Frühlingsanfang - Penelope Fitzgerald - E-Book

Frühlingsanfang E-Book

Penelope Fitzgerald

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Beschreibung

Frühlingsanfang in Moskau, 1913. Nelly Reid, treusorgende Ehefrau und liebevolle Mutter dreier Kinder, verlässt ihren Mann Frank völlig unerwartet und kehrt nach England zurück, die Kinder bleiben bei ihrem Vater. Der sieht sich vor ungewohnte Herausforderungen gestellt: Er muss sich nicht nur um seine Firma kümmern, sondern auch um den Haushalt und den Nachwuchs ... Da tritt Lisa Iwanowna in Franks Leben, eine junge, gut aussehende Frau vom Lande. Aber ist sie wirklich so naiv, wie sie scheint? Und welche Rolle spielt Franks Buchhalter, Selwyn Crane, der sich so offensichtlich bemüht, die beiden zusammenzubringen?

»Penelope Fitzgeralds Bücher bieten ein Lesevergnügen der besonderen Art: Ganz unaufgeregt, nachdenklich und wehmütig zeigen sie eine einfache Wahrheit: Das Alltägliche, das Allzumenschliche entwickelt oft famosen Witz.« Der Spiegel

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Seitenzahl: 276

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Penelope Fitzgerald

Frühlingsanfang

Roman

Aus dem Englischen von Christa Krüger

Insel Verlag

Frühlingsanfang

1

1913 kostete die Bahnfahrt von Moskau nach Charing Cross, mit Umsteigen in Warschau, vierzehn Pfund, sechs Schilling, drei Pence und dauerte zweieinhalb Tage. Im März 1913 unternahm Nellie, Frank Reids Frau, diese Fahrt. Sie brach von ihrer Wohnung in der Lipkastraße 22 im Stadtteil Kamovniki auf; die drei Kinder, Dolly, Ben und Anuschka, nahm sie mit. Anuschka (oder Annie) war zweidreiviertel und auf dem besten Wege, ein noch schlimmerer Quälgeist zu werden als die beiden anderen. Dunjascha, das Kindermädchen, das sich in der Lipkastraße 22 um die drei kümmerte, kam trotzdem nicht mit auf die Reise.

Dunjascha war wohl eingeweiht, Frank Reid aber wußte von nichts. Erst als er aus der Druckerei nach Hause kam, erfuhr er durch einen Brief von der Reise. Diesen Brief habe ein Bote abgegeben, erklärte ihm der Diener Toma.

»Wo ist der Bote jetzt?« fragte Frank und nahm den Brief. Er trug Nellies Schrift.

»Wieder an die Arbeit gegangen. Er gehört zum Boten-Artel und darf sich nirgends ausruhen.«

Frank ging daraufhin schnurstracks durch die rechtsseitigen Hinterzimmer in die Küche, wo er auch wirklich den Boten beim Tee mit der Köchin und der Küchenhilfe fand; die rote Botenmütze lag auf dem Tisch.

»Woher hast du den Brief?«

»Man hat mich herbestellt«, sagte der Bote und stand auf, »und mir den Brief gegeben.«

»Von wem hast du ihn?«

»Von Ihrer Frau, Elena Karlovna Reid.«

»Dies ist mein Haus, und ich wohne hier. Wozu brauchte sie einen Boten?«

Inzwischen hatten sich alle in der Küche versammelt: der Schuhputzjunge, genannt Kleiner Kosake, die Waschfrau, die heute ihren wöchentlichen Waschtag bei Reids hatte, das Dienstmädchen und Toma. »Er hätte den Brief in Ihr Büro bringen sollen«, sagte Toma, »aber Sie waren früher zu Hause als sonst und kamen ihm zuvor.«

Frank war in Moskau geboren und aufgewachsen; von Natur aus friedlich und zurückhaltend, wußte er doch, daß er ab und zu im Leben theatralisch werden mußte. Er setzte sich also ans Fenster, obwohl es um vier Uhr schon dunkel war, und öffnete den Brief vor aller Augen. Zwei, drei Briefe hatte er seit seiner Heirat von Nellie bekommen; an mehr konnte er sich nicht erinnern. Schreiben war nicht nötig gewesen; getrennt waren sie kaum je, und sie redete sowieso ziemlich viel. In letzter Zeit vielleicht nicht mehr ganz soviel.

Er las, so langsam er konnte, aber sie hatte nur ein paar Zeilen geschrieben, eine Mitteilung, daß sie abgereist war. Von einer Rückkehr nach Moskau stand nichts da, und er schloß daraus, daß sie ihm nicht hatte sagen wollen, was eigentlich los war, vor allem, weil sie ganz unten auf die Seite geschrieben hatte, sie sage dies ohne Bitterkeit und wünsche, er nehme es auch so auf. Dann las er noch etwas wie: bleib gesund.

Alle standen da und beobachteten ihn schweigend. Frank wollte sie nicht enttäuschen, also faltete er das Blatt Papier sorgfältig wieder zusammen und steckte es in den Umschlag zurück. Er sah aus dem Fenster auf den dunklen Hof, wo der Holzstapel für den Winter jetzt zu drei Vierteln abgetragen war. Jenseits des Gartenzauns schimmerten hier und da die Öllampen der Nachbarn. Frank hatte in Verhandlungen mit der Moskauer Elektrizitätsgesellschaft erreicht, daß sein Haus mit 25-Watt-Birnen beleuchtet wurde.

»Elena Karlovna ist abgereist«, sagte er, »die Kinder hat sie mitgenommen, für wie lange, weiß ich nicht. Sie hat mir nicht gesagt, wann sie wiederkommt.«

Die Frauen fingen an zu weinen. Bestimmt hatten sie Nellie beim Packen geholfen und sich dabei die Winterkleider schenken lassen, die nicht mehr in die Koffer paßten, aber diese Tränen waren echt und der Kummer nicht gespielt.

Der Bote stand immer noch da, die rote Mütze in der Hand. »Hast du dein Geld schon bekommen?« fragte ihn Frank. Der Junge verneinte. Die Mitglieder des Artels wurden nach einem festen Satz bezahlt, der zwischen zwanzig und vierzig Kopeken lag, aber es war fraglich, ob er überhaupt etwas verdient hatte. Nun kam der Hausmeister in die Küche, in einer Wolke von Öl und Sägemehl, und brachte den unverkennbaren Geruch von Kälte mit herein. Ihm mußte alles noch einmal von vorn erklärt werden, obwohl nur er Nellies Gepäck aufgeladen haben konnte.

»Bringt mir Tee ins Wohnzimmer«, sagte Frank. Dem Boten gab er dreißig Kopeken. »Essen um sechs, wie immer.« Er erstickte fast bei dem Gedanken, daß die Kinder nicht da waren, daß Dolly und Ben nicht aus der Schule kommen würden und daß keine Annuschka im Haus herumlief. Am Morgen hatte er noch drei Kinder, jetzt hatte er keines. Wie sehr ihm Nellie fehlen würde, wie sehr sie ihm jetzt schon fehlte, wußte er im Augenblick nicht zu sagen. Das schob er beiseite; wie es auf ihn wirkte, wollte er später bedenken. Sie hatten eine Reise nach England erwogen, weshalb Frank die Ausreisepapiere der Familie bei der Lokalpolizei und im Polizeipräsidium in Ordnung gebracht hatte. Sollte die Polizei Nellie etwas eingeredet haben, als sie ihren Paß unterschrieb? Aber wann hatte Nellie sich je etwas einreden lassen?

Die Firma Reid, die Franks Vater um 1870 in Moskau gegründet hatte, importierte und montierte zunächst Druckmaschinen. Eine kleine Druckerei lief damals nur nebenher. Inzwischen lebte Frank fast ausschließlich von diesem Druckereibetrieb. Mit der Montagefirma war nichts mehr anzufangen, die Konkurrenz der Deutschen und des direkten Importgeschäftes war zu hart. Aber die Druckerei warf genug ab, und Frank hatte einen einigermaßen vernünftigen Geschäftsführer. Das Wort vernünftig paßte allerdings genaugenommen nicht so ganz auf Selwyn. Er hatte keine Frau und anscheinend keine Sorgen, war Tolstoj-Jünger, nach dessen Tod in verstärktem Maß, und er schrieb Gedichte in russischer Sprache. In Franks Vorstellung handelten russische Gedichte von Birkenbäumen und Schnee, und in den letzten Versproben, die Selwyn ihm vorgelesen hatte, tauchten Birken und Schnee auch ziemlich oft auf.

Frank ging zum Telefon, drehte die Kurbel zweimal und verlangte die Nummer der Reid-Druckerei. Inzwischen kam Toma mit dem Samowar, dem kleinen, der ihm groß genug für den Hausherrn schien, jetzt, wo er ganz allein war. Der Samowar fing gerade an zu kochen und gab ein leichtes, einladendes Summen von sich.

»Was sollen wir mit den Kinderzimmern machen, Herr?« fragte Toma mit leiser Stimme.

»Macht die Türen zu und laßt die Zimmer, wie sie sind. Wo ist Dunjascha?«

Frank wußte, daß sie sich irgendwo im Haus aufhielt, aber in Deckung blieb, wie ein Rebhuhn in der Ackerfurche, um sich Vorwürfen zu entziehen.

»Dunjascha möchte Sie sprechen. Was soll sie denn arbeiten, jetzt, wo die Kinder weg sind?«

»Sag ihr, das soll sie nur mir überlassen.« Frank merkte, daß er sich anhörte wie ein launenhafter Herr über Leibeigene. Aber hatte er ihnen denn je ernsthaft Grund zur Sorge um ihre Arbeitsplätze gegeben?

Das Telefongespräch kam durch, und Selwyns helle, nachdenkliche Stimme antwortete russisch: »Ich höre.«

»Ich wollte dich heute nachmittag eigentlich nicht stören, aber es ist etwas geschehen, was ich so nicht erwartet hätte.«

»Du klingst nicht wie sonst, Frank. Sag mir, was ist dir widerfahren? Freude oder Kummer?«

»Ich würde sagen, ein ziemlicher Schock. Also Kummer, wenn es eins von beiden sein soll.«

Toma kam einen Augenblick in die Diele, sagte etwas von Änderungen, die man machen müsse, und zog sich wieder in die Küche zurück. Frank sprach weiter: »Selwyn, es ist etwas mit Nellie. Sie ist nach England zurückgefahren, nehme ich jedenfalls an, und die Kinder hat sie mitgenommen.«

»Alle drei?«

»Ja.«

»Aber vielleicht möchte sie zu Besuch …« Selwyn stockte und suchte nach Worten, als falle es ihm schwer, die richtigen Bezeichnungen für normale menschliche Beziehungen zu finden, »könnte es nicht sein, daß man seine Mutter besuchen möchte?«

»Sie hat nicht ein Wort darüber verloren. Jedenfalls war ihre Mutter schon tot, bevor ich Nellie kennenlernte.«

»Und ihr Vater?«

»Sie hat nur noch ihren Bruder. Und der wohnt da, wo er immer war, in Norbury.«

»In Norbury, Frank, und dann noch als Waise!«

»Also, eine Waise bin ich schließlich auch, und du genauso.«

»Ja, aber ich bin zweiundfünfzig.«

Selwyn hatte einen Rest gesunden Menschenverstand, der sich regte, wenn er arbeitete, und überraschenderweise gelegentlich auch dann, wenn man die Hoffnung darauf schon fast aufgegeben hatte. Er sagte: »Ich brauche nicht mehr lange. Ich gehe die Lohnliste durch und vergleiche sie mit dem, was die Buchhalter wirklich auszahlen. Du hast erklärt, du wolltest, daß das häufiger geprüft wird.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Wenn wir fertig sind, laß uns doch zusammen essen, Frank. Ich mag mir nicht vorstellen, wie du da sitzt und auf einen leeren Stuhl starrst. Essen bei mir zu Hause, sehr bescheiden, nicht in der seelenlosen Umgebung eines Restaurants.«

»Danke, aber das möchte ich nicht. Ich komme dann morgen, wie immer, ungefähr um acht Uhr.«

Er hängte die Sprechmuschel wieder an ihren Messinghaken und ging durchs Haus, es war jetzt ganz still; nur aus der Küche drang gedämpft das an- und abschwellende Geräusch von Stimmen, der vertraute Ton einer munteren Unterhaltung, ab und zu war ein Laut zu hören, als breche jemand in Schluchzen aus. Das Haus — baufällig nach Franks Maßstäben — war geräumig; es hatte zwei Stockwerke, das untere aus Stein, das obere aus Holz. Der riesige Ofen, mit weißen Kacheln aus der Presnaja umkleidet, heizte das ganze untere Stockwerk. Draußen zog sich in der Gegend der Moskva-Schleife ein seltsamer grellgelber Streifen über den schiefergrauen Himmel.

Jemand war an der Haustür, und Toma führte Selwyn Crane herein. Obwohl Frank ihn fast jeden Tag in der Druckerei sah, vergaß er immer wieder, daß Selwyn für einen englischen Geschäftsmann sehr ungewöhnlich aussah; erst in anderer Umgebung fiel es ihm wieder auf. Er war lang und dünn — das war Frank auch, aber Selwyn mit seinem freundlichen Lächeln, dem ernsten suchenden Blick, immer etwas abwesend, sah aus, als sei er vor lauter Entrücktheit und Weltferne bis zur Durchsichtigkeit abgemagert. Er trug eine Art schwarzen Gehrock, dazu Hosen aus englischem Tweed, die dem Moskauer Schneider zu kurz geraten waren, außerdem eine hochgeschlossene russische Bauernbluse, einen Tribut, den er dem Andenken an Lev Nikolajewitsch Tolstoj zollte. In dem warmen Zimmer warf er den Gehrock ab — Damen waren nicht anwesend — und stand nun in der grobgewebten Bluse da, die in Falten um seine spitzen Knochen hing.

»Hier bin ich, mein Guter. Nach solchen Nachrichten konnte ich dich doch nicht allein lassen.«

»Wäre mir aber lieber gewesen«, sagte Frank. »Nimm's mir nicht übel, daß ich es so offen sage. Ich wäre lieber für mich geblieben.«

»Ich bin mit der vierundzwanziger Trambahn gekommen«, sagte Selwyn, »ich hatte Glück; sie kam fast sofort. Ich bleibe nicht lange; du kannst ganz unbesorgt sein. Mir ist am Schreibtisch ein Gedanke gekommen, und ich wußte sofort, daß er ein Trost für dich sein kann. Ich bin gleich aufgestanden und zur Straßenbahnhaltestelle gegangen. Am Telefon kann man solche Dinge nicht bereden, Frank.«

Frank saß ihm gegenüber und stützte den Kopf in die Hände. Er konnte nichts weniger ertragen als entschlossene Selbstlosigkeit. Aber Selwyn schien dadurch ermutigt.

»Das ist die Haltung eines reuigen Sünders, Frank. Das muß nicht sein. Sünder sind wir allzumal. Der Gedanke, der mir kam, hatte nichts mit Schuld zu tun, sondern mit Verlust. Stellen wir uns den Verlust als eine Form von Armut vor. Nun ist aber Armut oder das, was die Welt Armut nennt, kein Grund zum Bedauern, sondern zur Freude.«

»Nein, Selwyn, so ist es nicht«, sagte Frank.

»Lev Nikolajewitsch versuchte, all seinen Besitz wegzugeben.«

»Aber damit wollte er die Bauern reicher machen, nicht sich selbst ärmer.« Tolstojs Moskauer Besitz war nur ungefähr einen Kilometer von der Lipkastraße entfernt. In seinem Testament hatte er ihn den Bauern vermacht, die seitdem unaufhörlich die Bäume auf dem Grundstück fällten, um schnell zu Geld zu kommen. Sie arbeiteten sogar nachts im Schein von Paraffinfackeln.

Selwyn beugte sich vor, die großen braunen Augen höchst konzentriert und leuchtend vor liebevoller Neugier und gutem Willen.

»Frank, laß uns im Sommer zusammen auf Wanderschaft gehen. Ich kenne dich gut, aber in der klaren Luft, in den Wiesen und Wäldern werde ich dich bestimmt noch besser kennenlernen. Du hast Mut, Frank, aber ich glaube, du hast keine Phantasie.«

»Selwyn, verschone mich heute abend mit Seelenzergliederung! Ehrlich gesagt, dazu fühle ich mich nicht in der Lage.«

In der Diele erschien erneut Toma, um Selwyn in seinen ärmellosen zottigen Schafspelz zu helfen. Frank sagte noch einmal, daß er zur üblichen Zeit in die Druckerei kommen werde. Sobald die Außentür zu war, begann Toma zu lamentieren, daß Selwyn Osipitsch gar keinen Tee genommen habe, nicht einmal ein Glas Mineralwasser.

»Er kam nur auf einen Moment.«

»Das ist ein guter Mensch, Herr, immer unterwegs von einem Ort zum anderen, immer auf der Suche nach Not und Verzweiflung.«

»Nun, hier hat er keins von beiden gefunden«, sagte Frank.

»Vielleicht hat er Ihnen eine Nachricht von der gnädigen Frau gebracht, Herr.«

»Das hätte sein können, wenn er im Bahnhof arbeiten würde, aber das tut er nicht. Sie hat den Zug nach Berlin genommen, und mehr ist dazu nicht zu sagen.«

»Gott ist nicht ohne Barmherzigkeit«, sagte Toma unbestimmt.

»Toma, als du vor drei Jahren hierherkamst, in dem Jahr, in dem Annuschka geboren wurde, da hast du mir erzählt, du seist ein Ungläubiger.«

Tomas Gesicht entspannte sich und zeigte jene Falten zähen Wohlwollens, die eine Vorankündigung von Stunden uferloser Diskussion waren.

»Kein Ungläubiger, Herr, sondern ein Freidenker. Vielleicht haben Sie nie über den Unterschied nachgedacht. Als Freidenker kann ich glauben, was ich will und wann ich will. Ich kann Sie in Ihrer traurigen Lage heute abend dem Schutz Gottes anvertrauen, selbst wenn ich morgen früh nicht glaube, daß es ihn gibt. Als Ungläubiger wäre ich verpflichtet, nicht zu glauben, und das wäre eine unzulässige Einschränkung meiner Gedanken.«

Dann stellte sich heraus, daß Selwyns Aktentasche, eigentlich eine Notenmappe, vollgestopft mit Papieren und hart geworden vom Regen vieler Jahreszeiten an vielen Trambahnhaltestellen, auf der Bank unter dem Kleiderständer liegengeblieben war, dort, wo die Filzstiefel in einer Reihe standen. Das war schon oft vorgekommen, und der vertraute Anblick der vergessenen Aktentasche hatte etwas Tröstliches.

»Ich nehme sie morgen früh mit«, sagte Frank. »Paß auf, daß ich es nicht vergesse.«

2

Noch vor wenigen Jahren war das erste, was man morgens in Moskau hörte, das Stampfen der Kühe, die aus Ställen und Hinterhöfen kamen und sich ihren Weg zwischen den Pferdebahnen durch zu ihrem Sammelplatz am Rand von Kamovniki suchten; von dort aus wurden sie von dem städtischen Kuhhirten zu den Weiden getrieben oder im Winter durch die Dunkelheit zu den Heustadeln in der Vorstadt geführt. Nachdem die Straßenbahnen elektrifiziert waren, verschwanden die Kühe. Nun kam der erste Laut am Morgen von den Trambahnen, von fünf Uhr an; außerdem tönten noch die Kirchenglocken. Im Februar war beides nicht zu hören; die doppelten inneren und äußeren Fenster waren seit den letzten Oktobertagen fest versiegelt und hielten das Haus warm und taub.

Frank stand auf, entschlossen, jetzt in Angriff zu nehmen, was er schon am Abend zuvor hätte tun können, aber noch unterlassen hatte in der Hoffnung, es werde sich als unnötig erweisen: das Aufgeben der Telegramme. Irgendwann würde er wohl auch zum Büro der englischen Gemeinde gehen und Cecil Graham, den Pfarrer, aufsuchen müssen; Graham selbst würde vor lauter Verlegenheit kaum etwas sagen; das war sicher. Der Besuch beim Pfarrer hieß aber auch, daß er Mrs. Graham Rede und Antwort stehen müsse; in Wirklichkeit empfing nämlich sie die Besucher und besorgte das Reden. Vielleicht ließ sich der Besuch im Pfarrbüro noch einen oder zwei Tage aufschieben.

Um Viertel vor sieben klingelte das Telefon: Die beiden Kupferglöckchen, die über einem kleinen Schreibtisch angebracht waren, schlugen schnarrend an. Der Anrufer war der Stationsvorsteher vom Alexanderbahnhof. Frank kannte ihn recht gut.

»Frank Albertowitsch, hier hat es ein Versehen gegeben. Sie müssen sofort zum Aufsammeln kommen oder eine verantwortungsbewußte, zuverlässige Person schicken.«

»Was denn aufsammeln?«

Der Stationsvorsteher erklärte, die drei Kinder seien in seinem Bahnhof in Verwahrung, sie seien aus Moschajsk mit dem Mitternachtszug von Berlin gekommen.

»Sie haben einen Kleiderkorb bei sich.«

»Sind sie denn allein?«

»Ja, aber meine Frau kümmert sich im Bahnhofscafé um sie.«

Frank hatte den Mantel schon angezogen. Er ging die Lipkastraße entlang, um einen Schlittenkutscher zu finden, der gerade mit der Arbeit anfing und nicht von einer langen Arbeitsnacht betrunken, halbbetrunken, dauertrunken oder nur podvypevchye — mit einem kleinen Schwips — zurückkam. Er brauchte auch ein geduldig aussehendes Pferd. An der Straßenecke hielt er einen Kutscher an; im Lampenlicht konnte er über hochgeschlagenem Kragen ein kleines Stück von einem resignierten, fleckigen Gesicht erkennen.

»Alexanderbahnhof.«

»Brester Bahnhof«, sagte der Kutscher, der offenbar den alten Namen nicht aufgeben wollte. Das wirkte alles in allem beruhigend.

»Wenn wir da sind, wirst du warten müssen, wie lange, weiß ich allerdings nicht.«

»Gepäck?«

»Drei Kinder und ein Kleiderkorb. Ich weiß nicht, was sonst noch.«

Das Pferd bewegte sich vorsichtig durch den Schnee, kletterte mühsam die Novinskaja hoch und bog dann von allein in die Presnaja ein. Diesen Weg war es gewohnt, weil der Hügel steil war und deshalb bergauf und bergab ein höherer Fahrpreis verlangt werden konnte; aber der schnellste Weg zum Bahnhof war es nicht.

»Dreh um«, sagte Frank, »nimm den anderen Weg.«

Der Kutscher zeigte sich nicht überrascht, sondern wendete mitten auf der Straße, schob dabei den gefrorenen Schnee zu grauen Furchen zusammen. Das Pferd kam aus dem Takt, strengte sich an, stellte die Beine über Kreuz und bewegte sich weiter mit der Unbeholfenheit einer Kreatur, die aus ihrer Gewohnheit gerissen wird. In seinen Eingeweiden grummelte es, und das Tier hustete und klang wie eine defekte Maschine, nicht wie ein Pferd. Als es sich wieder beruhigt hatte und gleichmäßig die Tverskaja hinabtrottete, fragte Frank den Kutscher, ob er Kinder habe. Seine Frau und die Familie wohnten nicht bei ihm, antwortete der Kutscher, sondern in Rovik, seinem Heimatdorf, während er hier Geld verdiente. Wie viele Kinder? Zwei, aber beide waren in Rovik gestorben, als die Cholera kam. Seine Frau hatte nicht genug Geld oder nicht genug Verstand, ein Papier zu kaufen, das bescheinigte, sie wären an etwas anderem gestorben; darum mußten sie auf dem Pestfriedhof begraben werden, und keiner wußte, wo das war. An diesem Punkt der Erzählung lachte er unmotiviert.

»Warum schickst du nicht nach deiner Frau, daß du Gesellschaft hast?«

Der Kutscher antwortete, Frauen seien bloß gesellig mit anderen Frauen; sie seien füreinander gemacht und redeten den ganzen Tag zusammen. Nachts seien sie zu müde und für nichts zu brauchen.

»Aber wir sind nicht zum Alleinsein gemacht«, sagte Frank.

»Aber im Leben kommt's anders.«

Sie mußten hinter dem Bahnhof halten, am Güterbahnhof. Der Kutscher war keiner von den Geschäftstüchtigen, er hatte keine Genehmigung, am Haupteingang zu warten.

»Ich bin bald wieder da«, sagte Frank und gab ihm Geld für einen Tee. Der Satz hatte keine genaue Bedeutung, war nur ein unbestimmtes Versprechen und wurde auch so aufgefaßt. Leichter Schnee fiel. Der Kutscher deckte dem Pferd eine große grüne Ölplane über; es ließ den Kopf hängen, döste und träumte vom Sommer.

Der Güterbahnhof wurde von der Okruschnaja-Eisenbahn bedient, die einen Kreis um die ganze Stadt schlug und Fracht von Depot zu Depot beförderte. Gleichzeitig mit dem Schlitten war eine Ladung kleiner Messing-Kreuze eingetroffen, aus einer Fabrik am Ostrand der Stadt. Zwei Männer hakten auf einer Liste sorgfältig die einzelnen Flechtstrohkisten eines Postens von einmal hundert und einmal tausend Stück ab. Frank ging an den Kohlenhaufen und Lagerschuppen vorbei durch den höhlenartigen Hintereingang des Bahnhofs. Im Inneren sickerte durch die Glaskuppel graues Licht aus großer Höhe herab. Nicht viele Leute hielten sich hier auf, und manche von ihnen gehörten eindeutig zu den verlorenen Seelen, die durch Bahnhöfe und Krankenhäuser irren, in der Hoffnung, auch für sich ein Stückchen Ziel und Zweck abzweigen zu können, wo so viel eilige Geschäftigkeit stattfindet, wo sie zusehen können, wie andere Menschen sich trennen und wiederfinden und Krankheit und Tod erleben. Eine Handvoll verlorener Seelen saß in den Ecken des Bahnhofsrestaurants und sah ohne Neugier oder Bedauern denen zu, die es sich leisten konnten, an der glänzenden Theke oder am Büffet etwas zu bestellen.

Der Stationsvorsteher war nicht da. »Der Natschalnik ist in seinem Büro. Dies ist das Bahnhofscafé«, sagte der Barmann.

»Ganz recht«, sagte Frank, »aber war seine Frau nicht vor einer Weile hier, mit drei Kindern?«

»Seine Frau ist nie hier, das ist nicht ihr Platz, sie ist in seinem Haus.«

Eine Kellnerin, groß und kräftig, schob ihn mit dem Ellbogen beiseite, als sie die Klappe im Bartisch hob und herauskam.

»Drei kleine Engländer, ein Mädchen mit braunem Haar und blauen Augen, ein Junge mit braunem Haar und blauen Augen, ein kleines Mädchen, das schlief, seine Augen waren zu.«

»Hatten sie einen Kleiderkorb bei sich?«

»Ja, als das kleine Mädchen sich hinsetzte, stellte es die Füße auf den Korb, seine Beine waren noch zu kurz und reichten nicht bis auf den Fußboden.«

»Wo sind die Kinder jetzt?«

»Sie wurden weggebracht.«

Die Kellnerin kreuzte die Arme über dem Busen und schien Frank herauszufordern oder anzuschuldigen. Sie hatte einen georgischen Akzent. Es war verrückt, sich Georgien nur als ein Land voller Rosen und Sonnenschein vorzustellen, das wußte er. Aber die Georgier halten sich etwas darauf zugute, daß ihre Stimmung so plötzlich umschlagen kann. Frank sagte: »Sie sind jedenfalls nicht dafür verantwortlich zu machen. Es ist schließlich nicht Ihre Aufgabe, auf jedermann im Bahnhofscafé zu achten.« Sofort wurde sie nachgiebig und gab sich alle Mühe, ihn freundlich zu stimmen.

»Ihre Kinder sind das nicht, das sehe ich sofort. Sie würden nicht zulassen, daß sie so in der Stadt ankommen, ohne daß sich jemand um sie kümmert.«

Frank fragte, wo der Stationsvorsteher wohnte. Sein Haus stand in der Presnaja, zwischen dem Friedhof und der Vlasov-Kachelfabrik.

Er ging wieder über den verwehten, hartgefahrenen Schnee durch den Kohlenhof. Das Pferd stand vollkommen reglos in der weißen Ferne; der Kutscher kam gerade aus dem Pissoir.

Er war einverstanden zu warten, während Frank den kurzen Weg zur Presnaja ging.

Längs einer Seitenstraße, die übersät war mit Klinkersteinen, Sprungfedern von Kutschen, Alteisenteilen und gelblackierten Blechstreifen, die einmal für Botkin-Tee und Jeye-Tinktur Reklame gemacht hatten, standen in Abständen Holzhäuser. Sie standen auf zwei Stufen über dem Boden, und Frank sah, daß der Eingang, wie in den Dörfern, auf der Rückseite liegen mußte. Im Haus Nummer 15, zu dem man ihn gewiesen hatte, fand er die Hintertür unverschlossen. Er zog sie hinter sich zu und sah sich zwei Türen gegenüber.

»Ist jemand zu Hause?« rief er.

Die Tür zur Rechten öffnete sich, und heraus kam seine Tochter Dolly: »Warum bist du nicht eher gekommen? Wir haben hier wirklich nichts verloren.«

Im Zimmer war der mit einem Öltuch bedeckte Tisch in die rechte Ecke gerückt, so daß niemand mit dem Rücken zu den Ikonen und ihren flackernden Lämpchen sitzen konnte. Anuschka lag schlafend auf dem Kleiderkorb. Ben saß am Tisch und schaute sich eine Zeitung an, die Gazeta Kopejka, die nur von Raub und Mord berichtete. Er sah auf und sagte: »Wenn du auf einer Hauptstrecke fährst, ist der Abstand zwischen zwei Pfosten ein zwanzigstel Werst, und wenn der Zug zwei Sekunden von einem Pfosten zum nächsten braucht, dann schaffst du neunzig Werst in der Stunde.«

»Was ist passiert?« fragte Frank. »Wer kümmert sich um euch? Seid ihr unterwegs verlorengegangen?«

Eine dunkle Frau in einem Overall kam herein, nicht die Frau des Stationsvorstehers, falls es die überhaupt gab, sondern eine Küchenmutter, so stellte sie sich vor, die immer aushalf, wenn sie gebraucht wurde.

»Sie verdient nur achtzig Kopeken pro Tag«, sagte Dolly.

»Das ist nicht viel bei so viel Verantwortung.« Sie legte der Frau den Arm um die Taille und sagte in zärtlichem Russisch: »Du verdienst nicht genug, Mütterchen, stimmt's?«

»Ich mache das schon mit allen klar«, sagte Frank, »und dann nichts wie nach Hause in die Lipkastraße. Annie müssen wir wohl wecken, so leid es mir tut.«

Die Mäntel der Kinder hingen zum Trocknen über dem Ofen, neben der zweiten Uniform des Stationsvorstehers und einem Stapel Eisenbahndecken. Den Kleiderrechen aus Birkenholz mußte man wie ein Segel niederholen. Anuschka wachte auf, als man sie in ihr Pelzjäckchen steckte, und fragte, ob sie noch in Moskau sei.

»Ja, ja«, sagte Frank.

»Dann will ich zu Muirka.«

Muir und Merrilees war das Kaufhaus, in dem Anuschka fast jedesmal ein kleines Geschenk von dem aufmerksamen Abteilungsleiter erhielt.

»Jetzt nicht«, sagte Dolly.

»Wenn Anuschka nicht gewesen wäre«, sagte Ben, »dann hätte uns Mutter mitgenommen, glaube ich. Genau kann ich's nicht sagen, aber ich glaube schon.«

Das ganze Haus bebte plötzlich, nicht allmählich, sondern von einem Augenblick zum andern, so heftig wurde an die Außentür geschlagen. Die Küchenmutter bekreuzigte sich. Es war der Schlittenkutscher. »Daß du so viel Kraft hast und dermaßen an die Tür schlägst, hätte ich dir gar nicht zugetraut«, wies ihn Frank zurecht.

»Wie lange? Wie lange denn noch?«

Im selben Augenblick kam durch die Vordertür der Stationsvorsteher herein, vielleicht, weil er die Gelegenheit nutzen wollte, um zu sehen, was in seinem Haus vor sich ging. Er war wahrscheinlich der einzige, der je die Vordertür benutzte. Nun mußten sich alle miteinander — Frank, die Kinder, die Küchenmutter, der Stationsvorsteher — noch eine halbe Stunde zusammensetzen. Annie mußte wieder aus ihrer Jacke geschält werden. Sie schlief auf der Stelle wieder ein. Es gab Tee und Kirschmarmelade aus dem Schrank, der jetzt, wo der Stationsvorsteher seine Schlüssel mitgebracht hatte, aufgeschlossen werden konnte. Die Küchenmutter erklärte auf einmal, sie könne sich nicht trennen von ihrer Dolly, ihrer Darjascha, die ganz genauso sei wie sie selbst als kleines Mädchen. Der Stationsvorsteher, noch immer mit seiner roten Uniformmütze, klagte über seine Schwierigkeiten am Alexanderbahnhof, wo er von ausländischen Reisenden belagert wurde. Seine Uhren zeigten alle die genaue Petersburger Zeit, die der mitteleuropäischen Zeit einundsechzig Minuten voraus ist und zwei Stunden und eine Minute weiter als Greenwich. Was war daran schwierig für die Ausländer?

»Warum läßt du dich nicht ins Donez-Becken versetzen?« schlug Ben ihm vor.

»Wie alt ist Ihr Sohn?«

»Neun«, sagte Frank.

»Erklären Sie ihm, daß der Alexanderbahnhof Spitzenbezahlung bringt. Weiter aufsteigen kann man nicht. Die staatlichen Eisenbahnen haben mir nicht mehr zu bieten. Aber er kann ja nichts dafür, er ist jung und mutterlos dazu.«

»Wo ist übrigens Ihre Frau?« fragte Frank. Es stellte sich heraus, daß sie in Moskau niemandem traute und deshalb zurück in ihr Heimatdorf gefahren war, um neue Kellnerinnen für die Frühlingssaison anzuheuern. Sie brachen langsam auf, der Schlittenkutscher wies nämlich zum erstenmal darauf hin, daß das Pferd alt sei.

»Wie alt genau ist es?« fragte Ben. »Es gibt doch Vorschriften, weißt du, wie alt sie höchstens sein dürfen.« Der Kutscher erwiderte, er sei ein kleiner Teufel.

»Kleine Teufel sind sie alle«, sagte Frank, »und jetzt schaffe ich sie erst mal nach Hause in die Lipkastraße.«

Es war, als wären sie jahrelang fort gewesen. Der ganze Haushalt, sogar das Haus selbst schien in Lachen und Weinen auszubrechen. Nur Dunjascha fehlte bei dem Karneval — wie ein Karneval wirkte diese Heimkehr. Dunjascha kam aber fast augenblicklich zu Frank und bat um ihren Inlandspaß, der für alle Reisen über mehr als fünfzehn Meilen Entfernung gebraucht wurde und den man dem Dienstherren aushändigen mußte. Sie wollte gehen, sie war nicht mehr glücklich in einem Haus, in dem man sie kritisierte. Frank nahm den Paß aus dem Schreibtisch in seinem Büro, wo er solche Dinge wegschloß. Er fühlte sich wie ein Mensch mit einer halbverheilten Wunde: Gar nichts tun, nur ja nicht berühren, damit bloß das Schlimme nicht noch schlimmer wird. Nellie hatte ihm keine Nachricht mit den Kindern mitgeschickt, kein einziges Wort, und er sah ein, daß er besser gar nicht darüber nachdachte, weil es sonst vielleicht nicht auszuhalten war. Sein Vater hatte immer behauptet, der menschliche Kopf sei von unbegrenzter Elastizität, und es liege in der Natur der Dinge, daß nie von uns verlangt werde, mehr auf uns zu nehmen, als wir ertragen können. Daran hatte Frank immer seine Zweifel gehabt. Im vergangenen Winter war einer der Maschinisten aus der Druckerei bei Nacht an eine Stelle etwas außerhalb des Windauer Bahnhofs gegangen und hatte sich zwischen die Gleise gelegt. Weil seine Frau ihren Liebhaber in der gemeinsamen Wohnung einquartiert hatte. Aber der Radstand des Zuges war so hoch, daß die Wagen ihn überrollten und ihn ganz unverletzt ließen wie einen betrunkenen Bauern. Nachdem er vier Züge abgewartet hatte, stand er wieder auf, nahm die nächste Trambahn nach Hause und kam seitdem jeden Tag zur Arbeit. Die Frage, was ein Mensch aushalten kann, blieb damit offen.

Das Freudenfest ging weiter und griff auf den Garten über, erfaßte offenbar auch den Hofhund und die Hühner, die den Winter über eingesperrt waren; währenddessen kam Dolly in der braunen Schuluniform des Ekaterinskaja-Gymnasiums und fragte ihn, ob er ihr bei den Hausaufgaben helfe, sie müsse um neun in der Schule sein. Sie packte ihren Atlas aus, ein Lineal und das Geographie-Übungsbuch.

»Wir sind jetzt bei den Britischen Inseln. Wir müssen die Industriegebiete einzeichnen und die Gegenden markieren, in denen überwiegend Schafe gehalten werden.«

»Hattest du die Bücher im Zug mit?« fragte Frank.

»Ja. Ich dachte, ich könnte sie vielleicht noch brauchen, auch wenn ich nicht mehr wieder in die Ekaterinskaja zurückginge.«

»Es war einsam ohne euch im Haus, irgendwie leer.«

»Wir waren doch nicht sehr lange weg.«

»Lange genug für mich, daß ich merken konnte, wie es geworden wäre.«

Dolly fragte: »Hast du nicht gewußt, was Mutter tat?«

»Um die Wahrheit zu sagen, Dolly, nein, ich habe es nicht gewußt.«

»Das dachte ich mir«, sagte sie hastig. »Es war schwer für sie. Schließlich hat sie uns vorher noch nie versorgen müssen. Dunjascha hat alles gemacht. Anuschka wollte nicht stillsitzen. Mutter fragte den Schaffner nach Baldriantropfen, um sie zu beruhigen, aber er hatte keine. Wir hätten natürlich welche mitnehmen sollen, aber ich habe nicht gepackt. Du hättest ihr nicht zumuten sollen, daß sie alles allein schafft. Sie mußte uns zurückschicken, wir waren keine Hilfe für sie. Ich glaube, du hast zu viel von ihr verlangt.«

»Das sehe ich anders, Dolly. Ich kenne meinen Kopf, aber für deine Mutter gilt das auch.«

3

Franks Vater, Albert Reid, war vorausschauend gewesen — vielleicht hatte er nicht weit genug in die Zukunft geblickt, aber in Rußland ist es falsch, zu scharf zu sehen, weil man dadurch nur das Zutrauen verliert. Ihm war klar, daß in nicht allzuferner Zeit britische Investoren, Schlossermeister, Textilfabrikbesitzer, Kesselschmiede, Ingenieure, Rennpferdtrainer und Gouvernanten nicht mehr willkommen sein würden. Dann würden entweder die Russen selbst oder aber die Deutschen alles in die Hand nehmen, aber eine Weile dauerte es wohl noch bis dahin, meinte er. Als er um 1870 seine Firma gründete, war dazu eigentlich nur eine Urkunde nötig, die bescheinigte, daß der Gesellschaftsvertrag der Firma dem britischen Recht entsprach, und eine zweite aus Petersburg, die bestätigte, daß das Unternehmen den Interessen des Russischen Reiches förderlich war. Außerdem brauchte man freilich auch ein stabiles Verdauungssystem, Trinkfestigkeit, vor allem einen Kopf, der hochprozentigen Alkohol vertragen konnte, einen guten Kreislauf und einen Instinkt dafür, wieviel Bestechungsgelder am Platze waren — für die uniformierte und die politische Polizei, die Sekretäre im Ministerium für Import, Handel und Gewerbe und die technischen und Gesundheitsinspektoren —, wenn man zu irgend etwas kommen wollte. Dann waren diese Bestechungen als Geschenke zu bezeichnen, und das war das erste russische Wort, das man lernen mußte. Alle anderen Formalitäten — zum Beispiel waren Bilanzen an die Zentralregierung und die lokale Finanzbehörde zu schicken — waren reiner Papierkram, den er mit der Hilfe seiner Ehefrau abends bei Lampenlicht in dem alten Holzhaus auf dem Werksgelände in der Rogoschskaja erledigt hatte. Wie der russische Adel und die russischen Kaufleute wurden auch die ausländischen Geschäftsleute in eine Rangordnung eingestuft; der Rang richtete sich bei ihnen nach ihrem Kapital und der Menge des Brennstoffs (Braunkohle, Birkenrinde, Anthrazit, Öl), den ihre Fabrik verbrauchte. Reids Rang (Druckmaschinenbau) war nur bescheiden. Franks Vater und Mutter waren die einzigen Gesellschafter. Beide kamen aus großen Familien; das war der Hauptgrund dafür, daß Bert nach Rußland geschickt wurde, um sich dort ein Leben aufzubauen; aber sie selbst hatten nur den einen Sohn. Frank wurde als Kind ein- oder zweimal nach England gebracht und hielt sich während der Besuche bei seinen Verwandten in Salford auf. In Salford fühlte er sich wohl, denn er fühlte sich überall wohl, wo es nur halbwegs möglich war. Als er achtzehn war, ging er nach England zurück und blieb mehrere Jahre, um Maschinenbau und Drucken zu lernen, zuerst am Loughborough-Polytechnikum, dann als Lehrling bei Croppers in Nottingham. Während seiner Lehre bei Croppers, die er ganz ordentlich machte — außerdem spielte er dort zum erstenmal in seinem Leben Fußball —, schrieb sein Vater ihm, daß er zur Stabilisierung des Geschäftes eine eigene Druckerei aufmachen werde, in der Seraphimstraße, dicht am Zentrum von Moskau. Im Augenblick gebe es keine gesetzlichen Einwände dagegen, daß Ausländer Grund und Boden erwarben, solange es sich nicht um Land in Turkestan, im Kaukasus oder in anderen Gegenden handelte, wo man mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Öl stieß; deshalb meinte Bert, er werde das Grundstück relativ billig bekommen. Er wollte zunächst nur Handpressen aufstellen, Akzidenzdruckmaschinen, und abwarten, wie das Geschäft sich anließ. Auf dem Grundstück stand eine alte Lagerhalle, und man konnte den Bau erweitern. Obwohl der Handel noch nicht abgeschlossen war, nannten die Leute das Haus jetzt schon Reidka — Reidchen.