Das Brot der frühen Jahre - Heinrich Böll - E-Book

Das Brot der frühen Jahre E-Book

Heinrich Böll

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Beschreibung

Walter Fendrich, Hauptfigur dieser Liebesgeschichte in den Wirtschaftswunderjahren, hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Nach dem Krieg begann er ziellos mehrere Berufsausbildungen, versuchte sich erfolglos als Banklehrling, Tischler und Verkäufer, und auch seine Elektrikerlehre schloß er ohne Begeisterung ab. Schließlich findet er ein einträgliches Auskommen als Waschmaschinen-Mechaniker, ohne jedoch mit seinem Leben zufrieden zu sein. Das ändert sich, als sein Vater ihn in einem Brief bittet, die Tochter eines Kollegen vom Bahnhof abzuholen. Die Begegnung mit der zwanzigjährigen Hedwig, einer flüchtigen Bekannten aus Kindertagen, wird für Walter zum Wendepunkt. Er setzt alles daran, die junge Frau zu gewinnen, und legt dabei eine Entschlossenheit an den Tag, die ihn an seine Kindheit erinnert. Er wuchs auf in ärmlichen Verhältnissen und war von einem gierigen, geradezu zwanghaftem Verlangen nach Brot besessen. Die Hartherzigkeit seiner Umgebung trieb ihn in den Diebstahl, und schließlich ging es Walter nur noch um Geld. Es wurde zum einzigen Lebenszweck, und erst die Macht, mit der ihn die Liebe zu Hedwig erfasst, führt ihn zu lange vergessenen Wertmaßstäben zurück. Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1 - 27 Kölner Ausgabe

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Heinrich Böll

Das Brot der frühen Jahre

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Über Heinrich Böll

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Über Heinrich Böll

Heinrich Böll, 1917 in Köln geboren, nach dem Abitur 1937 Lehrling im Buchhandel und Student der Germanistik. Mit Kriegsausbruch wurde er zur Wehrmacht eingezogen und war sechs Jahre lang Soldat. Seit 1947 veröffentlichte er Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele, Theaterstücke und zahlreiche Essays. Zusammen mit seiner Frau Annemarie war er auch als Übersetzer englischsprachiger Literatur tätig. Heinrich Böll erhielt 1972 den Nobelpreis für Literatur. Er starb im Juli 1985 in Langen-broich/Eifel.

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Über dieses Buch

Walter Fendrich, Hauptfigur dieser Liebesgeschichte in den Wirtschaftswunderjahren, hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich.

Nach dem Krieg begann er ziellos mehrere Berufsausbildungen, versuchte sich erfolglos als Banklehrling, Tischler und Verkäufer, und auch seine Elektrikerlehre schloß er ohne Begeisterung ab. Schließlich findet er ein einträgliches Auskommen als Waschmaschinen-Mechaniker, ohne jedoch mit seinem Leben zufrieden zu sein. Das ändert sich, als sein Vater ihn in einem Brief bittet, die Tochter eines Kollegen vom Bahnhof abzuholen. Die Begegnung mit der zwanzigjährigen Hedwig, einer flüchtigen Bekannten aus Kindertagen, wird für Walter zum Wendepunkt. Er setzt alles daran, die junge Frau zu gewinnen, und legt dabei eine Entschlossenheit an den Tag, die ihn an seine Kindheit erinnert. Er wuchs auf in ärmlichen Verhältnissen und war von einem gierigen, geradezu zwanghaftem Verlangen nach Brot besessen. Die Hartherzigkeit seiner Umgebung trieb ihn in den Diebstahl, und schließlich ging es Walter nur noch um Geld. Es wurde zum einzigen Lebenszweck, und erst die Macht, mit der ihn die Liebe zu Hedwig erfasst, führt ihn zu lange vergessenen Wertmaßstäben zurück.

Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1–27 Kölner Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Das Brot der frühen Jahre

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Das Brot der frühen Jahre

(1955)

1

Der Tag, an dem Hedwig kam, war ein Montag, und an diesem Montagmorgen, bevor meine Wirtin mir Vaters Brief unter die Tür schob, hätte ich mir am liebsten die Decke übers Gesicht gezogen, wie ich es früher oft tat, als ich noch im Lehrlingsheim wohnte. Aber im Flur rief meine Wirtin: »Es ist Post für Sie gekommen, von zu Hause!« Und als sie den Brief unter die Tür schob, er schneeweiß in den grauen Schatten rutschte, der noch in meinem Zimmer lag, sprang ich erschrocken aus dem Bett, da ich statt des runden Stempels einer Postanstalt den ovalen der Bahnpost erkannte.

Vater, der Telegramme haßt, hat mir in den sieben Jahren, die ich allein hier in der Stadt lebe, nur zwei solcher Briefe mit dem Stempel der Bahnpost geschickt: der erste kündigte Mutters Tod an, der zweite Vaters Unfall, als er beide Beine brach – und dieser war der dritte; ich riß ihn auf und war erleichtert, als ich ihn las: »Vergiß nicht«, schrieb Vater, »daß Mullers Tochter Hedwig, für die Du das Zimmer besorgtest, heute mit dem Zug ankommt, der 11. 47 dort einläuft. Sei nett, hole sie ab und denke daran, ein paar Blumen zu kaufen und freundlich zu sein. Versuche Dir vorzustellen, wie es solch einem Mädchen zumute ist: sie kommt zum erstenmal allein in die Stadt, sie kennt die Straße, kennt den Stadtteil nicht, wo sie wohnen wird, alles ist ihr fremd, und der große Bahnhof mit dem Rummel um die Mittagszeit wird sie erschrecken. Bedenke: sie ist zwanzig Jahre alt und kommt in die Stadt, um Lehrerin zu werden. Schade, daß Du Deine Sonntagsbesuche bei mir nicht mehr regelmäßig machen kannst – schade. Herzlich Vater.«

 

Später dachte ich oft darüber nach, wie alles gekommen wäre, wenn ich Hedwig nicht am Bahnhof abgeholt hätte: ich wäre in ein anderes Leben eingestiegen, wie man aus Versehen in einen anderen Zug einsteigt, ein Leben, das mir damals, bevor ich Hedwig kannte, als ganz passabel erschien. So nannte ich es jedenfalls, wenn ich mit mir selbst darüber sprach, aber dieses Leben, das für mich bereitstand wie der Zug auf der anderen Seite des Bahnsteigs, der Zug, den man fast genommen hätte, dieses Leben lebe ich jetzt in meinen Träumen, und ich weiß, daß die Hölle geworden wäre, was mir damals ganz passabel erschien: ich sehe mich in diesem Leben herumstehen, sehe mich lächeln, höre mich reden, wie man im Traum einen Zwillingsbruder, den man nie gehabt hat, lächeln sehen und reden hören mag; den, der vielleicht für den Bruchteil einer Sekunde angelegt war, ehe der Same, der ihn trug, unterging.

Ich wunderte mich damals, daß Vater diesen Brief als Eilbrief geschickt hatte, und ich wußte noch nicht, ob ich Zeit haben würde, Hedwig abzuholen, denn seitdem ich mich auf die Reparaturen und die Überwachung automatischer Waschmaschinen spezialisiert habe, sind die Wochenenden und die Montage unruhig. Gerade an Samstagen und Sonntagen, wenn sie dienstfrei haben, spielen die Ehemänner an den Waschmaschinen herum, weil sie sich von der Qualität und Arbeitsweise dieser kostbaren Anschaffung überzeugen wollen, und ich sitze am Telefon und warte auf Anrufe, die mich oft in entlegene Vororte bestellen. Schon wenn ich die Häuser betrete, rieche ich den brandigen Geruch zerschmorter Kontakte oder Kabel, oder ich finde Maschinen vor, aus denen der Seifenschaum wie in Trickfilmen hervorquillt, finde zerknirschte Männer, weinende Frauen, die von den wenigen Knöpfen, die sie zu drücken haben, einen zu drücken vergessen oder einen zweimal gedrückt haben; ich genieße dann meine eigene Lässigkeit, mit der ich die Werkzeugtasche öffne, prüfe mit gestülpten Lippen den Schaden, hantiere ruhig an Schaltern, Hebeln und Verbindungen herum und erkläre freundlich lächelnd, während ich die vorschriftsmäßige Mischung Seifenpulver herstelle, nochmals den Arbeitsgang der Maschine, lasse sie dann laufen, und während ich mir die Hände wasche, höre ich mir höflich die dilettantischen Fachsimpeleien des Hausherrn an, der glücklich ist, seine technischen Kenntnisse ernstgenommen zu sehen. Wenn ich mir dann die Arbeitsstunden und Fahrtkilometer quittieren lasse, blickt man meistens nicht so genau hin, und ich steige gelassen in mein Auto und fahre zur nächsten Alarmstelle.

Zwölf Stunden Arbeit, auch am Sonntag, und hin und wieder ein Treffen mit Wolf und Ulla im Café Joos; an den Sonntagen eine Abendmesse, zu der ich meistens zu spät kam, und wo ich dann ängstlich an den Bewegungen des Priesters ablas, ob die Opferung nicht schon begonnen habe; mein erleichtertes Aufseufzen, wenn sie noch nicht begonnen hatte, und ich war müde in irgendeine Bank gesunken, manchmal eingeschlafen und erst wach geworden, wenn die Ministranten zur Wandlung klingelten. Es hatte Stunden gegeben, in denen ich mich selbst haßte, meine Arbeit, meine Hände.

 

Ich war müde an diesem Montagmorgen, es lagen noch sechs Anrufe vom Sonntag vor, und ich hörte meine Wirtin in der Diele am Telefon sagen: »Ja, ich werde es ihm ausrichten.« Ich setzte mich aufs Bett, rauchte und dachte an Vater.

Ich sah, wie er abends durch die Stadt gegangen war, um den Brief in den Zug zu werfen, der um zehn in Knochta hält; ich sah ihn über den Platz an der Kirche gehen, an Mullers Haus vorüber, durch die schmale Allee mit den verkrüppelten Bäumen; wie er dann, um den Weg abzukürzen, das große Tor des Gymnasiums aufschloß, durch die dunkle Toreinfahrt auf den Schulhof trat, an der gelbgetünchten Hinterfront des Schulgebäudes hochblickte zu seiner Unterprima, vorbei an dem Baum in der Mitte des Hofes, der nach dem Urin des Hausmeisterhundes stinkt, und ich sah Vater das kleine Tor aufschließen, das jeden Morgen von fünf vor acht bis acht für die Fahrschüler geöffnet wird, die aus dem gegenüberliegenden Bahnhof stürzen, während Hohnscheid, der Hausmeister, neben dem Tor steht, um achtzugeben, daß keiner von den Schülern, die in der Stadt wohnen, durch das Fahrschülertor sich einschleicht. Alfred Gruhs etwa, der Sohn des Bahnhofsvorstehers, der den langen und öden Weg um den ganzen Häuserblock machen mußte, weil er kein Fahrschüler war. An Sommerabenden hängt die Sonne rot in den blanken Scheiben der Klassenräume. Als ich das letzte Jahr in Knochta verbrachte, bin ich oft abends mit Vater diesen Weg gegangen, wenn wir Briefe oder Pakete für Mutter an den Zug brachten, der aus der Gegenrichtung kam und um halb elf dann in Brochen, wo Mutter im Krankenhaus lag, hielt.

Meistens hatte Vater auf dem Rückweg auch diesen Weg über den Schulhof gewählt, weil er eine Abkürzung um vier Minuten bedeutete, den Umweg um jenen häßlichen Häuserblock ersparte, und weil Vater meistens ein Buch oder Hefte zu holen hatte.

Mit der Erinnerung an diese Sommersonntagabende im Gymnasium fiel es wie eine Lähmung über mich: graue Dunkelheit lag in den Fluren, einzelne, einsame Mützen hingen an den Kleiderhaken vor den Klassenzimmern, der Boden war frisch geölt, die Silberbronze am Denkmal für die Gefallenen glimmerte matt neben dem schneeweißen, großen Viereck, wo sonst das Hitlerbild gehangen hatte, und blutrot leuchtete Scharnhorsts Kragen neben dem Lehrerzimmer. Einmal versuchte ich, ein gestempeltes Zeugnisformular, das auf dem Tisch des Lehrerzimmers lag, einzustecken, aber das Formular war so feierlich steif und raschelte so sehr, als ich es zusammenfalten und unters Hemd schieben wollte, daß Vater, der an einem Schrank stand, sich umwandte, es mir zornig aus der Hand nahm und auf den Tisch zurückwarf. Er versuchte nicht, es zu glätten, schimpfte auch nicht mit mir, aber von da an mußte ich immer draußen im Flur auf ihn warten, allein mit Scharnhorsts blutrotem Kragen und allein mit der Röte von Iphigenies Lippen, deren Bild neben der Oberprima hing, und es blieb mir nichts als die dunkelgraue Dunkelheit im Flur und hin und wieder ein Blick durch den Spion in die Oberprima. Aber auch der Spion gab nur den Blick in dunkelgraue Dunkelheit frei. Einmal fand ich ein Herz-As auf dem frisch geölten Boden: das Rot war dasselbe wie von Iphigenies Lippen und Scharnhorsts Kragen, und durch den Geruch des frischen Öls hindurch roch ich den der Schulspeisung. Vor den Klassenzimmern sah ich deutlich die kreisrunden Spuren der heißen Kanister im Linoleum, und dieser Suppengeruch, der Gedanke an den Kanister, der am Montagmittag vor unserer Klasse stehen würde, weckte meinen Hunger, den das Rot aus Scharnhorsts Kragen, das Rot von Iphigenies Lippen und das Rot des Herz-As nicht zu stillen vermochten. Wenn wir auf dem Heimweg waren, bat ich Vater, doch bei Fundahl, dem Bäckermeister, eben hineinzusehen, guten Abend zu sagen und beiläufig nach einem Brot zu fragen oder nach einem Rest des dunkelgrauen Kuchens, dessen Marmeladeschicht so rot war wie Scharnhorsts Kragen. Ich sprach Vater, während wir durch die stillen, dunklen Straßen nach Hause gingen, den ganzen Dialog vor, den er mit Fundahl führen sollte – um unserem Besuch den Schein der Zufälligkeit zu geben. Ich wunderte mich selbst über meine Erfindungsgabe, und je näher wir Fundahls Laden kamen, um so dringender wurden meine Vorstellungen, um so besser wurde der imaginäre Dialog, den Vater mit Fundahl hätte führen sollen. Vater schüttelte den Kopf, weil Fundahls Sohn in seiner Klasse und ein schlechter Schüler war, aber wenn wir Fundahls Haus erreicht hatten, blieb er stehen, zögernd. Ich wußte, wie schwer es für ihn war, bohrte aber weiter, und jedesmal machte Vater eine so eckige Wendung, wie sie Soldaten in den Lustspielfilmen machen, trat in die Tür und klingelte bei Fundahls: Sonntagabend um zehn, und es spielte sich immer wieder dieselbe stumme Szene ab: irgend jemand öffnete, aber niemals Fundahl selbst, und Vater war zu verlegen und zu erregt, um auch nur guten Abend zu sagen, und Fundahls Sohn, seine Tochter oder seine Frau, wer immer auch in der Tür stand, rief nach rückwärts in den dunklen Flur: »Vater, der Herr Studienrat.« Und Vater wartete stumm, während ich hinter ihm stehenblieb und die Gerüche des Fundahlschen Abendessens registrierte: es roch nach Braten oder geschmortem Speck, und wenn die Tür zum Keller offenstand, roch ich den Brotgeruch. Dann erschien Fundahl, er ging in den Laden, brachte ein Brot, das er nicht einwickelte, hielt es Vater hin, und Vater nahm es, ohne etwas zu sagen. Beim erstenmal hatten wir weder Aktentasche noch Papier bei uns, und Vater trug das Brot unter dem Arm nach Hause, während ich stumm neben ihm herging und seinen Gesichtsausdruck beobachtete: es war immer ein heiteres, stolzes Gesicht, und es war nichts davon zu sehen, wie schwer es ihm geworden war. Als ich ihm das Brot abnehmen wollte, um es zu tragen, schüttelte er freundlich den Kopf, und später, wenn wir wieder sonntags abends an den Bahnhof gingen, um die Post für Mutter in den Zug zu werfen, sorgte ich immer dafür, daß wir eine Aktentasche mithatten. Es kamen Monate, in denen ich mich schon dienstags auf dieses Extrabrot zu freuen anfing, bis an einem Sonntag plötzlich Fundahl selbst uns die Tür öffnete, und ich sah seinem Gesicht gleich an, daß wir kein Brot bekommen würden: die großen dunklen Augen waren hart, das schwere Kinn wie das einer Denkmalsfigur, und er bewegte die Lippen kaum, als er sagte: »Ich kann Brot nur auf Marken abgeben und auch auf Marken nicht am Sonntagabend.« Er schlug uns die Tür vor der Nase zu, dieselbe Tür, die heute der Eingang zu einem Café ist, in dem der örtliche Jazzclub tagt. Ich hatte das blutrote Plakat gesehen: strahlende Neger, die ihre Lippen auf die goldenen Mundstücke von Trompeten pressen.

Damals dauerte es einige Sekunden, bis wir uns gefaßt hatten und nach Hause gingen, ich mit der leeren Aktentasche, deren Leder so schlaff wie das eines Einkaufsbeutels war. Vaters Gesicht war nicht anders als sonst: stolz und heiter. Er sagte: »Ich habe seinem Sohn gestern eine Fünf geben müssen.«

 

Ich hörte meine Wirtin in der Küche Kaffee mahlen, hörte die leisen und freundlichen Ermahnungen, die sie ihrer kleinen Tochter gab – und ich hatte immer noch Lust, ins Bett zurückzugehen und die Decke über den Kopf zu ziehen: noch entsann ich mich, wie schön es gewesen war: im Lehrlingsheim hatte ich es so gut verstanden, meinen Mund elend zu verziehen, daß der Heimleiter, Kaplan Derichs, mir Tee und einen Wärmebeutel ans Bett bringen ließ, und ich fiel, wenn die anderen zum Frühstück hinuntergegangen waren, in den Schlaf zurück und wurde erst wach, wenn gegen elf die Reinemachefrau kam, um den Schlafsaal aufzuräumen. Sie hieß Wietzel, und ich hatte Angst vor ihrem harten, blauen Blick, Angst vor der Rechtschaffenheit dieser starken Hände, und während sie die Bettücher zurechtzog, die Decken faltete – mein Bett meidend wie das Bett eines Aussätzigen –, stieß sie immer wieder jene Drohung aus, die mir heute noch schrecklich in den Ohren klingt: »Aus dir wird nichts – nichts wird aus dir…«, und ihr Mitleid, als dann Mutter gestorben war und alle freundlich zu mir waren, ihr Mitleid war mir noch schlimmer. Doch als ich nach Mutters Tod wiederum den Beruf und die Lehrstelle wechselte und tagelang im Heim herumhockte, bis der Kaplan eine neue Stelle für mich gefunden hatte – ich schälte Kartoffeln oder stand mit einem Kehrbesen in der Hand auf den Fluren herum –, in jenen Tagen war ihr Mitleid schon wieder verschwunden, und sooft sie mich erblickte, stieß sie ihre Prophezeiung aus: »Aus dir wird nichts – nichts wird aus dir.« Ich hatte Angst vor ihr wie vor einem Vogel, der einen krächzend verfolgt, und flüchtete mich in die Küche, wo ich mich unter dem Schutz von Frau Fechter sicher wußte: ich half ihr Kohl einmachen und verdiente mir manche Extraportion Pudding, indem ich die Weißkohlköpfe über den großen Hobel schob und mich von der Süße der Lieder einlullen ließ, die die Küchenmädchen sangen. Beim Singen mußten Stellen, die Frau Fechter für unsittlich hielt – Stellen wie: »Und er liebte sie in der großen dunklen Nacht« – durch Summen übermalt werden. Aber der Weißkohlhaufen nahm schneller ab, als ich gedacht hatte, und es blieben noch zwei fürchterliche Tage, die ich – mit dem Kehrbesen in der Hand – unter Frau Wietzels Befehl zu verbringen hatte. Dann fand der Kaplan für mich die Stelle bei Wickweber, und nachdem ich Banklehrling, Verkäuferlehrling und Tischlerlehrling gewesen war, fing ich als Elektriker bei Wickweber an. Neulich, sieben Jahre nach dieser Zeit im Lehrlingsheim, sah ich Frau Wietzel an einer Straßenbahnstation stehen, und ich stoppte meinen Wagen, stieg aus und bot ihr an, sie in die Stadt zu bringen. Sie nahm an, doch als ich sie vor ihrer Wohnung absetzte, sagte sie herzlich: »Ich danke auch schön – aber ein Auto bedeutet noch lange nicht, daß aus einem was geworden ist…«

Ich zog die Decke nicht über den Kopf und ersparte es mir zu entscheiden, ob Frau Wietzel recht behalten habe oder nicht, denn ob aus mir etwas geworden war oder nicht – es war mir gleichgültig.

 

Als meine Wirtin mit dem Frühstück kam, saß ich immer noch auf der Bettkante. Ich gab ihr Vaters Brief, und sie las ihn, während ich Kaffee eingoß und mir ein Brot zurechtmachte.

»Natürlich«, sagte sie, »werden Sie hingehen«, und sie legte den Brief aufs Tablett neben die Zuckerdose. »Sie werden nett sein und das Mädchen zum Essen einladen. Denken Sie daran, daß diese jungen Mädchen meistens mehr Hunger haben, als sie zugeben.«

Sie ging hinaus, weil das Telefon klingelte, und ich hörte sie wieder sagen: »Ja, ja, ich werde es ihm ausrichten – ja –«, und sie kam zurück und sagte: »Eine Frau in der Kurbelstraße hat angerufen, sie hat am Telefon geweint, weil sie mit der Maschine nicht fertig wird. Sie bittet Sie, doch gleich zu kommen.«

»Ich kann nicht«, sagte ich, »ich muß erst die gestrigen Anrufe erledigen.«

Meine Wirtin zuckte die Schultern und ging; ich frühstückte, wusch mich und dachte an Mullers Tochter, die ich gar nicht kannte. Sie hatte schon im Februar in die Stadt kommen sollen, und ich hatte über ihres Vaters Brief gelacht, über seine Schrift, die ich noch von Zensuren unter meinen mißglückten Englischarbeiten her kannte, und über seinen Stil.