Das Böse kommt auf leisen Sohlen - Ray Bradbury - E-Book

Das Böse kommt auf leisen Sohlen E-Book

Ray Bradbury

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Beschreibung

Eines Nachts kommt heimlich und verstohlen ein Jahrmarkt in eine kleine Stadt in Illinois und schlägt seine Zelte auf. William »Bill« Halloway und James »Jim« Nightshade, zwei Jungs aus der Stadt, spüren als Erste, dass mit dem Jahrmarkt etwas nicht geheuer ist. Sie entdecken das dunkle Geheimnis eines Karussells, das auf zerstörerische Weise in das Leben der Fahrgäste eingreift. Ihre Entdeckung bleibt nicht unbemerkt: Auf leisen Sohlen, aber unerbittlich werden die Jungen vom Bösen verfolgt und in die Enge getrieben.

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Ray Bradbury

Das Bösekommtauf leisenSohlen

Roman

Aus dem Amerikanischen vonNorbert Wölfl

Titel der 1962 bei

Simon & Schuster, New York,

erschienenen Originalausgabe:

›Something Wicked This Way Comes‹

Copyright © 1962 by Ray Bradbury

Die deutsche Erstausgabe erschien 1969

im Marion von Schröder Verlag,

Hamburg und Düsseldorf

Covermotiv: Illustration von

Edward Gorey

Mit freundlicher Genehmigung

des Edward Gorey Charitable Trust,

New York

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 20866 5

ISBN E-Book 978 3 257 60410 8

[5] Aus Dankbarkeit

an Jennet Johnson, die mir beibrachte,

wie man eine Kurzgeschichte schreibt,

und an Snow Longley Housh, der mir

vor langer Zeit an der Los Angeles High School

Dichtung beibrachte,

und an

Jack Guss,

der mir, vor nicht so langer Zeit,

bei diesem Roman geholfen hat

[9] Es liebt der Mensch, und was

er liebt, entschwindet.

W. B. Yeats

Denn jene können nicht schlafen,

wenn sie nicht übel getan,

und sie ruhen nicht,

wenn sie nicht Schaden getan.

Sie nähren sich vom Brot

des Frevels und trinken vom

Wein der Gewalttat.

Sprüche, 4: 16–17

Ich kenn nicht alles, was da

kommen soll, doch sei es,

was es will, ich werd ihm

lachend begegnen.

[11] Prolog

[13] Vor allem war Oktober, ein köstlicher Monat für Jungen. Nicht daß alle anderen Monate nicht auch köstlich wären. Doch sind böse und gute darunter, wie die Piraten sagen. September zum Beispiel ist ein böser Monat, die Schule beginnt. Oder August, ein guter Monat; die Schule hat noch nicht wieder angefangen? Juli? Ja, der Juli ist auch schön: weit und breit kein Schulbeginn in Sicht. Der Juni aber, daran kann kein Zweifel bestehen, der Juni ist der allerbeste Monat, denn da öffnen sich die Schultore weit und der September ist noch eine Ewigkeit entfernt.

Aber betrachten wir einmal den Oktober. Seit einem Monat geht man wieder in die Schule, die Zügel werden etwas lockerer gelassen, man trabt so dahin. Man hat schon wieder Zeit, an den Müll zu denken, den man dem alten Prickett auf die Veranda kippen will, oder an das Affenkostüm, das man am letzten Abend des Monats zum Jugendfest tragen wird. Und wenn um den Zwanzigsten ein rauchiger Duft in der Luft liegt und der Himmel in der Dämmerung orangefarben und aschgrau schimmert, dann glaubt man, die Geisternacht vor Allerheiligen würde nie mit klappernden Besenstielen und leise um die Ecken flatternden Bettüchern hereinbrechen.

Doch in dem einen seltsam wilden dunklen langen Jahr, da kam Allerheiligen verfrüht.

Eines Jahres begann Allerheiligen schon am 24.Oktober, drei Stunden nach Mitternacht.

In diesem Jahr war James Nightshade aus der Oak Street Nummer 97 dreizehn Jahre, elf Monate und dreiundzwanzig Tage alt. William Halloway von nebenan war dreizehn Jahre, elf Monate und vierundzwanzig Tage alt. Beide streckten ihre Hände nach dem vierzehnten Geburtstag aus und spürten ihn fast schon leise zitternd zwischen ihren Fingern.

[15] I  Ankunft

[17] Erstes Kapitel

Der Blitzableiterverkäufer kam kurz vor dem Gewitter. Am Spätnachmittag dieses wolkenverhangenen Oktobertages ging er die Hauptstraße von Green Town entlang und warf immer wieder verstohlene Blicke über die Schulter. Irgendwo da hinten, gar nicht weit entfernt, erbebte die Erde unter gewaltigen Blitzen. Irgendwo spürte er das Gewitter, dieses riesige Ungeheuer mit den schrecklichen Zähnen.

So ging der Vertreter von Tür zu Tür, klapperte mit seiner überdimensionalen Ledertasche voller seltsamer eiserner Puzzles und sagte immer wieder sein Sprüchlein auf, bis er an den Rasen kam. Hier stimmte etwas nicht. Er war ganz falsch gemäht.

Nein. Es war nicht der Rasen. Der Vertreter hob den Blick. Es waren die beiden Jungen, die oben auf einem kleinen Hügel im Gras lagen. Die beiden Jungen waren ungefähr gleich groß und gleich kräftig. Sie saßen da, schnitzten Weidenpfeifen und redeten über Vergangenes und Künftiges. Den ganzen vergangenen Sommer über war in Green Town nichts vor ihnen sicher gewesen, was nicht niet- und nagelfest war; jeder Weg und Pfad, jeder Quadratfuß Boden zwischen hier und dem See trug ihre Fußspuren, seit die Schule wieder begonnen hatte.

»Hallo, Jungs!« rief der Mann im sturmfarbenen Mantel. »Jemand zu Hause?«

Die Jungen schüttelten die Köpfe.

»Habt ihr etwas Geld?«

Die Jungen schüttelten die Köpfe.

»Hm…« Der Vertreter kam noch zwei oder drei Schritte näher, dann blieb er stehen und zog die Schultern ein. Plötzlich schienen ihn die Fenster eines Hauses anzustarren, oder vielleicht war es auch der kalte Blick eines Wolkenauges, den er im Nacken spürte. Er drehte sich langsam um und hob die Nase in den Wind. Der rüttelte an den kahlen Bäumen. Durch ein [18] Wolkenloch brach ein feiner Sonnenstrahl und malte die letzten Eichenblätter an den Zweigen golden an. Aber dann verschwand die Sonne, der Schimmer verblich, alles verfloß grau in grau. Der Vertreter löste sich von dem Bann.

Langsam ging er durch das Gras den Hügel hinauf.

»Wie heißt du denn, mein Junge?«

Der erste Junge, weißblond wie eine Distel, kniff ein Auge zu und blinzelte den Vertreter an. Sein offenes Auge schimmerte groß, hell und klar wie ein Tropfen Sommerregen.

»Will«, antwortete er. »Will Halloway.«

Der gewittergraue Herr wandte sich an den zweiten. »Und du?«

Der zweite Junge regte sich nicht. Er lag bäuchlings im Herbstgras und überlegte, ob er nicht lieber einen Namen erfinden sollte. Sein wirrer, dichter Haarschopf glänzte wie eine polierte Kastanie. Seine smaragdgrün schimmernden Augen blickten starr auf einen fernen Punkt – irgendwo tief in seinem Innern. Schließlich schob er sich lässig einen Grashalm zwischen die Lippen.

»Jim Nightshade«, murmelte er.

Der Gewittermann nickte, als hätte er das gleich gewußt.

»Nightshade. Nachtschatten. Was für ein Name!«

»Sehr treffend«, sagte Will Halloway. »Ich bin eine Minute vor Mitternacht zur Welt gekommen, am 30.Oktober, er eine Minute nach Mitternacht. Also am 31.Oktober.«

Ihren Stimmen war anzumerken, daß sie ihr ganzes Leben lang diese Geschichte immer wieder erzählt hatten, stolz auf ihre Mütter, die Tür an Tür wohnten, zur gleichen Zeit ins Krankenhaus gebracht wurden und im Abstand von wenigen Sekunden ihre Söhne zur Welt brachten. Einer hell, einer dunkel. Sie feierten immer zusammen. Jahr für Jahr durfte Will die Kerzen auf dem gemeinsamen Geburtstagskuchen eine Minute vor Mitternacht anzünden. Eine Minute nach Mitternacht, wenn der letzte Tag des Monats angebrochen war, blies Jim sie wieder aus.

Das erzählte Will begeistert, und Jim nickte schweigend. Der [19] Vertreter las die Geschichte von ihren Gesichtern ab. Er war vor dem Gewitter hergelaufen, aber hier zögerte er.

»Halloway. Nightshade. Kein Geld in der Tasche, wie?«

Der Mann seufzte über seine eigene Gewissenhaftigkeit, öffnete die gewaltige Ledertasche und holte ein Ding aus Eisen heraus.

»Ich schenk’s euch. Warum? Weil der Blitz in eins von diesen Häusern einschlagen wird. Kein Blitzableiter – peng! Feuer und Asche, verkohltes Fleisch und glimmendes Holz. Da, nimm schon!«

Der Mann ließ den Blitzableiter los. Jim rührte sich nicht. Aber Will griff nach dem Eisenstück und schnappte nach Luft.

»Junge, ist das schwer! So einen komischen Blitzableiter hab ich noch nie gesehen. Schau mal, Jim!«

Jim rekelte sich schließlich wie eine Katze und wandte ihm den Kopf zu. Seine grünen Augen wurden erst sehr groß und dann sehr eng.

Das Eisending war teils wie ein Halbmond, teils wie ein Kreuz geformt. An den Hauptstab waren ringsherum eigentümliche Schnörkel und Dinger nachträglich aufgeschweißt worden. Die ganze Oberfläche des Stabes war mit winzigen Zeichen graviert, mit Namen, an denen man sich die Zunge zerbrechen konnte, mit Zahlen, die unfaßbare Größen ergaben, mit Darstellungen von Insekten mit starrenden Borsten und Klauen.

»Das ist etwas Ägyptisches.« Jim deutete mit der Nase auf einen Käfer, der auf das Eisen aufgeschweißt war. »Ein Skarabäus.«

»Stimmt, mein Junge.«

Jim blinzelte. »Und das da – phönizische Schriftzeichen.«

»Richtig.«

»Warum?« fragte Jim.

»Warum?« wiederholte der Mann. »Warum Ägyptisch, Arabisch, Abessinisch, Tschokta? Nun, welche Sprache spricht der Wind? Welcher Nation gehört ein Sturm an? Aus welchem Lande kommt der Regen? Welche Farbe hat ein Blitz? Wohin [20] verrollt der Donner, wenn er erstirbt? Jungs, ihr müßt in jeder Sprache, in jedem Dialekt und auf jede erdenkliche Weise bereit sein, die Elmsfeuer zu bannen, die blauen Lichtkugeln, die wie fauchende Katzen dahinschleichen. Ich habe die einzigen Blitzableiter der Welt, die hören, fühlen und wissen, die jedes Gewitter, gleich welcher Sprache, Form und Erscheinungsweise, bezwingen. Kein fremder Donner kann seine Stimme so laut erheben, daß dieser Stab ihn nicht besänftigen würde.«

Aber Will blickte über den Mann hinweg.

»In welches Haus wird’s einschlagen?« fragte er.

»In welches? Augenblick. Wartet.« Der Vertreter betrachtete aufmerksam, forschend ihre Gesichter. »Manche Leute ziehen Gewitter an. Sie saugen sie förmlich ein wie Katzen den Atem neugeborener Babys. Manche Menschen sind negativ gepolt, andere positiv. Einige glimmen im Dunkeln. Andere gehen aus. Ihr beiden…«

Jim unterbrach ihn mit glitzernden Augen: »Woher wollen Sie eigentlich wissen, daß der Blitz überhaupt hier in der Nähe einschlagen wird?«

Der Vertreter zuckte ein wenig zurück. »Nun, ich hab eine Nase dafür, ein Auge, ein Ohr. Diese beiden Häuser, die Balken – hört doch nur!«

Sie lauschten. Duckten sich die Häuser nicht ein wenig im Nachmittagswind? Vielleicht auch nicht.

»Blitze brauchen Kanäle, in denen sie fließen – wie Wasser. Eine von diesen Mansarden ist ein ausgetrocknetes Flußbett, in das im nächsten Augenblick der Blitz einbrechen kann. Heute abend.«

»Heute abend?« Jim setzte sich erfreut auf.

»Kein gewöhnliches Gewitter«, erklärte der Vertreter. »Laßt euch das von Tom Fury gesagt sein. – Fury! Wut, Zorn, Furien – ist das nicht ein toller Name für einen, der Blitzableiter verkauft? Hab ich mir den Namen ausgesucht? Nein! Ob der Name an meinem Beruf schuld ist? Ja! Ich wuchs auf und sah umwölkte Feuer in die Erde schlagen, sah die Menschen rennen und sich [21] verstecken. Da dachte ich: Zeichne sie auf, die Hurrikans, mach dir eine Karte der Gewitter, dann lauf vor ihnen her, schüttle deine eisernen Keulen, deine Wunderschilde! Ich hab hunderttausend Häuser beschützt, ungezählten gottesfürchtigen Menschen sichere Heime geschaffen. Deshalb hört auf mich, Jungs, wenn ich euch sage: euch droht Unheil! Steigt auf das Dach, noch vor Einbruch der Nacht. Nagelt den Blitzableiter an die höchste Stelle und verankert die Leitung gut im Boden.«

»Aber welches Haus? Welches?« fragte Will.

Der Vertreter ging ein paar Schritte zurück, schneuzte sich in ein großes Taschentuch und schlich dann langsam, vorsichtig, als nähere er sich einer tickenden Zeitbombe, über den Rasen.

Er berührte einen Pfosten des Hauses, in dem Will wohnte, ließ die Hand über die Holzverkleidung gleiten und über ein Fußbodenbrett der Veranda. Dann schloß er die Augen und lehnte sich an das Haus, um sein Gerüst flüstern zu hören.

Zögernd und tastend näherte er sich daraufhin Jims Heim.

Jim erhob sich, um den Mann besser beobachten zu können.

Der Vertreter streckte die Hand aus. Er berührte das Holz, streichelte es. Seine Fingerspitzen glitten vibrierend über die alte, abblätternde Farbe.

»Das hier!« sagte er schließlich. »Das hier ist es!«

Darauf sah Jim stolz drein.

Der Vertreter fragte, ohne sich umzusehen: »Wohnst du hier, Jim Nightshade?«

»Ja«, antwortete Jim.

»Hab ich mir gedacht«, murmelte der Mann.

»Und ich?« fragte Will.

Der Vertreter hob den Kopf und schnüffelte in Richtung auf Wills Haus hinüber. »Nein, nein. Schön, vielleicht werden ein paar Funken von der Dachrinne sprühen, aber das richtige Theater findet hier bei den Nightshades statt. So!«

Der Vertreter kam rasch über den Rasen zurück und griff nach seiner gewaltigen Ledertasche.

»Muß mich beeilen. Gewitter kommt bald. Wart nicht zu [22] lange, Jim. Sonst – bums! Dann finden sie dich, und die Münzen, das Taschenmesser und der andere Kram in den Taschen ist zu einem Klumpen zusammengeschmolzen, das Silber läuft dir die Hosenbeine runter. Und noch etwas: Wird ein Junge vom Blitz erschlagen, dann heb sein Augenlid hoch. Auf seiner Pupille kannst du die letzte Szene eingeprägt finden, die er erblickt hat, fein und winzig wie das Vaterunser auf einem Stecknadelkopf. Ein Foto, wie der Blitz herunterpfeift und deine Seele die glühende Treppe raufholt! Beeil dich, mein Junge! Hol Hammer und Nägel, sonst bist du vor dem Morgengrauen tot.«

Der Vertreter schwang seine Tasche mit den Eisenstäben in der Hand und lief den Weg entlang. Blinzelnd hob er den Blick zum Himmel, dem Dach, den Bäumen. Dann schloß er die Augen im Gehen, sog schnaufend die Luft durch die Nase ein und murmelte: »Ja, wird schlimm. Kann’s genau fühlen. Noch weit weg – aber es kommt. Schnell, immer schneller…«

Dann war der Mann im gewitterdunklen Mantel verschwunden. Den wolkenfarbenen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen. In den Bäumen raschelte es, der Himmel sah plötzlich sehr alt aus, und die beiden Jungen standen da, die Nase in den Wind erhoben. Roch es schon nach Elektrizität? Der Blitzableiter lag zwischen ihnen am Boden.

»Jim, steh nicht so rum«, sagte Will. »Euer Haus trifft’s, hat er gesagt. Du wirst doch den Blitzableiter annageln, wie?«

Jim lächelte. »Nein. Warum soll ich uns den ganzen Spaß verderben?«

»Spaß! Bist du übergeschnappt? Ich hol die Leiter, du suchst inzwischen Hammer, Nägel und Draht.«

Aber Jim regte sich nicht. Will rannte davon und kam gleich darauf mit der Leiter wieder.

»Jim, denk doch an deine Mutter. Soll sie verbrennen?«

Will kletterte allein an der Seite des Hauses hoch und schaute sich um. Langsam trat Jim an die Leiter heran und kam ihm nach.

In der Ferne, über den wolkenverhangenen Bergen, grollte der Donner.

[23] Oben auf Jim Nightshades Dach roch die Luft frisch und rauh.

Selbst Jim mußte das zugeben.

Zweites Kapitel

Nichts auf der ganzen Welt kommt Büchern gleich, die von Wasserkuren, tausendfachem Tod oder weißglühenden Lavaströmen handeln, die sich über Burgmauern auf komische Figuren und Marktschreier ergießen.

Sagte Jim Nightshade, und etwas anderes las er nicht. Seine Bücher handelten davon, wie man eine Bank überfällt, wie man Katapulte baut oder schwarze Fledermauskostüme für den Mummenschanz macht.

Jim konnte reden.

Und Will, der konnte zuhören.

Sie hatten den Blitzableiter auf Jims Dachfirst genagelt; Will war stolz, Jim schämte sich dieses Zeichens von Feigheit, wie er sagte. Es war jedenfalls spät geworden und höchste Zeit für ihren wöchentlichen Gang zur Bibliothek.

Wie alle Jungen gingen sie nie irgendwohin, sondern sie machten ein Ziel aus und schossen dann darauf los, was-haste-was-kannste. Keiner von beiden gewann. Keiner wollte gewinnen. Sie wollten nur als Freunde immer weiter und weiter rennen, Seite an Seite, Schatten an Schatten. Ihre Hände klatschten gleichzeitig gegen die Tür der Bibliothek, gleichzeitig durchrissen sie Zielbänder beim Wettlauf, ihre Tennisschuhe zogen parallele Spuren über den Rasen, durch Büsche, Bäume hinauf. Keiner verlor, und gemeinsam gewannen sie und sparten sich ihre Freundschaft für andere Zeiten und andere Verluste auf.

So war es auch an diesem Abend; der Wind – erst warm, dann kühler – wehte sie am Abend um acht Uhr in die Stadt. Sie spürten Schwingen, Federn an Fingern und Ellbogen, dann blies [24] sie plötzlich eine neue Luftströmung, ein neuer, klarer Herbstwind, geradewegs auf die Bibliothek zu.

Die Treppe hinauf, drei, sechs, neun, zwölf Stufen! Bums! Ihre Hände klatschten an die Tür.

Will und Jim lachten einander an. Alles war herrlich – der windgepeitschte Oktoberabend draußen und drin die Bibliothek, die mit grünbeschirmten Lampen und Papyrusstaub auf sie wartete.

Jim lauschte. »Was ist das denn?«

»Was? Der Wind?«

»Wie Musik…« Jim blinzelte zum fernen Horizont.

»Hör keine Musik.«

Jim schüttelte den Kopf. »Ist schon wieder weg. War vielleicht gar nichts. Komm!«

Sie stießen die Tür auf und traten ein.

Dann blieben sie stehen.

Die Tiefen der Bibliothek lagen wartend vor ihnen.

Draußen in der Welt ereignete sich nicht viel. Doch hier, an diesem sonderbaren Abend, in einem aus Papier und Lederrücken aufgemauerten Land, da war alles möglich. Alles geschah hier. Hör nur! Zehntausend Menschen schrien mit so hoher, schriller Stimme, daß nur Hunde die Ohren spitzten. Millionen schleppten Kanonen, schärften Guillotinen; Chinesen marschierten bis in alle Ewigkeit in Viererreihen. Unsichtbar, lautlos – doch Jim und Will besaßen die Gabe des Gehörs, des Geruchs und Geschmacks. Die Bibliothek war eine Fabrik für Gewürze aus fernen Ländern. Hier schlummerten fremdartige Wüsteneien. Ganz vorn stand der Tisch, an dem die freundliche alte Miss Watriss die entliehenen Bücher eintrug, doch dahinter lagen Tibet, die Antarktis, der Kongo. Dort wandelte Miss Wills, die andere Bibliothekarin, durch die Äußere Mongolei und trug schweigend Brocken von Peking und Yokohama und Celebes auf dem Arm. Weit unten hinter der dritten Regalreihe raschelte im Düstern der Besen eines alternden Mannes und fegte die zu Boden gerieselten Gewürze zusammen.

[25] Will riß die Augen auf.

Es war immer wieder eine neue Überraschung für ihn – der alte Mann, seine Arbeit, sein Name.

Das ist Charles William Halloway, dachte Will; nicht mein Großvater, nicht ein alter, entfernter Onkel, wie manche glaubten, sondern mein Vater.

Erschrak Vater beim Anblick seines Sohnes, der sich in diese unergründliche Tiefe wagte? Dad machte immer ein betroffenes Gesicht, wenn Will plötzlich vor ihm stand, als hätten sie sich ein Leben lang nicht gesehen, als sei der eine inzwischen alt geworden und der andere jung geblieben. Stand diese Tatsache zwischen ihnen?

Der alte Mann lächelte.

Vorsichtig näherten sie sich einander.

»Du, Will? Bist seit heute morgen einen ganzen Zoll gewachsen.« Charles Halloway sah an seinem Sohn vorbei. »Jim? Schon wieder dunklere Augen, blässere Wangen. Wie eine Kerze, die von beiden Seiten her verbrennt, wie?«

»Hölle«, sagte Jim.

»Findest du unter ›A‹ wie Alighieri.«

»Von Allegorie halt ich nicht viel«, sagte Jim.

Dad lachte. »Wie dumm von mir! Ich meine natürlich Dante. Sieh dir das an. Bilder von Doré. Zeigen alles, was es in der Hölle zu sehen gibt. Seelen, die bis an den Hals im Schlamm versinken. Einer hängt verkehrt herum, einem haben sie das Innerste nach außen gekehrt.«

»Sackzement«, sagte Jim und betrachtete die Seite von oben und von unten. Dann blätterte er weiter. »Keine Bilder von Dinosauriern?«

Dad schüttelte den Kopf.

»Drüben in der nächsten Reihe.« Er schlenderte hinüber und griff ins Regal. »Da haben wir’s: Pterodaktylus, der Todesfalke! Oder wie wär’s mit Trommeln des Untergangs, die Sage von den Donnerechsen? Nichts für dich, Jim?«

»Brauch ich nicht.«

[26] Dad blinzelte Will zu. Will blinzelte zurück. Da standen sie nun, ein Junge mit maisfarbenem Haar, ein Mann mit mondweißem Haar, der Junge mit einem Gesicht wie ein Sommerapfel – der Alte mit dem eines Winterapfels. Dad, Dad, dachte Will, er sieht aus wie – wie ich in einem zersplitterten Spiegel!

Plötzlich mußte Will an die Nächte denken, wenn er um zwei Uhr auf die Toilette mußte und über die Häuser der Stadt hinwegblickte zu dem einsamen Licht im obersten Fenster der Bibliothek und wußte, Dad war wieder einmal länger dageblieben und las mutterseelenallein im grünen Lampendschungel. Der Anblick dieses Lichtscheins stimmte Will traurig. Es stimmte Will traurig und komisch, dieses Licht zu sehen und zu wissen, daß dieser alte Mann – er veränderte schnell das Wort – in all diesem Schatten war.

»Will«, sagte der alte Mann, der Hausmeister, der zufällig sein Vater war. »Will, und du?«

»Wie?« Will schüttelte sich.

»Weiße Hüte oder schwarze Hüte?«

»Hüte?« fragte Will.

Sie gingen weiter. Dad strich mit dem Finger über die Buchrücken und erklärte: »Jim trägt große schwarze Hüte und liest die entsprechenden Bücher. Bald wird er hier von Fu Mandschu zu Machiavelli aufsteigen – weicher Filzhut, dunkel. Oder auch zu Dr.Faustus – extragroßer schwarzer Zauberhut. Für dich, Will, sind die weißen Hüte da. Ghandi. Daneben steht der heilige Thomas. Und dann, auf der nächsten Stufe – vielleicht Buddha.«

»Mir egal«, sagte Will. »Ich nehme die Geheimnisvolle Insel.«

»Was soll das ganze Gerede über weiße und schwarze Hüte?« fragte Jim grollend.

Dad reichte Will seinen Jules Verne. »Nun, ich hab mich schon vor langer Zeit für die Farbe meines Hutes entschieden.«

»Und welchen hast du genommen?« fragte Jim.

Dad war überrascht. Dann lachte er verlegen.

»Wenn du so direkt fragst, machst du mich unsicher. Will, sag Mom, ich bin bald zu Hause. Und dann hinaus mit euch beiden! [27] Miss Watriss!« rief er halblaut der Bibliothekarin hinter dem Tisch zu. »Da kommen Dinosaurier und geheimnisvolle Inseln!«

Die Tür krachte zu.

Draußen segelten Sterne am klaren Nachthimmel.

»Hölle.« Jim hob die Nase, schnupperte nach Norden, nach Süden. »Wo bleibt das Gewitter? Der verdammte Verkäufer hat’s doch versprochen. Ich muß das einfach sehen, wenn der Blitz meine Dachrinne entlangsaust.«

Will ließ sich die Kleidung, die Haut, das Haar vom Wind zausen. Dann sagte er leise: »Kommt noch. Gegen Morgen.«

»Wer sagt das?«

»Die Gänsehaut an meinen Armen.«

»Na, großartig!«

Der Wind blies Jim davon.

Wie ein Zwillingsfalke folgte ihm Will.

Drittes Kapitel

Charles Halloway sah den beiden Jungen nach und verspürte den Wunsch, alles liegen und stehen zu lassen und mit ihnen zu laufen. Er wußte, was der Wind mit ihnen machte, nach welchen geheimnisvollen Orten er sie wehte, die nie wieder so geheimnisvoll sein würden. In seiner Seele stieg ein trauriger Schatten auf. Mit einer solchen Nacht muß man laufen, sonst holt einen die Traurigkeit ein.

Sieh dir das an, dachte er. Will rannte um des Rennens willen, Jim, weil etwas vor ihm lag.

Seltsamerweise rennen sie aber doch gemeinsam.

Woran liegt das? dachte er, während er durch die Bibliothek ging und Lichter ausschaltete, Lichter ausschaltete, Lichter ausschaltete. Steht es auf den Wirbeln unserer Daumen, unserer Finger geschrieben? Warum sind manche Menschen wie [28] fiedelnde, kratzende Grashüpfer, Käfer mit vibrierenden Fühlern, von Kopf bis Fuß Ganglien, die sich ewig verknoten und wieder und wieder verknoten? Ihr Ofen brennt das ganze Leben lang lichterloh, von der Wiege an steht ihnen der Schweiß auf der Lippe, schimmern ihre Augen. Cäsars hagere und hungrige Freunde. Sie essen Dunkelheit, die da nur stehn und atmen.

Jim ist so – wespig wie eine Brennessel.

Und Will? Er ist der letzte Pfirsich, hoch droben auf dem sommerlichen Baum. Bei manchen Jungen muß man weinen, wenn sie nur vorübergehen. Ihnen geht’s gut, sie sehen gut aus, sie sind brav. Natürlich pinkeln sie auch einmal von einer Brücke oder stehlen einen billigen Bleistiftanspitzer – das ist es nicht. Nur wenn man sie Vorbeigehen sieht, da weiß man schon, wie’s ihr Leben lang sein wird: Sie stecken Schläge, Wunden, Schmerzen, Stiche ein und fragen stets nach dem Warum. Warum muß das so sein? Warum gerade sie?

Aber Jim sieht es kommen, er wartet darauf, daß es geschieht, er behält die Augen offen, leckt sich die Wunden, mit denen er gerechnet hat, fragt nie nach dem Warum – er weiß es. Er weiß immer, was ist. Lange vor ihm war einer, der wußte es auch, einer, der Wölfe als Schoßhunde und Löwen als Bettgenossen hielt. Nein, Jim weiß es nicht mit seinem Verstand, aber sein Leib weiß es. Und während sich Will noch die letzte Wunde verbindet, duckt sich Jim schon beiseite und entgeht dem entscheidenden Schlag.

Da gehen sie hin. Jim läuft langsamer, damit Will mitkommt, der rennt schneller, damit er bei Jim bleibt. Jim wirft zwei Fenster in einem Geisterhaus ein, weil Will dabei ist; Will wirft wenigstens eines ein, weil Jim ihn beobachtet. Mein Gott, wie doch jeder seine Finger im Lehm des anderen hat! Das ist Freundschaft: Jeder spielt den Töpfer, weil er wissen will, welche Form er dem anderen geben kann.

Jim, Will, dachte er, beides Fremde. Lauft nur. Ich hol euch schon ein, irgendwann einmal…

Die Tür der Bibliothek flog auf und schloß sich wieder.

[29] Fünf Minuten später betrat er die Eckkneipe – ein Glas trank er jeden Abend, ein einziges nur – und hörte jemanden sagen:

»Den hab ich gelesen, als der Alkohol erfunden wurde, da glaubten die Italiener, sie hätten die große Sache gefunden, nach der man seit Jahrhunderten suchte. Das Lebenselixier! Hast du das nicht gewußt?«

»Nein.« Der Barmann kehrte ihm den Rücken zu.

Der Mann fuhr fort: »Na klar, Branntwein. Neuntes, zehntes Jahrhundert. Sah wie Wasser aus. Brannte aber. Ich meine, es brannte nicht nur in der Kehle und im Magen, man konnte es auch richtig anzünden. So glaubten sie, es sei eine Mischung aus Feuer und Wasser. Feuerwasser, das Lebenselixier – mein Gott! Vielleicht hatten sie gar nicht so unrecht, wenn sie glaubten, das sei ein Allheilmittel, ein Wundertrank. – Noch einen?«

»Ich brauche keinen«, sagte Halloway. »Aber in mir drin, da ist einer, der braucht ihn.«

»Wer?«

Der Junge, der ich einmal war, dachte Halloway. Der Junge, der mit den wirbelnden Blättern den Weg entlangläuft.

Doch das konnte er nicht sagen.

So trank er mit geschlossenen Augen und lauschte in sich hinein, ob das Ding da drin sich nicht wieder regte und in den Gestrüpphaufen raschelte, die zum Verbrennen aufgehäuft waren, doch nie brannten.

Viertes Kapitel

Will blieb stehen und betrachtete die Freitagabendstadt.

Es war seltsam – als der erste Schlag der neunten Stunde vom Glockenturm des Gerichtsgebäudes ertönte, brannten noch die Lichter, und in allen Geschäften herrschte emsiges Treiben. Aber als der neunte Schlag die Plomben in den Zähnen zum Zittern [30] brachte, da hatten die Friseure ihren Kunden die weißen Tücher heruntergerissen, sie gepudert und hinausgeschickt. Die Kaffeemaschine hörte zu zischen auf. Das riesige Gelände des Warenhauses mit seinen zehn Milliarden Nichtigkeiten aus Metall, Glas und Papier zum Durchwühlen sank in tiefe Dunkelheit. Rolläden rumpelten, Türen schlugen zu, Schlüssel klapperten, Leute flohen, und ganze Horden von zerrissenen Zeitungsmäusen nagten an ihren Fersen.

Bum! Weg waren sie.

»Junge!« schrie Will. »Die Leute rennen, wie wenn der Sturm schon da wär!«

»Ist er auch!« schrie Jim zurück. »Wir sind da!«

Sie stürmten und polterten über eiserne Roste und stählerne Falltüren, an einem Dutzend finsterer Läden vorbei, einem Dutzend schwachbeleuchteter Läden, einem Dutzend Läden, die im Dunkel der Nacht starben. Die Stadt war tot, als sie beim Zigarrenladen um die Ecke bogen und einen hölzernen Tscherokesen von allein in die Dunkelheit hinausgleiten sahen.

»He!«

Mr.Tetley, der Ladeninhaber, lugte dem Indianer über die Schulter.

»Erschrocken, Jungs?«

»Nein!«

Doch Will zitterte und fühlte, wie eiskalte Regenmassen gleich Ebbe und Flut über die Prärie rollten. Wenn die Blitze auf die Stadt herunterzuckten, dann wollte er sicher unter einem Dutzend warmer Decken in seinem Bett liegen.

»Mr.Tetley?« fragte Will leise.

Nun standen schon zwei hölzerne Indianer in der tabakbraunen Dunkelheit. Mr.Tetley war mitten in der Bewegung erstarrt und lauschte mit offenem Mund.

»Mr.Tetley?«

Er hörte etwas weit entfernt mit dem Wind rauschen, konnte aber nicht sagen, was es war.

Die Jungen traten zurück.

[31] Er sah sie nicht. Er regte sich nicht. Er lauschte nur.

Sie ließen ihn stehen und rannten weg.

Drei Häuserblocks von der Bibliothek entfernt stießen die beiden auf einen dritten hölzernen Indianer.

Mr.Crosetti stand vor seinem Friseurgeschäft, den Türschlüssel in den zitternden Fingern. Er sah die beiden nicht kommen. Warum blieben sie stehen?

Eine Träne war schuld daran. Sie lief glitzernd über Mr.Crosettis linke Wange. Er atmete schwer.

»Crosetti, Sie sind ein Narr. Ob etwas geschieht, ob nichts geschieht, Sie heulen immer! Wie ein Baby!«

Mr.Crosetti holte bebend Atem und schnupperte. »Riecht ihr es denn nicht?«

Jim und Will schnupperten.

»Lakritzen!«

»Teufel, nein! Zuckerwatte!«

»So was hab ich seit Jahren nicht mehr gerochen«, sagte Mr.Crosetti.

Jim schnaubte. »Gibt’s doch überall.«

»Ja, aber wer bemerkt es? Wann? Jetzt spür ich’s, und drum muß ich weinen. Warum? Weil ich mich daran erinnere, wie die kleinen Jungen vor langer Zeit das Zeug gegessen haben. Warum ist mir dieser Geruch in dreißig Jahren nie aufgefallen?«

»Zuviel zu tun, Mr.Crosetti«, sagte Will. »Keine Zeit.«

»Zeit, Zeit!« Mr.Crosetti wischte sich über die Augen. »Woher kommt dieser Geruch? In der Stadt verkauft niemand Zuckerwatte. Die gibt’s nur im Zirkus und auf der Kirmes.«

»Donnerwetter, das stimmt!« sagte Will.

»So, Crosetti hat genug geheult.« Der Friseur schneuzte sich und drehte sich um. Er schloß den Laden ab. Dabei betrachtete Will das Zeichen neben der Tür, die Spirale, die aus dem Nichts kam und sich ins Nichts hinaufwand. An zahllosen Mittagen hatte Will hier gestanden und versucht, den Weg des spiralförmigen Bandes zu verfolgen, zu sehen, woher es kam und wohin es verschwand.

[32] Mr.Crosetti griff nach dem Lichtschalter unter dem Zeichen.

»Bitte, nicht«, sagte Will. Dann fügte er leise hinzu: »Nicht ausschalten.«

Mr.Crosetti betrachtete das Spiralband, als bemerke er jetzt erst das Wunderbare daran. Dann nickte er und sagte sanft, mit freundlichem Blick: »Wo kommt sie her? Wo geht sie hin? Wie? Wer weiß das schon? Du nicht, er nicht, ich auch nicht. Überall Geheimnisse, bei Gott. Schön. Lassen wir sie an.«

Gut zu wissen, daß sie bis zum Morgengrauen weiterlaufen wird, dachte Will, aus dem Nichts, ins Nichts, während wir schlafen.

»Gute Nacht!«

»Gute Nacht.«

Sie ließen ihn in einer Brise zurück, die ganz schwach nach Lakritze und Zuckerwatte roch.

Fünftes Kapitel

Charles Halloway legte zögernd die Hand auf den Türknopf, als hätten die grauen Haare auf seinem Handrücken wie Antennen etwas gespürt, das draußen in der Oktobernacht vorüberglitt. Vielleicht gab es irgendwo lohende Brände, und ihr feuriger Atem warnte ihn. Oder eine neue Eiszeit kroch übers Land und deckte in der Stunde eine Milliarde Menschen zu. Vielleicht rann die Zeit selbst aus dem Stundenglas der Ewigkeit, und danach folgte eine pulverisierte Finsternis, die alles begrub.

Vielleicht war es aber auch nur der Mann im dunklen Anzug, den er durch die Glastür der Kneipe auf der anderen Straßenseite erblickt hatte. Der Mann hatte eine große Papierrolle unter dem Arm, in der anderen Hand Eimer und Bürste, und er pfiff leise eine Melodie.

[33] Es war ein unzeitgemäßes Lied, das Charles Halloway immer betrübt stimmte. Es paßte nicht in den Oktober, aber es war zu jeder Jahreszeit, zu jeglicher Tageszeit rührend und überwältigend.

Hell hört’ ich Weihnachtsglocken klingen

Und ihre alten Weisen singen.

So süß und laut,

Die Worte traut:

Friede auf Erden, Friede auf Erden!

Charles Halloway rann ein Schauder über den Rücken. Da war es plötzlich wieder, dieses alte, schrecklich erhebende Gefühl, daß man lachen und weinen zugleich möchte, wenn man am Tag vor Weihnachten die Unschuldigen dieser Erde durch die verschneiten Straßen wandern sieht, zwischen all den müden Männern und Frauen, deren Gesichter schmutzig vor Schuld und nicht abgewaschener Sünde waren, zerschlagen wie kleine Fenster, zertrümmert von den Hieben des Lebens, das unversehens zuschlägt und zurückweicht, wieder zuschlägt und immer wieder.

Lauter und tief die Glocke spricht:

Gott ist nicht tot, noch schläft er nicht!

Der Böse unterliegt,

Der Gerechte siegt!

Friede auf Erden, Friede auf Erden!

Das Pfeifen verklang.

Charles Halloway trat hinaus. Weiter vorn stand der Mann an einem Telegrafenmast und arbeitete schweigend. Dann verschwand er in der offenen Tür eines Ladens.

Charles Halloway wußte auch nicht, warum er über die Straße ging und dem Mann zuschaute, wie er eins seiner Plakate im Fenster des leeren, unvermieteten Ladens anbrachte.

Dann trat der Mann mit seiner Papierrolle, seinem Eimer und [34] dem Pinsel wieder aus der Tür. Sein wilder, flackernder Blick richtete sich auf Charles Halloway. Lächelnd hob er die Hand.

Halloway riß die Augen auf.

Die Handfläche war mit seidenweichem schwarzem Haar bedeckt. Es sah aus wie…

Die Hand ballte sich zur Faust. Ein Winken, dann war der Mann um die nächste Ecke. Charles Halloway stand benommen da, von Sommerhitze übergossen, schwankte, dann drehte er sich um und warf einen Blick in den leeren Laden.

Unter einer einzelnen Lampe standen nebeneinander zwei Sägeböcke. Darüber lag wie ein Sarg aus Schnee und Eiskristallen ein sechs Fuß langer Eisblock, schimmernd wie von innen heraus, bläulichgrün gefärbt. Ein großer, kalter Edelstein in der Dunkelheit.

Auf dem kleinen weißen Plakat im Fenster las er im Licht der Lampe:

Cooger & Darks Pandämonium-Schattenspiele

Fantoccini, Marionettentheater, Bunter Rummelplatz!

Demnächst in dieser Stadt.

Mit vielen Attraktionen, unter anderem auch

DIE SCHÖNSTE FRAU DER WELT!

Halloways Blick wurde von dem Plakat an der Innenseite des Fensters magisch angezogen.

DIE SCHÖNSTE FRAU DER WELT!

Dann starrte er wieder auf den langen, kalten Eisblock.

An einen solchen Eisblock erinnerte er sich noch aus Kindertagen; der Zauberer eines Wanderzirkus hatte Mädchen zwölf Stunden lang in einen Brocken Winter eingefroren, den die hiesige Eisfabrik geliefert hatte. Vor der Eiswand ging die Vorstellung weiter, bis schließlich schwitzende Magier die blassen Damen befreiten und sie lächelnd hinter den Vorhang entführten.

DIE SCHÖNSTE FRAU DER WELT!

[35] Dabei war dieser durchsichtige Klotz aus winterlichem Glas nichts weiter als gefrorenes Flußwasser.

Oder nicht? Nein, ganz leer war er nicht.

Halloway spürte, wie sein Herz rascher klopfte.

War da nicht ein Hohlraum in dem riesigen weißen Diamant? Eine gewölbte Leere, die sich vom Scheitel bis zur Sohle des Klotzes hinzog? War diese Höhlung, die darauf wartete, mit warmem Fleisch gefüllt zu werden, nicht ungefähr geformt wie ein Frauenkörper?

Ja.

Das Eis. Der Hohlraum mit den lieblichen Kurven, waagrechter Fluß von Linien in der Leere des Eises. Liebliches Nichts. Die schönen Linien einer Meerjungfrau, die es wagte, sich vom Eis gefangennehmen zu lassen.

Das Eis war kalt.

Der Hohlraum im Eis war warm.

Er wollte weg von hier.

Aber Charles Halloway blieb lange Zeit in dem düsteren, leeren Laden stehen. Vor ihm, auf den beiden Sägeböcken, wartete kalt der arktische Sarg und funkelte im Dunkeln wie der Stern von Indien.

Sechstes Kapitel

Jim Nightshade blieb an der Ecke der Hickory und Main Street stehen. Sein Atem ging kaum rascher. Zärtlich wanderte sein Blick die staubbedeckte Hickory Street entlang.

»Will…«

»Nein!« Will erschrak über die eigene Heftigkeit.

»Ist doch gleich da vorn. Das fünfte Haus. Eine einzige Minute nur, Will«, bettelte Jim leise.

»Minute?« Will sah die Straße entlang.

[36] Es war die Straße des Theaters.

Bis zu diesem Sommer war es eine ganz gewöhnliche Straße, in der sie je nach Jahreszeit Pfirsiche, Pflaumen und Aprikosen stahlen. Aber dann, Ende August, als sie gerade nach den sauersten Äpfeln in die höchsten Wipfel kletterten, da ereignete sich etwas, das die Häuser verwandelte, den Geschmack der Früchte, sogar die Luft zwischen den flüsternden Bäumen.

»Will. Es wartet auf uns. Vielleicht passiert etwas!« zischte Jim.

Vielleicht passierte wirklich etwas. Will schluckte hart und spürte an seinem Arm den Druck von Jims Hand.

Das war nun nicht mehr die Straße der Äpfel oder Pflaumen oder Aprikosen; es ging nur um das eine Haus mit dem einen Fenster an der Seite. Dieses Fenster, so sagte Jim, sei eine Bühne und die hochgezogenen Jalousien der Vorhang. In diesem Zimmer, auf dieser seltsamen Bühne, standen die Schauspieler und sprachen geheimnisvolle Texte, formten fremde Worte, lachten, murmelten, seufzten. Das meiste davon war nur Flüstern, und Will verstand es nicht.

»Nur das eine Mal noch, Will!«

»Du weißt genau, es ist nicht das letzte Mal.«

Jims Gesicht war gerötet, seine Backen glühten, seine Augen blitzten wie flaschengrünes Feuer. Er dachte an jene Nacht, als sie die Äpfel pflückten und er plötzlich rief: »Da – schau mal!«

Will klammerte sich aufgeregt an die Äste des Baumes und starrte hinein auf das Theater, auf die Bühne, wo die Leute Hemden über die Köpfe zogen, Kleidungsstücke auf den Teppich fallen ließen und nackt wie Tiere dastanden, die Hände nacheinander ausgestreckt.

Was treiben sie nur, überlegte Will. Warum lachen sie? Was fehlt ihnen, was stimmt bei ihnen nicht?

Er wünschte sich nur, daß das Licht ausgehen möge.

Doch er klammerte sich mit plötzlich feuchten Fingern krampfhaft an den Ast und beobachtete das helle Zimmertheater, hörte das Lachen, bis ihm schließlich die Muskeln lahm wurden [37] und er abglitt. Benommen lag er da, dann erhob er sich und starrte hinauf zu Jim, der sich immer noch an seinem hohen Ast festhielt. Mit strahlenden Augen, die Backen feuerrot, die Lippen leicht geöffnet, so starrte er durch das Fenster. »Jim, Jim, komm doch runter!« Aber Jim hörte ihn nicht. »Jim!« Als Jim dann endlich herunterschaute, da stand Will unten wie ein Fremder, der die verrückte Forderung stellt, das Leben aufzugeben und zur Erde zurückzukehren. Will rannte allein davon. Er dachte zu viel, er dachte gar nichts, er wußte nicht mehr, was er denken sollte.

»Will, bitte…«

Will sah Jim an, die Bücher unter den Arm gepreßt. »Wir waren doch in der Bibliothek, langt das nicht?«

Jim schüttelte den Kopf. »Halt mal die Bücher.«

Er reichte Will die Bücher und schlich dann unter den leise wispernden Bäumen entlang. Drei Häuser weiter rief er zurück: »Will, weißt du, was du bist? Ein blöder, alter Episkopaler Baptist!«

Dann war Jim verschwunden.

Will drückte die Bücher fester an sich. Sie wurden von seinen Handflächen feucht.

Nicht umsehen, dachte er.

Ich tu’s nicht! Nein – ich tu’s nicht!

Er richtete den Blick dahin, wo sein Haus lag. In diese Richtung marschierte er.

Rasch, rasch.

Siebentes Kapitel

Will hatte die Hälfte des Heimwegs hinter sich, da spürte er jemanden in seinem Rücken.

»Theater geschlossen?« fragte er, ohne sich umzudrehen.

[38] Jim ging eine Weile schweigend neben ihm her, dann sagte er: »Keiner zu Hause.«

»Fein.«

Jim spuckte aus. »Du verdammter Baptistenprediger!«

Wie ein riesiger Wattebausch kam ein zusammengeknülltes weißes Papier um die Ecke gesaust und verfing sich an Jims Füßen. Will packte lachend das Papier und ließ es fliegen. Dann hörte er auf zu lachen.

Die beiden Jungen froren plötzlich, als sie dem Papierknäuel nachschauten.

»Augenblick…«, sagte Jim langsam.

Mit einem Mal rannten sie schreiend hinterher. »Vorsicht! Nicht zerreißen!«

Das Papier flatterte in ihrer Hand wie das Fell einer Trommel.

»AM 24.OKTOBER KOMMT COOGER & DARK…«

Die Lippen formten die verschnörkelten Buchstaben nach.

»Jahrmarkt!«

»Am 24.Oktober! Das ist morgen!«

»Unmöglich«, sagte Will. »So spät im Jahr kommt kein Jahrmarkt mehr in die Stadt.«

»Na und? Es geschehen immer noch Zeichen und Wunder! Schau mal! MEPHISTOPHELE, DER FEUERFRESSER! MR.ELEKTRIKO! RIESIGE MONTGOLFIERE!«

»Eine Montgolfiere ist ein Ballon«, erklärte Will.

»MADEMOISELLE TAROT!« las Jim weiter. »DER SCHWEBENDE MENSCH! DÄMONEN-GUILLOTINE! DER ILLUSTRIERTE MANN! He!«

»Das ist nichts weiter als ein tätowierter Kerl.«

»Nein!« Jims Atem schlug warm an das Papier. »Er ist illustriert, das ist etwas Besonderes. Sieh mal – mit Ungeheuern bedeckt. Eine Menagerie!« Jims Augen blitzten. »Da – das Skelett! Ist das nicht prima, Will? Kein magerer Mann, ein SKELETT! Dann hier – DIE STAUBHEXE! Was ist eine Staubhexe, Will?«

»Eine dreckige alte Zigeunerin.«

[39] »Nein!« Jim blinzelte in die Ferne und sah alles mögliche. »Eine Zigeunerin, die im Staub geboren wurde, im Staub aufgewachsen ist, eines Tages wieder zu Staub werden wird! Aber da ist noch mehr: ÄGYPTISCHES SPIEGELLABYRINTH! SIE SEHEN SICH SELBST ZEHNTAUSENDMAL! DES HEILIGEN ANTONIUS TEMPEL DER VERSUCHUNG!«

»DIE SCHÖNSTE…«, las Will.

»…FRAU DER WELT!« beendete Jim den Satz.

Sie sahen einander an.

»Kann ein Jahrmarkt, ein Zirkus überhaupt die schönste Frau der Welt dabei haben, Will?«

»Du kennst doch diese Jahrmarktweiber, Jim!«

»Grizzlybären. Aber es steht doch hier…«

»Ach, hör auf damit!«

»Böse, Will?«

»Nein, nur – halt’s fest!«

Der Wind hatte ihnen das Plakat aus den Händen gerissen. Es wurde in verrückten Sprüngen und Bogen über die Baumwipfel davongeweht.

»Stimmt ohnehin nicht«, stieß Will hervor. »So spät im Jahr kommt kein Zirkus mehr. Alles dummes Zeug. Wer geht denn da hin?«

»Ich.« Jim stand ganz still im Dunkeln.

Ich auch, dachte Will. Er sah vor sich das Ägyptische Spiegelkabinett, die blitzende Guillotine und den schwefelgelben Mann, der flüssige Lava schlürfte wie Tee aus Schießpulver.

»Die Musik«, flüsterte Jim. »Jahrmarktsorgel. Sie müssen heute nacht schon kommen!«

»Ein Zirkus kommt immer bei Sonnenaufgang an.«

»Und der Geruch nach Lakritze und Zuckerwatte heute abend?«

Will dachte an die Düfte und Klänge, die mit dem Strom des Windes über die Hausdächer hergeweht kamen, an Mr.Tetley, der lauschend neben seinem hölzernen Indianer stand, Mr.Crosetti mit der einen Träne auf der Wange, und das erleuchtete, [40] unendliche Band vor dem Friseurladen, das seine rote Zunge aus dem Nichts ins Nichts wand.

Er klapperte mit den Zähnen.

»Laß uns nach Hause gehen.«

»Aber – wir sind schon zu Hause!« rief Jim überrascht.

Ohne es zu merken, waren sie angekommen. Jeder ging seinen Weg zu seinem Haus.

Auf der Veranda drehte Jim sich um und rief halblaut: »Will, du bist mir nicht böse?«

»Aber nein.«

»Wir gehen einen Monat lang nicht mehr in diese Straße, zu diesem Haus, zum Theater. Ich schwör’s dir!«

»Schon gut, Jim.«

Ihre Hände ruhten schon auf den Türknöpfen ihrer Häuser, da wanderte Wills Blick hinauf zu Jims Dach, wo der Blitzableiter gegen den sternklaren Himmel glänzte.

Das Gewitter kam. Oder es kam nicht…

Auf jeden Fall war er froh, daß Jim das großartige Ding auf dem Dach hatte.

»Nacht!«

»Nacht.«

Die beiden Türen schlugen zu.

Achtes Kapitel

Will machte die Tür noch einmal auf und schloß sie wieder – diesmal leise.

»Schon besser«, sagte seine Mutter.

Durch den Türrahmen erblickte Will das einzige Theater, an dem ihm etwas lag, die vertraute Bühne, auf der sein Vater mit einem Buch in der Hand saß und zwischen den Zeilen las. (Er war schon zu Hause! Sie mußten vorhin doch einen ziemlichen [41] Umweg gemacht haben!) In dem Sessel neben dem Kamin saß seine Mutter, strickte und summte dabei wie ein Teekessel.

Er wollte ihnen nahe sein und doch fern, er sah sie aus der Nähe, und zwischen ihnen war ein gewaltiger Abstand. Plötzlich sahen sie schrecklich klein in einem viel zu großen Zimmer aus, in einer zu großen Stadt, in einer viel zu riesigen Welt. In diesem unverschlossenen Haus schienen sie allem ausgeliefert zu sein, was aus der Nacht draußen einbrechen konnte.

Das gilt auch für mich, dachte Will, auch für mich.