Das College - Penelope Fitzgerald - E-Book

Das College E-Book

Penelope Fitzgerald

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Beschreibung

Cambridge 1912: Ein harmloser Fahrradunfall bringt die wohlgeordnete Welt des jungen Wissenschaftlers Fred durcheinander. Er verliebt sich in eine unbekannte junge Frau – und das lässt sich mit den Gesetzen der Physik nicht erklären …
Fred ist Physiker, er hat sich ganz der Wissenschaft verschrieben und fuhrt den Statuten gemas ein Junggesellendasein – bis er eines sturmischen Abends in einen Fahrradunfall verwickelt wird.
Er findet sich in einem fremden Bett wieder, an seiner Seite eine junge Frau: Daisy, eine Krankenschwester aus dem Londoner Armenviertel. Sie ist charmant, pragmatisch und bildhubsch. Fur Fred ist es Liebe auf den ersten Blick! Doch so unerwartet, wie Daisy in sein Leben getreten ist, so schnell verschwindet sie wieder. Und wahrend ganz Cambridge heftig die entstehende Nuklearforschung und das Frauenwahlrecht diskutiert, nimmt Fred die Suche nach Daisy auf ...

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Cambridge 1912: Ein harmloser Fahrradunfall bringt die wohlgeordnete Welt des jungen Wissenschaftlers Fred durcheinander. Er verliebt sich in eine unbekannte junge Frau – und das läßt sich mit den Gesetzen der Physik nicht erklären …

 Fred ist ein Physiker, wie er im Buche steht – nüchtern, sachlich und rational. Als Fellow am St. Angelicus, dem kleinsten und konservativsten College in Cambridge, hat er sich ganz der Wissenschaft verschrieben und führt den Statuten gemäß ein Junggesellendasein – bis er eines stürmischen Abends in einen Fahrradunfall verwickelt wird.

 Er findet sich in einem fremden Bett wieder, an seiner Seite eine junge Frau: Daisy, eine Krankenschwester aus dem Londoner Armenviertel. Sie ist charmant, pragmatisch und bildhübsch. Für Fred ist es Liebe auf den ersten Blick! Doch so unerwartet wie Daisy in sein Leben getreten ist, so schnell verschwindet sie wieder. Und während ganz Cambridge heftig die entstehende Nuklearforschung und das Frauenwahlrecht diskutiert, nimmt Fred die Suche nach Daisy auf …

Penelope Fitzgerald (1916-2000) studierte in Oxford, war während des Zweiten Weltkrieges Mitarbeiterin bei der BBC und später Dozentin u. ‌a. an der Queen's Gate School in London, außerdem arbeitete sie einige Jahre in einer Buchhandlung in Southwold, Suffolk. Sie gehört zu den wichtigsten englischen Autoren nach 1945. 1979 wurde sie mit dem renommierten Man Booker Prize und 1998 als erste nichtamerikanische Autorin mit dem amerikanischen National Book Critics Circle Award for Fiction ausgezeichnet.

Im insel taschenbuch sind u. ‌a. erschienen: Die Buchhandlung (it 4346), Ein Hausboot aufder Themse

Penelope Fitzgerald

Das College

Roman

Aus dem Englischen von Christa Krüger

Originaltitel: The Gate of Angels, HarperCollins Publishers, London 1990.

Die deutsche Erstübersetzung erschien 1994 unter dem Titel Das Engelstorim Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig

eBook Insel Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4585.

© dieser Ausgabe Insel Verlag Berlin 2017

Für die deutsche Übersetzung:

© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1994

Für den Originaltext: © Penelope Fitzgerald 1990

Für das Nachwort: © Philip Hensher 2014

Für die biographische Notiz: © Hermione Lee 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

Erster Teil

Erstes KapitelDrei Nachrichten für Fred

Unerhört war der Wind, der tief im Inland noch mit solcher Gewalt über die Straßen fegte, daß die Radfahrer am Spätnachmittag auf dem Weg zur Stadt schwankten wie Boote in Seenot. Sie fuhren auf der Mill Road in Richtung Cambridge, vorbei an Friedhof und Armenhaus. Auf dem unbebauten Gelände zur Linken war der Sturm in die Trauerweiden gefahren und hatte sie gerüttelt und niedergedrückt, bis die Äste nachgaben und ganze Wasserfälle von Zweigen wild bewegt über das nasse Gras schleiften. Die Kühe gerieten außer Rand und Band und spießten die silbrigen Weidenzweige, die plötzlich gegen alle Erfahrung überall erreichbar waren, mit den Hörnern auf. Sie waren bald über und über behängt mit Girlanden aus Weidenästen. Sehen konnten sie nicht mehr recht, stolperten deshalb und gingen zu Boden. Zwei oder drei wälzten sich verwirrt auf dem Rücken, ließen sich beim Kauen aber nicht stören und reckten dem Himmel ihre dicken weißen Bäuche entgegen, die von Natur aus immer geschützt und verborgen bleiben müßten. Ein einziges Bild der Unordnung: Baumkronen auf der Erde, Beine in der Luft – und das in einer Universitätsstadt, die sich ganz der Logik und ordnenden Vernunft verschrieben hatte. Fairly fuhr so schnell er konnte. Er schätzte es gar nicht, wenn ihn andere Radfahrer überholten. Kein Radfahrer schätzt das. Die ungewöhnlichen Wetterbedingen (manche Radler blies der Wind um) verwandelten die Mill Road in einen Schauplatz verbissenen Stolzes.

Es war das Jahr 1912; Fairlys Rad, ein Royal Sunbeam, muß also dreizehn Jahre alt gewesen sein. Es hatte Palmer-Reifen, die auf der nassen spiegelglatten Straße ein Muster aus langen drahtartigen Linien zeichneten. Es tat ihm wohl, daß er einen Radfahrer überholen konnte, der von hinten Ähnlichkeit mit einem flüchtigen Bekannten hatte und, wie sich dann zeigte, auch wirklich jemand war, den Fairly kannte, ein Assistent bei den Sinnesphysiologen, der laut rief: »Die kommen nicht wieder auf die Beine, die armen Viecher.«

Er brüllte wie bei einem Bad in der Brandung. Einer nach dem anderen mußten die Radfahrer einen scharfen Bogen fahren, um einem Hut auszuweichen, der jemandem vom Kopf geflogen war und nun verbeult und zerdrückt über die Straße kullerte. Eine ganze Gruppe kam vorbeigefahren, dann löste sich einer aus ihr und hielt sich neben Fairly.

»Skippey!«

Was Skippey sagte, konnte er nicht hören, deshalb blieb er zurück und holte dann auf der anderen, windabgewandten Seite wieder auf.

»Was hast du gesagt?«

»Denken ist Blut«, antwortete Skippey.

Der erste Mann, der flüchtige Bekannte, gewann Boden. Sie waren jetzt zu dritt auf gleicher Höhe.

Der Wind riß ihm die Worte vom Mund.

»Ich habe was verwechselt. Schafe sind das, die nicht mehr hochkommen können, Schafe, nicht Kühe.«

»Da bin ich aber erleichtert!« schrie Fairly zurück. Jetzt, da der Regen einen Augenblick nachließ, waren die Tropfen, die der Wind von den Blättern fegte, scharf wie Schotter.

Auf der Höhe von Christ's Pieces bog Fairly rechts ein, fuhr genau gegen den Wind, und endlich kam Land für ihn in Sicht: sein College, St. Angelicus.

Angels war damals wie heute ein sehr kleines College. Seit fünfhundert Jahren wird nun schon darüber gewitzelt, daß man es wegen seiner Winzigkeit kaum finden kann und daß die Bewohner Mühe haben, ihre langen Gliedmaßen darin zu verstauen. Mit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatten sich die Raumprobleme verschärft – ein Beispiel dafür war der Platzmangel im überdachten Fahrradständer für die Fellows, der geduckt wie ein Bauernschuppen an der Innenmauer lehnte, dicht am Stifter-Tor. Bauern hätten allerdings diesen wie jeden anderen Schuppen auf der wind- und regenabgewandten Seite gebaut, der überdachte Fahrradständer war aber nach drei Seiten hin offen für beides. Und außerdem fragte sich jeder Eintreffende besorgt, welcher Konkurrent samt Fahrrad ihm wohl zuvorgekommen war. Der Tutor von Angels war schon seit dem zweiten Burenkrieg Freiwilliger im East Anglian Territorial Fahrrad-Corps und benutzte, hauptsächlich aus Gründen der Eitelkeit, immer seine Sicherheitsmaschine, eine Sonderanfertigung mit Ledertasche für Signalflaggen, Gewehrablage und Extrawasserbehälter. Diese Maschine brauchte über ihren eigenen Einstellplatz hinaus noch drei Achtel vom Nachbarplatz, und wer dann als Letzter kam, so wie Fairly offenkundig an diesem Abend, dem blieb nichts übrig, als sein Fahrrad mit beiden Händen hochzuhieven und an einen großen Eisenhaken zu hängen, den der Pförtner oben an der Wand angebracht hatte.

Der Regen lief Fairly in Strömen übers Gesicht, sammelte sich an seiner Nasenspitze und troff von da aus zu Boden. Der Fahrradschuppen glich eigentlich weniger einem Schuppen als dem Wetterschutz auf der Kommandobrücke eines Schiffes, hinter dem man auch nur gerade eben trockener steht als davor. Fred brauchte aber nur einen Schritt in die Dunkelheit zu tun, dann war er schon durch den Torbogen des Stiftertors und kam in den Innenhof, in dem ein einziger großer Walnußbaum stand. Hier war es so windgeschützt, daß man den Sturm fast nicht mehr wahrnahm. Wie benommen, schlaftrunken, traumverloren steuerte er einen kurzen Weg diagonal über den Rasen zu seinen Zimmern in der Nordwestecke an. Ein kleinerer dunkler Fleck löste sich aus der großen dunklen Fläche unter dem Baum. Das war der Master des College, dessen Talar in der stillen Luft des Innenhofs kaum wehte.

Der Master war blind. Fairly zögerte. Man durfte wohl erwarten, daß der Master sich nach dreizehn Jahren in seinem kleinen College genau auskannte; und die Erwartung trog nicht. Wahrscheinlich war er unter dem Walnußbaum stehengeblieben, um zu prüfen, wie die Ernte ausfallen werde. Es war eine alte, spätblühende Sorte, ein Cornet du Périgord.

Der Master rief, hob dabei die Stimme aber kaum: »Den Rasen hier dürfen nur die Fellows dieses College betreten. Dürfen Sie auf dem Rasen gehen?«

»Ja, ich darf, Master.«

»Aber wer ist das?«

»Fred Fairly.«

»Fairly, hatten Sie nicht einen Unfall? Ganz kürzlich erst?«

»Ja, das ist richtig.«

»Auf dem Fahrrad oder unter dem Fahrrad?«

»Beides, glaube ich.«

»Sie waren doch hoffentlich nicht so unklug, sich ins Krankenhaus zu legen?«

»Es geht mir wieder gut, Master.«

»Bitte, fassen Sie meinen linken Arm.«

Das hatte auf besondere Weise zu geschehen, man legte ihm nur zwei Finger auf den Unterarm. Dabei übernahm der Master die Führung; langsam umrundete er den großen Walnußbaum, einmal und dann noch einmal. Er sagte ruhig: »Sie sind sehr naß, Fairly.«

»Ja, Master, tut mir leid.«

»Nun sagen Sie mir, sind Sie in der allerwichtigsten Frage zu einem Entschluß gekommen?«

»Sprechen Sie von meinem Glauben?«

»Um Himmelswillen, nein!«

Ein Rechteck aus Licht schien in einer Mauer auf, und der Senior Tutor kam heraus und nahm sich liebevoll des Masters an, der die Fürsorge nicht im mindesten brauchte.

»Senior Tutor, nur zwei Dinge. Erstens, Fairly ist aus irgendeinem Grund völlig durchnäßt. Wo wohnt er?«

»In der Nordwestecke, glaube ich.«

»Und dann noch etwas, Senior Tutor. Irgendwo auf unserem Gelände halten sich Katzenjunge auf, sie müssen noch sehr klein sein. Ich habe sie genau gehört. Wie bei allen Säugetieren klingen auch hier die ersten Laute verärgert; der bittende Ton kommt später.«

»Möglicherweise in den Küchenräumen«, sagte der Senior Tutor. »Ich werde mit dem Verwalter sprechen.«

Wie auf dem Berg Athos, so waren auch auf dem Gelände des College weibliche Lebewesen im gebärfähigen Alter nicht zugelassen; die Stare hielten sich allerdings nur mangelhaft an diese Regel. Zimmermädchen oder Putzfrauen, ganz gleich wie alt sie waren, wurden nie angestellt. Diese Regel war antiquiert. Fred ging in der eingeschlagenen Richtung weiter. Als er am Fuß seines Treppenhauses angekommen war, zog er seinen Burberry aus, hängte ihn über den altmodischen gedrehten Pfosten und klopfte ihn ein-, zweimal kräftig, um die Nässe abzuschütteln. Dann stieg er zum obersten Stock hinauf, wo er wohnte. Im Treppenhaus überholte er Beazley, den Hausmeister. Beazley war untersetzt wie alle dienstbaren Geister im College, wahrscheinlich wurden sie nach Körpergröße ausgewählt. Fred hatte eine Abmachung mit diesem Mann: vor fünf Jahren, als er zum Junior Fellow ernannt worden war, hatten sie vereinbart, daß Beazley nicht zu fragen hatte, ob er sich um das Feuer in Freds Zimmer kümmern solle – das konnte der Bewohner sehr gut selbst –, daß Fred sich nie etwas aus der Küche bestellen und daß er nicht hören wollte, die Botschaften, die Beazley ihm aus der Pförtnerloge heraufbrachte, wären eilig.

»Die sind eilig, Mr. Fairly«, sagte Beazley, als er Fred einholte, und händigte ihm drei Umschläge aus, zwei davon waren ganz sauber, einer eher nicht.

Es gab kein Gas im College; Fred zündete die Aladinlampe an, die einen kreisförmigen, ruhigen und hellen Lichtschein warf. Das Feuer war stark genug für einen Schmelzofen, was dazu führte, daß der Raum in Zonen ungemütlicher Hitze und ungemütlicher Kälte aufgeteilt war. Hier oben konnte man den Wind wieder hören, er schlug Einlaß heischend gegen die Fensterrahmen, und die Dachziegel klapperten, als seien sie kurz vor dem Davonfliegen. Das College war weder in seinen Anfängen noch sonst jemals gründlich durchgeheizt oder ausgetrocknet worden, aber Fred, der in einem Pfarrhaus aufgewachsen war, einem der zugigsten Orte auf der Welt, sah keinen Grund zu Klage. Stiefel, Socken, Sockenhalter und Mütze reihte er wie Opfergaben an den Feuergott auf dem soliden Messing-Kamingitter auf. Sie dampften, und seine langgliedrigen Füße dampften auch. Da er das Abendessen in der Halle verpaßt hatte, nahm er ein Messer und ein Stück Landbrot aus dem Schrank und machte sich selbst Toast. Das Glück seiner Ernennung zum Junior Fellow in Angels wußte er sehr zu schätzen.

Das erste Billet war vom Master. Die Zeilen gingen stark bergab, aber die Schrift war gut zu lesen. »Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, weil ich Ihnen eben im Hof etwas sagte oder andeutete, was nicht der Wahrheit entsprach. Ich fragte Sie, wer Sie seien, aber ich wußte natürlich, wer Sie sind. Ich kenne jede Stimme im College. Ich erkenne auch die Schritte von allen, sogar auf dem Rasen – ganz besonders auf dem Rasen. Normalerweise überqueren Sie den Hof direkt von SSW nach NNO, aber heute abend haben Sie das nicht getan. Sie müssen ein Stück weit auf dem Kiesweg gegangen sein, und das verwirrte mich. Meine Bemerkung hat etwas von meinem Ärger über diese Verwirrung widergespiegelt, fürchte ich.« Der Master verschickte gern solche Billets im Interesse der Wahrheit – oder eher mit der Absicht, jede Nacht beruhigt im Wissen, nichts Unwahres gesagt oder geschrieben zu haben, zu Bett gehen zu können. Für seine Verhältnisse war dies ein sehr kurzes Billet. Und Fred hatte gelernt, mit diesen Menschen zu leben; er fand es sogar schon schwer, sich ein anderes Leben vorzustellen (so ging es ihm auch mit der Kälte in seinem Zimmer).

Das zweite Billet war von Skippey, er hatte es wohl auf dem Weg zu seinem College, dem Jesus, in der Pförtnerloge abgegeben. Fred las: »Mein guter Alter, Du hast mich eben auf der Mill Road nicht verstanden, glaube ich. Thorpe hat uns für heute abend im Club der Ungefälligen im Stich gelassen. Er sagt, er ist krank. Influenza nennt er das, wir nennen es Abspringen. Ein Glück, daß Du Dich von Deinem Unfall wieder erholt hast, wir wollen nämlich, daß Du heute abend in der Debatte für uns sprichst. Wir möchten, daß Du gegen die These argumentierst. Die These lautet, daß die Seele nicht existiert, nie existiert hat und daß auch nicht zu wünschen ist, sie existierte. Charles Reding wird die These vertreten. Der Witz ist, daß er Theologe und fromm und so weiter ist, und natürlich wird er sagen müssen, daß es außer dem Körper nichts gibt, dessen wir gewiß sein können, und daß Denken Blut ist und so weiter, und dann wirst Du, Fred, hemmungslos ungläubig wie Du bist, Dich für die Seele stark machen müssen. Im Anschluß dann Wein und Gebäck. Und, Fred –« Beazley stand immer noch herum. Fred fragte ihn: »Wünschte der Master eine Antwort auf dies Billet?«

»Er hat nicht darum gebeten, Sir.«

Ich bin eine Enttäuschung für Beazley, dachte Fred. Dampfende Socken, Toast, den ich mir selbst röste – wenn auch viel besser, als er es könnte, das wollen wir doch festhalten –, wo bleibt da der Schwung, der Glanz? Auch wenn er mit einem Blick schon sehen kann, daß er alle Hoffnung aufgeben muß, an mir nennenswert Geld zu verdienen –, er ist trotzdem noch da, und ich mag ihn, wenigstens ein bißchen unterhalten muß ich ihn wohl.

»Sieht so aus, als müßte ich nochmal raus, ich soll eine Rede halten, Beazley. Es hat geregnet, und ich fange gerade an, wieder trocken zu werden. Sehe ich unordentlich aus?«

»Ja, sehr unordentlich, Mr. Fairly.«

Beazley ging hochzufrieden weg und zog die zwölf Zentimeter dicke Eichentür hinter sich zu, die das Geräusch seiner Schritte verschluckte, als er die Wendeltreppe hinabstieg.

Fred sah auf die Uhr. Es war eine silberne Taschenuhr aus dem Besitz seines Vaters, die ihm überlassen wurde, als er seine Stelle antrat, ihm aber doch nicht ganz überlassen war, denn sein Vater lieh sie sich immer wieder aus, wenn Fred in den Ferien nach Hause kam. Er hatte eigentlich gar keine Lust, noch einmal auszugehen, er hatte selbst noch einen Brief zu schreiben, das mußte unbedingt erledigt werden; andererseits aber durfte er dem Club der Ungefälligen nicht ungefällig sein. Er hatte nämlich Skippey irgendwann einmal einen Gefallen getan, es war dabei um Geld gegangen, er hatte ihm mit einer Summe ausgeholfen, und wem man einmal geholfen hat, dem ist man immer zu Gefälligkeiten verpflichtet. Aber Freds Geist hatte sich nicht so schnell wieder aufgewärmt wie sein Körper, ihm fiel also nichts zur Verteidigung der Seele ein, und eine Ordnung der Gedanken, die er gar nicht hatte, konnte er erst recht nicht herstellen.

Das dritte Billet, das in dem weniger sauberen Umschlag gekommen war, bestand in einer Handvoll Blätter, die aus einem Notizbuch herausgerissen waren. Ein Bekannter hatte es abgefaßt. Fred wußte nicht mehr, wann er Holcombe zum erstenmal begegnet war, er wußte auch nicht, warum sie sich jetzt als Bekannte betrachteten, denn sie hatten sich zwar unterhalten, aber bei Fred war durchaus nicht das Bedürfnis entstanden, den Mann wiederzusehen. Das Billet behandelte ein Thema, das sie ein paar Tage zuvor besprochen hatten. Holcombe war dazu offenbar noch etwas eingefallen, das er loswerden wollte, er war zur Pforte gegangen, hatte festgestellt, daß Fred sich abgemeldet hatte, und daraufhin sofort angefangen zu schreiben, denn Gedanken zu unterdrücken, die ihm kamen, wäre genauso gefährlich für ihn gewesen, wie seinen Verdauungsvorgang zu unterbrechen.

»… Lange Märsche durch unser geliebtes Hochmoor, Fairly, Gespräche über intellektuelle Probleme, und nur solche, und endlich, nach sagen wir fünfzehn Meilen, der Abstieg, dann ein Whisky und ein wärmendes Feuer an einem heimeligen Herd in Cambridge! Das ist die wahre Erholung für einen Mann. Wenn man jetzt aber heiraten wollte – betrachten wir die Sache mal von dieser Seite –, dann hat die Frau ein verbrieftes Recht, sich im selben Haus, sogar im selben Zimmer aufzuhalten wie man selbst. Unter dem Gesichtspunkt der Versuchungen des Fleisches gesehen, ist das ja gut und schön und durchaus bequem, aber was, wenn sie auf einmal reden wollte? Deine jetzige Lebenslage ist so viel unkomplizierter. Du mußt keine Entscheidungen treffen. Wenn man fünfundzwanzig ist, werden einem die Entscheidungen abgenommen. Wenn Du in Sankt Angelicus bleibst, darfst Du nicht heiraten. Wenn Du gehst, bekommst Du vielleicht auch anderswo eine Anstellung, aber bestimmt keine als Junior Fellow, das kannst Du mir glauben. Du hast gar keine Wahl. Du hast keine Verwendung für Deine Entscheidungskraft. Deshalb mußt Du wirklich darauf achten, daß sie nicht einrostet, nicht ihre Spannung verliert; ich denke dabei an Sprungfedern, die lange nicht genutzt werden. Es kann Dir passieren, daß Du ganz vergißt, wie man überhaupt eine Wahl trifft. Und dabei ist die Aussicht auf eine Alternative doch absolut notwendig für Wollen und Tun des Menschen. Trotzdem, seien wir ehrlich, soweit ich sehen kann, hat es gar keinen Sinn, daß Du jemals die nähere Bekanntschaft einer jungen Frau suchst –«

Mehr hatte Holcombe nicht auf dem Papier unterbringen können. Wenn Fred ihn das nächste Mal traf, würde er den Faden genau an der Stelle wieder aufnehmen, an der er seinen Brief hatte abbrechen müssen, er würde weiterreden, als gäbe es keine Trennungslinie zwischen gesprochenen und geschriebenen Worten.

Aus einem geschnitzten Eichenschränkchen, das an der dem Kohleeimer gegenüberliegenden Seite des Feuers stand, aber nicht identisch mit dem Brotschränkchen war (und beim Öffnen auch einen anderen Schimmelgeruch entließ), zog Fred ein paar Bögen College-Papier. Er schüttelte seinen Füllfederhalter, um zu sehen, wieviel Tinte noch darin war, und schrieb: »Liebe Miss Saunders.«

Zweites KapitelEin paar Worte zum Sankt Angelicus

Das St. Angelicus zeichnete sich durch zwei Besonderheiten aus. Eine davon teilte es mit der St. Andrew-Universität. Sie bestand darin, daß es gar nicht wirklich existierte, denn seine Gründung war von Papst Benedikt XIII. abgesegnet, einem Papst, dem nach jahrelangen heftigen Auseinandersetzungen die Papstwürde aberkannt worden war. 1394 legal zum Papst gewählt, mußte er zwei Jahre später hören, er sei abgesetzt. Nun sagt aber jedes von Gott und den Menschen gemachte Gesetz, daß niemand auf der Welt ein Recht zur Absetzung des Papstes hat. Könige und Kaiser können entthront werden, aber ein legal gewählter Papst nicht. Dazu war Benedikt Aragonier und sogar in dieser an sich schon eigensinnigen Nation noch einer der Eigensinnigsten. 1415 zog er sich in eine Burg hoch oben auf einer Felszacke vierundsechzig Meter über dem Meer zurück, die mit dem Festland von Castellon nur durch eine schmale, bei Flut vom Wasser überschwemmte Sandbank verbunden war. Hier, in Peñiscola, hielt er weiter seine Audienzen in großen Sälen, die mit Büchern und Fetzen von Tapisserien aus seiner früheren Umgebung möbliert waren. Daß er inzwischen neunzig Jahre alt war und hätte sterben müssen, kümmerte ihn wenig. Er starb nicht und weigerte sich, auch nur einen Fußbreit nachzugeben. Die Könige Europas kamen schließlich überein, ihn vergiften zu lassen – damit endlich alle Welt ein ruhiges Gewissen hätte. Benedikt hatte immer sehr enthaltsam gelebt; nur eine einzige Schwäche erlaubte er sich: Er aß gern Quittenbrot, das Nonnen auf dem Festland für ihn zubereiteten. Man hörte sich um und fand endlich einen Benediktiner, der Fachmann im Vergiften von kandierten Früchten war. Ein bestochener Kammerherr brachte diese Früchte in das Studierzimmer des Papstes. Aber der alte Mann erbrach sich so heftig, daß kein Gift in seinem Magen zurückblieb. Der Kammerherr wurde ins Gefängnis geworfen, der Benediktiner für schuldig befunden und bei lebendigem Leibe verbrannt, und der Papst starb fünf Jahre später mit Würde. Er wurde in seinem Geburtsort Ilueca begraben. Während des spanischen Erbfolgekrieges wurde sein Skelett von plündernden französischen Soldaten ausgegraben; sie schlugen den Kopf vom Körper ab und warfen ihn weg. Ein ehrlicher Arbeitsmann rettete den Schädel aus einer Müllgrube, und man bewahrte ihn fortan als Reliquie auf. Der Senior Tutor von Angels war tatsächlich nach Aragon gereist, um ihn zu sehen; Dr. Matthews, der Provost von James', ein sehr angesehener Altertumsforscher, hatte ihn begleitet. Als besondere Vergünstigung für die Gäste war ein silberner Reliquienschrein geöffnet worden, und sie hatten einen Blick auf den Schädel von St. Benedikt werfen dürfen. Beide hatten bemerkt, daß das rechte Auge immer noch zu sehen war; es hing tief innen in seiner Höhle und sah aus wie schwärzliches Gelee.

»Es hatte eindeutig einen menschlichen Blick, meine ich«, hatte der Provost gesagt. »Wie ein Aufblitzen schien es mir. Ja, als ob es etwas mitzuteilen hätte. Wenn wir das ganze Skelett hätten sehen können, dann hätte es die Hand auf dem Herzen gehabt, stelle ich mir vor.« Der Kaplan von Angels sagte später, die Spanienreise des Senior Tutor mit dem Provost sei ein Fehler gewesen, zumal da dieser in seiner Freizeit Gespenstergeschichten schreibe und vorlese und einfach ein altes Waschweib sei, sobald er mit Knochen und Kirchhöfen in Berührung komme. »Und was die beiden ausgestanden haben müssen! Man weiß ja, daß in Spanien Kartoffelstücke in den Omelettes sind. Und auf Eselsrücken reiten – welche Zumutung!«

»Ich glaube, von Zaragossa aus sind sie mit dem Bummelzug gefahren«, berichtigte ihn jemand.

»Ein spanischer Zug; das ist ja noch schlimmer«, antwortete der Kaplan.

Die zweite Besonderheit von Angels war seine Größe. Es war das kleinste College in Cambridge und hatte nie den Eindruck geweckt, daß es sich vergrößern oder in irgendeiner Richtung erweitern wolle. Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts war es nach einem Bauplan errichtet worden, der denkbar geringe Ähnlichkeit mit einem Mönchskloster zeigte. Auch wenn alles Miniaturmaße hatte, ähnelte es doch einer Festung, vielleicht einer Spielzeugfestung, aber immerhin einem Spielzeug von gewaltiger Solidität, dessen Mauern aus Quadern gefügt und über einen Meter dick waren. Es hatte keinen Kreuzgang, keine Krankenzimmer, kein Hospiz, war ehrlich gesagt überhaupt nicht an Gästen interessiert, ob sie nun fremd waren oder nicht; es hatte auch kein Haus für den Master; der mußte in einem Oberstock bei den Fellows unterkriechen, ein Arrangement, das ihm in alten Zeiten den Namen Master-Kraut-und-Rüben eingetragen hatte. Im Lauf der Zeit fand man sich widerwillig dazu bereit, im Dach mehr Öffnungen für Kamine brechen und Feuerstellen in den Zimmern bauen zu lassen, sogar ein Kaltwasserhahn auf jedem Stockwerk wurde genehmigt. Schlafplätze für die Studenten gab es 1415 in keinem College; St. Angelicus hatte auch 1912 noch keine. Es gab auch keine Gästehäuser für die Studenten. Sie mußten sich Privatunterkünfte verschaffen, und pünktlich um sechs Uhr verließen die letzten das College wie Vögel, die ihren Schlafplatz auf der Stange aufsuchen; ihr Geschnatter verlor sich in der Ferne, und dann waren sie bis zum nächsten Morgen vergessen. Im Innenhof gab es keinen Platz für ihre Fahrräder; sie mußten außerhalb des Großen Tores untergestellt werden. Die Insignien über dem Tor, so verwittert, daß sie kaum noch als Relief erkennbar waren, zeigten zwei schlafende Engel, die auf das Jüngste Gericht warten, den Tag, an dem sich endlich zeigen wird, daß Benedikt XIII. unbestreitbar im Recht war, den Tag, an dem alle Verfahren, die die Katholische Kirche seit 1396 angestrengt hat, sich als null und nichtig erweisen werden, da sie alle auf falscher Autorität beruhen. Das Motto: Estoy in mis trece, nicht übermäßig passend für eine Stätte des Lernens, ist einer der wenigen überlieferten Sätze von Benedikt XIII. Es wird übersetzt mit: »Ich bleibe bei meiner Meinung«, aber »Nichts zu machen« käme der Sache vielleicht näher. Dann hatten sich die Collegemitglieder in der Kunst geübt, auf engem Raum zu leben. Man besaß natürlich die Keller, und die lagen nicht nur unter den College-Gebäuden, sondern reichten bis unter den Boden von Butts Green. 1911 war ein gutes Jahr für Weißwein und Champagner gewesen, und Angels hatte beträchtliche Vorräte eingelagert; man erwog, noch weiter unterirdisch zu bauen und ein zusätzliches Kellergewölbe zu errichten. Aber über der Erde wohnten im College nur der Master, die Dienstboten und sechs Fellows. In anderen Colleges war es den Fellows seit dreißig Jahren schon gestattet, zu heiraten und außerhalb zu wohnen, die Statuten von St. Angelicus verboten das jedoch. Damit ersparte man sich viele Probleme und gewann viel Zeit, die sonst für Diskussionen verbraucht worden wäre; man mußte aber auch Arbeitskräfte einsparen. Die Position eines Junior Fellow, die Fred bekommen hatte, bedeutete, daß er zugleich Hilfsorganist, Hilfsbibliothekar, stellvertretender Verwalter und stellvertretender Hilfsschatzmeister sein mußte. Die Bezeichnungen Hilfs-, stellvertretender und so weiter besagten nicht notwendigerweise, daß ihm jemand bei den betreffenden Arbeiten übergeordnet war, sie bedeuteten nur, daß er sie ohne Bezahlung erledigen mußte.

Drittes KapitelWie Fred zu seiner Stelle kam

Fred hatte das Examen in den Naturwissenschaften bestanden, und bei dem anschließenden geselligen Beisammensein zu Ehren aller Kandidaten mit sehr guten Examensnoten hatte sich Professor Flowerdew mit ihm unterhalten. Musikalische Darbietungen und Erfrischungen im Freien waren geplant, konnten aber wegen eines plötzlichen Regengusses nicht genossen werden, was in Cambridge gang und gäbe ist, wo man an den geringen Jahresdurchschnitt der Niederschläge glaubt und immer wieder Risiken eingeht. Alle Gäste hatten sich ins Cavendish geflüchtet; Professor Flowerdew, der Parties wenig schätzte (und den Namen geselliges Beisammensein schon gar nicht), war die ganze Zeit schon dortgewesen. Er kam gerade aus dem Physiklabor und lud Fred mit einer melancholischen Seitwärtsneigung des Kopfes ein, ihm in sein Arbeitszimmer im Oberstock zu folgen. Dieses Zimmer war (wie eigentlich alle Räume des Hauses) dunkel und über einen winzigen Korridor zu erreichen. Die Wände waren mit Photographien bedeckt, und Photographien waren an die Schreibtische geheftet. Fred zog prüfend Luft durch die Nase. Irgendwann selbst ein Zimmer im Cavendish zu haben, war sein Ehrgeiz.

Flowerdew setzte sich an seinen Schreibtisch; der Hocker am Mikroskop war frei. »Was wissen Sie von mir?« fragte er Fred.

»Ich habe gerade mein erstes Examen gemacht«, antwortete Fred. »Ehrlich gesagt, weiß ich gar nichts.«

»Nun, aber ich weiß etwas von Ihnen. Einiges. Ich weiß, daß Sie gescheit sind. Ich weiß, daß Sie aus einem Pfarrhaus kommen. Man sagt ja, daß wir uns im Cavendish mit einer Ausrüstung behelfen müssen, die aus Pappe und Bindfäden zusammengebastelt ist. Aber wenn Sie aus einem Pfarrhaus kommen, sind Sie wohl Kargheit gewohnt.«

»Es ist wunderbar, daß Sie überhaupt meinen Namen kennen«, meinte Fred.

»Und was haben Sie jetzt vor?«

»Ich habe daran gedacht, Professor Wilson zu fragen, ob ich bei ihm arbeiten kann. Ich meine, ob er mich beschäftigen kann. Ich könnte vielleicht bei den photographischen Platten zu Hand gehen. Er war mein Tutor im physikalischen Praktikum für Fortgeschrittene.«

»C. ‌T. ‌R. Wilson. Ein sehr guter, sehr geduldiger Schotte. Konnten Sie lesen, was er an die Tafel schrieb?«

»Normalerweise nicht. Was er mit der einen Hand schrieb, löschte er immer mit der anderen sofort wieder aus. Aber wenn ich eine Chance hätte, mich mit seinen Methoden vertraut zu machen –«

»Sie möchten ihm beim Bau seiner dritten Nebelkammer helfen. Sie möchten die Spuren photographieren, die ionisierende Teilchen angeblich machen.«

Fred wurde rot. »Wir leben hier in Cambridge in wunderbaren Jahren.«

»Sie fühlen sich zur Atomforschung hingezogen?«

»Ich habe gesehen, wie Ernest Rutherford das Cavendish betrat«, rief Fred. »Ich habe seine Vorlesungen gehört. Es hängt alles zusammen. Wenn es funktioniert, muß es wahr sein.«

»Nun ja«, sagte Professor Flowerdew, »eine Zeitlang wird wohl alles mit allem zusammenhängen, sechzig, siebzig Jahre schätze ich. Der Glaube, daß die Natur oder ein unsichtbarer Gott die Welt geschaffen hat und mit allem einen bestimmten Zweck verfolgt, der Glaube hat sehr viel länger vorgehalten und auch ganz ordentlich funktioniert. Aber trotzdem haben wir ihn völlig aufgegeben, weil es keinen Beweis für die Existenz Gottes oder der Natur gibt.«

»Nicht den mindesten«, sagte Fred. »Das muß dem Glauben überlassen bleiben. Schlüsse ziehen kann man schließlich nur aus dem, was man wahrnehmen kann.«

»Genau«, sagte Professor Flowerdew. »Aber Atome kann man nicht wahrnehmen.« Er zeigte auf eine Photographie an der Wand.

»Wer ist das?« fragte er.

Fred war in Verlegenheit und betrachtete die bärtigen, rätselhaften Gesichter ratlos; eines war mit roter Tinte umkreist. Fremde Männer in Frack und Zylinder, aufgereiht vor einem Gebäude, das er nicht erkannte.

»Das ist Ernst Mach; die Photographie entstand in Wien bei seiner Emeritierung als Lehrstuhlinhaber für Physik. Früher korrespondierte ich mit ihm, jetzt ist unsere Korrespondenz zum Erliegen gekommen. Aus seinen Vorlesungen und seiner Mechanik habe ich gelernt, daß es immer aberwitzig ist, etwas nicht Wahrnehmbares zur Grundlage wissenschaftlicher Forschung zu machen. Vergessen Sie nicht, daß Mach ein hochgeachteter Physiker ist. Unter anderem hat er das Verhältnis zwischen der Geschwindigkeit von Körpern und der Schallgeschwindigkeit des sie umgebenden Mediums bestimmt. Aber Mach warnte die Welt davor, sich auf das Atom einzulassen. Atome sind keine Realität, sondern nur provisorische Vorstellungen, wie können wir also sagen, sie nähmen Raum ein? Wir sollten mißtrauisch werden, wenn wir merken, daß man Atomen Qualitäten zuspricht, die in absolutem Widerspruch zu allen Eigenschaften stehen, die man in beliebigen anderen Körpern beobachtet hat. Wissenschaftliches Denken besitzt Kontinuität, das wissen Sie. Diese Kontinuität wird jetzt aus dem Fenster geworfen. Wir können nur hoffen, daß wir uns erinnern, wohin sie gefallen ist, wenn wir auf die Dauer erkennen müssen, daß wir ohne sie nicht auskommen.«

Er sah Fred mitleidig an. »Sie haben Hunger. Aber es ist sinnlos, jetzt hinunter zu gehen, die Naturwissenschaftliche Fakultät wird alles aufgegessen haben. Die organischen Chemiker haben die Sandwiches abgeräumt. Ich möchte Ihnen auseinandersetzen, was in den kommenden Jahrhunderten mit der Atomphysik geschehen wird.

Es wird viele offenkundige Ergebnisse geben, nützliche, auch spektakuläre werden darunter sein, aber aller Wahrscheinlichkeit nach auch sehr unangenehme. Weil aber die