Das Buch der Begegnungen - Alexander Humboldt - E-Book

Das Buch der Begegnungen E-Book

Alexander Humboldt

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Beschreibung

Bibliophiler Prachtband

Wagemut und Wissbegier, ein feines Beobachtungs- und Differenzierungsvermögen und vor allem die unbändige Lust an immer neuen Begegnungen machten Alexander von Humboldt vor 200 Jahren zu einem epochalen Weltentdecker. «Das Buch der Begegnungen», das die emphatischsten Zeugnisse aus den «Amerikanischen Reisetagebüchern» versammelt, zeigt einen warmherzigen Menschen ohne Berührungsängste. Auf seiner Reise in die amerikanischen Tropen von 1799 bis 1804 hielt der preußische Kosmopolit eine Vielzahl exotischer Physiognomien fest und sah die Welt, wie sie vor ihm noch keiner gesehen hatte. Als einer der ersten Europäer überhaupt kritisierte er Kolonialismus, Sklavenhandel und christlichen Bekehrungseifer. Dagegen betonte er die Würde und den kulturellen Reichtum vermeintlich primitiver Völker. Überzeugt davon, dass es keine unterlegenen oder gar minderwertigen Ethnien gebe, war er seinen Zeitgenossen weit voraus. Und selbst im 21. Jahrhundert kommt Alexander von Humboldt als Anwalt einer universellen Humanität wie gerufen.

  • Bibliophiler Prachtband: gebunden in bedrucktes Leinen, zweifarbig gedruckt, fadengeheftet, mit farblich abgestimmtem Lesebändchen, gestaltetem Vorsatz sowie Originalillustrationen Alexander von Humboldts

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Seitenzahl: 680

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Wagemut und Wissbegier, ein feines Beobachtungs- und Differenzierungsvermögen und vor allem die unbändige Lust an immer neuen Begegnungen machten Alexander von Humboldt vor 200 Jahren zu einem epochalen Weltentdecker. Im «Buch der Begegnungen» kann man ihn nun von einer ganz neuen, sehr persönlichen Seite kennenlernen: in seiner durch und durch humanen Gesinnung, seinem tiefen Respekt vor allem Fremden. Hier schreibt kein nüchterner Naturforscher, sondern ein warmherziger, mitfühlender Mensch. Als einer der ersten Europäer überhaupt kritisierte Alexander von Humboldt Kolonialismus, Sklaverei und christlichen Bekehrungseifer. In der Überzeugung, dass es keine unterlegenen oder gar minderwertigen Ethnien gebe, war er seinen Zeitgenossen weit voraus. Und auch im 21. Jahrhundert kommt dieser Anwalt einer universellen Humanität wie gerufen.

Alexander von Humboldt

DAS BUCH DER BEGEGNUNGEN

Menschen – Kulturen – Geschichtenaus den Amerikanischen Reisetagebüchern

Herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von Ottmar Ette

Mit Originalzeichnungen Humboldts sowiehistorischen Landkarten und Zeittafeln

MANESSE VERLAG

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright ©  2018 by Manesse Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright der Humboldt-Illustrationen im Buch siehe unter Bildnachweise.

Diese Buchausgabe wurde von Andrea Mogwitz aus der Aldus nova gesetzt.

Die Reproduktionen fertigte Helio Repro GmbH in München.

Bildredaktion: Annette Mayer

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: «Volcan de Cayambe», Louis Bouquet nach einer Zeichnung von Pierre Antoine Marchais auf der Grundlage einer Skizze von Alexander von Humboldt aus: Alexander v. Humboldt, «Vues des Cordillères et monuments des peuples indigènes de l'Amérique», Paris 1810 © bpk

ISBN 978-3-641-21659-7 V002

Inhaltsverzeichnis

Reisen im «Buch der Begegnungen»

Leseparcours

Das Buch der Begegnungen

Unbändige Wünsche nach weiten und unbekannten Dingen*

Abschied von Paris, von der Weltumsegelung sowie afrikanischen Reiseplänen*

Zeitepochen meines Lebens

Abreise von Europa und ein erster indianischer Freund*

Szenerien der Abreise*

Menschen an Bord*

Ein armer Fischer auf afrikanischem Boden*

Ein neugieriger irischer Feldkaplan*

Die Capitanas von Santa Cruz*

Das Kreuz des Südens*

Der Tod an Bord und die Ankunft in Südamerika*

Die Kultur des Menschengeschlechts*

Caracas. Justiz

Sklaven

Ein Schuster, der Perlen schenkt*

Religion und Mythen

Architektur der Römer und Mexikaner

Die Kariben*

Stumme Hunde*

Von Sintfluten, Sprachen und Staaten*

Der Mönch im indianischen Dorfe*

Chaymas-Indianer*

Von der Entdeckung zur Eroberung*

In der Höhle der Guácharos*

Guayquerí-Indianer*

Palmen, Tapire und freie Menschen in den Tropen*

Lüge auf Lüge*

Wunderbar, wie das Menschengeschlecht ausharrt*

Vertreter wahrer spanischer Größe*

Reise von Caracas zum Orinoco

Sklaven*

Sklavenhalter*

Die Schönheit des Zamang*

In der weißen Republik*

Töchter auf dem Baum*

Der Zambe und die Ankunft in einem spanisch-amerikanischen Städtchen*

Die Besteigung der Silla von Caracas und eine sich auflösende Reisegesellschaft*

Missionen

Die Grenzen des Wissens*

Geruch*

Südamerika in Bewegung*

Sklaven

Sklaven

Wilde

Rettende Begegnung mit einem Reiter*

Jesuiten in einem Archipel von Inseln*

Leben an und auf den Flüssen*

Wilde Natur*

Kleine Nachtmusik*

Die Begegnung mit dem Tiger*

Blicke auf dem Fluss*

Hazardspiel und Eiersuche*

Pfingstsonntagsabenteuer*

Algerische Türken und das aphoristische Tagebuch einer Lustreise*

Durch Zeichen sprechen*

Überfälle der Guahibos*

Indianer und Missionen an den Flüssen*

Sprachen statt Mythen*

Die mutige Mutter*

Missionarskriege*

Ausbreitung des Spanischen*

Spuren sehr alter Kultur*

Das Mönchsregiment und seine Sklaven – im Geflecht des Orinoco*

Die Knochenhöhle von Ataruipe

Stricke von Chiuuichiqui

Culture perdue

Don Antonio Santos. Erevato

Regierung

Geburten – arithmétique politique

Beispiele der Bruderliebe*

Reise von Nueva Barcelona nach Havanna, November und Dezember 1800

Das Manuskript im wasserdichten Koffer*

Großer Streit*

Das Mittelmeer*

Alles ist Wechselwirkung*

Arbeiten in den Hochanden*

Die Gemeinschaft der Bergbesteiger nachts*

Höher als irgendein Sterblicher vor uns auf dem Antisana*

Ihre Armut ist ihr Reichtum*

Felipe Aldas und die Gottheit des Vulkans*

Schicksal und Geschicklichkeit der Indianer*

Reise zum Chimborazo

Die Wahl am Chimborazo*

Begegnung mit Leandro Zepla*

Die Werke menschlicher Größe*

Expeditionen in für Europa unbekannte Welten*

Die Sonne der Priester*

Mit Carlos Montúfar, die Sterne betrachtend*

Entlang der Inkastraße*

Barbaren aus dem westlichen Europa*

Mit dem Schatz des Inka unter den Füßen*

Das Repartimiento von Indianern

Die wilden Jíbaros

Der alte Freund, das Meer: Blick auf die Südsee*

Der Schatz des Kaziken*

Indianer. Weisheit

Sprachen über Sprachen*

Die Indianer und die Kolonialgesellschaft*

Reisen durch das Land, Reisen durch die Jahrhunderte

Kolonien

Tragik*

Ein Gesetz gegen Sklaverei und Sklavenhandel*

Schwarze in Schweden*

Missionen

Reichtümer

Rekruten für Manila. Inquisition

Der vergrabene Koloss in der Universität*

Leben im Herzen Mexikos*

Die Jungfrau von Guadalupe*

Verlorene Manuskripte*

Der Palast von Chapultepec*

Pater Pichardo und die mexikanischen Bilderhandschriften*

Eine schreckliche Nacht*

Die Akademie der Schönen Künste in Mexiko

Amujerados*

Die Sklaven von Querétaro*

Anstrengung und Melancholie*

Minenarbeiter in Mexiko*

Die Beraubten*

Mit meinem unmittelbar bevorstehenden Tod beschäftigt*

Die Amerikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts

Editorische Notiz

Danksagung

Zeittafel 1

Alexander von Humboldts Leben

Zeittafel 2

Die amerikanische Reise

Bildnachweise

Inhaltsverzeichnis

«Baron de Humboldt 1807», Zeichnung von Frédéric Christophe d’Houdetot (1778–1859), Berlin 1807, Bleistift auf Papier, laviert, 8 x 10,5 cm

(Bibliothèque du Conseil d’État, Album Houdetot, n° 116).

Vorwort

Reisen im «Buch der Begegnungen»

Begegnungen aus der Bewegung

1799, als Neunundzwanzigjähriger, brach Alexander von Humboldt zu seiner Reise in die amerikanische «Palmenwelt» auf, 1804, als Vierunddreißigjähriger, kam er nach Europa zurück. Dass aus dem, der sich da erfahrungshungrig auf den Weg in die Tropen gemacht hatte, fünf Jahre später ein erfahrungsgesättigter Heimkehrer und damit ein von Grund auf anderer geworden war, liegt nicht zuletzt an den Tausenden und Abertausenden Begegnungen – Begegnungen mit Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen, Milieus, Weltgegenden und Lebenssphären. Die eindrucksvollsten und denkwürdigsten dieser Begegnungen hat Alexander von Humboldt seinen Amerikanischen Reisetagebüchern anvertraut, wo sie auf mehr als viertausendfünfhundert Seiten verteilt sind.

In der nun erstmals vorgelegten Zusammenschau eröffnet sich ein reichhaltiges anthropologisches und lebensweltliches Panoptikum an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und – nicht minder faszinierend – ein überaus facettenreiches Bild des «Baron de Humboldt» selbst, den wir damit von einer ganz neuen, von einer sehr persönlichen Seite kennenlernen können: in seiner durch und durch humanen Gesinnung, seiner vorbehaltlosen Empathie, seinem tiefen Respekt vor allem ihm Fremden. Im BuchderBegegnungen erleben wir nicht den kühl beobachtenden, analysierenden und reflektierenden Naturforscher, sondern einen warmherzigen, mitfühlenden Menschen, durchdrungen von einem universellen philanthropischen Ethos.

Nahezu sieben Jahrzehnte lang, seit seiner Reise mit Georg Forster 1790, hat Alexander von Humboldt mit seinen Reisetagebüchern gelebt, in ihnen Eindrücke festgehalten, in ihnen gelesen und Neues hinzugefügt: Die Amerikanischen Reisetagebücher sind das Werk seines Lebens. Die Humboldtsche Wissenschaft ist nicht allein eine Wissenschaft aus der Bewegung, sondern in grundlegend unabschließbarer Bewegung. Für eine derartige Wissenschaft dynamischer Vielverbundenheit benötigte Humboldt besondere Formen des Schreibens.

Die Amerikanischen Reisetagebücher reihen Porträt an Porträt und bilden von Beginn an ein Buch der Begegnungen. Begegnungen gewiss nicht allein mit Menschen – und doch zeigen die Porträts im weiteren Verlauf der Reise, wie intensiv sich Alexander von Humboldt gerade auf Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen einzulassen pflegte. In der Aufzeichnung dieser Begegnungen entsteht ein lebendiges, da auf dem eigenen Erleben basierendes Bild der bereisten Gebiete. Auf der Überfahrt, auf den Kanarischen Inseln und vor allem in den amerikanischen Tropen hält Humboldt die vielen Gesichter, die sich ihm aus der Bewegung zeigten, nicht selten mit spitzer Feder fest.

Das auf diese Weise literarisch entfaltete Lebenswissen basiert auf einem Erlebenswissen, das sich für die heutige Leserschaft noch immer auf ein eindrückliches Nacherlebenswissen hin öffnet. Das von Humboldt so oft hervorgehobene und immer wieder auch in Szene gesetzte «Schreiben im Angesicht der Dinge»1 erzeugt Menschen und Gesichter, die wir sinnlich erfahren und die sich uns scharf konturiert einprägen.

Bislang blieb unbeachtet, wie sehr der Schriftsteller Alexander von Humboldt die Kunst des knappen, verdichteten literarischen Porträts beherrschte. So ziehen an den Leserinnen und Lesern der Tagebücher in rascher Folge Hunderte von Menschen vorbei, die nur kurz ins Blickfeld rücken und mit wenigen Pinselstrichen seiner Feder dargestellt, bisweilen auch wie Schmetterlinge aufgespießt und nicht ohne Humor in ihren Charakterzügen porträtiert werden. Doch wie die amerikanische Reise in ihrer Gesamtheit, wie die einzelnen Episoden des Reiseverlaufs mit ihren zahlreichen Flussfahrten und Bergbesteigungen, so sind auch die Begegnungen stets vom Scheitern bedroht und damit auch unterschiedlichsten Missverständnissen und Fehldeutungen ausgesetzt.

Die in diesem Band vorgelegten Teile der Amerikanischen Reisetagebücher belegen, von welchen historischen Kontexten und persönlichen Zufällen das Verlassen Europas und Humboldts Streben nach weit im Raum entfernten Ländern abhing. Humboldt stellt auf diesen Seiten dar, welche zunächst verunsichernden Folgen das Scheitern des ursprünglichen Plans hatte, an Kapitän Baudins Weltumsegelung und damit an einer Entdeckungsreise alten Typs teilzunehmen, die sich noch den «Reisen um die Welt» eines James Cook, eines Louis Antoine de Bougainville oder eines Jean-François de Lapérouse im 18. Jahrhundert orientierte. Immer deutlicher aber kristallisierten sich in dieser Krise die Umrisse einer Forschungsreise neuen Typs heraus. Wie später in Balzacs Comédie humaine, so wurde auch für Humboldt der Zufall (im Zusammenspiel mit dem jeweils Möglichen und Notwendigen)2 zum «größten Romancier der Welt».

Das Humboldtsche Schreiben

Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher sind nicht allein eine Werkstatt des Denkens, sondern auch eine Werkstatt des Schreibens. Sie folgen keiner durchgängigen chronologischen oder itinerarischen, keiner historischen oder historiografischen, keiner geografischen, thematischen oder disziplinären Anordnung. Sie gehen weit über den Gegenstand Amerika hinaus, insofern sie die Reise mit Georg Forster nach England ebenso mitbeinhalten wie die nach der Rückkehr aus Amerika durchgeführte Italienreise des Jahres 1805. Sie folgen nur streckenweise einem Tagebuchschema, insofern dieses ständig durchbrochen und bisweilen gänzlich aufgehoben wird, um andere literarische wie nicht-literarische Gattungen und Textsorten miteinzubeziehen. Diese reichen von der autobiografischen Skizze bis zur wissenschaftlichen Abhandlung, von einer zusammenfassenden Darstellung des Reiseverlaufs bis zur Beschreibung von Experimenten, von der Briefform bis hin zur tableauartigen Darstellung von Messungen,3 von Exzerpt und Auflistung bis hin zur Statistik, von der Geschichtsdarstellung bis hin zu literarischen Geschichten und Erzählungen.

So zeichnen sich die insgesamt rund viertausendfünfhundert Seiten umfassenden Manuskripte, die Humboldt erst 1858 (und damit kurz vor seinem Tode) in Schweinsleder hatte binden lassen und in neun bis heute durch ihre Schönheit beeindruckenden Bänden anordnete, durch eine hochgradig diskontinuierliche und vielfach unterbrochene Schreibweise aus. Diese Diskontinuität betrifft zum einen die von Humboldt verwendeten Sprachen. In einer vorwiegend spanischsprachigen Umgebung sprach Alexander von Humboldt mit seinem Reisegefährten Aimé Bonpland auf Französisch und schrieb zunächst überwiegend in deutscher Sprache. Daneben bediente er sich im Tagebuch des Französischen und des Lateinischen, baute Passagen oder Redewendungen auf Spanisch ein und griff immer wieder auch auf indigene Ausdrücke oder Redeformen zurück. Er war wie sein Bruder mit Blick auf die Sprachen der Welt davon überzeugt, dass sich die Komplexität der Welt nicht aus der Perspektive einer einzigen Sprache adäquat darstellen lasse. Seit dem Jahre 1802 macht sich gleichsam zur Halbzeit der Reise bemerkbar, dass das Französische immer stärker an die Stelle des Deutschen rückt, ohne dass das Deutsche ganz aus den Reisetagebüchern verschwände. Es tritt gleichsam eine umgekehrte Gewichtung ein, welche die vielsprachige und vielperspektivische Anlage der gesamten Aufzeichnungen noch erhöht. Hinzu kommen häufige Sprachwechsel zwischen dem Französischen, Deutschen und Lateinischen oft auf kleinstem Raum, sodass sich der Eindruck eines vielsprachigen Schreibens weiter verstärkt.

Die Diskontinuität des Humboldtschen Schreibens zeigt sich aber auch auf der Ebene der Schreibformen selbst. Denn Alexander von Humboldt schreibt bevorzugt in Text-Inseln. Diese besitzen jeweils ihre Eigenlogik, sind von den sie umgebenden Textteilen mehr oder minder deutlich getrennt, verfügen bisweilen über eigene Überschriften, fügen sich in jedem Falle aber diskontinuierlich in die Abfolge der Amerikanischen Reisetagebücher ein. Ihre Überschriften können sich dabei zu ganzen Serien oder Archipelen anordnen, wie dies beispielsweise mit den Titeln «Sklaven»/«Esclaves» oder «Missionen»/«Missions», aber auch bei vielen anderen Thematiken wie etwa den Kariben, den Chaymas oder anderen indigenen Völkern der Fall ist, die aus verschiedenen Blickwinkeln und geradezu ethnografisch beschrieben werden.

Diese Serien oder Text-Archipele führen vor, dass es Humboldt hier nicht um eine nur lineare Anordnung und Lesbarkeit, sondern weit mehr um die Relationalität zwischen den einzelnen Text-Inseln zu tun war, stehen sie doch über die Grenzen der Sprachen, die Differenz zwischen den Zeiten ihrer Niederschrift und nicht zuletzt ihre räumliche Entfernung in den Tagebüchern hinweg miteinander in enger Verbindung. Zwischen den einzelnen Text-Inseln liegen oft Dutzende, Hunderte, bisweilen auch Tausende von Seiten. Sie werden von Humboldt nicht zusammengeschrieben, sondern in Wechselwirkungen zusammengedacht.

Mithilfe der jeweils eigenständigen Text-Inseln gelingt es Humboldt, Themen wie Sklaverei oder Kolonialismus, christliche Missionen oder indigene Kulturen aus unterschiedlichsten Kontexten und Perspektiven zu beleuchten. So können in einzelnen Inseln naturräumliche oder kulturgeschichtliche, anthropologische oder politische, landwirtschaftliche oder weltwirtschaftliche, kultur- oder sprachtheoretische Dimensionen in den Vordergrund gerückt werden. Jede Insel besitzt jeweils andere Kotexte, mithin Texte, die sich in unmittelbarer Nähe befinden. Folglich entfaltet jede einzelne dieser Text-Inseln ihre eigene Logik, ist durch ihre vielfältigen Verbindungen aber ganz im Sinne der Humboldtschen Wissenschaft ebenso multiperspektivisch wie polyvalent mit allen anderen Inseln verbunden.

Quer durch die viereinhalbtausend Manuskriptseiten lassen sich dergestalt immer neue Bezüge und Verbindungen herstellen. Gerade das, was anfangs als unzusammengehörig erschien, wird nun in seinen Zusammenhängen und mehr noch in seinen Wechselwirkungen erkennbar und verständlich.

Griff Humboldt in seiner Werkstatt auf Lektüren anderer Texte explizit zurück oder fasste er beispielsweise ein ihm zur Kenntnis gebrachtes Reisejournal des Präsidenten der Missionen am Orinoco als Gedächtnisstütze zusammen (62)4, dann wird bisweilen erst Hunderte von Textseiten später nachvollziehbar, in welchem Maße diese Lesefrüchte Veränderungen in Humboldts eigener Sichtweise auslösten. Dies gilt, um nur wenige weitere Beispiele zu nennen, auch für die Lektüren von Clavijero oder Garcilaso de la Vega el Inca, auf die Humboldt des Öfteren verwies: Seine Einschätzung der aktuellen indigenen wie der altamerikanischen Kulturen veränderte sich unter dem Einfluss vieler Leseeindrücke, intensiver Feldforschungen und zahlreicher Begegnungen mit Gelehrten vor Ort in fundamentaler Weise. Alexander von Humboldt war nicht nur wissbegierig, sondern auch höchst lernfähig.

Die einzelnen Text-Inseln müssen keineswegs durchgängig oder homogen aufgebaut sein. In den Bericht vom Besuch der «Knochenhöhle» von Atures oder auch jenen vom Besteigungsversuch am Chimborazo sind gänzlich andere Textteile integriert, die sich ihrerseits wieder in verschiedene Textbausteine untergliedern. Man könnte hier vom Konstruktionsprinzip der russischen Puppen sprechen. Humboldts Wissenschaftsstil, aber auch sein Schreibstil fokussiert nicht die Kontinuitäten, auf die er gleichwohl immer wieder aufmerksam macht, sondern die Relationalitäten, die alles mit allem verbinden. Nichts bei Humboldt steht für sich allein: Alles ist Wechselwirkung.

Wenn einzelne größere Text-Inseln in sich ganze Archipele bilden, wird der Zusammenhang des nur scheinbar Unzusammenhängenden besonders deutlich. Denn auch innerhalb der umfangreicheren Text-Inseln können sehr wohl die Sprachen, Perspektiven, ja die Gegenstände und Erklärungsmuster gewechselt und verändert werden. Die Vielzahl an ikonotextuellen, also zwischen den Bildern und Texten hergestellten Beziehungen intensiviert diese Schule der Komplexität.5

Wie die unregelmäßigen Inseln inmitten des Stroms des Orinoco in den Katarakten von Atures und Maipures, die Humboldt stets als Archipele bezeichnet, entstehen textuelle Archipele inmitten des Flusses, des vielfach unterbrochenen, beständigen, aber unsteten Fließens des Humboldtschen Schreibens. All diese Text-Inseln stehen miteinander in enger Verbindung und öffnen sich von den Tagebüchern aus auf ein wissenschaftlich-künstlerisches Gesamtwerk, das in einem grundlegenden Sinne unabschließbar sein sollte und wohl auch sein wollte. Anders als Wilhelm von Humboldt, der die Unabschließbarkeit seiner Werke mit der Tatsache bezeugte, dass er den größten Teil seines Schaffens nicht zu Lebzeiten publizierte, veröffentlichte Alexander von Humboldt ein gewaltiges Œuvre, das in seinen einzelnen Bestandteilen wie in seiner Gesamtheit fundamental unabgeschlossen blieb. Seine Relation historique, der eigentliche Reisebericht über die Jahre 1799 bis 1804, blieb ebenso nach mehreren Bänden stecken wie das Examen critique, die Kritische Untersuchung über die historische Expansion Europas, die nach drei Jahrzehnten der Arbeit unabgeschlossen den «Schlusspunkt» des amerikanischen Reisewerkes bildete.6 Für die Bände seiner Asie centrale, die auf die 1829 durchgeführte russisch-sibirische Forschungsreise zurückverweisen, galt dies ebenso wie für die Bände seines Kosmos, über dessen fünftem Band der fast Neunzigjährige am 6. Mai 1859 verstarb.

Das Humboldtsche Schreiben ist keines, das einen Schlusspunkt zu setzen versucht: Es bricht vielmehr immer aufs Neue zu neuen Bewegungen, zu neuen Begegnungen auf. In seinem Fokus steht die beständige Erweiterung des Wissens im Medium seiner kritischen Reflexion: des Schreibens selbst. Ein Ankommen, das es im Grunde in der Wissenschaft nicht gibt, meint bestenfalls den Tod; der Aufbruch aber zeigt in eine Zukunft, die ein Weiterleben verspricht.

Reisen im «Buch der Begegnungen»

Im Zentrum dieses Bandes stehen die menschlichen Begegnungen Alexander von Humboldts. Der Mensch ist für Humboldt indes Teil der Natur, die Natur ist Teil des Menschen. Gerade im Menschen überschneiden sich in der Humboldtschen Wissenschaft voneinander untrennbar Natur und Kultur. So ist auch das Ich des Forschers niemals von seinen Gegenständen getrennt, sondern wird als ausdauernder oder leidender Körper, als Messinstrument oder denkender Geist in jene Begegnungen auf der Reise miteinbezogen, für die seine Bildung und Ausbildung, seine Erfahrungen wie sein Erleben, aber auch seine Sehnsüchte, etwa nach fernen Ländern, selbst die Grundbedingung darstellen. Natur und Kultur sind in der Humboldtschen Wissenschaft nicht voneinander ablösbar und im Erkenntnisprozess zugleich mit gesellschaftlicher Verantwortung verbunden. Jede naturräumliche Ausstattung zeitigt gesellschaftliche Folgen, die Humboldt nicht aus dem Fokus seiner Wissenschaft ausblendet. So führt die Begegnung mit den unter unmenschlichen Bedingungen in den neuspanischen Bergwerken arbeitenden Menschen zu grundsätzlichen Reflexionen über den auf Unmoral gegründeten Kolonialismus und die verschiedenen Dimensionen einer weltweiten wirtschaftlichen Verflechtung; die Begegnung mit einem Jaguar zur zoologischen Darstellung des Lebensrhythmus ganzer Tierpopulationen im tropischen Urwald; die Begegnung mit einem aztekischen Kalenderstein zu Recherchen über die Verschiedenartigkeit, aber auch die Wechselbeziehungen zwischen den Zeitvorstellungen bei Völkern und Kulturen unterschiedlichster Kontinente; die Begegnung mit der Vulkanwelt im heutigen Ecuador zur Einsicht in die unterirdischen Verbindungen nicht nur regionaler, sondern transkontinentaler Art. Alles ist von unmittelbarer Bedeutung für die jeweils vor Ort lebenden Menschen und verlangt nach Lösungen. Alles steht für Humboldt in weltumspannender Wechselwirkung. Die für diesen Band ausgewählten einhundertzwanzig Text-Inseln zeigen uns einen Schriftsteller und Gelehrten, Forscher und Philosophen, der auf seiner amerikanischen Reise aus seinen Begegnungen mit Menschen und Tieren, mit Pflanzen und Gesteinen, mit dem Meer – das für ihn eine «essbare Flüssigkeit» (4) und das mobile Element par excellence ist – und dem Erdinnern immer neue Bedeutungen und Zusammenhänge entfaltet.

Die Text-Inseln sind so gewählt, dass sie die wesentlichen Phasen und Episoden seiner Reise, die unterschiedlichsten Gegenstandsbereiche und Disziplinen (von der Alt-Amerikanistik über Geografie, Geschichte oder Geologie, über Klimatologie, Kulturgeschichte oder Kunst bis hin zur Zoologie) in gut lesbarer Form versammeln. Daneben sollten Entwicklung und Herausbildung der Humboldtschen Wissenschaft ebenso gut erkennbar sein wie die so verschiedenartigen Schreibweisen, derer sich Alexander von Humboldt in seinen Amerikanischen Reisetagebüchern bediente.

Hautnah sollen uns die ausgewählten Text-Inseln an Alexander von Humboldt, an sein Denken, sein Wissen, seine Wissenschaft, sein Schreiben, kurzum: an sein ganzes Leben – denn für ihn konzentrierte sich das Leben eines Homme de Lettres auf dessen Schriften – heranführen. Dieses Buch der Begegnungen soll nicht zuletzt viele intensive Begegnungen der Leserinnen und Leser mit Alexander von Humboldt erlauben. Es ermöglicht ein aktives Reisen mit dem Weltreisenden. Auf dieser Reise durch das Buch der Begegnungen können wir unsere Route selbst wählen. Wir können dem Text linear folgen, aber auch im dichten Flussnetz seines Schreibens wie am Orinoco von Insel zu Insel hüpfen oder wie in der Vulkanwelt der Anden von Bergspitze zu Bergspitze springen. Verschiedenste Leseparcours, die sich auf seine autobiografischen Texte oder seine Landschaften, auf die verschiedenen indigenen Kulturen oder deren Sprachen, auf die Sklaverei oder deren weltwirtschaftliche Verbindungen, auf Zivilisation oder Barbarei, auf Religion und Mythos oder Wissen und Wissenschaft konzentrieren, laden uns zur Reise ein: in einer vielverbundenen Welt, in der alles Wechselwirkung ist. Alle Wege sind zugleich offen und verbinden, verknüpfen sich mit uns.

1 Vgl. Ette, Ottmar: Eine «Gemütsverfassung moralischer Unruhe» – «Humboldtian Writing»: Alexander von Humboldt und das Schreiben in der Moderne. In: Ette, Ottmar/ Hermanns, Ute/Scherer, Bernd M./Suckow, Christian (Hg.): Alexander von Humboldt – Aufbruch in die Moderne. Berlin: Akademie Verlag 2001, S. 33– 55.

2 Vgl. Köhler, Erich: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. München: Wilhelm Fink Verlag 1973.

3 Vgl. Kraft, Tobias: Figuren des Wissens bei Alexander von Humboldt. Essai, Tableau und Atlas im amerikanischen Reisewerk. Berlin–Boston: Walter de Gruyter 2014.

4 Zitate aus den in diesem Band versammelten Amerikanischen Reisetagebüchern erfolgen direkt im Text unter Angabe der Nummer der entsprechenden Passage.

5 Vgl. Ette, Ottmar: Bild-Schrift, Schrift-Bild, Hand-Schrift. Zur Kunst der Sichtbarmachung in Alexander von Humboldts «Amerikanischen Reisetagebüchern». In: Ette, Ottmar/Müller, Gesine (Hg.): Visualisierung, Visibilisierung und Verschriftlichung. Schrift-Bilder und Bild-Schriften im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Berlin: Verlag Walter Frey – edition tranvía 2015, S. 11– 64.

6 Vgl. Humboldt, Alexander von: Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert. Mit dem geographischen und physischen Atlas der Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents Alexander von Humboldts sowie dem Unsichtbaren Atlas der von ihm untersuchten Kartenwerke. Mit einem vollständigen Namen- und Sachregister. Nach der Übersetzung aus dem Französischen von Julius Ludwig Ideler ediert und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette. Frankfurt am Main–Leipzig: Insel Verlag 2009.

Leseparcours

Das vorliegende Buch kann auf höchst verschiedenartige Weise gelesen werden. Eine lineare und kontinuierliche Lesart entfaltet die gesamte Reise in die Tropen Amerikas grosso modo so, wie sie sich in den neun Bänden der Amerikanischen Reisetagebücher (ART) darstellt, welche Alexander von Humboldt 1858 in Schweinsleder binden ließ. Alle Texte entstammen diesen von Humboldt verfassten und gesammelten Manuskripten und lassen die frühesten Hoffnungen des Autors, eine große Weltreise fernab von Europa in entfernte Weltregionen durchzuführen, ebenso aufscheinen wie die Befürchtungen des Forschers, am Ausgang seiner so erfolgreichen Expedition doch noch von den Kräften der Natur zu jenem Schiffbruch verurteilt zu werden, der sich in seinen autobiografischen Reflexionen so kontinuierlich (und gleich im ersten Text dieses Bandes) finden lässt.

Weitere LesARTen siedeln sich jenseits linearer Lektüren an. So kann man den nachstehend aufgelisteten Leseparcours folgen, die von Text-Insel zu Text-Insel den Wegbeschreibungen folgend unterschiedlichste Themenbereiche erschließen. Selbstverständlich überschneiden sich diese Leseparcours thematisch, sodass es beispielsweise möglich ist, von den «Amerikanischen Völkern und Kulturen» zum Bereich der «Sklaverei» überzugehen, um danach Humboldts Überlegungen zu «Wirtschaft und Ökonomie» zu verfolgen. Durch diese Bewegungen ergeben sich Vernetzungen, die das vernetzte und vernetzende Denken Alexander von Humboldts buchstäblich simulieren. Alles ist Wechselwirkung. (75)

Es versteht sich von selbst, dass dieses Buch der Begegnungen seine Leserinnen und Leser dazu auffordert, von Insel zu Insel ohne einen vorgegebenen Leseparcours zu hüpfen oder auch den von Humboldt selbst angegebenen Sequenzen (etwa den Überschriften «Sklaverei» oder «Missionen») folgend eigenen Leserichtungen nachzugehen. Es ist ein lohnendes Unterfangen, sich von den jeweiligen Titeln der Text-Inseln zur spontanen Lektüre anregen zu lassen.

Alexander von Humboldts Reiseroute wurde von Beginn an durch immer wieder neue politische Veränderungen, Seuchen, Erkrankungen von Reisegefährten oder den Zufällen bestehender oder unterbrochener Verkehrsmöglichkeiten umgelenkt. «Ein Buch von der Natur», so schrieb Humboldt an einem 27. Oktober 1834 an Varnhagen von Ense, «muß den Eindruck wie die Natur selbst hervorbringen.»7 Auf den Spuren Alexander von Humboldts zu reisen heißt, immer wieder neuen Herausforderungen zu folgen und lustvoll weite Wege in entfernte Gebiete einzuschlagen: Invitation au voyage!

Amerikanische Völker und Kulturen 96 - 17 - 18 - 107 - 92 - 20 - 90 - 22 - 24 - 25 - 26 - 28 - 91 - 38 - 44 - 46 - 47 - 95 - 55 - 56 - 57 - 58 - 59 - 60 - 93 - 62 - 64 - 66 - 79 - 81 - 84 - 87 - 115 - 104 - 89 - 112 - 97 - 118 - 119 - 98.

Autobiografisches 1 - 120 - 94 - 3 - 5 - 10 - 88 - 117.

Bergbesteigungen 37 - 77 - 78 - 113 - 94 - 117 - 81 - 82 - 83.

Europäische Antike/Amerikanische Antike 17 - 109 - 44 - 112 - 62 - 66 - 96 - 74 - 99 - 84 - 85 - 89 - 91.

Justiz und Gerechtigkeit 118 - 13 - 21 - 106 - 33 - 118.

Geschichte und Gesellschaft 98 - 20 - 21 - 100 - 92 - 90 - 23 - 25 - 27 - 29 - 34 - 35 - 36 - 45 - 47 - 52 - 103 - 106 - 108 - 61 - 63 - 111 - 67 - 68 - 109 - 79 - 114 - 99 - 105 - 119.

Landschaft und Natur 7 - 10 - 94 - 24 - 30 - 33 - 37 - 41 - 46 - 47 - 48 - 49 - 50 - 51 - 53 - 63 - 67 - 71 - 78 - 81 - 82 - 83 - 86 - 88 - 89 - 120.

Männer und Frauen 2 - 9 - 35 - 59 - 69 - 70 - 115.

Manuskripte und Reisetagebücher 120 - 53 - 54 - 72 - 83 - 110.

Menschheit 12 - 28 - 69 - 41 - 44 - 48 - 74 - 85.

Missionen und Mönche 8 - 104 - 11 - 16 - 21 - 22 - 25 - 59 - 60 - 38 - 46 - 51 - 57 - 63 - 66 - 87.

Politik 100 - 90 - 13 - 105 - 20 - 111 - 23 - 29 - 34 - 106 - 63 - 68 - 98 - 114 - 102.

Reisegefährten 4 - 6 - 11 - 37 - 54 - 113 - 120 - 73 - 76 - 77 - 78 - 101 - 80 - 81 - 88 - 110.

Reiseverlauf 2 - 99 - 4 - 5 - 94 - 7 - 11 - 30 - 54 - 82 - 86 - 71 - 72 - 76 - 120.

Religion und Mythen 16 - 109 - 96 - 104 - 20 - 21 - 95 - 24 - 106 - 38 - 58 - 107 - 64 - 80 - 87 - 112.

Sklaven und Sklaverei 102 - 14 - 31 - 32 - 92 - 34 - 118 - 98 - 40 - 42 - 43 - 100 - 63 - 103 - 119 - 116.

Sprachen 97 - 20 - 55 - 58 - 61.

Städte 13 - 108 - 36 - 106 - 116.

Tiere 49 - 50 - 24 - 26 - 48 - 52 - 19.

Wirtschaft und Ökonomie 12 - 92 - 15 - 17 - 105 - 21 - 28 - 95 - 32 - 34 - 116 - 42 - 43 - 46 - 52 - 60 - 63 - 65 - 100 - 118.

Wissen und Wissenschaft 75 - 1 - 96 - 2 - 39 - 41 - 94 - 53 - 64 - 114 - 73 - 76 - 77 - 78 - 117 - 80 - 82 - 83 - 85 - 86 - 88 - 110 - 119.

Zivilisation und Barbarei 90 - 12 - 28 - 29 - 91 - 96 - 34 - 40 - 92 - 44 - 45 - 48 - 112 - 55 - 56 - 103 - 59 - 60 - 62 - 64 - 66 - 102 - 93 - 108 - 74 - 79 - 97 - 84 - 85 - 87 - 100.

7Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858. Nebst Auszügen aus Varnhagen’s Tagebüchern und Briefen von Varnhagen und Andern an Humboldt. [Hg. von Ludmilla Assing.] Leipzig: F. A. Brockhaus 1860, S. 23.

Das Buch der Begegnungen

Humboldts amerikanische Reise

1

Unbändige Wünsche nach weiten und unbekannten Dingen*

D; TB VII a / b, Blatt 134v – 136v

Santa Fé, den 4. August 1801

[Am Rande hinzugefügt:] nie drucken zu lassen. A. Humboldt Nov. 1839.]

Der Wunsch, entfernte Weltteile zu besuchen und die Produkte der Tropenwelt in ihrer Heimat zu sehen, ward erst in mir rege, als ich anfing, mich mit Botanik zu beschäftigen. Bis in mein 17. und 18. Jahr waren alle meine Wünsche auf meine Heimat beschränkt. So sorgfältig auch unsere literarische Erziehung war, so ward doch alles, was auf Naturkunde und Chemie Bezug hatte, in derselben vernachlässigt. Kleinlich scheinende Umstände haben oft den entscheidendsten Einfluss auf ein tätiges Menschenleben, und so muss man die Spuren wichtiger Ereignisse oft in diesen Umständen suchen. Der Hofrat Heim, von dem das Gymnostomum Heimii den Namen führt und der mit dem jungen Muzel lange in Sir Joseph Banks’ Freundschaft gelebt, war unser Hausarzt. Er hatte eine große Sammlung von Moosen und gab sich eines Tages die Mühe, meinem älteren Bruder die Linnéischen Klassen zu erläutern. Dieser, des Griechischen schon damals kundig, lernte die Namen auswendig, ich klebte Lichen parietinus [Gelbflechte] und Hypna [Schmetterlingsgattung aus der Familie der Edelfalter] auf Papier, und in wenigen Tagen war uns beiden alle Lust zur Botanik wieder verschwunden. Heim verschaffte unserem Nachbar, dem Herrn von Burgsdorf, botanischen Ruf, dieser legte dendrologische [Dendrologie: Gehölzkunde] Sammlungen an. Ich sah dort Gleditsch und viele Glieder der Naturforschenden Gesellschaft – krüppelhafte Figuren, deren Bekanntschaft mir ebenfalls mehr Abscheu als Liebe zur Naturkunde einflößte. Meine jugendliche Neigung war von jeher der Soldatenstand gewesen. Meine Eltern hielten mich durch Zwang davon zurück, und man bildete mir ein, dass ich Lust zu dem habe, was man in Deutschland Kameralwissenschaften nennt, eine Weltregierungskunst, die man erst dann versteht, wenn man alles, alles weiß. Dies alles sollte ich bei einem Amtmann lernen, und ein Pachtanschlag wäre dann das Maximum meiner Kameral-Kenntnis gewesen. Ein halb verrückter Gelehrter, der Professor Wünsch in Frankfurt an der Oder, las mir ein Privatissimum über Beckmanns Ökonomie. Er fing an mit botanischen Vorkenntnissen. Seine eigene Unwissenheit und sein Vortrag waren abermals weit entfernt, mir Lust zur Botanik einzuflößen, doch sah ich ein, dass ich ohne Pflanzenkenntnis ein so vortreffliches Buch als Beckmanns Ökonomie nicht verstehen könne. Wir besaßen durch Zufall Willdenows [Bl. 135r] Flora Berolinensis. Es war harter Winter. Ich fing an, Pflanzen zu bestimmen, aber die Jahreszeit und Mangel an Hilfsmitteln machte alle Fortschritte unmöglich. Wir verließen Frankfurt an der Oder, und ich brachte abermals ein Jahr in Berlin zu, wo mich Zöllner in der Technologie unterrichtete. Ich fühlte aufs Neue die Notwendigkeit botanischer Kenntnisse, quälte mich mit neuem Eifer, Pflanzen nach Willdenows Flora zu bestimmen. Ich legte nun ein förmliches Herbarium an, und da man mir nun zuerst gestattete, allein auszugehen, fasste ich den Entschluss, unempfohlen Willdenow selbst aufzusuchen. Von welchen Folgen war dieser Besuch für mein übriges Leben! Schriebe ich ohne diesen diese Zeilen im Königreich Neu Granada? Ich fand in Willdenow einen jungen Menschen, der damals unendlich mit meinem Wesen harmonierte. Er bestimmte mir Pflanzen, ich bestürmte ihn mit Besuchen. Ich lernte neue ausländische Pflanzen kennen. Er schenkte mir einen Halm Oryza sativa, den Thunberg aus Japan mitgebracht. Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben die Palmen des botanischen Gartens, ein unendlicher Hang nach dem Anschauen fremder Produkte erwachte in mir. In 3 Wochen war ich ein enthusiastischer Botanist. Willdenow trug sich damals mit der Idee, eine Reise außerhalb Europas zu machen. Ihn zu begleiten, war der Wunsch, der mich tages und nachts beschäftigte. Ich durchlief alle Floren beider Indien, kaufte alle Rinden der Apotheken zusammen, verweilte mit unendlichem Wohlgefallen bei einem Reishalm in meinem Herbarium und gewöhnte mich, unbändige Wünsche nach weiten und unbekannten Dingen zu hegen. In Göttingen lebte ich allein für Naturgeschichte und Sprachen, zu welchen Letzteren mich meine Freundschaft mit Woltmann und Eitelkeit mehr als wahrer Hang hinzog. Ich fand dort Link und Persoon, mit denen ich eine literarische Gesellschaft stiftete. Persoon war vom Kap [der Guten Hoffnung]. Ich begriff schon nicht, wie man Europa dem Kap vorziehen könnte. Ich herbarisierte 1789 am Harz, bereiste mit Steven van Geuns den größten Teil des westlichen Deutschland. Mein Hang zum Reisen und Beschauen nahm zu, und meine schwärmerische Achtung für Stieglitzens Genie und seine Verachtung meiner naturhistorischen Beschäftigungen waren allein imstande, mich mit mir selbst in Widerspruch zu setzen. Ich träumte mich bisweilen nach beiden Indien, aber die Möglichkeit einer solchen Reise wurde mir noch nicht klar.

Mein Bruder Wilhelm hatte durch sein Genie die Aufmerksamkeit Jacobis und Georg Forsters erregt. Beide nahmen mich deshalb freundlichst in Düsseldorf und Mainz auf, und da Forstern die Hoffnung, in England Geld zu gewinnen, nach London trieb (er wollte seine Species plantarum herausgeben), so bot er mir an, ihn zu begleiten. Ich war damals krank, März 1790, in Göttingen und mit der Herausgabe meines ersten literarischen Produkts, den Basalten am Rhein, beschäftigt. Dennoch, mit welcher Freude nahm ich teil an dieser Reise. Ohnerachtet [Bl. 135v] sie mich wie jedes nahe Zusammenleben unter Menschen und besonders bei Forsters kleinlich-eitelem Charakter mehr von ihm entfernte, als ihm nahebrachte, so hatte das Zusammenleben mit dem Weltumsegler doch großen Einfluss auf meinen Hang nach der Tropenwelt. Wie sehr erwachte diese Sehnsucht vollends bei dem Anblick des allverbreiteten, beweglichen, länderverbindenden Ozeans, den ich bei Ostende zuerst sah, wie sehr bei der kleinen Überfahrt von Hellevoetsluis nach Dover. Der Zufall wollte, dass ich (ohnerachtet wir in einem elenden Fischerboot und bei stürmischem Wetter schifften) nicht seekrank war. Ich wurde es in der Folge nie, und dieser Umstand machte mir das Element selbst und lange Seereisen minder furchtbar. Ich lebte in London sehr einsam, im Hause eines deutschen Perückenmachers, Mr. Muller, Plumtree Street. Forster hatte sich bei seinem Schwager, dem Hofprediger Schrader, einquartiert, der ihn mit Bibelübersetzungen und Hofklatsch (er war Lecteur der Königlichen Prinzessinnen) quälte. In einem Lande, wo die Einwohner 4–5mal in ihrem Leben beide Indien besuchen und wo man mit den Produkten der entferntesten Weltteile wie mit dem seinigen bekannt ist, konnte ein Begleiter des Captain Cook eben nicht großes Aufsehen machen. Für das, was man in Forster Geist und verschmelzendes Genie nennen kann, haben die Engländer eben nicht Sinn. Sie suchen entschiedenes Dichtertalent, tiefsinnige Philosophie oder gründliche Gelehrsamkeit. Ein Gemisch von alledem, ein Mensch, der von dem allen nur etwas besaß und mehr Form als Materie war, konnte daher wenige interessieren. Dazu konnte Forster in London nicht Deutsch sprechen, und die Muster, nach denen er sich gebildet, waren Deutsche, Kant, Schiller … Seine höchsten Flüge waren unübersetzbar und unverständlich. Mit den Geldspekulationen ging es nicht besser. Die Empfehlungen des Prinzen Adolph an den Prinzen von Wales, die des General Schlieffen und des ehrwürdigen alten Fagel (im Haag, an den ich mit Freuden zurückdenke) an Pitt konnten bei den Schändlichkeiten, die Forsters Vater im Tableau d’Angleterre über den Hof verbreitet, und bei dem geringen Aufsehen, das er als Gelehrter machte, wenig wirken. Banks war von jeher aus Reaktion und verfolgendem Neide gegen alles, was seiner Oberherrschaft sich entziehen will, der Feind der Forsterschen Familie gewesen. Die Genera plantarum, welche man Spaarmann zuschreibt, die Plantae esculentae und Florula insularum australium, welche in Eil über elenden Herbarien geschmiedet waren, hatte Banksens Achtung ebenfalls nicht vermehrt. Was in dem jungen Forster eigentlich groß und selten war, die philosophische Behandlung naturhistorischer Gegenstände, ein Werk wie der Aufsatz über Leckereien … dafür hatte Banks keinen Sinn. Je übelgelaunter Forster in England war, desto mehr ward ich in meine Einsamkeit zurückgeschreckt. Unser Aufenthalt in Holland, Spaziergänge, die ich längst der grünen buschigten Dünen am Haager Meeresstrande gemacht, der Anblick der Amsterdamer Schiffswerften, die enge Freundschaft mit dem jungen Hohlenberg (der nachmals in der Dänischen Marine Epoche gemacht) füllten meine warme Phantasie mit ersehnten Gestalten ferner Dinge. In einem jungen Gemüte, das 18 Jahre lang [Bl. 136r] im väterlichen Hause gemisshandelt und in einer dürftigen Sandnatur eingezwängt worden ist, glimmt und glüht es wunderbar auf, wenn es, seiner eigenen Freiheit überlassen, auf einmal eine Welt von Dingen in sich aufnimmt. Mein Zimmer in Plumtree Street war mit den Kupfern eines ostindischen Schiffes ausgeziert, das in einem Sturme unterging. Heiße Tränen strömten mir oft über die Wangen, wenn ich beim Erwachen die Augen auf diese Gegenstände heftete. Ich strebte nach Dingen, die ich damals nie zu erlangen hoffte. Ich bildete mir ein, dass nur die Aufforderung eines Gouvernements, eine Reise gleich der Cook’schen mich in jene Weltteile führen könne, und meine Berliner Verhältnisse, der Zwang, an den ich gewöhnt war, stellten mir als unmöglich vor, was ich nun seit Jahren ausgeführt. Als wir der englischen Küste nahe, zuerst die Türme von Oldborough sahen, malte mir meine Einbildungskraft im Traume den Tafelberg und Drakenstein vor. Ich glaubte mich in der Kapstadt vor Anker, und mit aufgehender Sonne war der süße Traum hinweggewischt. Ein Wunsch wie dieser, der mich ewig begleitete, das Streben nach Ländern, in denen wir durch grenzenlose Räume von den Unsrigen getrennt sind, schmeichelt der jugendlichen Eitelkeit wegen der Energie, in der wir uns selbst vorstellen, aber es gibt unserem Wesen zugleich eine melancholische Stimmung, in der wir die «Wonnen der Tränen» fühlen. Die Hügel von Highgate und Hempsteat waren mein Lieblingsspaziergang in London, an dem Wege las ich Anschlagzettel nach englischer Sitte: «Junge Leute, welche ihr Glück außerhalb Europas suchen wollen, melden sich dort und dort, als Matrose, Schreiber … finden sie Aufnahme. Das Schiff ist segelfertig nach Bengalen.» Mit welchen Empfindungen las ich diese Einladungen. Der Eintritt in ein solches Haus schied mich auf immer (nach englischer Presssitte) von meiner vaterländischen Welt, einer Rückkehr nach Berlin, die wie nahes Ungewitter wolkendick über mir schwebte. Wie oft schwankte ich in meinen Entschlüssen, war einem tollen Streiche nahe. Ich zeichne die jugendlichen Torheiten sorgfältig auf, weil sie klarmachen, was damals in mir vorging. Beschäftigung mit der Naturkunde und wissenschaftliche Zwecke hatten den Wunsch nach der Tropenwelt in mir erregt. Die auszeichnende Nachsicht, mit der Sir Joseph Banks mich behandelte, der Anblick seiner Sammlungen, die indianische Sach- und Menschenwelt seines Hauses, Hodges, Alexander Dalrymple, Webber, dieser Umgang bestärkte meinen naturhistorischen Eifer. Dennoch nahm in der Epoche der Hang nach Seereisen eine andere Gestalt, die Quelle ward verschieden. Ich wäre in die fernste Südsee geschifft, und ich hätte nie einen wissenschaftlichen Zweck erfüllt. Ich fühlte mich eingeengt, engbrüstig. Ein unbestimmtes Streben nach dem Fernen und Ungewissen, alles, was meine Phantasie stark rührte, die Gefahr des Meeres, der Wunsch, Abenteuer zu bestehen und aus einer alltäglichen gemeinen Natur mich in eine Wunderwelt [Bl. 136v] zu versetzen, reizten mich damals an. Dazu schien mir dies das einzige Mittel, sich dem Naturzustande zu nähern. Fußreisen mit einem einseitigen, aber genievollen Menschen, Friedrich Hesse, um Allmerode und Allendorf (1798), der romantische Zauber jener Felsentäler, hatten mich in eine poetische Stimmung versetzt, die den Fortschritten meiner Urteilskraft hätten gefährlich werden können. Alles, was auf bürgerliche Verhältnisse Bezug hatte, wurde mir verächtlich, jede Gemächlichkeit des häuslichen Lebens und der feineren Welt ekelte mich an. Ich lebte in einer Ideenwelt, die mich von der wirklichen abzog. Der Umgang roher Menschen, das Ordenswesen der Unitisten [streng religiöser pietistischer Studentenorden] interessierte mich auf eine sträfliche Weise. Wilhelms Abwesenheit (er war in Paris mit Campe) vermehrte die Krisis. Ich schrieb verrückte Briefe an meine Freunde und wurde mir selbst von Tage zu Tage unverständlicher.

Meine Reise mit Forster in das Gebirge von Derbyshire vermehrte jene melancholische Stimmung. Das Dunkel der Castletoner Höhlen verbreitete sich über meine Phantasie. Ich weinte oft, ohne zu wissen warum, und der arme Forster quälte sich zu ergründen, was so dunkel in meiner Seele lag. Mit dieser Stimmung kehrte ich über Paris nach Mainz zurück. Ich hatte entfernte Pläne geschmiedet.

2

Abschied von Paris, von der Weltumsegelung sowie afrikanischen Reiseplänen*

D; TB II und VI, Bl. 52r – 57r; 60r

Der 24. Oktober 1798 war zu unserer Ankunft in Marseille bestimmt. So lange hatte Herr Skjöldebrand die schwedische Fregatte aufzuhalten versprochen. Erst am 12. gab mir Le Clerc, Lareveillères Freund, mit dem ich bei Thouin frühstückte, die Gewissheit, dass an die Reise um die Welt [unter Kapitän Baudin] nicht mehr zu denken sei. Ich las an demselben Tage mein Mémoire über den Ackerbau am National-Institut. Jussieu hielt mir eine kurze, aber feine Abschiedsrede. Wir wollten den 17. reisen. Die Trennung von den Professoren im Jardin des Plantes wurde mir schwer, alle interessierten mich, ich sie, außer dem eitlen und kleinlichen Faujas. Die Empfindung, mit der ich von Baudin schied, war sonderbar. Der Seemann sagte, es sei eine auseinandergegangene Heirat. Wir glaubten, 3 Jahre lang auf einem Brette dicht nebeneinander zu wohnen. Er sollte mir befehlen, ich mich in seine Launen schicken. Wie anders war es mir, als ich den ersten Abend ins Hôtel du Dannemarc (rue Helvétius) ging, um ihn zu besehen! Es ist mir indes noch heute, als würde ich noch einmal mit ihm zusammentreffen. Der Abschied wurde dadurch rührend, dass der Timonier, der sich mit uns einschiffen sollte, mir mit besonderer Treuherzigkeit die Hand drückte. So jung sein, sagte er, und so früh in seinen Hoffnungen scheitern, das ist doch unrecht (injuste). Armer Mensch, als wenn man im reiferen Alter unabhängiger vom Schicksale wäre! Im Marais war der Abschied kalt. Madame Pommard war in Courzel, und Bufeau interessierte mich nur als ein Mensch von Geist und reger Einbildungskraft. In der Empfindung begegneten wir uns nie. Von jungen Leuten verließ ich Thénard ungern. Auch Robiquet tat mir leid, da er sehr an mir hing und mein Weggehen das ganze Gebäude seiner liebsten Hoffnungen einriss. Paganels Pedantereien zwangen uns, erst am 20. zu [Bl. 52v] reisen. Ich war mit Arbeiten bis in den letzten Augenblicken überhäuft, aber meine Stimmung blieb heiter. Ich trat nie eine Reise mit so gutem Mute an. Diese Stimmung verdanke ich größtenteils meinem Bruder und der Li. Fremde Stärke erhebt. Der Abschied war tief empfunden. Als die Li den Kleinen zu mir emporhob, hätte ich fast die Haltung verloren. Aber es war nur auf einen Augenblick. Wir blieben alle, wie man in solchen Momenten des Lebens sein soll. Ein Unwesen mit vergessenen Barometerröhren störte ein wenig. Aber wir kamen noch früher zur Diligence, als nötig war. Thieck und Fischer waren beide mit uns. Es lag mir schwer auf der Seele, wie die Neigungen der Menschen sich ändern. Letzterer ließ mich kalt, und der Erste, den ich noch in Dresden hasste, war mir jetzt sehr, sehr lieb. Ich sah mir Bonpland an, mit dem ich eine so weite Reise unternehmen sollte. Welche Verheiratung! Die Diligence fuhr fort. Meine Augen sahen Wilhelm am längsten. Er sah sehr heiter aus, und das tat mir unendlich wohl. Die letzte Miene eines Menschen ist so wichtig für den Eindruck, den er zurücklässt. Wessen Leben, wie das meinige, ein ewiges Anknüpfen und Trennen ist, fühlt das so tief. Bis Lyon brauchten wir 4 Nächte, von denen wir eine (die erste) im Wagen zubrachten. Elende Gesellschaft. Boivin, ein Branntweinhändler in Montpellier, wie es schien sehr reich, aber so geizig als sinnlich. Er wusste nie, ob er essen oder fasten sollte. Er hatte in Paris 30 Dutzend Redingotes gekauft, welche ihm seine Reise bezahlt machen sollten. Er wollte meines Bruders Adresse haben, weil er meinte, durch ihn sich den Débit des großen Sandozischen Hauses zu verschaffen. Mittags, den 20. in Melun. (Wir fuhren durch Lieursaint. Der Stubben beim Signal!) Abends in [Bl. 53r] Villeneuve. Den 21. mittags in Auxerre, abends in Lucy-le-Bois. Von Auxerre an bis Chalon begleitete uns ein junger Kaufmann aus Solingen, der alle Jakobis dem Namen nach kannte und immer Tabak schmauchte. 22. mittags in Saulieu, abends Arney-le-Duc. Ein Mensch mit Klumpfüßen, der sich immer die Lenden putzte und von seinen Eroberungen sprach. Er kannte das ganze National-Institut, alle Pflanzen und Insekten der Welt … Er sprach von Gazellen und Rehen, die er im Vivarais geschossen. Casuare sollten in den Cevennen sehr gemeine Vögel sein. Als ihn der Branntweinbrenner fragte, was eine Gazelle für ein Tier sei, sagte er, es habe vier Hörner und gleiche den wilden Schweinen, die bisweilen auch gehörnt seien, vorzüglich in den Pyrenäen! Mittags in Châlon ein deutscher Kellner, ehemals Kammerdiener und als solcher auf dem Richtplatze selbst erst pardoniert. Man hatte ihm den roten Mantel schon umgetan. Abends in Mâcon. Auf der Saône: eine Dame, deren Eroberung der Klumpfuß machte. Sie war in allen Départements umhergereist, kannte alle Armeen und war erst 19–20 Jahr alt; ein Weinhändler aus Dijon, der in Deutschland gereist war, sehr verständig, aber voll von der Gnade, die ihm der Baron de Stauffenberg und die Prinzen von Oettingen erwiesen; Gronier, Offizier in der italienischen Armee, ein sehr, sehr ausgezeichneter Mensch, den ich wohl mehr zu sehen wünschte. Klein, gedrungen, viel Geist und Ausdruck im Gesicht. Schlecht gekleidet lag er, als wir von Mâcon am frühen Morgen abfuhren, in der Kajüte. Ich hielt ihn für einen Seidenwirker aus Lyon. Einer aus der Gesellschaft sagte, es seien gewöhnlich kaum 10 bis 12 voyageurs (er meinte vornehme Menschen) in der Barke, daher brauche die Kajüte nicht so groß zu sein. Gronier fragte, was die anderen Menschen wären, wenn er nur 12 voyageurs zähle. Diese kecke Antwort machte mich aufmerksam auf ihn. Man sprach von weiblicher Tugend. Und verteidigte mit wirklicher Beredsamkeit die Möglichkeit männlicher Keuschheit. Was er sagte, zeigte Tiefe der Empfindung, Geist, Besonnenheit, aber auch unbändige [Bl. 53v] Heftigkeit der Leidenschaft. Der Krieg hatte ein Gemisch von Rauheit und Weichheit in ihm erzeugt, welches seinen Umgang überaus interessant macht. Er war nie in Paris gewesen, kannte aber die politischen Lagen überaus gut. Er sprach mit Entzücken von dem Buche über die passions [Paul et Virginie], von Bernardin de Saint-Pierre, von Constant … Seine Phantasie war immer mit Bildern aus den schönen Zeiten der Freiheit erfüllt. Er wollte im Sommer nach Paris gehen, um dort Medizin und hauptsächlich Chemie zu studieren. Wenn das Schicksal ihn begünstigt (er schien kaum 22 Jahr alt zu sein), so kann sein Name nicht unbekannt bleiben. Denn alles kündigte etwas Außerordentliches in ihm an. Ich brachte einen angenehmen Mittag mit ihm in Beauregard zu, und wir trennten uns in Lyon am 24., als wären wir lange miteinander gewesen. Beim Aussteigen im Palais Royal fing Boivin einen schrecklichen Zank mit den Trägern an. Der Weinhändler aus Dijon fühlte ganz das Unfeine dieses Benehmens. Ungebeten trug er meinen Koffer selbst ans Land. Ich dankte ihm für seine Gutmütigkeit, und er sagte zu meinem großen Erstaunen, «für Menschen, die für die Wissenschaften leben, tut man dergleichen gern». Er sagte es mit einer Art, welche diesen Worten einen großen Wert gaben. Madame La Tour verfehlte ich. Hôtel Dieu.

Am 25. morgens 2 Uhr fuhren wir von Lyon weg. Ein junger Neufchâteller Kaufmann und ein alter Kerl mit einer wahren Spitzbubenphysiognomie begleiteten uns. Wir aßen mittags in dem schweinischen Péage, abends in Valence. Hier vergaß uns der Conducteur und fuhr mit der leeren Diligence weg. Wir mussten von 12 bis 2 Uhr eine Meile weit bis zur Paillasse nachlaufen. Zum Glück war es Mondschein, doch war der Chronometer in einem Lande in Gefahr, wo man täglich mordet und raubt. 26. aßen wir nachts in Avignon, den 27. mittags in Lambesc. Vor Aix gesellte sich ein Chausseewärter zu uns, der anfangs sehr republikanische Formen affektierte, [Bl. 54r] bald darauf aber, da er nicht Widerstand fand, uns seine vormalige aristokratische Größe bei dem Comte Galifet schilderte, wo er Koch, Stellmacher, Portraitmaler und Lackierer gewesen war. Er setzte selbst hinzu, dass in der Provinz die Künste selten in der Vollkommenheit als im Auslande geübt würden, weil man sich fast mit zu vielen Zweigen abgeben müsse.

Am 27. abends um 61/2 Uhr trafen wir in Marseille ein. Die Idee, dass Herr Skjöldebrand vielleicht schon abgereist sei, hatte uns ununterbrochen auf dem Wege gequält, wir wussten hundert Trost- und Schreckensgründe dafür und dagegen. Wir wollten noch den selben Abend in den Hafen laufen, um nach schwedischen Schiffen zu fragen. Alle unsere Besorgnisse waren gehoben, als wir ins Posthaus traten und als der Postmeister uns Skjöldebrands Wohnung selbst anzeigte. 28. (Hôtel des Ambassadeurs) brachten wir den Morgen nicht ohne Unruhe mit Visieren der Pässe zu. Der Comissaire des Relations Extérieures, Herr Guys, Thouins Freund, hob bald unsere Besorgnisse. Den Abend berechnete ich mit Bonpland (zuerst) Barometerstände. Der preußische Konsul Sauvages aus Prenzlau visierte mit großer Mühe meinen Pass. Eine echt preußische Tournure [hier: Erscheinung], unbekannt mit allen Berliner Verhältnissen, aber voll von den Exzellenzen, die er aus dem Kalender auswendig gelernt. 29. packten wir die Instrumente aus, ein fürchterlicher Anblick, der Theodolit [Winkelmessinstrument] in Stücken, ebenso das éboulloir [Apparat zur Bestimmung der Höhenlage aus der Siedetemperatur von Wasser] und fast alle Thermometer. Ich war einige Stunden lang beschäftigt, zerbrochene Instrumente auszupacken. Bonpland verlor mehr den Mut als ich. Ein Spaziergang am Hafen ließ mich alles vergessen. Bei Tische fanden wir unter zwanzig Personen acht bis zehn, die Deutsch sprachen. Die Elsässer stritten sich mit Lothringern, wer die angenehmere Aussprache habe, und ein Leipziger Jude, der lange in der Spandauer Straße in Frankfurt an der Oder gewohnt haben wollte, wurde als Sachse zum Schiedsrichter aufgerufen. Ein Scharlatan, der [Bl. 54v] Hühneraugen schneidet, trat herein. Auch er war ein Deutscher, aus Bamberg. Kann man doch nie seinen Mist vergessen!

30. Eine reiche Herborisation an der Küste. Viel Fuci [Seetanggattung der Braunalgen]. Den Mittag zu Herrn Tuilis, dem Direktor der Seesternwarte. Er war sonst Kaufmann in Kairo, ein kleiner, mit der Revolution unzufriedener Mann, aber sehr gefällig.

31. Ich beobachtete mit großer Genauigkeit die Inklination der Magnetnadel. Dann zu Tuilis. Er bildete mir durch falsche Rechnungen ein, mein Chronometer habe 1’ 48’’ variiert. Das ließ mich sehr unruhig schlafen. (Abends am 30. in der Komödie. Unglaublicher Knoblauchgestank.)

1. November. Morgens nach Mordon. Herborisieren an der Küste. Keine Fuci, schöne Cistus. Unerträgliche Hitze bei der Rückkehr. Mittags bei Sauvage. Schändlicher Aristokratismus der Konsuls. Baron von Lilien aus Anklam, in holländischen Diensten, einst Gouverneur in Borneo, geschwätzig wie das Sternbild, 75 Jahr alt, aber nicht ohne Bücher-Kenntnis. Mr. de Saussure war ihm un tout jeune homme de 50 ans [ein sehr junger Mann von 50 Jahren], und mich wollte er 1762 in Berlin gekannt haben. Er hat ein Mineralienkabinett. Busnak, ein Schwager von Baggeri, ein türkischer Jude, dem man 400000 gestohlen. Fölsch, schwedischer Konsul in Uniform, ein feines, aber arrogantes Wesen. Er wusste mir nichts zu sagen, als dass ich die Wege im Orient weit schlechter als in Frankreich finden werde.

2. November (12 Brumaire). Morgens bei Thulis auf der Sternwarte. Dort ein Perruquier, der jetzt Professor einer Seeschule ist, dem Tuilis einigen mathematischen Unterricht gegeben und der (was wohl noch nie ein Perruquier getan) ein Schiff ohne zu landen von Isle de France nach Martinique geführt. Er versicherte, sich mit einem hölzernen Sextanten die Länge bis auf 1’’ zu bestimmen. Madame Thulis lief herum, um Emigranten zu retten. Drei sollten von dem permanenten Kriegsgericht (drei morden sie täglich) gerichtet werden. Das Volk nennt das eine Terne. Bei Tische ein weißer Sachse aus Leipzig, der versicherte, der Bergrat Ferber zu Freiberg sei einer der ersten deutschen Dichter. Nachts wie seit drei Nächten heftiges Gewitter, Donner, Blitz und Sturm.

3. November (13 Brumaire). Morgens eine weite und sehr reiche Herborisation auf den Hügeln hinter der Stadt. Wir fanden viel Eichen, Pistazien etc. Die Garde Champêtre wollte mich arretieren, weil ich (auf die getrockneten Pflanzen deutend) gewiss von dem Zeuge in fremde Länder sende. Zum Glück hatte ich meinen Pass bei mir. Bei Tische ein Bruder des General Marceau, von unbedeutender [Bl. 55r] Physiognomie. Einer seiner Freunde, der viel Verstand verriet und den weißhaarigen Leipziger in die Bordells geführt, sagte: Die Deutschen reisten umher und ruhten nicht eher, als bis sie alles beschnüffelt hätten. Sie wollten überall eingeführt sein, wenn sie aber einmal wo gewesen wären, würden sie gewöhnlich nicht genügsam geehrt, und dann schrieben sie Bücher gegen Frankreich. Der hätte den Berner Bären kennen müssen! Auf dem Kastell wurden zwei neutrale Schiffe signalisiert, die uns sehr in Unruhe setzten. Es waren Dänen. Die Zeitungen ließen uns gar fürchten, der Sturm habe die Fregatte nach Gothemborg zurückgetrieben.

4. November bis 9. (14–19 Brumaire). Immer noch in Marseille und ziemlich einförmig. Wir gingen herborisieren, schnitten Krebse und Muscheln, ich zeichnete sie. Alle Mittag nahm ich Sonnenhöhen. Nur auf dem Abtritt konnte ich die Sonne sehen. Die Neugierde schaffte mir Besuch, und der Abtritt war drei Tage lang so voll, dass ich fast gehindert war. Mit Barthés (place de la Liberté), einem Uhrmacher, den Tuilis zum Mechanikus gebildet, brachte ich den Theodolit wiederum zustande. Der Bruder ist liebenswürdig und bescheiden. Casati, der zweite Sohn, in der Schokoladenfabrik, machte mir Thermometer zu drei Skalen. Wir brachten, da Eis fehlte, künstliche Kälte mit Glaubersalz und Salpetersäure zu - 8° hervor. Der junge Mensch ist aufmerksam und verspricht viel.

Den 10. November (20 Brumaire) wagten wir es, mit der Diligence zu gehen. Skjöldebrand sollte uns, falls die Fregatte ankam, eine Staffette nachschicken und, ob die Diligence gleich 10 lieues [Längenmaßeinheit: 1 Lieue entspricht ca. 4 km] in 12 Stunden zurücklegt, so kann man mit der Post doch in 6 Stunden Nachricht haben. Wir fuhren nachts um 21/2 Uhr weg. Mademoiselle? Mariette, die bonne amie eines französischen Generals, der in Italien kommandiert, jetzt lebt sie mit einem jungen Kapitän, der eben in Toulon angekommen war und dem sie (ohne, vielleicht selbst wider seinen Willen) nachreiste. Aber diese Verhältnisse ließ sie leicht erraten, gab sich dabei aber airs [hier: Auftreten, Gestus, Anstrich] von einem großen Hause, das sie in Marseille halte, in dem man tanze, in dem sich alle vornehmen Damen versammelten … Herr Buonafuß, ein jovialer fetter Kaufmann aus Beaucaire, löste das Rätsel. Die Damen, sagte er, seien ebenfalls Huren, und die Gesellschaft sei eine Spielgesellschaft, in der man junge Leute ausziehe und welche das Gastmahl bestreite. Übrigens war die kleine Frau recht angenehm, freundlich, von sittsamem Äußeren und gar guter Laune. Buonafuß sagte, sie sei aus Chambéry und habe selbst etwas Vermögen, daher [Bl. 55v] sie in ihren Liebeshändeln mehr ihren Leidenschaften als dem Gewinn folge. Ihr schwarzer Mops hatte ebenfalls alle Prätentionen einer petite maîtresse. Leider! Denn wir hätten es gerne vermieden, war auch Lomet aus Agen, Exprofessor der Ecole Polytechnique unter Monge und Adjutant général bei der Pyrenäen-Armee, unser Gesellschafter, ein verkappter, unzufriedener Terrorist, von widrigen Formen, schmutzig, alles erfragend, auf alles schimpfend und, wie er von sich sagte, voll großer und kühner Gedanken. Er schien mit dem Comité du Salut Public [Wohlfahrtsausschuss des Nationalkonvents z. Zt. der Frz. Revolution, eingerichtet 1793] zusammengehangen zu haben. Sein ewiger Diskurs bestand in Schimpfen auf das Gewürm der jetzigen Architekten und Ingenieurs. Frankreich soll nicht einen einzigen besitzen. Selbst Monge versteht nicht den praktischen Teil der Géométrie descriptive, Prony sei ein Ignorant, Guyton ein Schwätzer und Jussieu nebst Desfontaines (von der Architektur gingen wir jedes Mal zu allen Naturwissenschaften über) verdienen ihre Stellen nicht. Da er ein Buch über Barèges geschrieben, ein Buch, das er mir mit vielem Pathos übergab und wovon er noch 2000 Exemplare zu [unleserlich] rechnete, so erinnerte ihn jeder Ziehbrunnen, ja fast jeder Mensch, der sein Wasser abschlug, an das, was er einst monument thermal nannte. Er selbst kann Häuser bauen, Kanäle, Festungen, ist Feldherr, Kupferstecher, ist in Glas besser als jemand in der Republik, malt Landschaften, druckt Kattun, analysiert Fossilien – kurz, es fehlt ihm nichts, [da er] dazu eine immense fortune besitzt, die ihn alle Ehrenstellen erreichen macht. Was ich sagte, denn er hatte wegen der Blasenpflaster eine große Idee von mir, schrieb er auf kleine Zettelchen, leider aber verlangte er gleiche Ehre auch für seine Reden, und da er sah, dass ich eben nicht Anstalt dazu machte, versprach er, auf meinem Zimmer die Quintessenz zu wiederholen. Für einen Tag wäre der Mensch lustig genug gewesen (um sich bei mir zu introduzieren, zeigte er mir, dass er ein Stück Zink in der Börse trage), aber drei Tage, das war sehr hart.

Wir aßen in Cuges und kamen abends 6 Uhr in Toulon an. Der Weg ist abscheulich und am Berg St. Anne romantisch schön. Die Felsmassen von Uriule erinnern an Castleton, Croix de Malthe. Guys hatte uns Empfehlungsbriefe an den General Vence, dessen Neffe in seinem [Bl. 56r] bureau ist, mitgegeben. Der General war verreist. Die Frau empfing uns sehr artig, schlug aber alles ab, und ohne Buonafuß, der uns zu dem Erzterroristen, dem Präsidenten der Munizipalität Crassoux, führte, hätten wir das Bassin nicht gesehen. Abends aßen wir mit zwei Offizieren, die aus Genua kamen (der eine glich einem Kastraten), und drei Seeleuten, von denen einer 35, einer 20 und einer 14–15 Jahre alt war; alle drei auf dem Aquilon in der Schlacht bei Béquières gefangen und in Neapel von den Engländern auf ihr Ehrenwort losgegeben. Es war widrig, dass die ganze Tischgesellschaft der armen Seeleute spottete. Diese schoben alles auf die Undisziplin der Matrosen, besonders auf den Umstand, dass man den Matrosen nicht schlagen dürfe. Gar artig war es, dass der älteste Seeoffizier unter vielem Fluchen das Glück der Engländer anklagte. Alles gelinge diesen, und das Äquinoktium selbst habe diesmal keinen Sturm gebracht, damit die Engländer ihre durchlöcherten Schiffe sicher heimführen konnten. Unter diesem Schimpfen sprach er doch wieder mit Begeisterung von der Disziplin und Ordnung der englischen Flotte. Diese Inkonsequenz, dieses Streben, dem Zufall zuzuschreiben, was allein der Klugheit zugehört, und dann dabei die abgezwungene Bewunderung eines so überlegenen und gewandten Feindes gab den lebhaften, hitzigen Gesprächen sonderbare Wendungen. Bei dem Namen du Petit-Thouars schrien alle laut auf. Er hat sich allerdings das Blut stillen und auf das Verdeck tragen lassen, um bis zu seinem letzten Tage zu kommandieren. Die beiden jungen Leute, Brüder, beide aus Rochefort, hatten interessante Bildungen. Der jüngste sprach nicht eine Silbe. Im 14. Jahre der Schlacht bei Béquières beigewohnt zu haben! Wie müsste solche Erfahrung auf ein regsames Gemüt einwirken. Die halbe Nacht beschäftigte mich der Gedanke. Bonpland konnte ich es nicht begreiflich machen, dass in diesem Schicksal etwas Bewundernswertes liege.

11. November (21 Brumaire). Wir besahen das Arsenal, ein kleiner Saal mit bretternen Verzierungen, die herrlichen Corderies, ein sogenanntes Modellkabinett, 5 Schritte lang und 3 breit, voll Austernschalen und Konditorarbeit, die versunkenen Linienschiffe und [Bl. 56v] das herrliche steinerne Bassin von Grooniard mit dem Schiffe, das wie ein Muschelventil die Schleuse schließt. Alles öde und leer, nichts als Gefangene, von denen man jetzt 5000 hier zählt. In Rochefort sind 3000, viele wegen Meinungen, alle auf eichenen Brettern schlafend. Sie sollen jetzt fast gar nicht geschlagen werden, sonst hing man sie zur Strafe an den Armen 20–30 Fuß hoch auf. Ein Gefangenenwärter sagte, auch an den Beinen. Das Ganze des Hafens verdient das Rühmen gar nicht, welches man davon macht. Ich sah nirgends Größe oder Pracht. Venedig war weit, weit schöner. Doch schrie Buonafuß wie alle Franzosen (wenn sie die Tuilerien ansehen) bei jedem Schritte, «alles dies ist nur in Frankreich zu sehen». Karyatiden von Puget am Rathause. Die Stadt ist elend klein, nur der Hafen hat eine freundliche Lage, obgleich man nirgends das freie Meer sieht und auch die Felsen weder romantisch noch imponierend durch ihre Masse sind. Mittags zwei Kastilianer und ein Ingenieur-Offizier (ich glaube Bonnet), der Lomet wie ein Orakel anhörte und ebenso dumm als unwissend zu sein schien. Er versicherte, dass seines Wissens nie ein Terrorismus geherrscht habe. Das Blut, das geflossen, sei zu Recht geflossen. So eine Schändlichkeit hatte ich noch nie gehört, solange ich in Frankreich war. Ich erhitzte mich sehr gegen ihn, und da er einzulenken suchte, drehte ich ihm den Rücken zu. Der Mensch war so schwach als schlecht. Er wurde sichtbar verlegen und schien zu glauben, Lomet und ich würden an seinem Untergange arbeiten. Nach Tische besahen wir die äußere und innere Rade, bestiegen den Admiral Le Hardy, ein altes Linienschiff von 74 Kanonen, auf dem die Marseiller Signale zu unserem Troste wiederholt wurden für die Fregatte La Boudeuse, welche Bougainvilles Weltumsegelung mitgemacht. Sie wurde eben segelfertig gemacht, um einige Kauffahrteischiffe nach Marseille zu konvoyieren, wohin sie in 5 Stunden zu segeln hofften. Alle Mannschaft war auf dem Verdeck, alles regte sich und spannte die Segel. Es wurde mir so leicht und weit ums Herz, alles fahrtwärts gehen zu sehen. Als ich aber in die Kajüte herabstieg, ein großes geräumiges Zimmer, da fiel mir Baudins Reise schwer auf die Seele. Ich lag 10 Minuten [Bl. 57r]