Die Buchhandlung - Penelope Fitzgerald - E-Book

Die Buchhandlung E-Book

Penelope Fitzgerald

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Beschreibung

Florence Green erwirbt in Hardborough, einem verschlafenen Dorf an der Küste Ostenglands, das Old House als zukünftiges Domizil für ihre Buchhandlung. Dass das Gebäude anscheinend von einem Poltergeist besessen und bis auf die Grundmauern feucht ist, bringt sie von ihrem Vorhaben ebensowenig ab wie die Tatsache, dass sie von finanziellen Dingen keine Ahnung hat. Voller Schwung stürzt sie sich in die Vorbereitungen und stattet ihre Buchhandlung liebevoll aus. Die Einwohner des kleinen Städtchens begegnen dem Unternehmen zunächst mit Skepsis, bald stellen sich jedoch erste Stammkunden ein. Als Florence Green aber dann ein gerade erschienenes Buch eines bis dahin unbekannten Autors, Vladimir Nabokov, verkauft, ist die Aufregung groß und weitet sich zu einem Skandal aus ...

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Florence Green erwirbt in Hardborough, einem verschlafenen Dorf an der Küste Ostenglands, das Old House als zukünftiges Domizil für ihre Buchhandlung. Daß das Gebäude anscheinend von einem Poltergeist besessen und bis auf die Grundmauern feucht ist, bringt sie von ihrem Vorhaben ebensowenig ab wie die Tatsache, daß sie von finanziellen Dingen keine Ahnung hat. Voller Schwung stürzt sie sich in die Vorbereitungen und stattet ihre Buchhandlung liebevoll aus. Die Einwohner des kleinen Städtchens begegnen dem Unternehmen zunächst mit Skepsis, bald stellen sich jedoch erste Stammkunden ein. Als Florence Green aber dann Lolita, ein gerade erschienenes Buch eines bis dahin unbekannten Autors, Vladimir Nabokov, verkauft, ist die Aufregung groß …

 Penelope Fitzgerald ist eine genaue Beobachterin, die ihre Figuren mit Sympathie, doch mit einem untrüglichen Blick für die großen und kleinen menschlichen Schwächen zeichnet. Dabei steht sie in der Tradition der großen englischsprachigen Erzähler wie Jane Austen und Henry James.

 Penelope Fitzgerald (1916-2000) studierte in Oxford und war während des Zweiten Weltkrieges Mitarbeiterin bei der BBC. Sie war Dozentin an der Italia Conti Academy und an der Queen's Gate School in London, außerdem arbeitete sie einige Jahre in einer Buchhandlung in Southwold, Suffolk. Sie gehört laut Times

Penelope Fitzgerald

Die Buchhandlung

Roman

Mit einem Nachwort von David Nicholls

Die Originalausgabe erschien 1978 unter dem Titel The Bookshop bei HarperCollins, London.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4346.

© Insel Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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1

1959 wußte Florence Green am Ende mancher Nächte nicht genau, ob sie überhaupt geschlafen hatte. Sie plagte sich nämlich mit der schwierigen Entscheidung über den Kauf eines kleinen Anwesens, des Old House, samt dazugehörigem Lagerschuppen unten am Wasser. Sollte sie die einzige Buchhandlung in Hardborough aufmachen? Wahrscheinlich hielt die Unentschlossenheit sie wach. Einmal hatte sie gesehen, wie ein Fischreiher über die Flußmündung flog und im Flug versuchte, seine Beute, einen Aal, herunterzuschlingen. Der Aal dagegen kämpfte sich ab, dem Schlund des Reihers zu entkommen, und wand sich zu einem Viertel, zur Hälfte oder gelegentlich sogar zu drei Vierteln heraus. Keines der beiden Geschöpfe konnte den Kampf für sich entscheiden, ihr Anblick war zum Erbarmen. Sie hatten sich zuviel vorgenommen. Florence hatte das Gefühl, falls sie wirklich kein Auge zugetan hätte – und oft sagt man das so, meint es aber gar nicht –, müsse wohl der Gedanke an den Reiher sie wach gehalten haben.

Sie hatte ein gutes Herz, obwohl das nicht viel hilft, wenn es um Selbsterhaltung geht. Gut acht Jahre ihrer zweiten Lebenshälfte hatte sie nun schon in Hardborough verbracht und von dem sehr kleinen Kapital gezehrt, das ihr verstorbener Ehemann ihr hinterlassen hatte, und seit kurzem überlegte sie, ob es nicht ihre Pflicht sei, sich selbst und womöglich auch anderen klarzumachen, daß sie aus eigenem Recht existiere. Überleben – so meinten viele am Ort – sei das einzige, was man in der kalten, klaren Luft East Anglias verlangen könne. Was mich nicht umbringt, macht mich stark, dachten die Einwohner: entweder ein hohes Alter oder sofort in der salzigen Erde des Friedhofs begraben sein.

Sie war klein, schmal und drahtig, von vorn wirkte sie unscheinbar und von hinten erst recht. Man redete nicht viel über sie, nicht einmal in Hardborough, wo man jeden schon von weitem kommen sah und alles besprach, was man gesehen hatte. Ihre Kleidung zeigte kleine Anpassungen an die Jahreszeiten. Ihren Wintermantel kannte man, er war von der soliden Art, die immer noch ein Jahr lang hält.

1959 gab es in Hardborough weder eine Imbißstube für Fish-and-Chips noch eine Wäscherei, und Filme wurden nur jeden zweiten Samstagabend vorgeführt; alle diese Dinge entbehrte man, aber niemand hätte daran gedacht, eine Buchhandlung aufzumachen, und niemand hätte Mrs. Green so etwas zugetraut.

»Selbstverständlich kann ich im Augenblick keine bindende Zusage seitens der Bank geben – ich habe keine Entscheidungsbefugnis –, aber ich glaube sagen zu können, daß keine prinzipiellen Bedenken gegen ein Darlehen bestehen. Wir hatten Weisung von der Regierung, zurückhaltend mit Privatkrediten zu sein, aber inzwischen gibt es deutliche Anzeichen für eine Entspannung – damit verrate ich kein Staatsgeheimnis. Natürlich werden Sie wenig oder keine Konkurrenz haben – wie ich höre, soll der Strickladen Fleißiges Bienchen Romane verleihen, aber das fällt nicht ins Gewicht. Sie versichern mir, Sie hätten allerhand Erfahrung mit dem Geschäft.«

Florence setzte an, um zum drittenmal zu erklären, was sie damit gemeint habe; dabei hatte sie sich und ihre Freundin vor Augen, das Haar in Dauerwellen gelegt, Bleistifte an Kettchen um den Hals, junge Verkäuferinnen bei Müller in der Wigmore Street – vor fünfundzwanzig Jahren war das gewesen. Am besten erinnerte sie sich an die Bestandsaufnahme: Mr. Müller bat immer erst um Ruhe, bevor er mit wohlberechneter Verzögerung die Liste der jungen Damen und ihrer Partner verlas, die durch Los bestimmt waren, die tägliche Inventur durchzuführen. Die weiblichen Angestellten waren in der Überzahl, und sie hatte Glück, daß sie 1934 mit Charlie Green, dem Einkäufer für Lyrik, ein Paar bildete.

»Als junges Mädchen habe ich das Geschäft gründlich gelernt«, sagte sie. »Ich kann mir nicht denken, daß es sich seitdem wesentlich verändert hat.«

»Aber Sie waren nie in leitender Stellung. Nun, dazu ließe sich das eine oder andere Sinnvolle sagen. Nennen Sie es Beratung, wenn Sie so wollen.«

In Hardborough gab es nur sehr neue Unternehmen, und sobald sich eines abzeichnete, geriet die stehende Luft in der Bank in leichte Unruhe, so wie eine Brise vom Meer noch tief im Binnenland etwas Bewegung bringt.

»Ich darf Ihre Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen, Mr. Keble.«

»Oh, das überlassen Sie nur mir. Vielleicht kann ich es so sagen: Wenn Sie sich mit dem Vorhaben tragen, eine Buchhandlung aufzumachen, müssen Sie sich fragen, was Sie sich davon eigentlich versprechen. Dies ist die erste Frage, die man sich bei einem Geschäft, gleich welcher Art, stellen muß. Hoffen Sie, Ihrer kleinen Stadt damit einen brauchbaren Dienst zu erweisen? Hoffen Sie auf merklichen Profit? Oder laufen Sie, Mrs. Green, vielleicht nur immer so mit, ohne recht zu verstehen, daß uns mit den sechziger Jahren womöglich eine gewaltig veränderte Welt bevorsteht? Ich habe mir oft gesagt: Jammerschade, daß es keinen allgemein anerkannten Lehrgang für Kleinunternehmer …«

Offenkundig gab es einen anerkannten Lehrgang für Filialleiter einer Bank. Mr. Keble war jetzt in vertrautem Fahrwasser, und seine Stimme gewann mit der Strömung Fahrt. Er sprach von der Notwendigkeit einer professionellen Buchführung, von Tilgungsplänen für Darlehen und Opportunitätskosten.

»… Ich möchte Sie auf einen Punkt hinweisen, Mrs. Green, der Ihrer Aufmerksamkeit höchstwahrscheinlich entgangen ist, uns dagegen, die wir aufgrund unserer Position einen größeren Überblick haben, ganz klar vor Augen steht. Mein Punkt ist folgender: Wenn zu einer beliebigen Zeit der Kapitalzufluß den Kapitalabfluß nicht ausgleichen kann, läßt sich mit Sicherheit vorhersagen, daß finanzielle Schwierigkeiten vor der Tür stehen.«

Das wußte Florence längst, seit ihrem ersten Zahltag, als sie mit sechzehn Jahren Selbstversorgerin geworden war. Mit Mühe hielt sie eine scharfe Erwiderung zurück. Was war aus ihrem Vorsatz geworden? Beim Überqueren des Marktplatzes, mit Blick auf das Bankhaus, dessen solide rote Backsteine dem ewigen Wind die Stirn boten, hatte sie sich fest vorgenommen, Verstand und Fingerspitzengefühl an den Tag zu legen.

»Zur Frage der Ware, Mr. Keble. Sie wissen, daß man mir angeboten hat, den größten Teil dessen, was ich brauche, von Müller zu kaufen, da die Firma ja jetzt aufgelöst wird.« Sie brachte es fertig, dies resolut vorzubringen, obwohl sie die Schließung als einen persönlichen Angriff auf ihre Erinnerungen empfunden hatte. »Darüber habe ich noch keinen Überblick. Was das Gebäude betrifft, so stimmten Sie mir zu, daß £ 3500 ein angemessener Preis für das Grundeigentum am Old House und dem Austernschuppen sei.«

Zu ihrer Überraschung zögerte der Filialleiter.

»Die Immobilie steht jetzt schon lange leer. Das ist natürlich Sache Ihres Maklers und Ihres Anwaltes – Thornton, richtig?« Das war ein übertriebener Schnörkel, eine gewisse Schwäche, denn in Hardborough gab es nur zwei Anwälte. »Aber ich würde doch meinen, daß der Preis sich noch etwas drücken ließe … Das Haus läuft Ihnen nicht davon, wenn Sie beschließen, noch etwas zuzuwarten … der Verfall, … die Feuchtigkeit …«

»Die Bank ist das einzige Gebäude in Hardborough, das nicht feucht ist«, antwortete Florence. »Vielleicht sind Sie zu anspruchsvoll geworden, weil Sie alle Tage hier arbeiten.«

»… Und dann ist mir zu Ohren gekommen – ich in meiner Position darf Ihnen sagen, so wie ich es verstehe, ist wohl der Vorschlag geäußert worden –, daß das Haus auch anderen Zwecken dienen könne – obwohl selbstverständlich immer die Möglichkeit zum Wiederverkauf besteht.«

»Natürlich möchte ich die Kosten auf ein Minimum beschränken.« Der Filialleiter wollte schon ein verständnisvolles Lächeln aufsetzen, sparte sich jedoch die Mühe, als Florence schneidend hinzufügte: »Aber ich habe nicht die Absicht, wieder zu verkaufen. Es ist so eine Sache, in mittlerem Alter noch einen Schritt voran zu tun, aber da ich es nun einmal gewagt habe, steht mir nicht der Sinn danach, einen Rückzieher zu machen. Welchem Zweck könnte das Old House sonst dienen, was meinen die Leute? Warum haben sie in den letzten sieben Jahren nichts unternommen? Die Dohlen haben darin genistet, die Hälfte der Ziegel waren fort, nach Ratten hat es gestunken. Eignet es sich da nicht besser zum Aufenthaltsort für Bücherfreunde?«

»Sprechen Sie von Kultur?« sagte der Filialleiter, und in seiner Stimme hielten Mitleid und Respekt sich die Waage.

»Kultur ist etwas für Amateure. Ich kann mir kein Verlustgeschäft leisten. Shakespeare war ein Fachmann.«

Florence ließ sich zu leicht aus der Fassung bringen, aber wenigstens hatte sie das große Glück, daß ihr etwas sehr am Herzen lag. Der Filialleiter antwortete beruhigend, zum Lesen brauche man viel Zeit: »Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit zur Verfügung. Wissen Sie, die Leute machen sich ganz falsche Vorstellungen vom Dienstschluß in der Bank. Unter uns gesagt, ich habe selten Feierabend. Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ein gutes Buch auf dem Nachttisch ist von unschätzbarem Wert für mich. Wenn ich endlich zur Ruhe komme, übermannt mich der Schlaf, kaum daß ich ein paar Seiten gelesen habe.«

Sie überschlug, daß der Filialleiter bei diesem Lesetempo länger als ein Jahr mit einem Buch auskomme. Ein Buch kostete durchschnittlich zwölf Shilling und Sixpence. Sie seufzte.

Sie kannte Mr. Keble kaum. So ging es fast allen Leuten in Hardborough. Obwohl Presse und Rundfunk ihnen ständig versicherten, Großbritannien befinde sich im wirtschaftlichen Aufschwung, waren die meisten Einwohner von Hardborough knapp bei Kasse und gingen dem Bankleiter von vornherein aus dem Weg. Der Heringsfang warf nur noch wenig ab, die Zahl der Arbeitsplätze in der Region war zurückgegangen, und viele Pensionäre lebten von einem festen Einkommen. Diese Menschen erwiderten Mr. Kebles Lächeln nicht und grüßten auch nicht zurück, wenn er ihnen aus dem hastig heruntergekurbelten Fenster seines Austin Cambridge zuwinkte. Vielleicht redete er deshalb so lange mit Florence, auch wenn die Unterhaltung kaum geschäftsmäßig war. Vielmehr hatte sie nun seiner Ansicht nach eine unstatthaft persönliche Ebene erreicht.

Man könnte Florence Green wie Mr. Keble einsame Gestalten nennen, aber damit waren sie in Hardborough nichts Besonderes, es gab viele Einsame dort. Die ortsansässigen Naturverbundenen, der Reetschnitter, der Postbote, der Marschmann Raven, sie alle radelten jeder für sich gegen den Wind, beobachtet von lauter Beobachtern, die ihre Uhren nach dem Wiederauftauchen der Radler am Horizont stellen konnten. Nicht alle diese Einzelgänger waren im Freien zu sehen; manche gingen nie aus dem Haus. Mr. Brundish, der aus einer der ältesten Familien Suffolks stammte, lebte in seinem Haus so zurückgezogen wie ein Dachs im Bau. Wenn er im Sommer herauskam, ganz in dunkelgraugrünem Tweed, dann sah er aus wie ein beweglicher Stechginsterbusch vor einer Stechginsterhecke oder wie Erde auf Schlick. Sein abweisendes Betragen nahm man mit leisem Murren hin wie das Wetter, das morgens strahlend war und sich später immer eintrübte, und wenn es noch so vielversprechend begonnen hatte.

Der Ort selbst war eine Insel zwischen Meer und Fluß; er zog sich mürrisch in sich zusammen, sobald er die Kälte spürte. Ungefähr alle fünfzig Jahre hatte er eine weitere Verbindung zur Außenwelt verloren – so als ob er achtlos oder gleichgültig gegenüber derlei sei. Seit 1850 war der Fluß Laze nicht mehr schiffbar, und die Anlegekais und die Fähren rotteten vor sich hin. 1910 stürzte die Drehbrücke ein, und von da an mußte der gesamte Verkehr den sechzehn Kilometer langen Umweg über Saxford machen, um den Fluß überqueren zu können. 1920 wurde die alte Bahnlinie stillgelegt. Die Kinder von Hardborough, lauter Wattgänger und Taucher, hatten zum größten Teil noch nie einen Zug von innen gesehen. Den verlassenen Regionalbahnhof betrachteten sie mit abergläubischer Ehrfurcht. Rostige Blechschilder, Reklame für FrysKakao und Iron Jelloids, hingen dort im Wind.

Die Sturmflut von 1953 prallte gegen die Befestigungsmauer und brachte sie zum Einsturz, so daß es – außer bei Tiefebbe – gefährlich war, die Hafeneinfahrt zu passieren. Nun konnte man nur noch mit dem Ruderboot über den Fluß Laze kommen. Der Fährmann schrieb die Abfahrtszeiten mit Kreide an die Tür seines Bootsschuppens, aber der lag am anderen Ufer, so daß niemand in Hardborough genau wissen konnte, wann die Fähre kommen würde.

Nach ihrem Gespräch in der Bank ging Florence spazieren; daß alle im Ort wußten, wo sie gewesen war, nahm sie gelassen hin. Sie überquerte die Holzplanken auf den Deichen; ihre Schritte scheuchten kleine Tiere auf – sie wußte nicht, von welcher Art –, die vor ihr raschelnd und platschend ins Wasser flüchteten. Über ihrem Kopf trieben Möwen und Krähen in den Luftströmungen. Der Wind hatte gedreht und wehte landeinwärts.

Hinter den Marschen kam der Müllplatz, und dann fingen die grob beackerten Felder an, die den Bauern gerade gut genug zum Einzäunen waren. Sie hörte, wie jemand ihren Namen rief, oder sie sah es, denn die Worte wurden sofort vom Wind weggeweht. Der Marschmann wollte etwas von ihr.

»Guten Morgen, Mr. Raven.« Das war auch nicht zu hören.

Wenn sonst niemand zur Hand war, arbeitete der Marschmann als Ersatztierarzt. Er wartete auf dem Gemeindefeld, wo jeder, der wollte, gegen fünf Schilling pro Woche Vieh weiden lassen konnte. Am anderen Ende stand ein alter Fuchswallach, ein Suffolk Punch, die Ohren, Pflöcke auf seinem runden Schädel, drehten sich nervös spielend in Richtung der Menschen auf seinem Terrain. Mißtrauisch und steifbeinig behauptete das Tier seinen Platz mit dem Rücken zum Zaun.

Als sie nur noch fünf Meter von Raven entfernt war, begriff sie, daß er sich ihren Regenmantel leihen wollte. Seine eigenen Kleidungsstücke waren starr, Schicht um Schicht, und nicht auf Kommando abzulegen.

Raven bat nie um etwas, wenn es nicht absolut notwendig war. Er nahm den Mantel mit einem Nicken entgegen, und während sie sich im Windschatten der Dornenhecke warm hielt, so gut es ging, schritt er ruhig übers Feld auf das angespannt beobachtende alte Tier zu. Mit geblähten Nüstern folgte es jeder Bewegung, beruhigte sich, weil Raven kein Halfter in der Hand hielt, und weigerte sich, mehr zu verstehen. Am Ende mußte es sich aber doch entscheiden, ob es begreifen wollte oder nicht, und ein heftiger Schauer überlief es von der Nase bis zum Schwanz, dazu seufzte es. Dann ließ es den Kopf sinken, und Raven legte ihm einen Mantelärmel um den Hals. Mit einer letzten Geste der Unabhängigkeit wandte es den Kopf zur Seite und tat so, als suche es an der feuchten Stelle unter dem Zaun nach frischem Gras. Da war keines, und es trottete ungelenk hinter dem Marschmann her, fort von den gleichgültigen Rindern, hin zu Florence.

»Was fehlt ihm denn, Mr. Raven?«

»Er frißt, aber er hat nichts vom Gras. Seine Zähne sind abgenutzt, stumpf, daran liegt es. Er reißt das Gras ab, aber kauen kann er es nicht.«

»Was können wir da machen?« fragte sie hilfsbereit.

»Mit der Feile aufrauhen, das kann ich machen«, antwortete der Marschmann. Er zog ein Halfter aus der Tasche und gab den Regenmantel zurück. Sie drehte sich in den Wind, um sich in ihr Eigentum einzuknöpfen. Raven führte das alte Roß.

»Ob Sie jetzt die Zunge packen und festhalten könnten, Mrs. Green? Jeden würd' ich nicht fragen, aber Sie werden mir nicht scheu, das weiß ich.«

»Woher wissen Sie das?« fragte sie.

»Es heißt, Sie wollen einen Buchladen aufmachen. Das zeigt doch, daß Sie sich auf ziemlich riskante Sachen einlassen.«

Er schob den Finger unter die schlappe, faltige Haut an der Kinnbacke des Tieres, und allmählich öffnete sich dessen Maul zu einem übertriebenen Gähnen. Gelbe Zahnstummel standen entblößt. Florence packte die große, glitschige, oben glatte, unten rauhe dunkle Zunge mit beiden Händen und umklammerte sie wacker, wie ein Walfänger aus alten Zeiten, um sie von den Zähnen wegzuhalten. Das Pferd stand jetzt schweißüberströmt still und wartete auf sein Ende. Nur die Ohren zuckten im Protest gegen das, was das Leben ihm widerfahren ließ. Raven raspelte mit einer breiten Feile entschlossen auf den Kauflächen der Mittelzähne herum.

»Festhalten, Mrs. Green. Nicht nachlassen. Das Ding ist schlüpfrig wie die Sünde, ich weiß.«

Die Zunge wand sich wie ein Wesen mit Eigenleben. Das Pferd stampfte erst mit dem einen Fuß, dann mit dem nächsten, als sei ihm zweifelhaft, ob sie alle vier noch Bodenberührung hätten.

»Er kann doch nicht nach vorn ausschlagen, Mr. Raven, oder doch?«

»Wenn er will, kann er.«

Ihr fiel wieder ein, daß ein Suffolk Punch alles kann, nur nicht galoppieren.

»Warum finden Sie eine Buchhandlung riskant?« schrie sie gegen den Wind. »Wollen die Leute in Hardborough keine Bücher kaufen?«

Raven raspelte eifrig und sagte: »Irgendwie seltene Sachen wünschen sie sich nicht mehr, den Wunsch haben sie verloren. Bücklinge zum Beispiel verkaufen sich viel besser als Räucherheringe, die nur angeräuchert sind und viel feiner schmecken. Und Sie wollen mir jetzt bestimmt erzählen, daß Bücher keine Seltenheit sein sollten.«

Endlich losgelassen, seufzte das Pferd hohl und starrte sie an, als ob es vollkommen desillusioniert sei. Aus den Tiefen seines artigen Bauches kam ein metallischer Ton, mehr Trompete als Horn, und erstarb in einem Glucksen. Von seinem Leib stiegen Staubwolken auf wie beim Teppichklopfen aus einem Vorleger. Damit schien die Sache abgetan; das Tier trottete von dannen, bis es in sicherem Abstand war, und senkte den Kopf zum Grasen. Im nächsten Augenblick entdeckte es ein leuchtend grünes Büschel Angelika und fing an, wie verrückt zu fressen.

2

Das Haus, zu dessen Kauf Florence sich entschlossen hatte, trug seinen Namen nicht ohne Grund. Neubauten gab es freilich kaum in der Innenstadt diesseits der halbfertigen Wohnsiedlung im Nordwesten, viele Gebäude stammten aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, aber keines kam an Alter dem Old House gleich, und noch älter war nur Mr. Brundishs Holt House. Vor fünfhundert Jahren aus Lehm, Stroh, Zweigen und Eichenbalken gebaut, hatte das Old House die Zeiten dank seines tiefen Flutkellers überdauert. 1953 hatte in diesem Keller das Meerwasser gut zwei Meter hoch gestanden, bis die Fluten sich endlich verlaufen hatten. Ein Rest Meerwasser war allerdings immer noch darin.

Das Haus hatte ein großes Vorderzimmer, die Küche im rückwärtigen Teil und oben unter dem Schrägdach ein Schlafzimmer. Nicht daran anschließend, sondern zwei Straßen weiter, direkt am Ufer, stand der Austernschuppen, der zum Anwesen gehörte; sie hatte gehofft, ihn als Lagerplatz für die Bücher nutzen zu können. Aber es hatte sich herausgestellt, daß der Putz aus Gründen der Bequemlichkeit mit Sand vom Strand gemischt worden war, und Seesand wird nie trocken. Alle Bücher, die hier lagerten, würden sich binnen Tagen in der Feuchtigkeit wellen. Daß Florence diese Enttäuschung erlebt hatte, gefiel den Kaufleuten von Hardborough, und man fand sie sympathisch. Die Alteingesessenen hatten das mit der Feuchtigkeit längst gewußt und hätten es ihr sagen können. Nun spürten sie, wie der Schwerpunkt der intellektuellen Macht sich verlagerte, und wünschten Mrs. Green Glück.

Wer schon länger in Hardborough wohnte, wußte auch, daß es in ihrem Anwesen spukte. Darüber schwieg man sich nicht aus, dieses Thema war allen vertraut. Zum Beispiel konnte man in der Dämmerstunde am Anlegeplatz der Fähre bisweilen eine Frauengestalt sehen, die auf die Heimkehr ihres Sohnes wartete, obwohl dieser schon vor hundert Jahren ertrunken war. Aber der Spuk im Old House hatte nichts Rührendes. Das Haus war von einem Poltergeist besessen; wie die Feuchtigkeit und ein ungelöstes Kanalisationsproblem trug auch er sein Teil dazu bei, daß der Besitz sich schwer verkaufen ließ. Der Makler war keineswegs gesetzlich verpflichtet, den Poltergeist zu erwähnen, allerdings spielte er mit der Wendung ungewöhnlicher Zeitgeist vielleicht darauf an.

Poltergeister hießen in Hardborough Klopfer. Sie konnten jahrelang in Aktion sein und dann plötzlich aufhören, aber niemand, der diesen Lärm einmal vernommen hatte – nach einem wütenden vergeblichen Kampf hörte er sich an, als ob das Wesen, das dahintersteckte, nicht herauskommen könne –, würde ihn je mit etwas anderem verwechseln. »Ihr Klopfer hat sich an meinem Schraubenschlüssel zu schaffen gemacht«, sagte der Klempner ohne Häme, als Florence nachschaute, wie die Arbeit voranging. Seine Werkzeugtasche war umgekippt und ausgeleert, die Werkzeuge durcheinandergeworfen; hellblaue Kacheln mit hübschen aufgemalten Wasserlilien lagen überall im oberen Flur herum. Das Badezimmer mit seinen zur Hälfte montierten Wasserrohren wirkte wachsam wie ein Augenzeuge. Als der wohlwollende Klempner zum Tee gegangen war, schloß Florence die Badezimmertür, wartete einen Moment und spähte dann prüfend hinein. Dabei malte sie sich aus, daß jemand, der sie jetzt beobachtete, sie leicht für verrückt halten konnte. ›Verrückt‹ sagte man in Hardborough allerdings nicht, sondern nur: ›nicht ganz richtig‹, auch war in der Sprache Hardboroughs nichts ›sehr schlecht‹, sondern allenfalls ›mäßig‹. »Wenn das so weitergeht, bin ich eines Tages vielleicht nicht mehr ›ganz richtig‹«, erklärte sie dem Klempner und wünschte sich, er würde nicht ›Ihr Klopfer‹ sagen. Der Klempner, Mr. Wilkins, war der Meinung, sie würde schon durchhalten.

Bei solchen Gelegenheiten fehlten ihr die guten Freunde