Das Buch der Wünsche - Meg Shaffer - E-Book

Das Buch der Wünsche E-Book

Meg Shaffer

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Beschreibung

Wünsch dir etwas, stell dich deinen Ängsten und sieh, was passiert …

In einer von Einsamkeit geprägten Kindheit fand Lucy Hart Trost in Büchern, insbesondere in der »Clock Island«-Reihe von Bestsellerautor Jack Masterson. Jetzt ist sie Mitte zwanzig und kann ihre Liebe zum Lesen mit ihren Schülern teilen, vor allem mit dem Waisenjungen Christopher. Lucy würde alles dafür tun, Christopher zu adoptieren, doch um ihm ein richtiges Zuhause zu geben, fehlen ihr die nötigen finanziellen Mittel. Als Jack Masterson einen Wettbewerb ausschreibt – mit dem einzigen Exemplar seines neuesten Romans als Preis – schöpft Lucy neue Hoffnung. Vor Ort erwarten sie nicht nur zahlreiche Rätsel, sondern auch gerissene Gegner und der ablenkend gut aussehende Illustrator Hugo Reese. Um zu gewinnen, muss sich Lucy ihren Ängsten stellen. Und der Autor selbst hat ein Geheimnis, das den Ausgang des Wettbewerbs stark beeinflusst ...

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Seitenzahl: 436

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

In einer von Einsamkeit geprägten Kindheit fand Lucy Hart Trost in Büchern, insbesondere in der »Clock Island«-Reihe von Bestsellerautor Jack Masterson. Jetzt ist sie Mitte zwanzig und kann ihre Liebe zum Lesen mit ihren Schülern teilen, vor allem mit dem Waisenjungen Christopher. Lucy würde alles dafür tun, Christopher zu adoptieren, doch um ihm ein richtiges Zuhause zu geben, fehlen ihr die nötigen finanziellen Mittel. Als Jack Masterson einen Wettbewerb ausschreibt – mit dem einzigen Exemplar seines neuesten Romans als Preis –, schöpft Lucy neue Hoffnung. Vor Ort erwarten sie nicht nur zahlreiche Rätsel, sondern auch gerissene Gegner und der ablenkend gut aussehende Illustrator Hugo Reese. Um zu gewinnen, muss sich Lucy ihren Ängsten stellen. Und der Autor selbst hat ein Geheimnis, das den Ausgang des Wettbewerbs stark beeinflusst …

Die Autorin

Meg Shaffer ist Teilzeit-Dozentin für kreatives Schreiben und Vollzeit-MFA-Kandidatin für Fernsehen und Drehbuchschreiben am Stephens College in Columbia, Missouri. Wenn sie sich nicht gerade Hitchcock-Filme ansieht, liest sie Star Trek-Romane oder macht ein Nickerchen.

MEG SHAFFER

Das BUCH der WÜNSCHE

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Paula Telge

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe THEWISHINGGAME erschien erstmals 2023 bei Ballantine Books, USA.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 11/2025

Copyright © 2023 by 8th Circle LLC

Published by Arrangement with 8THCIRCLELLC

Dieses Werk wurde im Auftrag der Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Kerstin Kubitz

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design nach einer Vorlage von PRHUS / Cassie Gonzales unter Verwendung einer Illustration von Holly Ovenden

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-32719-4V002

www.heyne.de

Dieses Buch ist Charlie gewidmet und all denen unter uns, die noch immer ihr goldenes Ticket suchen.

Prolog

Mai

Hugo ging jeden Abend am Fünf-Uhr-Strand spazieren, doch heute war der erste Abend in fünf Jahren, an dem seine Füße ein SOS in den Sand schrieben.

Vorsichtig ließ er die Buchstaben entstehen, groß genug, dass sie vom Weltraum aus sichtbar waren. Nicht, dass das von Bedeutung wäre. Die Flut würde den Strand bis zur Morgendämmerung glatt spülen.

Jack hatte ihn aus einer Laune heraus »Fünf-Uhr-Strand« getauft. Er bezeichnete es stets als Fügung, dass er diesen kleinen Fleck atlantischen Waldes vor ungefähr zwanzig Jahren gefunden hatte. Die rund 360 000 Quadratmeter direkt vor der Südküste Maines bildeten einen beinahe perfekten Kreis. So konnte Jack Masterson, der Clock Island erfunden und auf Papier gebannt hatte, sie wahr werden lassen. In seinem Wohnzimmer hing eine Uhr, auf der die Ziffern mit Bildern von der Insel versehen waren – der Leuchtturm auf der Zwölf, der Strand auf der Fünf, das Gästehaus auf der Sieben, der Wunschbrunnen auf der Acht –, was immer wieder zu Gesprächen führte wie …

Wohin gehst du?

Fünf Uhr.

Wann bist du zurück?

Bis zum Leuchtturm.

Orte waren Zeiten. Zeiten waren Orte. Erst mal war das vielleicht verwirrend, doch dann gewann es an Charme.

Hugo fand es mittlerweile jedoch weder verwirrend noch charmant. In so einem Haus konnte man wahnsinnig werden. Vielleicht war es das, was Jack passiert war.

Oder vielleicht war es das, was Hugo passiert war.

SOS.

Save Our Sanity. Rettet unseren Verstand.

Der Sand unter seinen Füßen war so kalt, dass er sich fast nass anfühlte. Welches Datum war heute? War es der vierzehnte Mai? Der fünfzehnte? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber er wusste, dass es bald Sommer werden würde. Sein fünfter Sommer auf Clock Island. Vielleicht, dachte er, ein Sommer zu viel. Oder waren es fünf Sommer zu viel?

Hugo rief sich ins Gedächtnis, dass er erst vierunddreißig Jahre alt war, was bedeutete, dass er – wenn er richtig gerechnet hatte (was unwahrscheinlich war, denn Maler waren nicht gerade bekannt für ihre mathematischen Fähigkeiten) – fast fünfzehn Prozent seines Lebens auf einer Insel verbracht und für einen verdammt noch mal erwachsenen Mann Nanny gespielt hatte.

Konnte er von hier verschwinden? Seit Jahren träumte er davon, die Insel zu verlassen, so wie Teenager davon träumen, von zu Hause abzuhauen. Doch jetzt war es anders. Jetzt schmiedete er aktiv Pläne, oder zumindest schmiedete er Pläne, Pläne zu schmieden. Wo sollte er überhaupt hin? Zurück nach London? Seine Mutter war noch dort, aber sie hatte endlich einen Neuanfang gewagt – neuer Ehemann, neue Stieftöchter, neues Glück oder so ähnlich. Dem wollte er nicht im Wege stehen.

Na gut, vielleicht Amsterdam? Nein, dort würde er nie zum Arbeiten kommen. Rom? Das gleiche Problem. Dann Manhattan? Brooklyn? Oder ungefähr acht Kilometer entfernt nach Portland, damit er noch nah genug war, aber aus einer gesunden Entfernung ein Auge auf Jack haben konnte?

Würde Hugo das übers Herz bringen? Könnte er seinen alten Freund hier einfach so zurücklassen, ohne jemanden, der ihm helfen würde, eine Stunde von der nächsten zu unterscheiden, den Leuchtturm vom Gästehaus?

Wenn der alte Mann nur wieder anfangen würde zu schreiben. Egal, ob er zum Füller, zum Bleistift oder zur Schreibmaschine greifen würde, und wenn er mit einem Stock in den Sand schriebe … Hugo würde es sich sogar diktieren lassen, wenn Jack ihn darum bat – er hatte es schon angeboten.

»Bitte, bei den Göttern Charles Dickens und Ray Bradbury«, hatte er Jack gestern noch angefleht, »schreib etwas. Irgendwas. Ein Talent wie deines zu verschwenden, ist, als würde man einen Haufen Geld vor einem Armenhaus verbrennen. Es ist grausam und stinkt bis zum Himmel.«

Genau die Worte hatte Jack selbst ihm Jahre zuvor an den Kopf geworfen, damals, als Hugo derjenige war, der sein Talent zugrunde gesoffen hatte. Sie waren heute so rasiermesserscharf und treffend wie damals. Millionen von Kindern und auch die, deren Kindheit bereits der Vergangenheit angehört, würden vor Freude weinen, wenn Jack Masterson jemals ein neues Buch über Clock Island und den mysteriösen Master Mastermind schreiben würde, der in den Schatten zu Hause war und mutigen Kindern Wünsche erfüllte. Jacks Verlag schickte regelmäßig bergeweise Fanpost, in der Tausende von Kindern Jack anflehten, wieder zu schreiben.

SOS, flehten die Briefe.

Save Our Stories.

Doch Jack hatte die letzten fünf Jahre nichts getan, als sich in seinem Garten zu verlustieren, ein paar Seiten in einem Buch zu lesen, ausgiebige Mittagsschläfchen zu halten, zum Abendessen zu viel Wein zu trinken und, wenn der kleine Zeiger auf dem Neun-Uhr-Steg landete, in das Reich seiner Albträume zu entschwinden.

So ging es nicht weiter, es musste sich etwas ändern. Und zwar bald. Beim Abendessen hatte Jack heute nicht, wie sonst, den Grund der Weinflasche erreicht. Er war auch leiser als sonst gewesen, was entweder ein gutes Zeichen oder ein sehr schlechtes war. Er hatte auch keine verbitterten Rätsel zum Besten gegeben, nicht einmal sein liebstes:

Zwei Inselbewohner verfluchen die Wogen.

Die Tochter ist tot, die Gattin entflogen.

Doch keiner der Männer stand je vorm Altar,

und keiner ist Vater – wer weiß, was geschah?

War es zu viel zu hoffen, dass Jack es endlich überwinden würde?

Hugo ging über den Sand zum Meeressaum. Er ließ die Wellen bis zu seinen Füßen rollen, aber nicht weiter. Er und der Ozean sprachen nicht mehr miteinander. War das exzentrisch? Wahrscheinlich. Aber das war in Ordnung. Er war ein Maler. Er war dazu bestimmt, exzentrisch zu sein. Früher hatte er den Ozean geliebt, hatte es geliebt, ihn jeden Morgen und jeden Abend zu sehen, in all seinen Facetten, mit all seinen Gesichtern. Nicht viele Menschen kannten das Meer zu jeder Jahreszeit und allen Mondphasen, doch er kannte es wie seine Westentasche. Dann aber hatte er gelernt, dass der Ozean so gefährlich war wie ein schlafender Vulkan. Wenn er friedlich war, war er wunderschön, aber wenn er wollte, konnte er ganze Königreiche vernichten. Vor fünf Jahren hatte er das kleine, sonderbare Königreich Clock Island zu Fall gebracht.

Jack mochte an die Kraft von Wünschen glauben – oder zumindest war es einst so gewesen –, doch Hugo tat es nicht. Harte Arbeit und pures Glück hatten ihn dorthin gebracht, wo er jetzt war. Sonst nichts.

Aber heute Abend wünschte Hugo, dass irgendetwas Jack aus seiner Lähmung befreien würde, zu ihm durchdringen und ihm wieder einen Grund geben würde zu schreiben. Egal, ob aus Liebe, für das Geld oder aus purer Gehässigkeit. Hauptsache, er hatte wieder eine Beschäftigung, die nicht darin bestand, sich langsam in überteuertem Cabernet zu ertränken.

Hugo wandte dem Wasser den Rücken zu und klopfte sich den Sand von den Schuhen.

Ursprünglich hatte er sich geschworen, nur ein oder zwei Monate auf Clock Island zu bleiben. Dann hatte er sich gesagt, er würde bleiben, bis Jack wieder auf den Beinen war. Fünf Jahre waren vergangen, und er war noch immer hier.

Nein. So ging es nicht weiter. Die Zeit war abgelaufen. Es musste hier weg. Nächstes Jahr um diese Zeit würde er woanders sein. Er konnte nicht dabei zusehen, wie sein alter Freund immer weiter verblasste wie Tinte auf altem Papier, bis niemand mehr die Schrift lesen konnte.

Fest entschlossen steuerte Hugo auf den Pfad zu. Genau in diesem Moment sah er in einem der Fenster ein Licht aufflackern.

Das Fenster von Jacks Schreibfabrik.

Der Schreibfabrik, die in den letzten Jahren ausschließlich von der Haushälterin betreten worden war … und die hatte heute ihren freien Tag.

Das Licht war schwach und golden. Jacks Schreibtischlampe. Jack saß zum ersten Mal seit Jahren an seinem Schreibtisch. Brachte das Mastermind womöglich wieder etwas zu Papier?

Hugo wartete darauf, dass das Licht ausging, als Beweis dafür, dass es ein Fehler gewesen war, dass Jack nur aus einer Laune heraus das Zimmer betreten oder nur nach einem verlorenen Brief oder einem verschwundenen Buch gesucht hatte.

Doch das Licht blieb an.

Hugo sollte sich keine Hoffnungen machen, und doch hoffte er von ganzem Herzen. Er wünschte es sich von jedem Stern am Nachthimmel. Er wünschte und hoffte und betete dafür.

Betete für das älteste Wunder der Menschheit – dass ein toter Mann wieder zum Leben erwacht.

»Also gut, alter Mann«, sagte Hugo, an das erleuchtete Fenster in dem Haus auf Clock Island gerichtet. »Das war auch verdammt noch mal an der Zeit.«

TEIL EINS Wünsch dir was

Astrid erwachte aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Was hatte sie geweckt? War ihre Katze auf das Bett gesprungen? Nein, Vince Purraldi schlief friedlich zusammengerollt in seinem Körbchen auf dem Teppich. Manchmal wurde Astrid vom Wind geweckt, wenn er am Dach ihres alten Hauses rüttelte, doch die Zweige vor ihrem Fenster regten sich nicht. Kein Wind heute Nacht. Obwohl sie Angst hatte, stand sie auf und ging zum Fenster. Vielleicht hatte ein Vogel an die Scheibe geklopft?

Astrid schnappte nach Luft, als der Raum von weißem Licht geflutet wurde, wie von den Scheinwerfern eines Autos, nur tausendmal heller.

Dann war es wieder verschwunden. War sie davon wach geworden? Von dem grellen Licht in ihrem Zimmer?

Woher kam das?, fragte sie sich.

Astrid griff nach dem Fernglas, das an ihrem Bettpfosten hing. Sie kniete sich vor das Fenster, das Fernglas vor den Augen, und blickte über das Wasser zu einer einsamen Insel, die wie eine schlafende Schildkröte in dem kalten Ozean lag.

»Aber«, flüsterte Astrid dem Fenster zu, »der Leuchtturm ist seit eh und je dunkel.«

Was hatte das zu bedeuten?

Ebenso plötzlich, wie es hell geworden war, ging ihr ein Licht auf.

So leise sie konnte, verließ sie ihr Schlafzimmer und schlüpfte in das Zimmer auf der anderen Seite des Flurs. Max, ihr neunjähriger Bruder, schlief so fest, dass er auf das Kissen sabberte. Igitt. Ekelhaft. Jungen. Astrid stupste Max an der Schulter an, und dann gleich noch mal. Zwölf Schulterstupser waren nötig, um ihn aufzuwecken.

»Was? Was? Waaas?« Er öffnete die Augen und wischte den Sabber mit dem Ärmel seines Schlafanzugs weg.

»Max, das Mastermind.«

Jetzt hatte sie seine Aufmerksamkeit. Er setzte sich kerzengerade im Bett auf. »Was ist mit ihm?«

Sie lächelte in die Dunkelheit.

»Er ist nach Clock Island zurückgekehrt.«

Aus Das Haus auf Clock Island,

Clock Island Buch Eins, geschrieben von Jack Masterson, 1990

Kapitel 1

Ein Jahr später

Um halb drei läutete die Schulglocke, und es folgte der übliche Ansturm kleiner Füße. Lucy übernahm den Schulranzen- und Brotdosendienst, während Ms. Theresa, die Klassenlehrerin, ihre üblichen Ermahnungen rief.

»Schulranzen, Brotdosen und Blätter! Wenn ihr etwas vergesst, bringe ich es euch nicht nach Hause, und Miss Lucy auch nicht!« Manche Kinder hörten zu. Andere waren mit den Gedanken ganz woanders. Glücklicherweise waren sie noch in der Grundschule, und es stand nicht viel auf dem Spiel.

Einige der Kinder umarmten sie an der Tür. Lucy genoss diese kleinen Momente. Sie waren die kräftezehrenden Tage als Hilfslehrerin wert – das Schlichten von Streitereien auf dem Spielplatz, das Saubermachen nach Missgeschicken, das Binden und Neubinden Tausender Schnürsenkel und das Trocknen von Abertausenden Tränen.

Als sich das Klassenzimmer schließlich geleert hatte, ließ Lucy sich auf einen Stuhl fallen.

Zum Glück hatte sie heute keinen Busdienst, sodass sie ein paar Minuten Zeit hatte, sich zu erholen.

Theresa betrachtete das Chaos, die Mülltüte bereits in der Hand. Die runden Tische waren allesamt übersät von Bastelpapier und offenen Kleberflaschen, die langsam ausliefen. Dicke Buntstifte und flauschige Pfeifenreiniger lagen überall auf dem Boden verstreut.

»Es ist wie in einer Postapokalypse«, meinte Theresa mit einer ausladenden Handbewegung. »Zack, sind alle verschwunden.«

»Und wir wurden wieder zurückgelassen. Was haben wir nur falsch gemacht?«

Irgendetwas bestimmt, denn sie entfernte nun zum zweiten Mal diese Woche einen Kaugummi von der Tischunterseite. »Komm, gib mir die Mülltüte. Das ist mein Job.« Lucy nahm die Tüte und warf den Kaugummi hinein.

»Macht es dir sicher nichts aus, allein aufzuräumen?«, fragte Theresa.

Lucy wedelte mit der Hand, um sie zu verscheuchen. Theresa sah so erschöpft aus, wie Lucy sich fühlte, und die Arme hatte heute noch ein Treffen der Schulpflegschaft vor sich. Alle, die dachten, Unterrichten sei einfach, hatten offensichtlich noch nie unterrichtet.

»Mach dir keine Gedanken«, sagte Lucy. »Christopher hilft gern.«

»Ich liebe es, dass man Kinder, wenn sie noch jung genug sind, mit Tricks zur Hausarbeit motivieren kann, weil sie denken, es sei ein Spiel.« Theresa fischte ihre Handtasche aus der untersten Schreibtischschublade. »Ich habe Rosa gesagt, dass sie den Fußboden nicht wischen darf, weil das Erwachsenensache ist. Sie hat so lange geschmollt, bis ich nachgegeben habe.«

»Bedeutet es das, Mutter zu sein? Seine Kinder an der Nase herumzuführen?«

»So ziemlich. Wir sehen uns morgen früh. Sag Christopher Hallo von mir.«

Theresa ging, und Lucy blickte sich im Klassenzimmer um. Es sah aus, als wäre es von einem regenbogenfarbigen Tornado erfasst worden. Lucy lief mit der Mülltüte um alle Tische herum und sammelte klebrige Papieräpfel, Papierorangen, Papiertrauben und Papierzitronen ein.

Als sie fertig war mit dem Aufräumen, waren ihre Hände voller Kleber, eine Papiererdbeere klebte an ihrer Kakihose, und sie hatte einen steifen Nacken, weil sie sich eine halbe Stunde lang über die kleinen Tische gebeugt hatte. Sie brauchte eine lange, heiße Dusche und ein Glas Weißwein.

»Lucy, warum hast du eine Banane in den Haaren?«

Sie drehte sich um und sah im Türrahmen einen schmächtigen, schwarzhaarigen Jungen stehen, der sie mit großen Augen anstarrte. Sie griff nach oben und spürte das Papier. Gut, dass sie in den Jahren als Hilfslehrerin ihre Selbstbeherrschung geübt hatte, sonst hätte sie einen Schwall kreativer Kraftausdrücke von sich gegeben.

Stattdessen nahm sie all ihre verbliebene Würde zusammen und pflückte sich die Papierbanane aus den Haaren.

»Die Frage ist, Christopher, warum hat du keine Banane in den Haaren?« Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie lange die Banane schon dort gehangen hatte. »Die coolen Kids tragen das so.«

»Oh«, sagte er und rollte seine haselnussbraunen Augen. »Ich schätze, dann bin ich nicht cool.«

Sie klebte die Banane sanft auf seinen Kopf. Seine dunklen Haare war gerade wellig genug, dass es immer so aussah, als hätte er die letzten Stunden kopfüber gehangen. »Voilà, jetzt bist du cool.«

Er schüttelte die Banane ab und klebte sie auf seinen abgetragenen blauen Rucksack. Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare, nicht um sie zu glätten, sondern um sie wieder aufzubauschen. Sie liebte ihr schräges Kind. Sozusagen ihr Kind. Irgendwann ihr Kind.

»Siehst du? Ich bin cool«, sagte er.

Lucy zog einen der kleinen Stühle raus und setzte sich hin, dann zog sie einen weiteren für Christopher hervor. Er setzte sich mit einem müden Stöhnen.

»Bist du auch. Ich finde dich verdammt cool. Sockenjagd!« Sie griff nach seinen Knöcheln und legte sie auf ihre Knie, um bei ihrer täglichen archäologischen Grabung seine Socken aus den Tiefen seiner Schuhe zutage zu fördern. Hatte er besonders dünne Knöchel oder ungewöhnlich rutschige Socken?

»Du zählst nicht«, entgegnete er. »Lehrerinnen müssen alle Kinder cool finden.«

»Das mag sein, aber ich bin die coolste Hilfslehrerin, deswegen weiß ich so was.« Sie zog beide Socken mit einem letzten Ruck hoch.

»Bist du nicht.« Christopher ließ die Füße auf den Boden fallen und umklammerte den blauen Rucksack auf seinem Bauch wie ein Kissen.

»Bin ich nicht? Wer hat mich geschlagen? Ich werde sie sofort auf dem Parkplatz herausfordern.«

»Mrs. McKeen. Sie macht jeden Monat eine Pizzaparty. Aber dafür sagen sie, dass du die Hübscheste bist.«

»Das freut mich«, sagte sie, doch sie bildete sich nichts darauf ein. Sie war die jüngste Hilfslehrerin, und das war auch schon alles, was für sie sprach. Ansonsten war sie bestenfalls durchschnittlich: schulterlange, braune Haare, große braune Augen, mit denen sie immer auffiel, und eine Garderobe, die seit Jahren dieselbe war. Denn neue Kleidung erforderte Geld. »Dann hoffe ich mal, dass ich am Ende des Schuljahres auch ein Zertifikat bekomme, in dem das drinsteht. Hast du Hausaufgaben auf?«

Lucy erhob sich und räumte weiter auf, desinfizierte die Tische und Stühle. Sie hoffte, dass die Antwort Nein lautete. Christophers Pflegeeltern schenkten ihm nicht viel Aufmerksamkeit, und sie versuchte, das wettzumachen, was ihm zu Hause fehlte.

»Nicht viel.« Er warf seinen Rucksack auf den Tisch. Er sah so müde aus, mit den dunklen Augenringen und kraftlos runterhängenden Schultern. Die Augen eines Siebenjährigen sollten nicht denen eines Kriminalpolizisten gleichen, der gerade in einem besonders grausamen Mordfall ermittelt hat und der Welt einfach überdrüssig ist.

Sie stellte sich mit gekreuzten Armen vor ihn, das Desinfektionsmittel baumelte von einem Finger. »Geht’s dir gut, Kleiner? Hast du letzte Nacht überhaupt geschlafen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Hatte schlechte Träume.«

Lucy setzte sich wieder neben ihn. Er legte den Kopf auf den Tisch.

Sie legte den Kopf neben ihm auf den Tisch und fing seinen Blick auf. Seine Augen waren pink umrandet, als hätte er den ganzen Tag die Tränen zurückgehalten.

»Möchtest du mir erzählen, wovon du geträumt hast?«, flüsterte sie mit sanfter, einfühlsamer Stimme. Kinder, die es schwer hatten, verdienten einfühlsame Worte.

Manche Menschen redeten gern darüber, wie resilient Kinder waren, doch das waren die Erwachsenen, die vergessen hatten, wie schwer es war, ein Kind zu sein. Lucy selbst spürte noch immer die Wunden in ihrem Herzen von den Verletzungen aus ihrer Kindheit.

Christopher legte das Kinn auf die Brust. »Wieder das Gleiche.«

Das Gleiche hieß das klingelnde Telefon, der Flur, die offene Tür, seine Eltern auf dem Bett, als würden sie schlafen, aber mit offenen Augen. Wenn Lucy ihm die Albträume nehmen könnte, würde sie das augenblicklich tun, nur um ihm eine Nacht guten Schlaf zu schenken. Selbst wenn es bedeutete, dass sie dann Nacht für Nacht seine schlimmsten Momente durchleben müsste.

Sie legte ihm die Hand auf den Rücken und streichelte ihn. Seine Schultern waren so dünn und zart wie Mottenflügel. »Manchmal habe ich auch noch schlechte Träume von damals. Ich weiß, wie du dich fühlst. Hast du Mrs. Bailey davon erzählt?«

»Sie hat mir gesagt, dass ich sie nur im Notfall wecken soll. Wegen der Babys.«

»Ich verstehe«, sagte Lucy. Das gefiel ihr nicht. Sie wusste zu schätzen, dass Christophers Pflegemutter sich um zwei kranke Babys kümmerte, aber trotzdem musste sich auch jemand um ihn sorgen. »Du weißt, dass das Angebot, dass du mich immer anrufen kannst, wenn du nicht schlafen kannst, ernst gemeint war. Ich lese dir dann am Telefon etwas vor.«

»Ich wollte dich anrufen, aber du weißt …«

»Ich weiß.« Christopher hatte Angst vor Telefonen, und sie konnte es ihm nicht verdenken. »Das ist okay. Vielleicht finde ich einen alten Kassettenrekorder und nehme dir eine Geschichte auf, dann kannst du sie dir immer anhören, wenn du nicht schlafen kannst.«

Er lächelte. Es war nur ein kleines Lächeln, aber die besten Dinge kamen in kleinen Dosen.

»Möchtest du ein Nickerchen machen?«, fragte sie. »Ich lege dir eine Matratze hin.«

»Nee.«

»Möchtest du lesen?«

Er zuckte wieder mit den Schultern.

»Möchtest du …« Sie hielt inne und überlegte, was ihn von seinen Träumen ablenken könnte. »… mir helfen, ein Geschenk einzupacken?«

Das weckte seine Aufmerksamkeit. Er setzte sich aufrecht hin und grinste. »Hast du einen Schal verkauft?«

»Dreißig Dollar«, sagte sie. »Die Wolle hat mich sechs gekostet. Rechne mal nach.«

»Ehm … Zweiundzwanzig? Vier! Vierundzwanzig.«

»Gut gemacht!«

»Kann ich ihn sehen?«, fragte er.

»Lass ihn mich rausholen, dann packen wir ihn ein und schreiben einen Brief.«

Lucy ging zu dem Tisch, in dessen Schubladen Theresa und sie immer ihre Handtaschen und Schlüssel einschlossen. In einer Plastiktüte lag Lucys jüngste Kreation – ein spinnennetzähnlicher großmaschiger Schal, gestrickt aus einer weichen, seidig pinken und cremefarbenen Wolle. Sie brachte die Tüte zum Tisch hinüber, zog ihn heraus und trug ihn für Christopher wie eine Federboa um die Schultern gewickelt zur Schau.

»Gefällt er dir?«

»Der ist für Mädchen«, antwortete er nur und neigte dann den Kopf hin und her, als würde er seinen Wert abwägen.

»Ein Mädchen hat ihn gemacht, und ein Mädchen hat ihn gekauft. Übrigens galt Pink im neunzehnten Jahrhundert als Jungenfarbe und Blau als Mädchenfarbe.«

»Das ist komisch.«

Lucy zeigte auf ihn. »Du bist komisch.«

»Du bist komisch«, entgegnete er.

Lucy zog ihm sanft das Schalende über den Kopf, und er lachte.

»Hol uns mal Briefpapier«, sagte sie. »Wir müssen unsere Dankeschön-Nachricht schreiben.«

Christopher rannte in den Materialraum. Er liebte den Materialraum, denn da versteckten sich die tollsten Sachen: Kartons mit Bastelpapier, Tüten voll Pfeifenreiniger, Glitzerpulver, Kugelschreiber, Filz- und Buntstifte, Halloweendekoration. Und das schöne Briefpapier, das eine Mutter, der ein Schreibwarenladen gehörte, letztes Jahr gespendet hatte. Lucy hatte das himmelblaue Papier mit weißen Wolken darauf für ihrer beider »Firma« beansprucht.

»Darf ich schreiben, während du einpackst?«, fragte Christopher, als er mit dem Papier in der Hand zurück zum Tisch rannte.

»Du willst den Brief schreiben?«, fragte sie vorsichtig, während sie mit der Fusselbürste über den Schal fuhr. Sie verkaufte über Etsy ungefähr ein bis zwei Schals pro Woche. Den meisten Menschen wären die dreißig bis vierzig Dollar pro Woche nicht die Zeit wert, die es brauchte, einen Schal zu stricken. Aber für Lucy zählte jeder einzelne Dollar.

»Ich habe Briefeschreiben geübt«, sagte Christopher. »Ich habe gestern Abend eine ganze Seite geschrieben.«

»Wem hast du den Brief geschrieben?«, fragte sie, während sie den Schal ordentlich faltete und in weißes Seidenpapier einschlug.

»Niemandem.«

»Wer ist Niemandem? Ein neuer Freund?«

»Ich habe einfach niemandem geschrieben.«

»Okay.« Lucy drängte ihn nicht weiter. Besonders, weil sie eine Ahnung hatte, wem er geschrieben haben könnte. Mehr als ein Mal hatte sie ihn dabei erwischt, wie er seinen Eltern Nachrichten schrieb.

Ich vermise dich Mammi. Schade das du heute nicht bei meinem Schul Piknik warst. Es waren viele Mammas da.

Pappa heute hab ich einen Stern für meine Hausaufgabn bekommen.

Kleine Briefe. Herzzerreißende Nachrichten. Sie hatte versucht, mit ihm darüber zu reden, doch er wollte nicht zugeben, dass er seinen Eltern schrieb. Es war ihm peinlich. Er verstand, dass sie tot waren, und dachte wahrscheinlich, dass die anderen Kinder ihn auslachen würden, wenn sie wüssten, dass er manchmal noch mit ihnen kommunizierte.

Christopher strich das Wolkenpapier auf dem Tisch vor ihm glatt und holte seinen Bleistift heraus.

»Wie heißt die Schalfrau?«, fragte er. Das Kind war schon klug genug, um das Thema wechseln.

»Carrie Washburn. Sie wohnt in Detroit, Michigan.«

»Wo ist das?«

Lucy ging zu der Karte der Vereinigten Staaten, die an der Wand hing. Ein blauer Stern markierte, wo sie sich befanden – in der Grundschule in Redwood Valley, Kalifornien. Sie zeigte mit dem Finger auf den blauen Stern und fuhr dann über die halbe Landkarte bis zum Eriesee.

»Wow. Das ist wirklich weit weg«, staunte Christopher.

»Ich würde nicht dahin laufen wollen. In Detroit wird es ziemlich kalt im Winter. Da ist es gut, viele Schals zu haben.«

»Ich weiß, wo das Mastermind wohnt.«

»Wer?«, fragte sie. Die Gedankensprünge kleiner Kinder verblüfften sie noch immer.

»Das Mastermind aus unseren Büchern.«

»Oh. Meinst du Jack Masterson? Den Autor der Bücher?«

»Nein, das Mastermind. Er lebt auf Clock Island.«

Lucy wusste nicht genau, wie sie antworten sollte. Christopher war erst sieben, und sie hatte es nicht eilig, ihm zu erzählen, dass seine Lieblingsfiguren aus Büchern und Filmen gar nicht existierten. Er hatte aktuell nicht viel, woran er glauben konnte, warum sollte sie ihn also nicht zumindest in dem Glauben lassen, dass das Mastermind aus den Clock-Island-Büchern ein echter Mensch war, der echten Kindern Wünsche erfüllte?

»Woher weißt du, wo das Mastermind wohnt?«

»Meine Lehrerin hat es mir gezeigt. Willst du es sehen?«

»Schieß los, Magellan.«

»Was?«

»Magellan. Ein berühmter Seefahrer. Er hatte eine harte Zeit bei den Philippinen … wahrscheinlich verdienterweise. Aber das tut nichts zur Sache. Zeig mir Clock Island!«

Er sprang auf und zeigte ganz weit nach oben, auf die rechte Ecke der Karte.

»Da«, sagte er, und Lucy war überrascht, dass er genau richtiglag. Seine Fingerspitze berührte das Wasser direkt vor der Küste von Portland, Maine.

»Sehr gut!«

»Ist das wirklich Clock Island?«, fragte er und verzog das Gesicht, während er die Karte betrachtete. »Gibt es dort eine Eisenbahn und Einhörner?«

»Meinst du, wie in den Büchern? Also, ich habe zumindest gehört, dass sie ziemlich magisch sein soll. Wusstest du, dass es Menschen gibt, die denken, dass das Mastermind und Jack Masterson die gleiche Person sind?«

»Aber du hast gesagt, dass du ihn getroffen hast.«

»Ich habe Jack Masterson getroffen. Vor langer Zeit. Er, ehm, hat ein Buch für mich signiert.«

»Aber er war nicht das Mastermind, oder?«

Mist. Er hatte sie erwischt. Das Mastermind war immer von Schatten umgeben, Schatten, die ihn in Dunkelheit hüllten und ihm überallhin folgten.

»Nein, er sah nicht wie das Mastermind aus, als ich ihn getroffen habe.«

»Siehst du?« Christopher war begeistert. Nichts machte ein Kind glücklicher, als einem Erwachsenen das Gegenteil zu beweisen.

»Ich nehme alles zurück.«

Christopher zog eine Linie von Clock Island zurück zu ihrer Stadt – Redwood, Kalifornien. »Die ist sehr, sehr weit weg.«

Er rümpfte die Nase. Maine war so weit von Kalifornien entfernt, wie man nur kommen konnte, ohne das Land zu verlassen, und genau das war der Grund, warum sie von Maine nach Kalifornien gezogen war.

»Ziemlich weit, ja«, sagte sie. »Da müsste man hinfliegen.«

»Können Kinder da hin?«

Lucy lächelte. »Nach Clock Island? Sie können schon, aber ohne Einladung sollten sie es wahrscheinlich nicht tun. Die Insel ist privat, und sie gehört dem Mastermind, so als wäre es sein ganzes Haus. Es wäre ziemlich unhöflich, ohne Einladung da aufzutauchen.«

»Kinder in Büchern machen das ständig.«

»Stimmt, aber lass uns trotzdem auf eine Einladung warten.« Sie zwinkerte ihm zu.

Lucy wusste besser als sonst jemand über die Kinder Bescheid, die uneingeladen auf Clock Island auftauchten. Nicht, dass sie Christopher davon erzählen würde, jedenfalls nicht, bis er älter war.

Er ließ seine Hand von der Karte sinken und sah sie an. »Warum gibt es nicht mehr Bücher?«

»Wenn ich das nur wüsste.« Sie machte sich wieder daran, den Schal in Seidenpapier zu hüllen und eine Schnur darumzuwickeln. »Als ich in deinem Alter war, sind vier- bis fünfmal pro Jahr neue Bücher erschienen. Ich habe sie immer sofort gelesen und dann noch ungefähr zehnmal in der Woche danach.«

»Du Glückliche …«, sagte Christopher wehmütig. Die Clock-Island-Bücher waren nicht sehr lang, höchstens hundertfünfzig Seiten, und es gab fünfundsechzig Bände. Christopher hätte sie alle in sechs Monaten durchgelesen, wenn sie es nicht auf ein Buch pro Woche beschränkt hätte. Trotzdem hatten sie die ganze Serie beendet und vor ein paar Wochen wieder von vorne angefangen.

»Vergiss nicht den Brief an unsere Kundin.« Lucy zwinkerte ihm zu.

»Ach ja. Wie schreibt man Carrie?«, fragte er und setzte seinen Bleistift auf das Papier auf.

»Sprich es dir laut vor.«

»K … A …«

»Der Name wird mit C geschrieben«, sagte Lucy.

»Carrie fängt mit C an? Aber es ist ein K-Laut.«

»Manchmal wird ein C wie ein K ausgesprochen. Wie das C in Christopher.« Sie tippte ihm auf die Nase.

Christopher starrte sie an. Er hasste es, wenn sie das tat. »Es gibt eine Kari in meiner Klasse«, erklärte er, als wäre Lucy nicht besonders schlau. »Ihr Name fängt mit einem K an.«

»Es gibt viele verschiedene Schreibweisen von Namen. Diese Carrie wird mit einem C, zwei R und einem I-E geschrieben.«

»Zwei R?«

»Zwei R.«

»Warum?«, fragte Christopher.

»Warum der Name zwei R hat? Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist er gierig.«

In seiner Kinderschrift schrieb Christopher sorgfältig die Worte Liebe Carrie und achtete darauf, beide R in den Namen zu schreiben.

»Deine Rechtschreibung und deine Handschrift werden immer besser.«

Er lächelte. »Ich habe geübt.«

»Das sieht man.«

Lucy legte jedem Paket einen Dankesbrief für den Kauf eines handgestrickten Schals von der Hart & Lamb Knitting Company bei. Es war keine richtige Firma, sondern nur ihr Etsy-Shop, aber Christopher fand es toll, »Mitinhaber« zu sein.

»Was soll ich jetzt schreiben?«, fragte er.

»Etwas Nettes. Vielleicht … Danke, dass du einen Schal gekauft hast. Ich hoffe, er gefällt dir.«

»Ich hoffe, er hält deinen Hals warm?«

»Ja, das ist gut. Schreib das.«

»Auch wenn es ein totaler Mädchenschal ist.«

»Das solltest du vielleicht lieber nicht schreiben.«

Christopher lachte und widmete sich wieder dem Brief. Ihn zum Lächeln oder Lachen zu bringen, war besser als ein Lottogewinn, obwohl sie zugegebenermaßen deutlich mehr Zeit hätte, ihn zum Lachen zu bringen, wenn sie im Lotto gewinnen würde. Sie schaute ihm über die Schulter, während er schrieb. Er schrieb schon richtig gut. Noch vor ein paar Monaten hatte er fast jedes zweite Wort falsch geschrieben. Jetzt war es nur noch jedes vierte oder fünfte Wort. Auch seine Lese- und Rechenfähigkeiten verbesserten sich. Das war letztes Jahr ganz anders gewesen, als er zwischen einem halben Dutzend Pflegefamilien hin- und hergeschoben worden war. Seit diesem Jahr hatte er einen festen Wohnsitz, tolle Therapeuten und Lucy, die ihm jeden Tag nach der Schule Nachhilfe gab. Seitdem hatte er hervorragende Noten. Wenn sie nur etwas gegen die Albträume und seine Angst vor klingelnden Telefonen tun könnte.

Sie wusste, was er brauchte, und es war genau das, was sie auch für ihn wollte – eine Mutter. Keine Pflegemutter mit zwei kranken Babys, die jede freie Minute für sich beanspruchten. Er brauchte eine Mutter für immer, und Lucy wollte diese Mutter sein.

»Lucy, wie viel Geld hast du auf deinem Wunschkonto?«, erkundigte er sich, während er seinen Namen sorgfältig unter den Brief schrieb.

»Zweitausendzweihundert Dollar. Zwei, zwei, null, null.«

»Wow …« Er starrte sie mit großen Augen an. »Alles Schalgeld?«

»Fast alles.« Schalgeld und der Lohn von jedem Babysitterjob, den sie bekommen konnte.

Sie überlegte jeden Tag, ob sie wieder als Kellnerin arbeiten sollte, aber das würde bedeuten, dass sie Christopher nicht mehr sehen würde, und er brauchte sie mehr, als sie Geld brauchte.

»Wie lange hat es gedauert, das zu verdienen?«

»Zwei Jahre.«

»Wie viel brauchst du?«

»Ehm … noch ein bisschen mehr.«

»Wie viel?«

Lucy zögerte, bevor sie antwortete.

»Vielleicht zweitausend«, sagte sie dann. »Vielleicht auch ein bisschen mehr.«

Christophers Gesicht wurde traurig. Das Kind war einfach zu gut in Mathe.

»Dafür brauchst du dann noch mal zwei Jahre«, sagte er. »Dann bin ich neun Jahre alt.«

»Vielleicht geht das auch schneller. Wer weiß.«

Christopher ließ den Kopf auf den Brief für Carrie in Detroit sinken. Lucy ging zu ihm hinüber, hob ihn von seinem Stuhl und nahm ihn auf den Schoß. Er schlang die Arme um ihren Hals.

»Umarmung«, flüsterte sie und drückte ihn fest an sich. So wie die Dinge liefen, würde es noch zwei Jahre dauern, bis sie seine Mutter war. Mindestens zwei Jahre.

»Wir werden es schaffen«, sagte sie sanft und wiegte ihn in ihren Armen. »Eines Tages werden wir es schaffen. Du und ich. Ich arbeite jeden einzelnen Tag daran. Und wenn wir es geschafft haben, werden wir beide für immer zusammen sein. Und du wirst dein eigenes Zimmer haben, mit gemalten Booten an den Wänden.«

»Und Haie?«

»Es wird von Haien nur so wimmeln. Haie auf den Kissen. Haie auf den Decken. Haie, die die Boote steuern. Vielleicht ein Hai-Duschvorhang. Und wir werden jeden Morgen Pancakes zum Frühstück essen. Kein olles Müsli.«

»Und Waffeln?«

»Waffeln mit Butter und Sirup und Schlagsahne und Bananen. Echte Bananen. Keine Papierbananen. Klingt das gut?«

»Klingt gut.«

»Was sollen wir uns noch wünschen, wenn wir schon dabei sind?« Das war ihr Lieblingsspiel – das Wunschspiel. Sie wünschten sich Geld, damit Lucy sich ein Auto kaufen konnte. Sie wünschten sich eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern, in der sie beide ihr eigenes Zimmer hatten.

»Ein neues Clock-Island-Buch«, rief er.

»Oh, das ist ein guter Wunsch. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Mr. Masterson im Ruhestand ist, aber man weiß ja nie. Vielleicht überrascht er uns eines Tages.«

»Du liest mir jeden Abend vor, wenn ich bei dir wohne?«

»Jeden Abend«, versprach sie. »Du wirst mich gar nicht mehr bremsen können. Du kannst dir die Ohren zuhalten und schreien: ›LALALAKANNDICHGARNICHTHÖREN, LUCY‹, und ich werde immer noch weiterlesen.«

»Das ist doch verrückt.«

»Ich weiß. Aber ich bin halt verrückt. Was wünschst du dir noch?«

»Spielt das überhaupt eine Rolle?«

»Was? Unsere Wünsche? Natürlich spielen sie eine Rolle.« Sie zog ihn ein wenig zurück, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. »Unsere Wünsche sind wichtig.«

»Sie gehen nie in Erfüllung«, sagte er.

»Du weißt doch, was Mr. Masterson in den Büchern immer sagt. ›Die einzigen Wünsche, die jemals in Erfüllung gehen …‹«

»›… sind die von mutigen Kindern, die nicht aufhören, sich etwas zu wünschen, auch wenn es so wirkt, als würde niemand zuhören, denn irgendjemand hört immer zu.‹«, beendete Christopher das Zitat.

»Genau.« Sie nickte. Es war erstaunlich, wie gut er sich die Dinge, die er las, merken konnte. Sein Gehirn war ein kleiner Schwamm, und deshalb versuchte sie, ihn mit so viel Schönem zu füllen wie nur möglich – Geschichten und Rätseln und Schiffen und Haien und Liebe. »Wir müssen nur mutig genug sein, mit dem Wünschen weiterzumachen und nicht aufzugeben.«

»Ich bin aber nicht mutig. Ich habe immer noch Angst vor Telefonen, Lucy.« Er warf ihr diesen Blick zu, diesen schrecklichen, von sich selbst enttäuschten Blick. Sie hasste diesen Blick.

»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte sie und wiegte ihn erneut. »Die wirst du bald überwinden. Und glaub mir, es gibt genügend Erwachsene, die ebenfalls Angst haben, wenn ihr Telefon klingelt.«

Er lehnte den Kopf wieder an ihre Schulter, und sie drückte ihn fest an sich.

»Komm schon«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Noch ein Wunsch, und dann machen wir Hausaufgaben.«

»Ehm … Ich wünsche mir, dass es kalt ist.«

»Du willst, dass es kalt ist? Warum?«

»Damit du ganz viele Schals verkaufen kannst.«

Kapitel 2

Es war schon lange her, dass Hugo durch die Straßen von Greenwich Village geschlendert war. War es jetzt vier Jahre her? Fünf seit seiner letzten Kunstausstellung? Es sah noch genauso aus wie damals. Ein paar neue Restaurants. Ein paar neue Geschäfte. Aber der grundlegende Charakter des Viertels war geblieben, wie er ihn in Erinnerung hatte – unkonventionell, wuselig, völlig überteuert.

Als Kind hatte er die verklärte Vorstellung gehabt, irgendwann dort zu leben, am selben Ort wie Jackson Pollock, Andy Warhol und so viele andere seiner Idole. Was hätte er nicht dafür gegeben, mit einem Dutzend anderer aufstrebender Maler in einem der eleganten Stadthäuser aus der Vorkriegszeit zu wohnen und sich Tag und Nacht nur mit Kunst zu umgeben, Kunst zu leben. Er bemitleidete die armen jungen Künstler, die an dieser Fantasie festhielten. Sie konnten es sich im Village nicht mal leisten, irgendwo in einem Karton in einer Abstellkammer zu schlafen. Jetzt, wo Hugo es sich leisten könnte, wollte er es nicht mehr. Auch nicht in Park Slope oder Chelsea oder Williamsburg …

Nichts hätte das Feuer, das in seinem Bauch brannte, effektiver löschen können als der Erfolg.

Jedes Apartment, jede Eigentumswohnung, jedes Stadthaus, das er sich an diesem Morgen angesehen hatte, war ihm wie das Zuhause eines Fremden vorgekommen. Wenn er dort einzog, würde er das Leben eines Fremden führen. Vielleicht war er diesem alten Traum einfach entwachsen und hatte noch keinen neuen Traum gefunden.

Hugo gab seinen Plan auf, den ganzen Tag nach einer Wohnung zu suchen. Stattdessen machte er sich auf den Weg zu seiner Lieblingsgalerie der Stadt, der 12th Street Art Station, die es geschafft hatte, trotz der Mieterhöhungen fortzubestehen. Er redete sich ein, dass er nur hinging, um zu sehen, was es Neues gab, und vielleicht eine Tasse Kaffee zu trinken.

Er war immer wieder beeindruckt von seiner Fähigkeit, die Lügen zu glauben, die er sich selbst auftischte.

Die kühle Luft schlug ihm entgegen, als er durch die Glastüren in die Hauptgalerie trat; sie war in Primärfarben gehalten und mit flippigen Kuhfellimitat-Teppichen ausgelegt. Er nahm seine Sonnenbrille ab, steckte sie in das Etui und setzte seine normale Brille auf – eine neue Notwendigkeit, die ihm missfiel.

In der Galerie gab es eine neue Ausstellung: klassische Filmmonster – Dracula, Frankenstein, der Blob –, dargestellt als Ahnenporträts mit antiken Goldrahmen. Die Ausstellung hieß Urgroßvater war ein Monster, und die Künstlerin war eine dreiundzwanzigjährige Puerto Ricanerin aus Queens.

Hugo mochte ihren Stil und war von ihrem frühen Erfolg beeindruckt.

Dreiundzwanzig? Seine erste Einzelausstellung hatte er erst mit neunundzwanzig bekommen.

Irgendwo in der Galerie hatte Hugo ein paar Bilder ausgestellt. Er ging von der Hauptgalerie in den Backsteinsaal, wo die Kunstwerke in schwarzen Rahmen an unverputzten Backsteinwänden hingen. Da waren sie – ein Trio von Gemälden zu so exorbitanten Preisen, dass er bezweifelte, dass sie jemals diese Wände verlassen würden.

Und das war ihm nur recht. Er war froh, sie in der Öffentlichkeit zu sehen. Sie gehörten zu seinen besten Arbeiten, auch wenn sie nicht annähernd so beliebt waren wie seine neueren Gemälde von Clock Island.

»Du musst wissen, Hugo Reese, dass du schuld bist, dass meine Tochter nicht hierherkommen kann.«

Hugo drehte den Kopf und sah ein paar Meter hinter sich eine Frau. Die schwarzen Haare zu einem Bob geschnitten, funkelnde braune Augen und rote Lippen, die sie zusammenpresste, um ein Lächeln zu verbergen, das er nicht sehen sollte.

»Piper«, sagte er. »Ich wusste gar nicht, dass du noch hier arbeitest.« Eine schamlose Lüge.

»In Teilzeit.« Sie zuckte elegant mit den Schultern. »Gibt mir etwas zu tun, wenn Cora in der Vorschule ist. Ihre Lehrerin hat gefragt, ob sie mit der Klasse einen Ausflug in die Galerie machen könnte. Deinetwegen musste ich ablehnen.«

Sie hob eine Augenbraue, aber Hugo wusste, dass sie nicht wirklich sauer war. Das hatten sie längst hinter sich.

»Es sind sehr geschmackvolle Aktbilder.« Er deutete auf die drei Gemälde, die er vor Jahren während eines langen Winters von Piper gemalt hatte. Die Posen waren klassisch, eine schöne Frau, die sich nackt im Bett rekelt. Was sie als Hugo-Reese-Gemälde auszeichnete, waren die bizarren Szenen jenseits des großen Fensters – ein Zirkus mit dämonengesichtigen Clowns, ein Schloss, das in Flammen steht und wie eine Kerze schmilzt, ein einzelner großer weißer Hai, der wie ein Zeppelin am Himmel schwebt.

»Die Freizügigkeit ist nicht das Problem. Cora hat eine Todesangst vor Clowns.«

»Sie sind ein bisschen verstörend«, gab er zu und warf seinem dämonischen Zirkus einen Seitenblick zu. »Was habe ich damals nur durchgemacht?«

»Mich«, sagte sie und lachte. Piper trat einen Schritt vor und küsste ihn auf die Wange. »Schön, dich zu sehen.«

»Dich auch. Du siehst toll aus.«

»Du siehst auch nicht so schlecht aus. Neuer Look, wie ich sehe. Kein Hipsterbart mehr.«

Sie tätschelte ihm die Wange. Sein Trennungsschmerz-Bart war längst verschwunden. Er hatte sich sogar schick gemacht, was für ihn ein sauberes Paar Jeans, ein T-Shirt ohne Löcher und einen maßgeschneiderten schwarzen Blazer bedeutete. Er hatte sich auch die Haare geschnitten und wieder mit dem Laufen begonnen, sodass er wieder wie ein Mensch aussah und nicht mehr wie der fleischgewordene Selbsthass.

»Der Bart musste weg«, erwiderte Hugo. »Ich habe eines Tages eine Spinne darin gefunden.«

»Die Brille ist neu, nicht wahr? Sehr schick. Gleitsichtbrille?«

»Darüber macht man keine Witze.«

Lächelnd nahm sie ihm die Brille ab und setzte sie sich selbst auf. Er fand, dass das schwarze Gestell ihr viel besser stand als ihm.

»Wenn Monet diese Brille gehabt hätte«, sagte sie und betrachtete sich in ihrer Handykamera, »hätte es den Impressionismus nie gegeben.« Sie nahm die Brille ab und gab sie ihm zurück.

»Schlechtes Sehvermögen hat schon so manchem Maler die Karriere gerettet. Mich selbst eingeschlossen.«

Er setzte seine Brille auf, und Piper sah wieder wunderbar scharf aus. »Sag mal, wie geht’s Bob dem Dummkopp?«

»Rob. Nicht Bob. Kein Dummkopp. Mein Mann. Und ihm geht’s blendend.«

»Immer noch Tiersitter?«

»Er ist Tierarzt, wie du weißt, und ja, das ist er noch immer. Wie geht’s Jack? Geht’s ihm besser? Oder sollte ich lieber nicht fragen?«

Er zögerte, bevor er antwortete. »Möglicherweise? Manchmal höre ich nachts die Schreibmaschine. Laut genug, um die Toten zu wecken. Und er hat mit dem Trinken aufgehört.«

»Heißt das, du ziehst endlich aus?«

»Sieht ganz so aus.«

Sie warf ihm einen Blick zu, der zu sagen schien: Das glaube ich erst, wenn ich es mit eigenen Augen sehe. Doch sie war so nett, diese Bemerkung für sich zu behalten.

»Bist du deshalb hier?« Ihr Ton klang amüsiert und misstrauisch zugleich. Misstrauisch wäre wohl jede Frau, wenn ihr Ex-Freund einfach bei ihr auf der Arbeit auftaucht. »Ziehst du ins Village?«

»Ich spiele mit dem Gedanken. Man muss sich selbst hassen, um die Mieten hier zu bezahlen, also passe ich ganz gut rein, denke ich.«

»Oh, Hugo. Ich sage es dir, je erfolgreicher du wirst, desto unglücklicher bist du.« Jetzt war sie verärgert. Er hatte es vermisst, sie zu provozieren.

»Nein, nein.« Er deutete mit dem Finger auf sie. »Je unglücklicher, desto erfolgreicher bin ich. Man muss für die Kunst leiden, nicht wahr? Was glaubst du, warum ich meine beste Arbeit zustande gebracht habe, nachdem du mich vor die Tür gesetzt hast?«

Piper winkte ab und machte auf dem Absatz kehrt. »Das höre ich mir nicht mehr an.«

Hugo folgte ihr im Laufschritt, um sie einzuholen.

»Ich mache dir keinen Vorwurf«, sagte er. »Ich hätte mich auch rausgeschmissen.«

»Niemand hat dich rausgeschmissen. Du hast es vorgezogen, dich weiter mit Jack auf dieser Insel zu verstecken, anstatt in die reale Welt zurückzukehren und dich auf ein Leben mit mir einzulassen.«

»Die reale Welt ist überbewertet. Und du kannst nicht leugnen, dass ein paar verdammt gute Arbeiten entstanden sind, nachdem du gegangen bist.« Das stimmte. Nachdem Piper mit ihm Schluss gemacht hatte, hatte er angefangen, die Landschaften von Clock Island zu malen – die Herde gescheckte Hirsche, den Mond, der sich im Meer spiegelt, den Leuchtturm, den verlassenen Park … dafür hatte er nur Aquarellfarben in Grautönen verwendet, die Farben des gebrochenen Herzens. Diese abstrakten Landschaften erregten zum ersten Mal die Aufmerksamkeit der breiteren Kunstszene. Endlich kannten auch Menschen, die über achtzehn waren, seinen Namen. Warum also hoffte er inständig, dass Jack wieder schreiben würde? Vermisste er es wirklich, Piratenschiffe und Schlösser zu malen oder Kinder, die eine geheime Treppe zum Mond hinaufsteigen?

Vielleicht ein bisschen.

»Ich will dir zwei Dinge sagen. Erstens – du redest einen Haufen Mist, und zweitens … rede dir ein, was du willst, aber eins weiß ich ganz genau – ich war eine fantastische Freundin, und du wolltest mich wirklich heiraten.«

»Das bestreite ich ja gar nicht.«

»Und trotzdem hast du diese Insel und Jack mir vorgezogen. Tu nicht so, als würdest du es dort hassen. Du liebst es. Du liebst die Insel, und du liebst Jack, du willst überhaupt nicht weg.«

Hugo wollte das nicht wahrhaben. »Weißt du, wie schwer es ist, ein Date auf einer Privatinsel zu finden, auf der zwei Männer, zwanzig Hirsche und ein Rabe leben, der sich für einen Schriftsteller hält?«

»Wenn du meinen Rat willst …«

Er sah sich um, als ob er Hilfe suchte. Doch er fand keine. »Da bin ich mir nicht so sicher.«

Piper stieß ihn in die Brust. »Such dir eine Frau, die Jack genauso liebt wie du.«

»Nun … siehst du das Problem an der Sache?« Er lächelte nicht mehr. Sie ebenso wenig.

Das Problem war – nicht, dass Hugo es offen zugeben würde –, dass niemand Jack so sehr liebte, wie er es tat.

»Tatsache ist, Pipes …« Sie hasste es, wenn er sie Pipes nannte, genauso wie er es hasste, wenn sie sagte, Hugo sei die Abkürzung für Huge Ego. »… ich liebe das Leben auf dieser verdammten kleinen Insel.«

Der Wald, das Moor, die Robben, die sich am Ufer vor seinem Haus sonnten, das Geschrei der Möwen am Morgen. Möwen am Morgen? In seiner Kindheit in London war er von den Geräuschen des Paares in der Wohnung unter ihm aufgewacht, das gerade den Dritten Weltkrieg austrug. Und heute … Robben und Möwen und Meeresluft und Sonnenaufgänge, für die selbst Gott früh aufstehen würde.

»Hab ich’s doch gewusst«, sagte sie.

»Ich hasse es, dass ich es liebe, aber ich … Ich verdiene es nicht, dort zu sein.«

»Warum nicht?«

»Weil Davey seine perfekte goldene Seele verkauft hätte, um auch nur einen Fuß auf Clock Island zu setzen, und mein nutzloses, wertloses Selbst dort kostenlos wohnt.«

Piper schüttelte den Kopf. »Hugo, Hugo, Hugo.«

»Pipes, Pipes, Pipes.«

»Ein Psychologiestudent im ersten Jahr könnte aus einem Kilometer Entfernung das Überlebensschuld-Syndrom bei dir diagnostizieren.«

Hugo hob seine Hand, als wolle er ihre Worte abwehren. »Nein. Das ist nicht …«

»Doch.« Sie stupste ihn erneut in die Brust. »Doch.«

Eine vierköpfige Familie in identischen »I ♥ New York«-T-Shirts schlenderte durch die Galerie. Piper lächelte ihnen höflich zu. Hugo versuchte zu lächeln.

Schnell gingen sie weiter zu einem anderen Teil der Galerie.

»Es ist nicht das Überlebensschuld-Syndrom«, nahm er den Faden wieder auf, als sie weg waren. Piper hob ungläubig eine Augenbraue. »Ich fühle mich nicht schuldig, weil ich noch lebe. Am Leben zu sein, ist … nun ja, nicht meine erste Wahl, aber da ich schon mal hier bin, kann ich auch gleich hierbleiben. Ich fühle mich schuldig wegen meines Erfolgs. Es geht nicht nur darum, dass ich am Leben bin. Ich bin am Leben und … Gott, sieh dir mein Leben an – meine Karriere, mein Haus, mein … alles. Jeden Tag wache ich auf und frage mich: Warum bin ich hier auf dieser Insel, und Davey liegt unter der Erde? Warum ist mir alles Gute und ihm alles Schlechte widerfahren? Gott sei Dank hast du mir den Laufpass gegeben, damit ich mich nicht noch mehr hasse, als ich es ohnehin schon tue.«

»Hugo …«

»Nein.« Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Keine Küchentischdiagnosen mehr über die psychischen Erkrankungen moderner Künstler. Ich weiß, es ist dein Lieblingssport, aber ich will nicht mehr mitspielen.«

»Es tut mir leid. Da habe ich wohl einen Nerv getroffen.«

»Davey ist kein Nerv. Davey ist mein ganzes Nervensystem.«

»Du kannst wütend auf mich sein, wenn du willst, aber ob du es glaubst oder nicht, ich möchte, dass du glücklich bist.«

Sosehr es ihm auch widerstrebte, er glaubte ihr.

Mit einem schweren Atemzug lehnte er sich an die Wand zwischen Frankensteins Monster, dem Porträt eines Gentlemans in Zylinder und Gehrock, und Frankensteins Braut, die ihr Haar unter einem schwarz-weißen Sonnenschirm verbarg.

»Jack schreibt wieder«, sagte Hugo. »Ich bin glücklich. Nun ja, zumindest glücklicher. Jetzt kann ich Clock Island guten Gewissens verlassen und unglücklich in Manhattan oder verbittert in Brooklyn sein.«

Sie hob wieder eine Augenbraue, aber es dauerte nicht lange, bis sie lächelte und seufzte.

»Waffenstillstand?« Sie streckte die Hand aus, und er schüttelte sie. Als er seine Hand zurückziehen wollte, hielt sie sie fest. »Nicht so schnell. Wenn ich dich schon hier habe …«

»Ah, verdammt.«

»Ich will Bilder, und zwar sofort.«

Wie ein Wolf in der Falle tat er so, als würde er seine eigene Hand am Handgelenk abnagen.

»Du hast gesagt, du verdankst mir deinen Durchbruch«, fuhr sie fort und drückte seine Finger. »Wenn du das ernst meinst, dann kannst du mir wenigstens ein oder zwei oder fünfzig Cover-Illustrationen von Clock Island bringen.«

»Cover-Illustrationen sind nicht zu verkaufen. Jacks Verleger würde mir die Literaturpolizei auf den Hals hetzen.«

»Dann nur für eine Ausstellung.« Sie drückte fester zu.

»Lass mich los, Fräulein. Ich lasse mich nicht so unter Druck setzen.« Normalerweise machten Künstler nicht auf diese Weise Geschäfte mit Galerien. Normalerweise gab es Manager und Agenten, die das übernahmen, und E-Mails, kein Armdrücken.

Sie ließ seine Hand los. »Wie du willst.«

»Gegenangebot«, lenkte er ein. »Ich will eine komplette Soloshow. Ich bringe fünf originale Coverillustrationen der Buchreihe mit und zehn bis zwanzig meiner neueren Werke – die du verkaufen kannst. Außerdem eine Eröffnungsparty mit einem guten Caterer.«

»Hmm …« Sie tat so, als würde sie sich einen imaginären Bart streicheln. »Das könnte funktionieren. Eine Hugo-Reese-Retrospektive. Das gefällt mir. Abgemacht.«

»Gib mir einen Kaffee aus, und wir vereinbaren ein Datum. Ich sollte noch ein paar alte Coverillustrationen in meinem Geheimversteck unter den Dielen haben, wo auch meine Leichen liegen.«

Sie bedeutete ihm mit dem Finger, ihr zu folgen – was eine ganz andere Bedeutung gehabt hatte, als sie noch zusammen waren –, und führte ihn zur Kaffeebar der Galerie.

Eine junge Frau in einer roten Schürze stand an der Theke und goss dampfend heißes Wasser über eine Art Vorrichtung, die auf einer Kaffeetasse balancierte.

»Was tut sie da?«, flüsterte Hugo. »Ein Chemieexperiment?«

»Das ist ein Pour-over-Kaffeebereiter, Hugo. Das ist die beste Art, Kaffee zu machen.«

»Ich bleibe lieber bei meiner Kaffeemaschine von Mr. Coffee. Obwohl ich mich schon immer gefragt habe, ob es wohl auch eine Mrs. Coffee gibt.«

»Ashley«, sagte Piper, als sie die Theke erreichten. »Könnte ich einen Kaffee für meinen Gast bekommen?«

»Nein danke«, wandte Hugo ein, als er sich die Preise auf der Karte ansah. »Dreizehn Dollar für einen Kaffee? Wird der aus Diamanten und dem Blut eines vom Aussterben bedrohten Tieres gebrüht?«

»Der geht aufs Haus.«

»Glaub mir«, sagte Ashley, die Barista. »Der Kaffee ist die dreizehn Dollar wert.« Sie holte eine große weiße Tasse und eine weitere Trichtervorrichtung hervor.

»Ashley, das ist einer unserer Künstler, Hugo Reese. Er hat Jack Mastersons Clock-Island-Bücher illustriert.«

»O mein Gott.« Ashley schlug mit den Händen auf die Theke. Ihre Augen waren groß, und ihre Stimme klang ehrfürchtig. »Ist das dein Ernst?«

Es hatte sich nichts geändert. Menschen in einer bestimmten Altersgruppe reagierten auf die Namen »Clock Island« und »Jack Masterson« wie Teenager einst auf die Beatles.

»Bedauerlicherweise«, antwortete Hugo. »Ja.«

Piper schlug ihm auf den Arm.

»Wie ist er so?«, flüsterte Ashley, als würde Jack direkt hinter ihnen stehen.

»Oh, er ist quasi Albus Dumbledore, Willy Wonka und Jesus Christus in einer Person.« Wenn Dumbledore, Wonka und Christus Depressionen hätten und zu viel trinken würden.

»Das ist so cool«, hauchte sie andächtig. Hugo war Brite und musste immer wieder feststellen, dass Amerikaner Probleme hatten, zwischen seinem Akzent und seinem Sarkasmus zu unterscheiden.

»Du wirkst viel zu jung, um die Bücher illustriert zu haben.«

Komplimente würden sie noch weit bringen in der Welt.

»Ich bin nicht der ursprüngliche Illustrator. Nach vierzig Büchern wollten sie die Reihe noch mal in neuer Ausstattung und mit neuen Illustrationen rausbringen. Ich habe den Job bekommen, als ich einundzwanzig war.« Das war jetzt fast vierzehn Jahre her. Fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Fühlte sich an, als wäre es gestern gewesen.

»Deine Cover sind auf jeden Fall besser«, meinte Piper. »Der vorherige Illustrator war nicht schlecht, aber seine Zeichnungen wirkten wie eine Nachahmung, sie ähnelten zu sehr den Hardy-Boys-Büchern. Deine wirkten … ich weiß nicht, als hätte Dalí Kunst für Kinder geschaffen.«