Es waren viele Pferde - Luiz Ruffato - E-Book

Es waren viele Pferde E-Book

Luiz Ruffato

4,8

Beschreibung

In 69 Szenen entwirft der erste Roman des brasilianischen Ausnahmeautors Luiz Ruffato ein kaleidoskopisches Abbild der Megacity São Paulo mit ihrem Glamour, ihrem Elend, ihrer Verlogenheit und ihrem Schmerz. Die verschiedenen Schlaglichter fügen sich zur Geschichte eines Landes, das von Gewalt und Entwurzelung gezeichnet ist. Jede der Szenen hat eine eigene Stimme, einen eigenen Ton, eine eigene soziale Färbung. Mit fast paranoider Präzision gelingt es Luiz Ruffato, den Klang, die Gerüche, die Farben, die Angst einer 22-Millionen-Stadt poetisch exakt zu erfassen und zu dem verstörenden Porträt einer zerrissenen Gesellschaft zusammenzusetzen.

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Luiz Ruffato

Es waren viele Pferde

Luiz Ruffato wurde 1961 in Cataguases im brasilianischen Bundesstaat Minais Gerais geboren und wuchs in einer armen Migrantenfamilie auf. Er arbeitete u.a. als Verkäufer und Mechaniker und studierte Journalismus. Im Jahr 1998 veröffentlichte er einen ersten Band mit Kurzgeschichten. Drei Jahre später folgte der Roman »Es waren viele Pferde« (Eles eram muitos cavalos), der die brasilianische Literatur revolutionierte, von der Kritik enthusiastisch aufgenommen und u.a. mit dem Prêmio Machado de Assis der brasilianischen Nationalbibliothek ausgezeichnet wurde. Eine Jury von Literaturkritikern der Zeitung Globo zeichnete das in mehrere Sprachen übersetzte Buch als einen der zehn besten brasilianischen Romane der letzten Dekade aus. Zwischen 2005 und 2011 schrieb Luiz Ruffato den fünfbändigen Zyklus »Vorläufige Hölle« (Inferno próvisorio), der erste Band, »Mama, es geht mir gut«, erschien 2013 bei Assoziation A. Luiz Ruffato lebt in São Paulo.

Luiz Ruffato

Es waren viele Pferde

Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler

Titel der Originalausgabe:

Eles eram muitos cavalos (Editora Record)

Obra publicada com o apoio do Ministério da Cultura do Brasil | Fundação Biblioteca Nacional

© Luiz Ruffato 2001, 2007

© der deutschsprachigen Ausgabe Berlin | Hamburg 2012Assoziation A | Gneisenaustr. 2a | D-10961 [email protected] | [email protected] und Satz: kvE-Book ISBN 978-3-86241-601-1

Für Cecília

Es waren viele Pferdedoch niemand kennt mehr ihre Namenihre Fellfarbe, woher sie kamen

CECÍLIA MEIRELES

Wie lange wollt ihr unrecht richtenund die Person der Gottlosen vorziehen?

PSALM 82

Inhalt

1.Kopf

2.Wetter

3.Heiligenkalender

4.Unterwegs

5.Auswendig

6.Mutter

7.66

8.Es war ein Junge

9.Ratten

10. Was Frauen wollen

11. Schießerei Nr. 41

12. Stier

13. Stillleben

14. Ein Indianer

15. Fran

16. so:

17. Warten

18 Mit dem Zeigefinger(1)

19. Brabeza

20. Wir hätten gute Freunde sein können

21. er)

22. (sie

23. Wäre der Gast

24. Ein Regal

25. Am Telefon

26. Windeln

27. Der Evangelist

28. Geschäft

29. Das Paradies

30. Der alte Bürobote

31. Glaube

32. Eine Küche

33. Das Leben vor dem Tod

34. Diese Frau

35. Alles geht zu Ende

36. Lies Psalm 38

37. Streicheln

38. Das Mädchen

39. Diät

40. Wo waren wir vor hundert Jahren?

41. Taxi

42. Mit dem Zeigefinger (2)

43. Ga’ava (Stolz)

44. Arbeit

45. Teilansicht der Stadt

46. Der Bürgermeister mag nicht, dass man ihm in die Augen schaut

47. Der »Schädel«

48. Minuano

49. Ritual für Dienstag, Mond im Zeichen des Krebses

50. Brief

51. Politik

52. In Weiß

53. Tetralog

54. Diplom

55. Übers Internet

56. Slow motion

57. Newark, Newark

58. Spielball

59. Knockout

60. Eifersucht

61. Nacht

62. Das letzte Mal

63. Unser Treffen

64. Kisten

65. Mit dem Zeigefinger (3)

66. Straße

67. Schlaflosigkeit

68. Menü

1. Kopf

São Paulo, 9. Mai 2000.

Dienstag.

2. Wetter

Das Hauptstadtwetter ist heute leicht bewölkt bis bewölkt.

Tiefsttemperatur: 14°; Höchsttemperatur: 23°.

Luftqualität: normal bis gut.

Sonnenaufgang: 6:42, Sonnenuntergang: 17:27.

Zunehmender Mond.

3. Heiligenkalender

Katharina von Bologna, geboren 1413 in Ferrara, Italien, war Äbtissin eines Klosters in Bologna. Zu Weihnachten 1456 empfing sie das Jesuskind aus der Hand unserer Jungfrau Maria. Sie widmete ihr Leben den Bedürftigen und ihre einzige Sorge war, Gott zu gefallen. Sie starb 1463.

4. Unterwegs

Das Neonlicht gleitet schnell über den unregelmäßigen Asphalt, Vertiefungen, Randsteine, Risse, Schlaglöcher, Spurrillen, Kies, schwarzer Strahl in der schwarzen Nacht, gefangen, die Musik hypnotisch, tum-tum tum-tum, steuert den zuckenden Körper, tum-tum tum-tum, sinnlich streicheln die Hände das lederne Lenkrad, tum-tum tum-tum, den Körper, das Auto, vorwärts, die Lichter links, rechts vorbei, ein Ring aus der Portobello Road, ein Satellit am Mittelfinger der rechten Hand, tum-tum tum-tum, surrt der Bolide in Richtung Flughafen Cumbica, auf der Gegenspur Scheinwerfer der Busse, die von überall her einströmen,

noch mehr arme schweine

ein Meter, zweiundsechzig Zentimeter steht auf dem Musterungsbescheid Hemd und Hose von Armani, ein Tupfer Polo-Parfum über dem Kragen, italienische Schuhe, rasiert, Kurzhaarfrisur, die goldene Rolex unter dem Teppich,

noch mehr arme schweine

in diesem Moment müsste sie landen, einer der Sterne, die über die Straße ziehen, die Frau, der Chef

dringender Termin in Brasília hatte ich ihr

ja natürlich, er behandelt ihn wie

den Sohn, den er gerne gehabt hätte

ja natürlich, der Sohn ein koksender Trottel schiebt seine Arroganz durch die Räume der Agentur,

ja natürlich, der Sohn ein koksender Trottel lässt seine Steroide an Tischen der Nachtklubs und Bars defilieren – die er in die Pleite geritten hat – an Gesichtern von Zuhältern und Mädchen vorbei – die er zerstört hat –, an Schreibmaschinen in Polizeistationen – die er auch schon

ja, aber es ist mein Sohn

und schmiert die Polizei,

den Polizisten,den Besitzer der Bar,die Mädchen,die Zuhälter,

ja, aber es ist mein Sohn

ja natürlich, die Tochter wohnt in Embu, Makrobiotin, esoterische Künstlerin, ihre Bilder sehen alle gleich aus

wer keine Augen hat zu sehen

rote, hysterische, krampfhafte, grobe, feine Striche auf weißem Grund

hat keine Augen zu sehen

einmal hat er sie grausam gevögelt im Atelier zwischen Pinseln und Farbdosen auf einem Tisch, auf dem eine riesige weiße Leinwand lag

das ist Kunst

sie riecht nach Räucherstäbchen

Kiffen ist natürlich

nackt unter einem indischen Kittel, Spermaspuren auf weißem Grund

das ist Kunst

noch mehr arme schweine

in die Ecke gekauert bereust du es? das ist doch nicht mehr als ein

kleiner Angestellter

ja, aber Papa vergöttert mich

ein qualifizierter Mitarbeiter

weil ich für ihn Geld an der Börse verdiene

eine riesige wohnung in moema ein ganzes stockwerk drei Suiten ich habe so eine schwuchtel engagiert geld spielt keine rolle wie ein zirkus sieht das jetzt aus erst staunen die frauen dann sage ich das ist von dem und dem da bekommen sie einen orgasmus

ja qualifiziert:

noch vor sechs jahren schob er seine blasse magere gestalt durch die wenigen dunklen ecken der traurigen straßen der traurigen stadt muriaé

vor fünf jahren hüllte er sich in den ersten schnee von fairfield ohio dank eines stipendiums der american fields nach einem wettbewerb des rotary clubs der traurigen stadt muriaé vor vier jahren probte er seine unsicherheit in der citybank

seine sicherheit in der citybank

seit zwei jahren verdient er mein geld

der alte lässt mir nichts übrig

seit einem jahr verwaltet er die schwarze kasse

geht alles an die

sie kommt aus london-gatwick landet ein ring aus der portobello road in der hand

für dich

wie wars in london?

tum-tum tum-tum tum-tum tum-tum

5. Auswendig

Die drei gehen hintereinander den Trampelpfad an der Landstraße entlang. In der Dunkelheit verschwimmen ihre Gestalten, blitzen hin und wieder auf im spärlichen Scheinwerferlicht der Lastwagen, Busse und Autos, das den Morgen ankündigt. Sie gehen zu Fuß, und das verdorrte Gestrüpp verhakt sich in ihren Hosenbeinen.

Vater und Sohn und ein junger Mann, den sie vom Sehen her kennen, der sich ihnen, Das geht schon. Seit zehn Jahren gehe ich schon zu Fuß. Am Monatsende hast du einiges gespart, angeschlossen hatte.

Der Mann fährt Gabelstapler bei einer Transportfirma in Limão.

Der Junge ist zehn, elf Jahre alt, mager, sieht jünger aus. Er ist von der Schule gegangen und verkauft Hotdogs – mit Ketchup oder Mayonnaise – und Coca-Cola vor der Firma, in der sein Vater arbeitet. Nachts versteckt er seinen Karren dort auf dem Gelände, die Nachtwächter passen auf. Wenn er groß ist, will er nach Brasilien aufbrechen, träumt er, und Lastwagenfahrer werden.

Der junge Mann ist arbeitslos, nimmt jede Arbeit an, es sieht wirklich nicht gut aus!

Der Junge geht vorneweg, der Mann in der Mitte und ganz hinten der Bursche.

– Der da ist Gold wert, sagt stolz der Vater und versucht, das Gesicht des anderen zu erahnen, der asthmatisch hinter seinem Rücken herschnauft, mit den Füßen über den Boden schlurft. Er ist intelligent! Willst du mal sehen?

Er dreht sich um, schaut auf den Schriftzug an dem Bus, der gerade vorbeirauscht, »Garanhuns«, liest er.

– Pernambuco, erwidert der Junge mechanisch.

Der junge Mann tut gelangweilt, »Na und?«

– Er weiß, wo jede Stadt in Brasilien liegt, versichert der Vater. Er hat eine Landkarte im Kopf, der kleine Teufel.

– Alle?

– Alle.

Da bleibt der, den sie nur vom Sehen her kennen, stehen und versucht, das Schild an dem Bus zu entziffern, der gerade vorbeirauscht, Scheiße!, er kann es nicht lesen, Zu schnell … Scheiße! Beschämt denkt er Alagoinhas, da kommt er her, »Alagoinhas«, das rätst du nie.

– Bahia, antwortet der Junge gleichmütig.

– Und, ist es Bahia? fragt der Vater erwartungsvoll.

– Ja, sagt der Bursche erstaunt.

Ohne sich umzusehen, wartet er auf den nächsten Bus, »Itaberaba«, da kommt seine Frau her, Diesmal nicht … »Auch Bahia«, Er hat’s erraten! Das Miststück!

– Hab ich’s nicht gesagt?

– Wo hat der Teufelsbraten das gelernt?

– Was weiß ich …

– Der redet nicht viel, was? Junge, Junge.

– Ja, bisschen verschlossen … Verwildert …

Stolz dreht er sich um, fixiert das Schild am nächsten Bus, der vorbeirauscht »Governador Valadares«.

– Minas Gerais.

– Erstaunlich!, er gibt sich geschlagen.

Sie gehen weiter, das hohe Gestrüpp peinigt ihre Arme.

– Hast du schon mal überlegt, mit ihm zum Fernsehen zu gehen?

– Hä?

– Na ja … Diese Sendungen, wo die Leute so Sachen wissen müssen …

– Fernsehen?

Fernsehen …

– Das bringt Geld, nicht?

– Und ob!

Der Mann langt nach dem Jungen, der vor ihm hergeht in einer schmierigen Jacke, die ihm zwei Nummern zu groß ist

die Busse die Laster die Lichter São Paulo

Fernsehen …

6. Mutter

Die Alte, verhärmt, eingezwängt in den Sitz Nummer 3 im Bus Garanhuns-São Paulo schläft nicht, seit achtundvierzig Stunden schon nicht, Schwebezustand, schnell wie der Bus, Mein Gott, wieso rast der so?, die Gespräche des Fahrers mit den unterwegs vom Asphalt aufgelesenen Kollegen, Mein Gott, der schaut gar nicht auf die Straße!, schicksalsergeben, hoffentlich ist die Fahrt bald zu Ende, betet sie kopfschaukelnd, nicht einmal zur Toilette kann sie, und würde sie es bis zur stinkenden Kabine am Ende des Ganges schaffen, es würde nicht gehen, so sehr sie die Blase auch drückt, ihre Gedärme in Aufruhr, Mein Gott!, erst in den Pausen kann sie sich erleichtern, wenn die Schaukelei aufgehört hat, Und nun? Sind wir bald da?Geduld, Oma!, Es dauert noch, schlechte Luft, verschlossene Fenster, schwitzendes Glas, auf dem Boden Papier von Bonbons, Keksen, Servietten, Tüten, Eisstängel, Pappbecher, Plastikflaschen, Maismehlkekskrümel, Brotkrümel, Maisbrotkrümel, Mehl, Essensreste, eine gehäkelte Babysocke, Tag und Nacht, Und manche können dabei noch schlafen, mein Gott, was für ein Krokodilmaul, wie die schnarcht, wie die sabbert, wie sonst was?, Landschaften vermengen sich, riiiiesige Städte, Kleinstädte, und plötzlich, zack!, fertig.

Und

stacheldrahtzähne, feuerholz, gras, termitenhügel, kuhschädel, aasgeier, blauer himmel, schlangen, seriemas, strohschwanzschlüpfer, zuckervögel, vw-käfer, pferdewagen, pferde, ochsen, esel, maultiere, stiefel, sümpfe, dachbegrenzungen, ziegen, kuhscheiße, kakerlaken, vieh, bananenstauden, fahrräder, bäumchen, bäume, bäume, bäume,

der Motor brummt in den Ohren (zuuuuummmm) Und

die steppe, die felder, zuckerrohr, rohre, der bach, der fluss, kleiner fluss, wasserlauf, wasser, die gerberei, leder, die hörner, der schädel, das hufeisen, dörrfleisch, salz, hunde, löffel, messer, gabel, gläser, teller, die hand, der gestank, die schornsteine, hunde, schweiß

achtung achtung achtung achtung achtung

schmerz, schmerzen, die gaben, die schmerzen, gebäude, der schornstein, der rauch, die zigarette, tabak, mehl, bohnen, das feuer, die feuer, der brand, hühner, die leute, die tore, fußballfelder, spieler, trikots, bunt auf der wäscheleine, der hut, ball, biene, wasserbehälter, die katzen, die hühner, die fenster, die jeeps, schlangen, die fenster, die fenster, wanderer, die angst, pisse, die toten, die hügel, die berge, die toten, die hügel, die berge, die

Und

der Motor brummt im Gehörgang (zuuuummmm)

wolken, nacht, tiefe nacht, schippe, der fuß, der staub, haltestellen, pfade, steine steine steine, brücken, plantagen, ratten, kleider, sertão, trockenheit, sonne, die stille, der saft, die sonne die sonne die sonne die sonne, die angel, trockene erde, geier, umbubäume, geier, die ebenen, das grün, grau, die asche und der geruch

achtung achtung achtung achtung achtung achtung

weiße Kühe im Grün der Weide, unfruchtbare Wolken, die Wäsche an der Leine zum Trocknen, Dörrfleisch, Erde, Erde, Erde, Wein, grünheiß der Tag, kaltblau der Abend, die Nacht mit ihren staubigen Sternen, die Welt, große Welt, die kein Ende nimmt, Oma, bald sind wir, der Druck auf der Blase, die Bauchschmerzen, Rücken, Au!, Stufen, Ui!, die Beine, Au, Ui!, ohne Halt, Schau, Oma, die Lichter von São der Sohn, der So viele Jahre gewartet in Sampaulo überleben in Brejo Velho Ist erst zwei Mal wieder zu Hause gewesen, mein Gott, erst als Junggeselle, dann nur noch Fotos statt Briefen, die Arbeit, die Freundin-die-jetzt-seine-Frau-ist, beide zusammen, das klapprige Häuschen, die Enkel, freuen uns sehr dich am Muttertag bei uns zu haben wir freuen uns schon alle und keine Sorge ich hole dich am Busbahnhof ab Grüße an alle von die entzündete Blase, die verstopften Gedärme, was sagt dieser Blick ihres Sohnes?, ob er wohl glücklich ist auf der Arbeit, mit seiner Frau, ja, aber Au!, die Blase, der Bauch, der Rücken, Au!, die Stufen, Ui!, die Beine, Ai! Ui!, bloß nicht hinsetzen.

Am Busbahnhof steht sie und reibt sich die Hände.

7. 66

Die Schwingung der heutigen Zahl begünstigt die Verwirklichung materieller Dinge

(Mehr Geld und mehr Ansehen)

können mit der Hilfe

eines einflussreichen Freundes

auf eine Beförderung rechnen

oder eine Erbschaft:

Es ist der richtige Zeitpunkt für praktische Dingeund zielgerichtetes Handeln.

8. Es war ein Junge

ein christuskind so wie es da liegt gar nicht wie ein kind lange blonde haare der bart erwachsene braune augen ein jesuskind wie gedruckt an einem sonnigen sonntag gekauft auf dem markt auf der praça da república ein junge der sich zornig ausprobiert im einmaleins der dinge guter junge in mathematik und physik und chemie gut in portugiesisch in englisch advanced feiner junge mit muskeln vom taekwondo netter junge der seiner mutter den wagen schiebt im supermarkt pão de açúcar und sich amüsiert wenn sie trödelt zwischen den regalen registrierkasse addiert subtrahiert multipliziert dividiert bis sie ganz durcheinander ist von all den zahlen und die geduld verliert und nicht mehr auf preise gewichte verfallsdatum schaut und nachdem alles in die schränke gestopft ist sitzen sie müde im wohnzimmer und schauen die fernsehnachrichten und balancieren teller mit dem was vom mittag noch übrig ist in der hand füße auf dem couchtisch in diesen momenten

glaubte sie sich im einklang mit einem höheren wesen in harmonie mit den guten kräften des universums und verzieh sogar dem der sie verlassen hatte mit dem kind ich brauche zeit und das jesuskind steht für die abwesenheit des vaters ob es wohl ein problem sein wird in seinem kopf die tadel die sorgen ich will mich ja nicht einmischen junge aber der junge der junge da ist kein umgang für dich junge ach die aufbrausende jugend und musste sich abrackern nach feierabend noch frei für zeitschriften arbeiten damit der junge es besser hat wenigstens etwas wo sie schon nicht in der lage war ihm einen vater zu bieten der manchmal anruft wie gehts tja diesen monat kann ich nichts überweisen es läuft nicht so gut aber dann wieder immer dasselbe zum geburtstag und an weihnachten großer und an neujahr mein großer das wär doch gelacht wenn wir nächstes jahr nicht mal ferien zusammen was meinst du und neues

er ist teilhaber einer pr-agentur geworden

überlege mir ernsthaft einen italienischen pass zu beantragen in der e.u. zu arbeiten was machen verstehst du

hat wieder geheiratet

ist irgendwas in der stadtverwaltung was in der zeitung steht alles gelogen deine mutter ist doch journalistin sie kennt das betrug sauerei man möchte kotzen hat sich getrennt und lebt jetzt mit einem mädchen zusammen kaum älter als zwanzig cellulitis nein gesehen nicht aber ich kann sie mir vorstellen sie sind heute alle so auch die models sieht man doch baut ein haus in alphaville

wohnt in einem haus in alphaville

und sie bringt kaum die raten für die winzige wohnung in jabaquara zusammen

(wollte nie vor gericht um das verhältnis des jungen zu seinem vater nicht zu belasten)

und er braucht eine zahnspange

und lernt so viele sachen mein gott als er klein war lasen sie mit ihm die veja und folha de são paulo und diskutierten mit ihm und er stellte fragen und nun wunderte sie sich über eine welt die immer verrückter wird und wollte sich engagieren im kampf für die umwelt und bei greenpeace eintreten und an dem tag an dem sie früher nach Hause gekommen war mit sehnenscheidenentzündung lag er in der badewanne und der computer war eingeschaltet und sie war hineingegangen um seine sachen zusammenzuräumen die überall herumlagen du schlamper und aus dem augenwinkel sah sie den bildschirmschoner eine riesige vagina sie knallte die tasche auf den laminatboden ließ den schlüsselbund fallen auf den laminatboden rot im gesicht das herz verkrampft und überlegte ob sie hinausgehen soll und so tun als sei nichts geschehen dann aber blieb sie der junge trat über die schwelle erschrockene augen den oberkörper noch nass das handtuch um die hüfte das kreischen der papageien in den ipêbäumen draußen die tasche der schlüsselbund auf dem laminatboden das poster von ozzy osborne an der schranktür hast du schon was gegessen mein junge mutter stammelte er ich und sie ich weiß lass uns eine pizza essen gehen was meinst du und die nacht löst sich auf

schulfreunde leute aus dem haus überall wie gelähmt der geruch von kerzenwachs mitschüler bekannte verwandte totenwache stimmen am kopfende der stuhl blumenkrone ich vermisse ein jesuskind wie er da liegt ein bild an einem sonnigen sonntag gekauft auf dem markt auf der praça da república im august sind es siebzehn jahre so glücklich so schön so verlässlich so nett so intelligent so liebenswert mein gott warum tut er mir das an mein gott warum

9. Ratten

Aufrecht auf ihren Hinterpfoten nagt eine Ratte an einer Brotkruste, den Blick auf die anderen gerichtet, die nervös über den Abfall huschen wie Figuren in einem Computerspiel. Eine andere wagt sich an ein Stück Stoff mit weichem, noch frischem Kot darauf und berührt unversehens etwas Weiches, Warmes, das sich bewegt. Sie erschrickt. Dann schlägt sie ihre Zähnchen in das zarte Fleisch und fiepst. Aufgeregt und in Wellen huscht die ganze Bande heran.

Das zerbrechliche Körperchen, wie eine Mumie in stinkenden Fetzen, reagiert, ein Beinmuskel zieht sich zusammen, die Lungen blähen sich auf zu einem Schrei, bringen ein Wimmern hervor, ein Stammeln von zerschundenen Lippen, ein kurzes Zucken. Das noch schüchterne Morgenlicht dringt ungelenk durch das löchrige Blechdach, die Ritzen in der Wand aus Plakatwänden. Doch noch immer liegt die Baracke im Dunkeln.

Der schmutzige Schnuller, der zerfetzte Nuckel, an dem das Baby gekaut hat, kullert ihm aus dem Mund und rollt unter die dreijährige Schwester, die am Daumen lutscht, unstillbar wie damals an der Brust ihrer Mutter. Das Pfeifen aus ihrer Brust hat auch im Schlaf nicht aufgehört, sie hat gehustet, geweint, denn in die dünne, zerknitterte Decke, ein Geschenk von den Kirchenleuten, hat sich ihr sechsjähriger Bruder gewickelt.

Die große Federkernmatratze, auf der sie sich drängen, mit Flecken auf dem zerrissenen Stoff und Staub speienden Löchern, kam einmal an einem verregneten Nachmittag auf dem Dach eines Kleinbusses die ganze Estrada de Itapecerica von Vila Andrade nach Jardim Irene, als sie noch bei Birôla gewohnt hatten, ein guter Mann war das. Einmal hatte er die Kinder mit in den Zirkus genommen, da gab es Clowns, ein Hund in Ballettkleidchen, ein Affe auf einem Einrad, einen Dompteur, der mit einer Peitsche auf einen zahnlosen Löwen eindrosch, grazile Pferde, Trapezkünstler, Seiltänzer, Popcorn, Schwertschlucker, kandierte Äpfel, Mädchen in Gymnastikanzügen, Zuckerwatte, einen Zauberer, der Leute zersägt, Lutscher, Eis am Stiel. Dann begann er, sich an der Ältesten zu vergreifen, die heute schon erwachsen ist, damals aber erst dreizehn war.

In ihrer Wut hatte sie sein Gemächt mit Sprit übergossen, ein Streichholz angerissen, das Feuer hatte die Nachbarschaft niedergebrannt. Die Kinder hatte sie in Sicherheit gebracht, doch der Kerl war in seinen Crackträumen zu Kohle verbrannt.

Geerbt hat sie von ihm seinen achtjährigen Jungen, seinen Auswurf, den Wicht. Vergangenes Jahr oder davor noch, genau weiß sie es nicht mehr, hatte er Krätze, am Rücken, am Bauch, an den Beinen, eine einzige Wunde, der Arme. Im Krankenhaus zu den Krankenschwestern kein Ton, keine Klage, ein Schatz. Der Arzt hatte geschimpft, kaum zu glauben, hatte er gesagt, unverantwortlich! gebrüllt und der Frau vom Sozialamt gesagt, sie soll sie begleiten, Krätze, und sie hatte keine Miene verzogen.

Sie denken, das ist alles so leicht, doch sie hat keine Kraft mehr, auch wenn sie erst fünfunddreißig ist, der Mund zahnlos, die Knochen zerschunden, die Augen, die Haut rau, überall Schorf, der wirre Kopf. Nissen platzen auf in den dicken Zotteln der Kinder, und Ratten gedeihen im Magen der Hütte, und Wanzen und Flöhe krallen sich fest in den Fusseln der Decken, und Kakerlaken bekriegen sich in den Mauerritzen. Sie hat die Dreizehnjährige schon inständig gebeten, dass sie mithelfen soll, aber die treibt sich rum, verschwindet für Tage und Nächte. Einmal hat sie sie gesehen, wie sie an der roten Ampel an der Avenida Francisco Morato Kleingeld bettelnd von Auto zu Auto ging. Wenn es kalt wird, kommt sie wieder heim.

Die Elfjährige ist vernünftiger, zieht die Kleinen mit auf, geht mit ihnen zur Armenspeisung, bringt sie zum Duschen in die Kirche der Gläubigen, zieht sie um, passt richtig auf, das helle Köpfchen.

Und bringt sie ins Bett, erzählt ihnen Geschichten, die sie sich ausgedacht hat, die passiert sind, die es gegeben hat, was man sich so erzählt hier und da. Das ist schön, ihr Stimmchen im Dämmerlicht, an den Stoffbären geschmiegt, der im Regen gestrandet ist, schleicht sich schlafwandelnd in die Gehörgänge, lässt sogar die Mutter träumen, die in einer Ecke leise stöhnt, die Augen weit aufgerissen unter dem Auf und Ab eines ausgemergelten, tätowierten Körpers, eines weiteren Unbekannten.

10. Was Frauen wollen

Die schwarze Plastikbrille auf der Nase zurechtrückend, ein Bügel mit Klebeband repariert, die Gläser zerkratzt, schlurft die Frau in die Küche, geht zum Waschbecken, dreht mühsam den mit Gummiband und Bindfaden festgemachten Wasserhahn auf und spült ein Glas aus, in dem vorher Schmierkäse gewesen war, Sylvester verfolgt Tweety. Ihr Mann am Tisch, der gerade mit der Rechten eine Tasse zum Mund führt und in der Linken ein offenes Buch hält, leicht angewinkelt, um trotz seiner schlechten Augen etwas erkennen zu können, schrickt auf und schaut sie an, Ist irgendwas?

In ihren ausgeleierten Pantoffeln mit den durchgetretenen Sohlen schlurft die Frau zum Tisch, nimmt die Thermoskanne, gießt einen Schluck Kaffee in das Schmierkäseglas, reißt ein Stück altes Weißbrot ab, beschmiert es mit Margarine, lehnt sich dann wieder zurück an das Spülbecken. Was liest du?, fragt sie gelangweilt, die linke Hand unter dem Schal, den sie um ihr Trägerhemdchen geschlungen hat. Er legt das Buch in den Schoß, Mikrophysik der Macht … von Foucault … Habs beim Trödler gefunden auf der João Mendes, rechtfertigt er sich genervt. Die Finger seiner rechten Hand wischen die Krümel beiseite, die über das karierte Tischtuch verstreut sind, versuchen, sie zu einem Haufen zusammenzukehren. Wieso? … Wieso bist du schon wach um diese Zeit?

Sie öffnet die Klappfenster zur Straße hinaus und beobachtet die ersten Fahrgäste, die unter dem blassen Licht der Straßenlaterne auf den Bus warten, der gleich kommt. Dabei kaut sie ein Stück Brot, bringt es mit einem Schluck Kaffee herunter. Dreht sich dann um wie eine Lehrerin, peilt einen imaginären Punkt an der Wand gegenüber an, irgendwo auf der Höhe des grauen Sicherungskastens zwischen dem roten, verrosteten Stahlschrank und dem klapprigen gelben Kühlschrank gestern Abend auf dem Heimweg von der Schule war Stau bei Limoeiro überall Polizeiautos mit Tatütata Chaos und ich allein hatte Angst keine Ahnung man kann sich nicht vorstellen was einem um diese Zeit durch den Kopf geht

(Der Mann gießt Kaffee in seine Tasse, zündet sich eine Zigarette an, eine Ameise erklimmt seine offene Hand.)