Das Buch der Unmöglichkeiten - Luiz Ruffato - E-Book

Das Buch der Unmöglichkeiten E-Book

Luiz Ruffato

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Beschreibung

Von Hoffnung getrieben, von Mühsal beladen, oft in Enttäuschung endend: Die Binnenmigration vom Land in die Großstadt und das Leben der einfachen Leute sind das große Thema von Luiz Ruffato. Der Roman entwirft das Porträt einer zerrissenen Generation, die vielleicht als letzte noch glaubte, dass Zukunft auch Fortschritt bedeutet.

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LUIZ RUFFATO wurde 1961 in Cataguases im brasilianischen Bundesstaat Minais Gerais geboren und wuchs in einer armen Migrantenfamilie auf. Er arbeitete u.a. als Verkäufer und Dreher und studierte Journalismus. Im Jahr 1998 veröffentlichte er einen ersten Band mit Kurzgeschichten. Drei Jahre später folgte der Roman »Es waren viele Pferde« (Eles eram muitos cavalos), der als Klassiker der modernen brasilianischen Literatur gilt. Zwischen 2005 und 2011 schrieb Luiz Ruffato den fünfbändigen Zyklus »Vorläufige Hölle« (Inferno próvisorio), der auf Deutsch bei Assoziation A (Bd. 1: »Mama, es geht mir gut«; Bd. 2: »Feindliche Welt«, Bd. 3 »Teilansicht der Nacht«) erscheint. Seine Migrantengeschichte »Ich war in Lissabon und dachte an dich« erschien 2015 auf Deutsch.

Luiz Ruffato war Eröffnungsredner der Frankfurter Buchmesse 2013 und erhielt gemeinsam mit seinem Übersetzer Michael Kegler 2016 den Internationalen Hermann-Hesse-Preis.

LUIZ RUFFATO

DASBUCH DER UNMÖGLICHKEITEN

VORLÄUFIGE HÖLLEBAND 4

Aus dem Portugiesischenvon Michael Kegler

Titel der Originalausgabe: O livro das impossibilidades (Editora Record)

Obra publicada com apoio do Ministério das Relações Exteriores doBrasil em cooperação com a Fundação Biblioteca Nacional/Ministério da Cultura.

Veröffentlicht mit Unterstützung des brasilianischen Außenministeriums in Kooperation mit der Stiftung Nationalbibliothek/Kulturministerium.

Die Übersetzung aus dem Portugiesischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch litprom e.V. – Literaturen der Welt.

© Luiz Ruffato, 2008

© der deutschsprachigen Ausgabe: Berlin, Hamburg 2019

Assoziation A, Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin

www.assoziation-a.de, [email protected], [email protected]

Foto Einband: Kay Fochtmann / photocase.de

Gestaltung: Andreas Homann

Druck: CPI

ISBN 978-3-86241-469-7

eISBN 978-3-86241-628-8

Für Geni und Sebastião, meine ElternFür meine Kinder Helena und Filipe

Da sagte Daniel: Gott, du hast also an mich gedacht;du lässt die nicht im Stich, die dich lieben.

DANIEL 14,38

Die Götter sind GötterWeil sie nicht denken.

RICARDO REIS (FERNANDO PESSOA)

Inhalt

ES WAR EINMAL

NATÁLIA

NELLY

DIMAS

ABFAHRT

SÃO PAULO

3. JULI, SAMSTAG

SONNTAG, 4. JULI

MONTAG, 5. JULI

DIENSTAG, 6. JULI

MITTWOCH, 7. JULI

DONNERS TAG, 8. JULI

BRIEF AN EINE JUNGE DAME

ZEZÉ & DINIM

0. PROLEGOMENA

1. HEROLD VOR DEN TOREN DES MORGENS

2. EINE TASSE VOLLER GEHEIMNISSE

3. MEHR

4. OMA KOMMA

5. ATOMHERZMUTTER

6. RELIKTE

7. EINMISCHEN

8. VERD UNKELT VON WOLKEN

9. DIE DUNKLE SEITE DES MONDES

10. WÜNSCHTE, DU WÄRST HIER

11. TIERE

12. DIE MAUER

13. IHRE GRÖSS TEN ER FOLGE

14. LETZTE FASSUNG

15. KURZER ANFLUG VON VERNUNFT

16. DER ZARTE KL ANG DES DONNERS

17. DER GLOCKENSCHLAG DER ENTSCHEIDUNG

18. PULSIEREN

19. IST DR AUSS EN JEMAND?

20. ECHOS

LUIZ RUFFATO MAMA, ES GEHT MIR GUT

LUIZ RUFFATO FEINDL ICHE WELT

LUIZ RUFFATO TEILANSICHT DER NACHT

LUIZ RUFFATO ES WAREN VIELE PFERDE

LUIZ RUFFATO ICH WAR IN LISSABON UND DACHTE AN DICH

ES WAR EINMAL

Der Nachname auf dem Ausweisschild ließ jeden Zweifel verfliegen: Hinter dem mexikanischen Schnäuzer in dem von der Sonne nur wenig verwöhnten Gesicht steckte tatsächlich der Nílson von vor 15 Jahren, mit dem er sich im Aschgrau eines Julis betrunken hatte; nun stand er in Schlips und Krawatte als Aufpasser vorm Kaufhaus Mappin, Funkgerät in der linken Hand, Röntgenblick in den schwarzen Augen.

Er blätterte durch die CDs auf dem Tisch mit den Angeboten, im Augenwinkel den argwöhnisch streifenden Freund von früher. Ihn ansprechen, überlegte er, Nilson, ein Klaps auf die Schulter, kennst du mich noch? Ob er sich erinnern würde? An jene Woche, die ihn aus dem gewohnten Trott, dem er bis dahin Etappe für Etappe schläfrige Tage verschlingend eifrig in der von Eltern, Geschwistern und Freunden vorgezeichneten Bahn gefolgt war, hatte ausbrechen lassen. Nein, Nílson erinnerte sich ganz bestimmt nicht mehr. Aber ihm waren glasklar diese Namen geblieben, zersprungen ins Ungewisse, damals, irgendwann 1976: Nelly, die Patentante Alzira, Onkel Olegário, Indiara, Edu, Jimmy, Zezão, Dinho, Wil … und Natália …

NATÁLIA

Als sei ein Hund von der Straße durch die offene Tür plötzlich ins Zimmer gekommen, ein Sabberfaden an der heraushängenden Zunge, wild mit dem Schwanz wedelnd, selbst für ein nicht wirklich aufrichtiges Streicheln. Aber es war ein Mädchen gewesen mit frechblauen Augen und nachtschwarzem Haar glatt über den schmalen Schultern. Das ist Natália, sagte ein blumengemustertes Kopftuch im Türwinkel, Sag guten Tag, Junge!, donnerte unsichtbar Mutters Stimme.

Linkisch hatte er ihr seine rechte Hand entgegengestreckt, wenig begeistert, dass man seine Ruhe gestört hatte in dem Zimmer, das er sich mit seinen zwei Brüdern teilte, doch das Mädchen nahm sie gar nicht wahr, fragte gelangweilt, Bist du der Guto?, derweil das Kopftuch lächelnd gewinkt hatte Guto, Hallo, kennst du mich noch?, Natürlich, die aus São Paulo hatte ihm vor zwei Jahren das Knopffußballspiel geschenkt, Das Team von São Paulo. Magst du São Paulo? Nein, aber begierig hatte er das Papier aufgerissen, war raus auf die Straße, um den neidischen Jungs die Gesichter zu zeigen: Picasso, Nenê, Roberto Dias, Jurandir, Arlindo, Carlos Alberto, Dé, Miruca, Nelsinho, Babá, Paraná. Hallo, Frau Nelly, murmelte er und es störte ihn, dass man in seinen Sachen herumfingerte, sie sagte freundlich Ich hab die Natália mitgebracht, damit sie dich kennenlernt, Benimm dich, hörst du?, drohte die Mutter, Ei ei ei, er hatte sich gefügt, und im Wintermorgen verflogen die Stimmfetzen. Natália in T-Shirt und kurzen Hosen, friert die nicht?, ist die dumm?, hangelte tanzend, Sandalen in der Hand, auf dem Klappbett nach einer vom Dachsparren hängenden rußigen Spinnwebe.

Entschlossen, ihr nicht nachzugeben, setzte er sich auf die andere Matratze, griff sich den Brasinha-Comic, vertiefte sich unkonzentriert in die Geschichte. Wie alt bist du?, knallte schon wieder die Nervensäge in seine Aufmerksamkeit. Zehn, brummte er. Ich auch! Spielen wir Mama und Papa?, schlug sie vor, und dann gleich ich bin die Mama, du bist der Papa. Er aufgeschreckt, Ich? Also von wegen!, aber sie überhörte es, kam zur Sache:

— Ich gehe dann mal. Muss im Krankenhaus arbeiten. Ich stell’ dir das Essen warm.

— Von wegen! »Ich« gehe arbeiten! »Du« bleibst zu Hause!

— Nein … Weil du arbeitslos bist … Aber macht nichts, ich kann für dich sorgen …

Und war raus aus dem Zimmer, die Tür angelehnt.

Und mit ihr waren der Lärm, die Aufdringlichkeit, der Akzent, der bestimmende Ton weg …

Langsam schlich wieder Beschaulichkeit in die Welt.

Er wollte sich erneut in sein Heft vertiefen, aber nun machte es keinen Spaß mehr.

NELLY

Nelly, die schwarzen Haare kurz, hatte sich einfach davongemacht, verlobt mit einem der vielen Tausenden, die vor der Armut in die Labyrinthe der Industrieviertel São Paulos geflüchtet waren. Den Mann hatte sie – schlaksig, schüchtern, ein ernsthafter Junge – auf dem Platz vor der Kirche der Heiligen Rita getroffen, an einem nach Popcorn duftenden Samstag in den Farben des Springbrunnens. Beim Spazierengehen, sagte sie, mit dem kleinen Neffen, der noch ein Säugling war, irgendwann nach der Abendmesse; rasch waren sie fest miteinander gegangen, verkrampft schweigend unter dem sepiafarbenen Blick ihrer Eltern, die gerahmt an der Wand in der Wohnung der Familie in Vila Teresa hingen. Praktisch denkend, suchte Nelly die Zeiten der Abwesenheit und Abschiede so kurz wie nur möglich zu halten und drängte, er solle rasch um ihre Hand anhalten. Nach nicht einmal einem Jahr traten sie vom Altar der Kirche der Heiligen Rita hinaus in den Reisregen vor dem Ausgang. So hastig, dass selbst das Gift der Geschwätzigen – Nelly, sehe ich da schon ein Bäuchlein? – im Ansatz vertrocknete. Flitterwochen auf halbem Weg in der Absteige in Volta Redonda, im bläulichen Rechteck des offenen Fensters im zweiten Stock sah man im Hintergrund aus einem riesigen Schornstein flackernde Flammen, noch weiter hinten Metallarbeiter beim Schichtwechsel.

Und ganz weiter hinten nagte schwefelig Neid an erdrückenden Nachmittagen der Freundinnen, eingepfercht in der Spinnerei oder der Weberei der Fabriken von Cataguases. Nelly und ihr Dimas, verdammt!, die hat’s geschafft, stechend blaue Augen aus hellbrauner Haut, unter dem dichten Schnurrbart nur gute Zähne, die schwarzen Haare mit Brillantine zurückgekämmt, eine Sünde wert der Kerl, Donnerwetter!, ein ganzer Lottogewinn; dass der Typ Buchhaltung in einer Chemiefabrik machte, ging herum, oder was zu sagen hatte in einer Chemiefabrik, oder was weiß man nicht alles in einer Chemiefabrik (Echt, Chemiefabrik? …), jedenfalls, dass er es geschafft hatte, anders als die traurigen Hungerleider, die ihnen nur schlüpfrige Sachen ins Ohr flüsterten; arme Teufel, die um sechs Uhr zur Schicht gingen, mit einem Blick wie geprügelte Hunde aus ihrem Henkelmann fraßen, so traurig, mein Gott, und wissen, dass sie es nie schaffen würden, nie raus aus der Trostlosigkeit. Seufzten um Nelly, die sich mit Dimas, und kein Blick zurück, zwischen die Autos und Häuser und Leute geschlagen hatte, gebenedeit von São Paulo im Nebel, São Paulo, uii!

Davon träumten sie. Hatten nichts mitbekommen von der Enttäuschung von Nelly, als auch sie ihren Mann als den armen Teufel erkannte, in einem Verschlag in Saúde, drei Zimmer, kein Putz an den Wänden, keine Möbel, ein paar Quadratmeter, mit den Abzahlungen lange im Rückstand. Ein Melancholiker, der nirgends Arbeit fand, antriebslos, niedergeschlagen, ohne Hoffnung stundenlang auf dem alten Sofa herumlungerte, ungewaschen, unnütz wie ein Kalenderblatt von vor zwei Jahren. Haus. Ehemann. Wenn es sie manches Mal nachts in den Füßen juckte, nach Cataguases zurückzukehren, enttäuscht, ausgelaugt, hatte sie sich früh am Morgen mit roten Augen auf den Weg gemacht, die ganze befremdliche Stadt auf dem Kopf gestellt auf der Suche nach Arbeit. Nach vielen Blasen an den Füßen, die Sohlen der alten Sandalen schon ganz abgelaufen, fand sie schließlich Anstellung als Putzfrau im Krankenhaus Santa Cruz. Schwor nun, ihre Familie aus dem Morast zu ziehen, und karrte nach und nach auch ihre Schwestern heran. Vergaß sogar Dimas, befasste sich lieber damit, anzubauen, einen Kühlschrank zu kaufen, Holzparkett zu verlegen, zwei Zimmer, um sie zu vermieten, zu bauen, Betondecke drüber, sich zu vergrößern, die Welt zu vermessen, sie auszufüllen. Kinder wollte sie, wurde schwanger, wollte ihre Eltern zu sich holen, holte sie. Absolvierte die Abendschule zur Pflegehelferin. Vergrub sich in Bücher und schaffte es zur Krankenschwester. Die Zähne zusammengebissen, und eins nach dem anderen. Janderly und Marly sind gut verheiratet in Jabaquara und Tobão da Serra. Das Nesthäkchen Ivany ist noch ledig in Americana und arbeitet bei der Bank. Die Eltern sind unter ihrem Dach gut versorgt. Hätte sie ein Auto gewollt, bräuchte sie nur mit dem Finger zu schnipsen, schon hätte eins vor der Tür gestanden – an Geld fehlte es nicht, höchstens an Vernunft bei den Kindern.

Vielleicht ist sie glücklich. Würde sie nachdenken, vielleicht auch nicht. Aber sie denkt nicht nach.

DIMAS

Wie ein Filmschauspieler sah er aus, auf dem Schwarzweißfoto auf dem Nachttisch am Kopfende von Nellys Bett. Halbprofil, schwarzer Anzug, tadellos, Haare mit Glostora zurückgekämmt, glänzende Augen. Aufgenommen beim Fotografen in der Rua Direita. Hatte sich parfümiert. Im April hatte er den braunen Umschlag geschickt, hintendrauf Meiner lieben Nelly als Zeichen der Liebe, Dimas – São Paulo, 14. März 1958 in geschnörkelter Schönschrift. An jenem Freitag war ihm die Innenstadt klein vorgekommen für seine unruhigen Füße, er hätte, wenn es sein müsste, bis ans Ende der Welt laufen können, um von Tür zu Tür die Wunder des Elektrolux-Staubsaugers anzupreisen. Doch niemand, so musste er an jenem Nachmittag feststellen, teilte seine belämmerte merkwürdige Euphorie, die ihn das winzigste Körnchen Sternenstaub zum Geschwister machte.

Faul hatte er sich in der Einsamkeit von Cataguases immer unter dem Bett verkrochen, winzige Spinnen seilten sich an Fäden zwischen den Sparren des Bettgestells ab, Stroh löste sich aus der Matratze, Salaaat Grünkoooohl Zichooorie, ein Pferd scharrt an der Wand ohne Putz, Salaaat Grünkoooohl friische Zichooorie versteckte sich vor dem Sommer, der hinter dem Rücken der Nachbarin tratschte, (…) dann los und (…) wie’s aussieht, hat das Kind ein Pro(…) kann nichts dafür, aber die Leute sa(…), ausgestreckt in ihrem eigenen Bild träumt die Katze von fetten Beutelratten (…)imas zu Hause? Hä, ist er nicht mit euch raus?, zwei dürre Füße nebeneinander auf dem Nähmaschinenpedal.

Schlich sich hinaus:

mit den Füßen im stinkenden Moder am Rio Pomba, Geschwüre von Stichen, Rinnsale aus Pisse und Kacke, am anderen Ufer wächst Sumpfgras, ein Büschel, die Strudel;

blau gleiten Rabengeier, beobachtet er auf dem Rücken im Gras auf der Böschung, Wolken verbergen sich hinter dem Wald, Grashalm zwischen den Zähnen, Stille;

Hostiengeschmack klebt am Gaumen;

Zwielicht in der Truhe, Wo steckt dieses Kind bloß, verdammt?

die Kreide in der Hand der Lehrerin kreischt über die Schiefertafel, be-a ba, be-e be, be-i bi

klammert sich an die Äste von Mangobäumen, unter ihm Blätter und Steine,

der Kessel schwappt Richtung Zuckerfabrik, Halt ordentlich fest, Junge!, sonst vermischt sich das alles, der arme Herr

Tot.

Unsichtbar zu sein wünschte er sich, trotz seiner blauen Augen.

Tot.

: wie ein Filmschauspieler, ein Schwarzweißfoto auf dem Nachttisch am Kopfende von Nellys Bett.

ABFAHRT

Dramatisch wendet sie das Gesicht ab, noch einmal, will sich das gar nicht vorstellen. Ach je!, der Mann, der Sohn, Gott beschütze sie, hinter der Scheibe im Sitz, das Schummerlicht der abgenutzten Haltebuchten, São Paulo, ist doch soooo weiiit Pass gut auf ihn auf, hörst du!, rempeln treten umarmen spucken rufen begrüßen suchen, Mach mal das Fenster auf!, fragende Augenbrauen, rechte Hand zieht einen imaginären Griff, Schwielen schieben ein zwei drei vier Klemmt geben verlegen auf, sie zuckt mit den Schultern, Ach Mensch! der Fahrer befeuchtet die Spitzen von Zeigefinger und Daumen, zählt noch einmal alle Fahrscheine durch, Viele Grüße an alle!, steigt ein, setzt sich, lässt den Motor an, Wenn ihm schlecht wird, gib ihm Zitrone zu riechen!, dreht am Rückspiegel, Pass auf, lass ihn nicht aus den Augen!, legt den Rückwärtsgang ein, Wiedersehen! Tschüss! Gute Reise! Gute Fahrt!, winkende Hände, Kinder rennen, ein Hund, ein Betrunkener auf dem Bürgersteig, der Fernseher hypnotisiert die Spelunke. Halbe Stunde, kurz aussteigen, Leopoldina, vergleichen, Verspätung, brummt ausdruckslos der Fahrkartenverkäufer, der Vater steckt sich eine Continental ohne Filter an, Warte mal, komme gleich wieder!, geht über die Straße, Zigarettenglut über dem einsamen, dunklen Platz. Nichts?, kommt zurück, reibt sich die Hände, Kalt, was!, nervös ist er wieder weg. Dann kommt schon der Bus: Alegre – São Paulo, Du liebe Zeit!, Hals gereckt, suchend, an der Tür drängeln sich Passagiere, Geht der nach São Paulo?, rempeln treten umarmen spucken rufen suchen, Wo ist Papa?, das Herz atemlos, weiche Knie, Koffer Taschen Bündel Kisten Säcke Gebinde Tüten gestopft im Gepäckraum, Wo?, der Vater hektisch, Hier!, für dich, gibt ihm ein Päckchen Maiskringel, schnappt sich die Wildlederjacke.

Die Reise beginnt:

(Seit Jahren geprobt, Jânua, es wird höchste Zeit, dass wir Juca besuchen!, aber immer kam was dazwischen

die Überschwemmungen Jahr für Jahr

der Große musste den Blinddarm herausbekommen

die Schulsachen pfeifen auf dem letzten Loch

der Jüngste hat faule Zähne

die Fahrradgabel ist gebrochen, konnte eine gebrauchte bekommen

die Schwägerin aus Ubá hat es nicht leicht

das Mädchen, wir müssen ein Fest geben zu ihrem Fünfzehnten

ein Wolkenbruch hat das Dach abgedeckt, alle Möbel sind schimmelig

die Cousine in Astolfo Dutra hat ein Kind gekriegt und weiß nicht wohin

Jânua, es wird höchste Zeit, dass wir Juca besuchen!

Die Fingernägel bis auf die Knochen herunter, wenn sie Furchen mit triefendem Reis unterpflügten, der Bruder treibt den Ochsen an, und er, etwas kräftiger, schiebt mit dem Pflug über die Senke irgendwo nirgendwo nach den Gomes in Rodeiro raus, bis zu den Knien im Schlamm, sogar die Haare voll Erde. Mahlzeit!, Luzia erschien oben am Hang, Kessel in jeder Hand und im Rucksack für den Kaffee Gläser, Mittag!, Ausruhen und Reis mit Bohnen Polenta Gemüse ein bisschen Fleisch, und der Morgen putzte sich heraus in den tiefgrünen Wäldern Wolken weiß Himmel blau, der kleine Bach schhhhhhh, das Gesumm der Moskitos, das Kilo im kühlen Schatten unter einem Bäumchen, die Welt hörte auf zu sein.

— Kannst du dich erinnern, Juca, damals? Wir kamen vom Tanzen vom Land, viele Leute, wir, die von Beppo Finetto, von Senhor Giacinto Bicio, Spinellis!, da kam dieses riesige Schwein übern Weg, man konnte es gut erkennen, weil die Nacht hell wie Tag war, mit Ketten, die es hinter sich her zog, was für ein Schreck, die Frauen haben alle geschrien vor Entsetzen, wir hinter dem Vieh her, den Abhang hinunter, durch einen kleinen Sumpf, und dann haben wir das Vieh eingekreist bei den Spinellis am Gatter. Das Drecksvieh hat sich auf die Hinterpfoten gestellt und war bald mehr als zwei Meter groß, blutunterlaufene Augen und Zähne wie ein tollwütiger Hund, da haben wir die Beine in die Hand genommen, weißt du noch?, waren noch vor allen anderen da, über Zäune, Stock und Stein, haben uns an Strünken und Zweigen Hemd und Hose aufgerissen, die Beine zerkratzt und die Arme. Und der Gestankerst! Wir mussten all unsere Sachen ins Feuer schmeißen!

Jânua, es wird höchste Zeit, dass wir Juca besuchen!

Zu Vaters Beerdigung war er alleine da, eine Woche frei, ist aber auch schon zehn Jahre her …

— Nenego ist immer noch auf diesem zerklüfteten Stückchen Land in Bagagem, nebenan von den Prettis. Aber ein Trauerspiel … Er, Almerinda und noch ein Nesthäkchen, den kennst du nicht, das ist später geboren … die anderen sind in Ubá, schaffen da in der Möbelfabrik … kein Ackerbau mehr … nur noch paar magere Kühe … Kann einem leidtun … Molassegras, laufen frei herum …

— Luzia, ihr Mann, dieser Wirrkopf Jeremias Furlaneto, betreibt eine Eisdiele in Rodeiro … Nicht viel los da … Ganz schön zu strampeln … Na ja … mit den vielen Kindern auch …

— Silvinha, der geht es gut da in Rio de Janeiro … Jedes Jahr zwischen den Jahren besucht sie uns, eine Aufmerksamkeit für die Frau, irgendein Firlefanz für das Mädchen, paar Kleinigkeiten für die Jungs … Sogar mir bringt sie immer was mit … Kaum zu glauben … Silvinha … komisch, dass sie nicht heiraten will, Kinder haben … warum nicht, habe ich nie verstanden …

Jânua, es wird höchste Zeit, dass wir Juca zu besuchen!

— Ich? Juca, du kennst mich … ich hab’ ja nicht viel. Reich werden hat sich für mich nie ergeben. Von der Hand in den Mund und von Gottes Gnaden. Jânua macht noch immer ihr Salzgebäck zum Verkaufen … Sparsam, geduldig, nicht kleinzukriegen … Eine Heilige! Und die Jungs … der Älteste hat beim Senai-Bildungswerkeine Ausbildung zum Betriebsschlosser gemacht, arbeitet bei Industrial, Zukunft hat das, sagt er, geht mit einem Mädchen aus guter Familie … Was will man als Vater mehr? Der Aguinaldo hat Führerschein, mit den Autos da hat er es, das scheint seine Bestimmung zu sein. Die Julia, die ist so, ein Dickkopf, schnell eingeschnappt, trägt die Nase hoch, Flausen der Jugend, will immer dem eigenen Kopf nach … Das Leben wird es schon richten … Der Kleine, Luís Augusto, der steckt mit dem Kopf in den Wolken … ist fleißig in der Schule, macht keine Scherereien, ist manchmal faul, drückt sich … Müsste mal einer die Zügel anziehen … Ich? Juca, du kennst mich … Ich bleibe, wie ich bin … mit dem Kopf durch die Wand …)

SÃO PAULO3. JULI, SAMSTAG

Ein rundes Gesicht lugte durchs Fenster, die Äuglein zusammengekniffen, Gelobt sei der Herr Jesus Christus!, kam raus, einen gedrungenen, dicken Leib balancierend, gekrönt von ein paar struppigen grauen Haaren, zu einem Knoten gebunden, ein weiß gepunktetes, langes Kleid bedeckt Arme und Beine, Gelobt sei der Herr Jesus Christus!, das Vorhängeschloss aufgeschlossen, die Kette, drei Mal ums Gitter gewickelt, abgemacht, Dass ihr tatsächlich gekommen seid! Nicht leicht zu finden, nicht wahr?, sie umarmte ihn, Tränen in den Augen, Gott, ich kann es noch gar nicht fassen!, auf kranken Füßen voran, Als euer Brief kam, konnten wir es nicht fassen … Ist das Luís Augusto? Ist der groß geworden! Gott segne dich, Junge! Nelly hat mich schon vorgewarnt … als ich ihn das letzte Mal gesehen habe … so winzig noch … Du liebe Zeit, lass uns reingehen, immer nur reinspaziert … Und selbst? Frierst du, Junge? Ich kann es noch gar nicht fassen!, den schmalen Gang entlang, rechts eine riesige, verputzte Mauer, links drei Türen, drei Fenster, drei auf drei Meter, dahinter die Mauer. Darüber noch eine Wohnung mit eigenem Eingang.

Im Wohnzimmer, feucht, winzig, an der Wand eine Rotbauchdrossel im Käfig, liegt auf dem Sofa der Alte, zieht unter der Wolldecke seine magere, faltige Hand voller Altersflecken hervor, lässt sie zitternd schweben, Gevatter Raul!, mühsam kommt seine Stimme hervorgekratzt, Gevatter Raul hallt es im zahnlosen Mund nach, Wie lang ist das her, Olegário!, Und Luís Augusto … Lass dich segnen, Junge!, Raul, schau nur, was aus mir geworden ist, jammert er, Dabei geht es ihm jetzt sogar gut, Gott sei Dank, wenn du wüsstest, was wir durchgemacht haben …, sagt die alte Frau, gut, von wegen, Gevatter Raul, dass ich nicht lache … nicht einmal pinkeln kann ich alleine … nicht kacken … Herrje, Mann, drück dich nicht so aus! Eisiger Wind kneift in die Ohren, Willst du was essen?, fragt sie und schleppt sich in die Küche. An der Tür kratzt der Pudel, winselt, ausgesperrt hinters Haus mit den Mücken und seinem Gestank. Still, Pitoco! Die funzelnden Glühbirnen überziehen die Freude des Morgens mit Grauschleier.

Sie zieht den roten Resopaltisch heran, setzt den Jungen auf einen Hocker, den Rücken zur Wand, stellt ihm eine Emailletasse mit lauwarmem Kaffee mit Milch hin, Brot mit Margarine, Iss nur, mein Junge, iss. Der Vater im Türrahmen, Kaffeetasse in der rechten Hand, die linke bequem in der Hosentasche, pustet, nippt. Ein Elend, flüstert sie, sogar auf die Toilette muss ich ihm helfen … Ein Drama! noch einmal und schluckt den Kaffee, Was kann man sich Schlimmeres vorstellen?, das ganze Zimmer ausfüllend aufs Spülbecken abgestützt. Die Wohnung stinkt: Medizin, Exkremente, Urin. Wie viele Jahre schon, wie lange schon eigentlich! Zwei Schlaganfälle, stell dir mal vor! Zwei! War ein gesunder Mann, fleißig … Das Mädchen schläft heute noch in dem Bett, das er ihr mit dem Taschenmesser geschnitzt hat, erinnerst du dich? Und ob ich mich erinnere! Wie könnte ich so was vergessen? Was