissarin atmet tief durch. Der Einwand ist berechtigt. »Haben Sie Frau Wiese dort gesehen?«

Vehement schüttelt Zoe den Kopf.

»Und wann haben Sie die Lokalität verlassen?«

Verlegen räumt Zoe ein: »So gegen sechs, vielleicht halb sieben.« Ihr Chef verdreht die Augen. Davon unbenommen fügt sie hinzu: »Als ich ging, fuhr gerade ein Krankenwagen vor.«

Frau Sudhoff macht sich eine Notiz und wendet sich dann wieder an ihre Gesprächspartner: »Also, Sie haben doch sicher beide eine Visitenkarte. Die hätte ich jetzt gerne.«

»Wieso?«, fragt der Professor in einer Mischung aus Überraschung und Widerwillen.

»Weil das mit Sicherheit nicht unsere letzte Unterredung gewesen ist.«

Als Zoe ihre Karte herüberreicht, fragt sie vorsichtig: »Frau Wiese wurde ermordet, nicht?«

Wieder schaut die Kommissarin tief in Zoes Augen, wieder verfangen sich ihre Blicke. Zoe zuckt mit keiner Wimper.

Im nächsten Moment steckt die Polizistin die Karten ein und verabschiedet sich: »Wie gesagt, das ist nicht unsere letzte Unterredung.«

3

»Bei dir noch alles fresh?«, prustet Viktor hervor und gibt Elias einen deftigen Klaps auf den Hinterkopf. »Flat White mit Hafermilch! Was soll ich damit?« Viktor zeigt verächtlich auf die dampfende Kaffeespezialität in grauem, stilvollem Porzellan. »Verdammt, Mann. Soja! Ich trinke Sojamilch!«

»Mensch, Viks, reg dich ab.« Elias lässt sich auf den weiß lasierten Holzstuhl eines gerade angesagten Cafés in Berlin-Mitte fallen und streicht sich eine blonde Strähne hinter das Ohr. Dadurch sticht sein kahl rasierter Undercut hervor.

»Ihr seid echt voll die Alpha-Kevins«, raunzt Anastasia. Schnappt sich selbst ihren Latte Decaf und lässt sich mit dem Rücken gegen die Wand aus poliertem Sichtbeton fallen.

»Bleib mal cremig, Nasty«, stößt Viktor abfällig aus. Doch sein Ton ist bereits etwas leiser geworden und geht in der Geräuschkulisse des Cafés fast unter. Die glatten Betonflächen sorgen für das Gegenteil einer Akustikdecke und der Schall breitet sich ungemindert aus.

»Was heißt hier locker bleiben. Julia ist seit zwei Tagen tot und ihr zankt euch über einen Scheißkaffee? Nicht euer Ernst, oder?«

Betretenes Schweigen macht sich unter den jungen Leuten breit. Die beiden Männer starren auf ihre Hände, knibbeln an ihren Fingern.

Anastasias Blick gleitet von einem zum anderen. »Sie ist tot«, wiederholt sie noch einmal mit durchdringender Stimme. »Ermordet. Von einem Irren. Irgendeinem Typ, der ihr eine giftige Substanz untergeschoben hat.«

Elias’ Kopf hebt sich: »Das ist doch noch gar nicht klar.« Seine Stimme klingt mehr nach Wunsch als Widerstand. Sofort senkt er den Kopf wieder und seine hagere Gestalt fällt auf dem Holzstuhl zusammen.

»Viks hat es doch auch gesagt«, braust Anastasia auf. »So stand es im Untersuchungsbericht. Viks, sag es ihm, sag ihm, was die Polizei dir erzählt hat.«

Viktor zieht die Luft ein. »Sie vermuten es. Doch sicher ist nichts. Sie haben von einem toxikologischen Gutachten gesprochen. Das dauert wohl. Mehrere Wochen.«

»Also«, schiebt sich Elias jetzt mit Rückenwind dazwischen, »dann muss es nicht unbedingt Mord sein. Vielleicht ist sie einfach versumpft.«

»Quatsch!« Anastasias Hände fahren in die Luft. »Julia hat kaum Alkohol getrunken. Höchstens mal eine Weißweinschorle und wenn es zwei waren, war sie schon tipsy. Und jetzt soll sie Drogen eingeschmissen haben, die ein Organversagen hervorrufen? Das glaubt ihr doch selber nicht.«

»Viks, was meinst du denn?«, wendet sich Elias an seinen Kumpel. »Du warst doch schließlich bis zum Schluss mit ihr im Wasserwerk. Du hast sie als Letzter gesehen.«

Überrumpelt verschließt Viktor die Arme vor der Brust. Die gekreuzten Unterarme sind mit bunten Tattoos verziert. Drachen, Löwen und schillernde Fische inmitten von Pfingstrosen und Kirschblüten. Das Werk eines Irezumi-Künstlers, dessen Spezialgebiet die Tätowierung mythologischer Symbole aus Japan ist.

»Keine Ahnung. Die hatte so einen Typen am Start. Da war sie noch klar. Dann bin ich weg. Habe ich auch der Polizei erzählt. Keine Ahnung, was sie mit dem getrieben hat.«

»Was bist du denn für ein Asi, hör auf, Julia zu dissen«, braust Anastasia erneut auf. Doch bevor sie weiterschimpfen kann, wird Viktor laut: »Jetzt hör mal, spiel hier nicht die Checkerbraut. Julia war nicht Mutter Teresa. Nur weil sie tot ist, musst du sie nicht heiligsprechen. Wir wissen alle, was ihr Ziel war. Wenn nicht Insta-Queen, dann eben Tinderella. Ständig auf Dating-Plattformen unterwegs. Immer online, immer auf der Suche nach einem Finanzier. Sie war ein Perlhuhn. Teure Klamotten und eitel bis zum Scheitel.«

»Du bist echt vollpanne«, entgegnet Anastasia verschnupft und schlägt ein Bein über das andere. Auf ihrer Sweatpant kommt das Off-White-Logo zum Vorschein. Für die Hose hat sie ihr Konto überzogen. Aus ihrer Sicht eine sinnvolle Investition, denn das Label fehlte noch ihrem Kleiderschrank.

»Und du mach mal keinen Zickenalarm!«, kontert Viktor.

4

Niemand hat mir geglaubt, als ich sagte, der Campus inmitten all der Wolkenkratzer sei lieblich gewesen. Was für ein seltsames Wort auch. So redet heute niemand mehr. Lieblich. Laut Wörterbuch gleichbedeutend mit ›voller Anmut‹ oder ›Liebreiz‹. Doch wenn ich gedanklich zwischen den Universitätsgebäuden umherwandle und die Magnolienbäume, mit ihrer imposanten und doch so zarten, rosafarbenen Blütenfülle, vor meinem inneren Auge betrachte, ist es genau dieses Adjektiv was ihm am ehesten gerecht wird. Ein Wort das aus der Mode gekommen ist. Doch wenn die Worte verschwunden sind ist dann auch die Lieblichkeit verloren? …

Zoe markiert die Kommafehler mit einem Rotstift und fragt sich, welcher ihrer Studierenden diese außergewöhnliche Frage aufgeworfen hat. Sie prüft das Deckblatt, doch darauf ist kein Name verzeichnet. Herrje, denkt Zoe, jetzt muss sie sich auch noch auf die Suche nach dem Autor machen. Sie greift genervt zur Kaffeetasse, doch ein Blick hinein verursacht nur Stirnrunzeln. Die anschließende Prüfung der Kaffeekanne legt ihre Stirn erst recht in Falten. Es ist Montagmorgen.

»Wie weit sind Sie mit den Hausarbeiten? Haben sich schon neue Ansätze ergeben?«

Zoe schreckt herum und entdeckt Professor Steinfurt, der den Kopf zur Tür hereinstreckt. Seinen Nasenrücken ziert ein dunkler roter Fleck.

»Sie sind ein echter Optimist. Glauben Sie wirklich, wir finden etwas Substanzielles in den Aufsätzen, um Ihre Thesen zu belegen?« Vom ersten Tag mochte Zoe die direkte, wenn auch spröde Art ihres Professors. Kommunikation ist nicht ihre Stärke und seine uneingeschränkte Konzentration auf die fachliche Ebene erleichtert ihr den Austausch ungemein.

»Und Sie sind zu pessimistisch! Wir werden sicher nicht die eine Arbeit finden, die alles erklärt. Darum geht es auch nicht. Die Gesellschaft strebt zunehmend nach Einzigartigkeit. Individuen, Ereignisse, Orte – alles will besonders sein. Es ist ein permanenter Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Dieses Streben schlägt sich auch in der Sprache nieder. In der Wortwahl der Jugend. Neue Worte entstehen, andere verschwinden. Diese Sprachbilder sollten die Studierenden in ihren Aufsätzen herausarbeiten.«

Trotz der deutlich hörbaren Euphorie des Professors zieht Zoe nur müde die Schultern hoch. »Ich bin schon froh, wenn meine Studierenden die grammatikalischen Grundregeln beherrschen. Dass sie ein neues Sprachmuster identifizieren könnten, dazu fehlt mir jede Vorstellungskraft.«

Steinfurt sinniert einen Augenblick über Zoes Bemerkung. »Vielleicht haben Sie recht. Es kann ein falscher Ansatz sein, das Subjekt sich selbst beobachten zu lassen. Eine externe Analyse ist sicherlich aufschlussreicher.«

Zoe legt den Kopf schief, da sie den Gedanken des Professors nicht folgen kann.

Sofort setzt Alexander Steinfurt nach: »Sie werden die Beobachterin sein! Sie analysieren die Sprache der Studierenden, und zwar mithilfe der Digitalisierung. Prüfen Sie die Social-Media-Profile der Studierenden, analysieren Sie die Sprache auf den sozialen Plattformen. Suchen Sie in den Profilen nach typischen Begriffen, die wiederholt auftreten. Spüren Sie neue Sprachmuster auf!«

Zoes Gesichtsausdruck drückt jetzt ein noch größeres Unverständnis aus. Nicht weil sie den Worten nicht folgen kann, sondern weil sie den ungeheuren Aufwand hinter der Idee erahnt.

Doch der Professor ist von seinem eigenen Einfall begeistert und fährt ungemindert fort: »Klassische explorative Analyse. Gehen Sie die Beiträge durch. Faktoren identifizieren. Ich bin sicher, wir stoßen auf etwas.«

Zoe bläst die Backen auf. Ebenfalls eine seit Langem etablierte Art der Verständigung, die Zoe jedes Mal wählt, wenn sich unangenehme Aufgaben oder Überstunden abzeichnen. Doch mit der Häufigkeit, die Zoe diese Geste präsentiert, hat sich ihre Intensität abgenutzt und die beabsichtigte Wirkung ist verpufft.

Ungehindert lässt Steinfurt seinen Gedanken freien Lauf und ereifert sich in seinen Forschungsideen. Plötzlich hält er inne. Sein Gesicht wird ernst und sein Ton ist eine Oktave tiefer: »Frau Wiese, die Studentin, die gestorben ist, war sie nicht bei Ihnen im Grundkurs Ökonometrie?«

Zoe ist von dem unerwarteten Themenwechsel überfordert. »Äh, ja, kann sein. Ich weiß nicht, der Kurs ist ja völlig überfüllt. Da sind … ich meine … das Seminar hat sicher mehr als achtzig Teilnehmer. Wegen den Durchfallquoten … Die Wiederholungstäter kommen noch hinzu.«

Ganz im Gegensatz zu Zoes Stottern, purzeln die Worte aus dem Mund des Professors nur so hervor. »Die liebe Statistik. Früher oder später muss jeder da durch. Da trennt sich die Spreu vom Weizen.«

Am Schluss seiner Feststellung reckt er einen Zeigefinger in die Luft, macht dann auf dem Absatz kehrt und verlässt das Büro. Zoe bleibt allein zurück und stellt fest, dass der Radiergummi wieder einmal unter ihrem Händedruck hat leiden müssen.

5

»Was sagt denn Tante Herbert dazu?«, fragt Schultz laut in die Runde der morgendlichen Dienstbesprechung. Lauter, als es die Teilnehmerzahl im Sitzungszimmer erfordert hätte. Denn neben ihm und Christine Sudhoff ist nur noch der junge Florian Wegner im Zimmer, der seinen Titel als Kriminalkommissar erst kürzlich erworben hat.

Mit der lautstarken und despektierlichen Bezeichnung des Kollegen aus der Kriminaltechnik macht Schultz deutlich, dass er hier der Platzhirsch ist, Alter vor Dienstgrad gilt und Polizisten, die zu viel Emotionen zeigen, mit Verachtung bestraft werden. So wie der empfindsame Herbert Schöffler von der KT. Selbstzufrieden streicht sich Schultz mit beiden Händen über den hervorstehenden Bauch und blickt seinen strebsamen Kollegen herausfordernd an.

»Botulinumtoxin«, bringt die Kommissarin nüchtern hervor und schenkt den Machtspielchen ihrer Kollegen keine Beachtung.

»Botulinumtoxin!«, wiederholt Schultz dramatisch. »Also Botox. Das Faltenmittel.« Auf seinem Gesicht breitet sich ein Grinsen aus, während er das attraktive Klientel der Schönheitsbranche vor seinem inneren Auge auf- und ablaufen lässt.

»Na ja«, stört Florian Wegner seinen Gedankenstrom, »ursprünglich kommt der Begriff aus dem Lateinischen. Botulus bedeutet Wurst. Analog steht Botulismus gleichbedeutend für das Krankheitsbild bei einer Wurstvergiftung. Gebildet wird der Giftstoff von Bakterien. Diese Bakterien bilden sich in nicht korrekt konservierten Lebensmitteln – vor allem in eingemachten Bohnen oder eben in der Wurst. Daher auch die historische Bezeichnung als Wurstgift.«

Seinem älteren Kollegen geht der akademische Vortrag sichtlich gegen den Strich und verächtlich prustet er: »Pah, dann spritzen sich die Hollywoodstars Wurstbakterien in die Stirn!«

Auch der Ausflug in die Boulevardpresse bringt Christine Sudhoff nicht aus der Reserve. Nüchtern fährt sie fort, die Fakten aus dem Untersuchungsbericht der Kriminaltechnik wiederzugeben. »Julia Wiese ist vergiftet worden und wir müssen uns fragen, warum hat der Mörder diese Substanz verwendet und wie ist er daran gekommen. Es handelt sich schließlich um ein Neurotoxin, das Muskeln für eine bestimmte Zeit erschlaffen lässt und die Übertragung vom ansteuernden Nerv blockiert. Betroffen sind vor allem Nerven, die die Muskeln zum Kauen und Schlucken kontrollieren. Zudem wird die Bewegung der Augen oder der Gesichtszüge beeinträchtigt. Diese Wirkung begründet auch den Einsatz in der Schönheitsbranche. Allerdings nur in stark verdünnter Form. Konzentriert, wie bei unserem Opfer vorgefunden, erzeugt das Toxin erst Kopf- und Magenschmerzen, Übelkeit oder auch Sprech- und Sehstörungen. Da eine medizinische Gegenmaßnahme ausgeblieben ist, führte die Vergiftung letztendlich später zu einem kompletten Atemversagen.«

Nach dem Vortrag wird es einen Moment still. Selbst Schultz verschlägt es die Sprache. Trotz der Sorge, von seinem Kollegen vorgeführt zu werden, lässt Florian Wegners Neugierde ihn als Erstes das Schweigen brechen: »Aber bei all den Symptomen, warum hat Julia Wiese nicht direkt die Disko verlassen und ist in ein Krankenhaus gefahren? Warum ist niemandem aufgefallen, dass es ihr schlecht ging, und hat Alarm geschlagen?«

Schultz grinst und will gerade zu einem Schlagabtausch ansetzen, als ihm die Kommissarin zuvorkommt: »Kopfschmerzen, Übelkeit, Sprachstörungen. Zudem verringert sich der Blutdruck im Stehen, was zu einer Benommenheit führt. Ganz normale Reaktionen bei Clubbesuchern. Jeder, der dort zu später Stunde anzutreffen ist und das ein oder andere alkoholische Getränk zu sich genommen hat, ist in diesem Zustand.«

Wegner schiebt sich die Brille den Nasenrücken hinauf. Für das Hipster-Modell mit dem goldenen Rand hat er von seinem Tischnachbarn viel einstecken müssen. »Dann kann der Mörder Julia Wiese Stunden zuvor das Gift verabreicht und den Club längst verlassen haben.«

»Exakt. Die KT geht von einem Zeitfenster von drei bis fünf Stunden aus, bevor der Tod eintraf. Zu diesem Zeitpunkt war von den Mitgliedern der Gucci-Gang nur noch Viktor Stoltenbrink vor Ort, doch der will nichts Auffälliges bemerkt haben.«

»Drei bis fünf Stunden«, wiederholt der junge Kommissar nachdenklich. »Also die Primetime, zwischen Mitternacht und zwei Uhr. Da waren mehr als zweitausend Personen in dem Laden. Der Personenumschlag ist zu dieser Zeit enorm, ein ständiges Kommen und Gehen, sodass insgesamt ein Kreis von sicher mehr als dreitausend Gästen zu überprüfen wäre.«

Für die Kopfrechnung erntet der Kriminalkommissar ein zustimmendes Nicken seiner Kollegen. Angespornt fügt er rasch hinzu: »Haben wir Kameras? Eine Videoüberwachung?«

Jetzt fühlt sich Schultz berufen: »Nada. Im Club sind Fotografien oder Videoaufnahmen streng verboten. Schutz der Privatsphäre. Freiheit für die Gäste. Es geht ja wild dort zu. Drogen, Sex, alles ist erlaubt. Eine Sodom- und-Gomorra-Partyhölle. Zum Schutz der Besucher werden sogar die Kameras der Smartphones abgeklebt. Das sorgt bei der Instagram-Generation natürlich für Aufruhr. Aber was tut man nicht alles, wenn man in den begehrtesten Club der Welt will.«

»Nun denn«, wendet Wegner ein und hält sich dabei krampfhaft an der Tischplatte fest, »wenn in dem Club so freizügig mit Drogen hantiert wird, muss es vielleicht gar kein Mord sein. Die Bakterien können auch durch Injektionen mit verunreinigten Nadeln verbreitet werden.«

Sudhoff presst ihre schmalen Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf, sodass sich dünne Strähnen hinter ihrem Ohr lösen. »Keine Drogen, keine Injektion. Das Gift wurde oral verabreicht. Hat die KT eindeutig festgestellt.«

»Und soll ich dir mal was sagen, Kleiner«, fügt Schultz hinzu und lässt sich selbstgefällig im Stuhl zurücksinken, »auch wenn ich es nicht gern sage, Tante Herbert hat immer recht.«

Schultz’ Bemerkung ist Sudhoff nur einen kurzen Augenaufschlag wert. »Also, in der Reihenfolge: Befragen wir noch einmal die Nachbarn auf dem Gelände, die Eltern und die Gucci-Gang. Und auch Mandy Meister.«

»Die wissenschaftliche Mitarbeiterin? Ist die verdächtig?«, fragt Wegner.

»Bis jetzt nicht. Aber die Aussagen der Gucci-Gang sind nicht schlüssig. Für Anastasia Mannfeld war Julia Wiese nahezu eine Heilige. Bei Viktor Stoltenbrink klingt das schon anders. Und Frau Meister ist ihre Dozentin und verkehrt in den gleichen Clubs. Wer, wenn nicht sie, kann uns mehr Informationen über das Quartett geben.«

6

Zoe stöhnt laut auf, raunt Paul ein letztes »Ja« ins Ohr und lässt dann die Arme um ihn sinken. Er küsst ihren Hals, ihr Schlüsselbein und kann dann mit seinen Lippen eben noch die rechte Schulter erhaschen. Denn Zoe dreht sich bereits weg und rutscht mit ihrem nackten Po von der Küchenanrichte. Paul überragt sie jetzt deutlich. Um ihr einen Kuss in ihr feines Haar geben zu können, muss er sich zu ihr herunterbeugen. Ihr Zopf hat sich in den vergangenen Minuten gelöst. Das Haargummi verliert sich irgendwo zwischen dem benutzten Geschirr.

»Ich spring rasch unter die Dusche«, verkündet Zoe mit hochroten Wangen.

Paul will nach ihrer Hand greifen, sie an sich ziehen, doch Zoe schlüpft bereits durch die Küchentür.

»Du willst immer nur Sex von mir!«, ruft er ihr im scherzhaften Ton hinterher.

»Wer wollte den nicht!«, ertönt es aus dem Bad. Doch Zoe kehrt noch einmal zurück, schlingt von hinten die Arme um Pauls nackten Körper und flüstert in sein Ohr: »Es ist schließlich der helle Wahnsinn.«

Paul dreht sich um und blickt ihr direkt in die Augen: »Es oder ich?«

Zoe lacht und zieht ihn am Ohr: »Keine Wortklauberei!«

Dann tänzelt sie erneut aus der Küche und einen Moment später hört Paul das Wasser rauschen.

Nach einer Weile tauschen die beiden die Positionen. Paul betritt das kleine Bad und stellt sich unter die Dusche. Als er sich anschließend rasieren will, ist das Glas des Spiegels beschlagen. Er reibt die glatte Fläche mit einem Handtuch trocken. Dann fährt er sich mit der Hand über das Kinn und stellt fest, dass der Dreitagebart ihn markanter erscheinen und den Altersunterschied zu Zoe schmelzen lässt. Unbenutzt verstaut er den Rasierer wieder in einem winzigen, aufhängbaren Kulturbeutel. Ein Überbleibsel seiner Outdoorausrüstung und der einzige Gegenstand, der Einzug in Zoes Räumlichkeiten gefunden hat. Ich brauche Luft zum Atem, hört er Zoes Stimme in seinem Kopf. Bei dieser Erinnerung an ihren Streit vor wenigen Tagen zwinkert er seinem wieder sichtbar gewordenen Spiegelbild zu. Sein Selbstbewusstsein hat unter Zoes Unnahbarkeit bisher nicht gelitten. Ganz im Gegenteil, ihre distanzierte Art hat ihn eher angespornt. Eigentlich alles an Zoe macht ihn scharf. Selbst ihr verhasster Name, mit dem er sie ab und an aufzieht. Dann, wenn sie sich mal wieder aus der Affäre ziehen will, eine Verabredung platzen lässt oder in der Öffentlichkeit tut, als würden sie sich kaum kennen. In solchen Momenten spricht er sie mit ihrem echten Namen an. »Mandy, sehen wir uns dann morgen? Mandy, so viel zu tun? Dann noch einen schönen Abend, Mandy!« Schon bei der ersten Silbe des Namens, die er dann extra stark betont, verdreht sie die Augen, lässt ihn wortlos stehen oder beendet das Telefongespräch.

Auf dem Weg zurück in die Küche stoppt Paul im Türrahmen und beobachtet Zoe, wie sie Ordnung in das Chaos bringt. »Gehen wir beim Vietnamesen in der Weserstraße noch eine Pho essen?«

Zoe schüttelt den Kopf, während sie Teller in die Spülmaschine einsortiert. »Nö, keinen Hunger.«

»Mandy Meister«, ertönt es aus Pauls Mund offiziell und er richtet sich noch ein Stück weiter auf, was ihn fast mit dem Scheitel an die Türzarge stoßen lässt. »Eine Pho ist nur eine Nudelsuppe. Sie haben heute noch nichts gegessen!«

Trotz Zoes gesenktem Kopf sieht er ihr Stirnrunzeln. Er kommt ihr näher. »Ist es so schlimm, wenn man uns sieht? Wir müssen ja nicht gleich knutschen.«

Zoes Sorgenfalten lösen sich nicht auf und sie räumt weiter das Geschirr zusammen.

»Vielleicht inkognito?« Paul schert in Richtung Garderobe aus und hat im nächsten Moment eine grell orange Mütze in der Hand.

Zoe schielt zu ihm hinüber und kann sich jetzt ein Lachen nicht verkneifen. Bei den aktuellen Temperaturen ist Pauls Kopfbedeckung alles andere als ein Mittel, um unerkannt zu bleiben. »Also gut. Angebot: Wir bestellen etwas und klettern aufs Dach.«

»Alles, was du willst!«, flötet Paul und zückt bereits sein Handy. Zu den beiden Nudelsuppen mit Tofu bestellt er zwei Flaschen Chang. Das ist zwar ein thailändisches Bier, doch ihm schmeckt es deutlich besser als das vietnamesische Saigon oder die herben deutschen Varianten. Das Chang ist auf Reisbasis gebraut und dadurch fehlt die typische Bitterkeit. Für Paul das perfekte Getränk an einem lauen Sommerabend. Als er die Bestellung gerade abschließen will, hört er Zoe rufen: »Vier! Nimm vier Bier!«

Die letzten Strahlen der Abendsonne blitzen hinter den Häusern hervor und das Licht über den Dächern Berlins hat einen sanften Goldton angenommen. Zoe und Paul sind nicht die einzigen, die den lauen Sommerabend in luftiger Höhe genießen. Auf den Dächern der Nachbarhäuser wurden Tische aufgebaut, Kissen hervorgezerrt, Lichterketten aufgehängt und in nicht allzu weiter Ferne brennt ein Feuer in einem alten Stahlfass. Musik schallt zu den beiden herüber. Sanfte Elektrobeats.

Zoe kratzt die letzten Nudeln mit den Stäbchen aus der Pappschale und sagt wie nebenbei und völlig belanglos, als hätte sie nicht zuvor minutenlang den Satz in ihrem Kopf hin und her gewälzt: »Wenn du darüber reden willst, sag Bescheid.«

Dann stopft sie sich die letzten Essensreste in den Mund, sodass jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, weitere Erklärungen abzugeben. Der Ball liegt bei Paul.

Doch der fängt ihn nicht. »Was meinst du? Unseren Streit?«

Zoe kaut länger, als die durchgeweichten Nudeln es erfordern würden, und ergänzt: »Nein. Ich denke an Julia. Sie war schließlich deine Ex.«

Paul, der sich im Schneidersitz niedergelassen hat, beugt sich etwas weiter vor und entkräftet: »Sie war nicht meine Ex. Und das ist Jahre her!«

Zoe faltet die Pappschachtel zusammen, was ihr ermöglicht, die Augen gesenkt zu halten. »Nun, ihr wart zusammen im Bett.«

Jetzt muss Paul laut lachen. Er prustet los: »Das sagst du! Diejenige, die das Just-for-fun zu ihrer Lebensmaxime gemacht hat. Nee, wir sind kein Paar«, äfft er sie nach, »ist nur Sex. Nichts weiter. Hab Spaß!«

Zoe lässt sich nicht von Paul aufziehen, legt die Pappschachtel beiseite und greift nach der Bierflasche, obwohl die schon seit einer Weile leer ist. Sie braucht etwas in ihrer Hand und begnügt sich damit, sie zwischen Daumen und Zeigefinger kreisen zu lassen. »Es hat nichts mit dir zu tun«, erklärt sie, als Pauls Lachen verebbt ist. »Aber das geht nicht.«

Paul stützt sich mit den Händen hinter seinem Rücken ab und fügt jetzt wieder ernster hinzu: »Alles okay. Schließ erst mal deine Doktorarbeit ab. Und wenn du dann meine Klausuren nicht mehr korrigieren musst, will ich dich auch gar nicht mehr vögeln.«

Sie reißt den Mund auf, doch statt einem verbalen Konter bufft sie ihn mit dem Ellenbogen und drückt ihn auf die Dachpappe. Im nächsten Moment sitzt Zoe rittlings auf Paul, greift nach seinen Händen und presst sie über seinem Kopf in das warme Bitumen.

Gefesselt und seiner Bewegungsfähigkeit beraubt, lacht er Zoe auffordernd an. Sie beugt sich zu ihm hinab, ihr Haar kitzelt an seiner Nase und in der nächsten Sekunde spürt Paul ihre Zunge an seinen Lippen. Ohne Gegenwehr lässt er es geschehen.

7

Zoe verdreht die Augen und möchte zu gern aus dem Hörsaal stürmen und die Ruhestörer im Treppenhaus zur Ordnung rufen. Doch dann würde sie die Studierenden im Raum unbeaufsichtigt lassen. Ein weit geöffnetes Scheunentor, um schnell beim Nachbarn in die Klausur zu schauen oder einen Spickzettel hervorzukramen. Daher behält Zoe ihren Gram für sich, nimmt still die fertigen Klausurbögen entgegen und hakt die Namen der Prüflinge auf ihrer Liste ab. Das Kreuz bei Julia Wiese bleibt leer. Die letzte Stunde hat sie immer wieder auf diese Zeile gestarrt, auf diese digitale Pietätlosigkeit. Die Damen im Prüfungsamt haben nur mit den Schultern gezuckt. Das ist so im System, war ihre Antwort. Damit war es gottgegeben, unumstößlich, nicht änderbar und erst recht nicht in ihrer Verantwortung. Im letzten Sommer hat sich eine Studentin das Leben genommen. Auch ihren Namen las Zoe noch wochenlang in den Klausurlisten. Schon damals hinterfragte sie die Administration. Seitdem hat sich nichts geändert.

Nun fragt Zoe sich, welchen Vermerk sie eintragen soll: nicht anwesend, krankgemeldet, Fehlversuch oder abgegeben stehen zur Auswahl. Ein Kreuz, das keine Auswirkungen mehr haben wird. Egal, wo sie es setzen würde. Dass sie eins setzen muss, steht fest. Sonst werden die Notenlisten im System nicht freigeben. Pflichtfeld. Ist eben so, denkt Zoe bitter, im System.

»Die Aufgaben waren total schwer!«, reißt sie ein Student mit grasgrüner Wollmütze aus ihren Gedanken und streckt ihr seine Klausur entgegen. »Das haben Sie uns vorher so nicht gesagt, dass wir das alles wissen müssen.«

Zoe schaut ihn sprachlos an und weiß nicht, worüber sie sich mehr wundern soll. Über die sich ständig wiederholende Beschwerde, dass man im Studium etwas lernen muss, oder über die dicke Wollmütze bei mindestens siebenundzwanzig Grad Raumtemperatur.

Ohne Kommentar registriert Zoe den Namen auf dem Deckblatt und macht ein Kreuz in der entsprechenden Zeile.

Als der letzte Student den Vorlesungssaal verlassen hat, bemerkt Zoe, dass neben Julia Wieses eine weitere Zeile leer blieben ist. Viktor, Viktor Stoltenbrink.

Nicht verwunderlich, denkt Zoe, bestimmt nimmt ihn der Tod von Julia sehr mit. In solch einer Situation wird die Klausur zur Nebensache. Allerdings, stellt sie beim Blick in die Unterlagen fest, wäre es bereits sein zweiter Versuch gewesen, und die nächste Prüfung wird erst wieder in einem Jahr angeboten. Obwohl er bereits im letzten Semester ist, verlängert sich sein Studium damit automatisch um zwölf Monate. Nun, resümiert Zoe, traurig ist traurig, krank ist krank. Dann packt sie alle Klausuren zusammen und spaziert mit einem dicken Papierstapel vor der Brust in Richtung Verwaltungstrakt.

Vor ihrem Büro angekommen, gleicht es einem Drahtseilakt, den Schlüssel aus der Hosentasche hervorzuziehen, ohne die Prüfungen fallen zu lassen. Herlinde Wehrenberg, die Fachbereichsassistenz kommt ihr zu Hilfe.

»Warte, warte, Zoe, ich schließ schon auf«, ruft sie und Zoe freut sich, dass wenigstens Herlinde ihrem Namenswunsch nachkommt. Bei einem gemeinsamen Bier hat sie Zoe eröffnet, dass sie mit ihrer Namensgebung auch nicht glücklich sei. Der Abend liegt schon eine Weile zurück, ein zufälliges Treffen in einer Bar. Herlinde ist nicht zu übersehen. Groß, kurvig und blonde Schillerlocken. Egal, wo sie auftritt, sie zieht direkt die Blicke auf sich. Später hat Zoe erfahren, dass ihr das ganz und gar nicht recht ist. Sie stehe nicht gern im Mittelpunkt, lieber agiere sie in zweiter Reihe. Daher macht sie auch ihren Job als Assistentin so gut, dachte sich Zoe damals. Herlinde ist pfiffig und verfügt zudem über eine ungemeine Warmherzigkeit. Das bringt ihr gleich zwei Spitznamen in der Hochschule ein: Goldlöckchen und Sonnenschein des Fachbereichs.