Das Dampfhaus - Jules Verne - E-Book

Das Dampfhaus E-Book

Jules Verne.

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Beschreibung

Der englische Ingenieur Banks baut im Auftrage eines indischen Maharadschas einen stählernen, Gehbewegungen ausführenden Elefant, der in der Lage ist, zwei rollende Bungalows zu ziehen. Der Elefant wird von einer Dampfmaschine angetrieben, der Schornstein befindet sich in dem Rüssel. Durch eine geschlossene Bodengruppe ist der Koloss auch schwimmfähig und seine Beine können im Wasser wie Schaufelräder zum Antrieb genutzt werden. Da auch die beiden Anhänger als Amphibienfahrzeug ausgebildet sind, kann das Fahrzeug auch Flüsse überqueren. Nach dem Tod des Maharadschas weiß Banks nicht, was er mit dem Fahrzeug anfangen soll – also lädt er drei seiner Freunde ein, mit ihm in dem Gefährt durch Indien zu reisen: den Franzosen Maucler, Ich-Erzähler des Romans, den jagdbesessenen Hauptmann Hod und Oberst Munro, der die Reise nur mitmacht, um sich unterwegs an seinem Todfeind Nana Sahib für die Ermordung seiner Ehefrau Laurence während des Sepoy-Aufstandes im Jahre 1857 zu rächen. Der erste Band schildert die Reise nach Norden. Anschließend erleben sie im Urwald einige Jagdabenteuer. Unter anderem wird Hauptmann Hod, der sich im Jagdfieber verirrt, durch den Elefanten aus dem brennenden Dschungel gerettet, außerdem lernt der Leser Nana Sahib kennen und erfährt von seinem Plan, die Inder zu einem erneuten Aufstand gegen die englischen Kolonialherren aufzustacheln. Der zweite Band schildert die Begegnung der Reisenden mit dem Tierfänger Mathias van Guitt, diverse Jagdabenteuer in den Wäldern am Fuße des Himalaya, die Zerstörung der Bungalows durch echte Elefanten und die Konfrontation Oberst Munros mit seinem Todfeind, der ihn vor eine Kanone bindet.

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Jules Verne

Das Dampfhaus

Das Dampfhaus

Illustrierte Ausgabe

Jules Verne

Impressum

Texte: © Copyright by Jules Verne

Umschlag:© Copyright by Walter Brendel

Illustrationen: © Copyright by Léon Benett

Übersetzer: © Copyright by Unbkannt

Verlag:Das historische Buch, 2023

Mail: [email protected]

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Erster Band.

Zweiter Band.

Erster Band.

Erstes Capitel. Ein Preis auf einen Kopf.

»Zweitausend Pfund Sterling Belohnung werden hiermit Demjenigen zugesichert, der, todt oder lebendig, einen der früheren Führer bei dem Aufruhre der Sipahis einliefert, welcher sich derzeit in der Präsidentschaft Bombay aufhalten soll, nämlich den Nabab Dandu Pant, bekannter unter dem Namen...«

So lautete eine amtliche Bekanntmachung, die am 6. März 1876 gegen Abend in Aurungabad durch öffentlichen Anschlag verbreitet worden war.

Das letzte Wort, ein berüchtigter Name, den die Einen ebenso tief verwünschten, wie ihn Andere heimlich bewunderten, fehlte an dem Plakate, das man vor nur kurzer Zeit an der Mauer eines verfallenen Bungalow am Ufer der Doudhma angeheftet hatte.

Jener Name fehlte aber, weil der untere Theil des Placats, auf dem er mit fetten Lettern gedruckt stand, von der Hand eines Fakirs, den Niemand an dem eben menschenleeren Flußufer bemerkt, abgerissen worden war. Gleichzeitig mit obigem Namen war auch der des General-Gouverneurs der Präsidentschaft Bombay, die Contrasignatur der Unterschrift des Vicekönigs von Indien verschwunden.

Was mochte wohl der Beweggrund jenes Fakirs sein? Hoffte er vielleicht, daß der Empörer von 1857 durch die Zerreißung der Bekanntmachung der gerichtlichen Verfolgung und der ihm drohenden Verurtheilung entgehen könne? Durste er glauben, daß eine so berüchtigte Persönlichkeit mit den verstreuten Fetzen jenes Papierstückes unauffindbar werden könne?

Das wäre thöricht gewesen.

An den Wänden der Häuser, Paläste, Moscheen und Hôtels von Aurungabad fanden sich ja die gleichen Placate in Menge. Außerdem wanderte ein öffentlicher Ausrufer durch die Straßen der Stadt, der die Bekanntmachung des Statthalters mit lauter Stimme vorlas. Die Bewohner der geringsten Flecken der Provinz wußten es schon, daß ein wirkliches Vermögen für die Einlieferung Dandu Pant's versprochen war. Vor Ablauf von zwölf Stunden mußte sein vergeblich vernichteter Name durch die ganze Provinz in aller Leute Munde sein. Waren die Nachrichten zutreffend, hatte der Nabab wirklich in diesem Theile Hindostans Zuflucht gesucht, so fiel er doch ohne Zweifel über lang oder kurz irgend welchen Leuten in die Hände, da ja Alle an seiner Ergreifung ein erklärliches Interesse hatten.

Welchem Gefühle gehorchte also jener Fakir, als er das eine Exemplar der schon tausendfach verbreiteten Bekanntmachung zerriß?

Wahrscheinlich dem des Zornes, vielleicht auch dem einer inneren Verachtung, denn er zuckte dabei mit den Achseln und begab sich nachher sorglos in das volkreichste und ärmlichste Quartier der Stadt.

Man nennt »Dekkan« den größeren Theil der ostindischen Halbinsel zwischen den westlichen und östlichen Ghats. Gewöhnlich bezeichnet man damit auch die ganze Südhälfte Indiens, diesseits des Ganges. Dekkan, dessen Name im Sanskrit »Süden« bedeutet, umfaßt mehrere Provinzen der Präsidentschaften Madras und Bombay. Eine der wichtigsten darunter ist die Provinz Aurungabad, deren Hauptstadt ehemals als die von ganz Dekkan galt.

Im 17. Jahrhundert verlegte der berühmte Mongolenkaiser Aureng-Zeb seine Hofhaltung nach jener Stadt, die schon in der ältesten Geschichte Hindostans unter dem Namen Kirkhi vorkam. Sie zählte damals wohl hunderttausend Einwohner, gegen fünfzigtausend heutzutage unter der Herrschaft der Engländer, welche dieselbe für den Nizam von Haiderabad verwalten. Sie ist jedoch eine der gesündesten Städte der Halbinsel und bisher von der furchtbaren asiatischen Cholera, wie von den in Indien so verheerend auftretenden Fiebern verschont geblieben.

Es war ein Mann von hohem Wuchse.

Aurungabad birgt noch ehrwürdige Reste seines früheren Glanzes. Der am rechten Ufer der Doudhma errichtete Palast des Großmoguls, das Mausoleum der Favoritsultanin Schah Jahan's, des Vaters Aureng-Zeb's, die nach dem Muster des schönen Tadsch in Agra erbaute Moschee, welche ihre vier Minarets um eine schlanke Kuppel erheben, und noch andere, architektonisch künstlerische, reich verzierte Monumente bezeugen die Macht und Herrlichkeit des berühmtesten Eroberers von Hindostan, der dieses Reich, dem er noch Kabul und Assam hinzufügte, zu einem unvergleichlichen Grade von Gedeihen erhob.

Trotz der, wie erwähnt, beträchtlichen Verminderung der Bewohnerzahl Aurungabads konnte sich ein Einzelner doch noch leicht genug unter dessen bunt gemischter Bevölkerung verbergen. Der Fakir, mochte es nun ein wirklicher oder falscher sein, fiel unter jener an Typen reichen Menge in keiner Weise auf. Seine Genossen überschwemmen ja ganz Indien.

Sie bilden im Verein mit den »Sayeds« einen religiösen Bettelorden, sprechen, zu Pferd oder zu Fuße, um Almosen an und wissen ein solches zu erzwingen, wenn man es nicht gutwillig darreicht. Sie spielen wohl auch die Rolle freiwilliger Märtyrer und genießen ein hohes Ansehen bei den niederen Kasten der Hindus.

Der Fakir, von dem hier die Rede ist, war ein Mann von hohem Wuchse, denn er maß über fünf Fuß neun Zoll englisch. Die Vierzig hatte er kaum mit ein bis zwei Jahren überschritten. Seine Erscheinung erinnerte, vorzüglich durch den Glanz der schwarzen, immer aufmerksamen Augen, an den schönen Maharatten-Typus, doch hätte man die sonst so seinen Züge seiner Race in Folge der tausend Pockengruben auf seinen Wangen an ihm nur schwierig wieder erkannt. Der noch im kräftigsten Alter stehende Mann schien sehr gewandt und stark zu sein. Als besonderes Kennzeichen fehlte ihm ein Finger der linken Hand. Das Haupthaar trug er röthlich gefärbt und ging halb nackt, ohne Fußbekleidung, kaum bedeckt mit einem schlechten, gestreiften Wollenhemd, das um den Leib zusammengehalten war. Auf seiner Brust sah man die Embleme des erhaltenden und des zerstörenden Princips der Hindu-Götterlehre, das Löwenhaupt der vierten Fleischwerdung Wischnu's, und die drei Augen nebst dem symbolischen Dreizack des wilden Siva.

Inzwischen herrschte eine tiefgreifende und leicht erklärliche Erregung in den Straßen Aurungabads, vorzüglich da, wo sich die kosmopolitische Bevölkerung der ärmeren Stadttheile zusammendrängte.

Hier wimmelte es von Menschen vor den baufälligen Hütten, die ihnen als Wohnung dienten. Männer, Weiber, Kinder, Greise, Europäer und Eingeborne, Soldaten der königlichen und der einheimischen Regimenter, Bettler jeder Art, Landleute aus der Umgegend – Alles schwirrte, sprach und gesticulirte durcheinander, erläuterte die Bekanntmachung und erwog die Aussichten zur Gewinnung der ungeheueren, von der Regierung versprochenen Prämie. Selbst vor einem Lotterie-Rade, das einen gleich großen Hauptgewinn von zweitausend Pfund enthielt, hätte die Aufregung der Gemüther nicht größer sein können. In diesem Falle kommt ja noch hinzu, daß es in Jedes Hand gegeben war, ein glückliches Los zu ziehen – dieses Los war der Kopf Dandu Pant's. Freilich gehörte etwas Glück dazu, den Nabab erst aufzufinden, und dann etwas Muth, sich desselben zu bemächtigen.

Der Fakir – offenbar der Einzige, dem die Gewinnung jener Prämie nicht am Herzen zu liegen schien – schlenderte zwischen den Gruppen umher, wobei er manchmal, auf deren Gespräche lauschend, stehen blieb, wie Einer, der sich erlauschte Worte zunutze machen will. Nirgends mischte er sich in die Unterhaltung; doch wenn sein Mund auch stumm blieb, so feierten seine Augen und Ohren doch keineswegs.

»Erkennst Du mich nun wieder!«

»Zweitausend Pfund für die Auffindung des Nabab! rief da der Eine, die Hände verlangend zum Himmel emporstreckend.

– Nicht für die Auffindung, erwiderte ein Anderer, sondern für dessen Festnahme, und das ist doch ein ganz ander' Ding!

– Wahrlich, das ist nicht der Mann dazu, sich ohne hartnäckige Gegenwehr gefangen nehmen zu lassen.

– Sagte man aber kürzlich nicht, er sei in den Dschungeln von Nepal dem Fieber erlegen?

– Daran ist kein wahres Wort! Der schlaue Dandu Pant ließ sich nur für todt ausgeben, um desto ungestörter leben zu können.

– Ja, es ging sogar das Gerücht, er sei inmitten seines Lagers an der Grenze beerdigt worden.

– Eine falsche Todtenfeier, nur um Andere irre zu führen!«

Der Fakir hatte mit keiner Wimper gezuckt, als er das letzte mit so zweifelloser Sicherheit behaupten hörte. Seine Stirn legte sich jedoch unwillkürlich in Falten, als er einen Hindu – den lebhaftesten der ganzen Gruppe in seiner Nähe – folgende Einzelheiten erzählen hörte, die viel zu genau waren, um erfunden zu sein.

»Es steht fest, begann der Hindu, daß sich der Nabab im Jahre 1859 nebst seinem Bruder Balao Rao und dem Ex-Rajah von Gonda, Debi Bux Singh, nach einem Lager am Fuße der Gebirge von Nepal geflüchtet hatte.

Dort, wo ihnen die englischen Truppen zu nahe an der Ferse saßen, beschlossen alle Drei, über die indo-chinesische Grenze zu treten. Bevor es dazu kam, ließen der Nabab und seine beiden Begleiter, um das entstandene Gerücht ihres Todes zu bekräftigen, ihre eigene Beerdigung in's Werk setzen; begraben wurde von ihnen dabei freilich nur ein Finger der linken Hand, den sie zur Zeit jener Ceremonie abschnitten.

– Doch woher wißt Ihr das? fragte einer der Zuhörer den mit so großer Sicherheit sprechenden Hindu.

– Ich war bei der Leichenfeierlichkeit selbst anwesend, erwiderte derselbe. Dandu Pant's Soldaten hatten mich gefangen, und erst sechs Monate später gelang es mir zu entfliehen.«

Während der Hindu auf so überzeugende Weise sprach, verlor der Fakir ihn nicht aus dem Blicke. In seinen Augen leuchtete ein Blitz auf. Seine verstümmelte Hand hielt er sorglich versteckt unter dem Wollengewebe, das seine Brust verhüllte. Er horchte, ohne ein Wort zu sagen, aber seine Lippen zitterten und zeigten dabei eine Reihe spitzer Zähne.

»Ihr kennt also den Nabab von Person? fragte man den ehemaligen Gefangenen Dandu Pant's.

– Gewiß, versicherte der Hindu.

– Und würdet ihn auch wieder erkennen, wenn er Euch zufällig vor die Augen käme?

– So gut wie mich selbst.

– Nun, da habt Ihr ja einige Aussicht, die Belohnung von zweitausend Pfund zu erlangen! rief einer der Umstehenden mit nur schlecht verhehltem Neide.

– Vielleicht... meinte der Hindu, wenn es sich bestätigt, daß der Nabab die Unklugheit begangen hätte, sich bis in die Präsidentschaft Bombay herunter zu wagen, was mir nicht besonders wahrscheinlich dünkt.

– Was sollte er hier auch vorhaben?

– Jedenfalls sucht er eine neue Empörung anzuzetteln, erklärte Einer aus der Gruppe, wenn nicht unter den Sipahis, so doch unter der Landbevölkerung des Innern.

– Wenn die Regierung behauptet, daß seine Anwesenheit in der Provinz gemeldet worden sei, meinte ein Anderer aus der Kategorie jener Leute, welche überzeugt sind, daß eine Behörde sich niemals täuschen könne, so wird die Regierung auch verläßliche Nachrichten darüber besitzen.

– Mag sein! warf der Hindu ein. Brahma gebe, daß Dandu Pant mir in den Weg kommt und mein Glück ist gemacht!«

Der Fakir wich einige Schritte zurück, verlor aber des Nabab früheren Gefangenen nicht aus den Augen.

Schon ward es allmählich dunkel, doch das Leben und Treiben auf den Straßen von Aurungabad verminderte sich nicht. Der Gespräche bezüglich des Nabab wurden nur noch mehr. Hier sagte man, daß er in der Stadt selbst gesehen worden, dort, daß er schon wieder weit weg sei. Man behauptete auch, ein aus dem Norden abgesendeter Eilbote habe dem Statthalter die Anzeige von der Verhaftung Dandu Pant's überbracht. Um neun Uhr Abends wußten die Bestunterrichteten, er befinde sich schon im Gefängniß der Stadt in Gesellschaft einiger Thugs, welche darin seit über dreißig Jahre schmachteten, und werde am nächsten Morgen mit Tagesanbruch auf dem Sipri-Platze ohne weitere Umstände gehenkt werden, wie seinerzeit Tantia Topi, sein berühmter Genosse im Aufstande. Um zehn Uhr schwirrten wieder ganz anders klingende Nachrichten umher. Es verbreitete sich das Gerücht, der Gefangene sei soeben entwichen, was die Hoffnung aller Derer auf's Neue belebte, welche der Preis von zweitausend Pfund reizte.

In der That waren alle diese verschiedenen Nachrichten falsch. Die am besten Unterrichteten wußten nicht mehr, als alle anderen weniger gut oder schlecht berichteten Leute. Der Kopf des Nabab behielt denselben Werth. Es galt noch, ihn zu bekommen.

Dadurch, daß er Dandu Pant persönlich kannte, hatte jener Hindu mehr Aussicht, den ausgesetzten Preis zu erlangen. Vorzüglich in der Präsidentschaft Bombay mochten nur wenig Leute Gelegenheit gehabt haben, mit dem gefürchteten Anführer in der großen Empörung zusammenzutreffen. Weiter im Norden und tiefer in den Central-Provinzen, in Sindh, Bundelkhünd, Audh, in den Umgebungen von Agra, Delhi, Khanpur oder Laknau, auf dem Hauptschauplatz der unter seinem Befehle begangenen Greuelthaten, hätten sich wohl Alle in hellen Haufen erhoben und ihn an die englischen Gerichte ausgeliefert. Die Eltern, Gatten, Brüder, Kinder und Weiber seiner Opfer beweinten noch die, welche er zu Hunderten hatte hinschlachten lassen. Auch zehn inzwischen verflossene Jahre reichten nicht hin, die vollberechtigte Empfindung von Rache und Haß zu verlöschen. Deshalb konnte man Dandu Pant nicht wohl die Unklugheit zutrauen, daß er sich in jene Gegenden gewagt hätte, wo Alle seinem Namen fluchten.

Hatte er also, wie man sagte, die indo-chinesische Grenze wieder überschritten und trieb ihn irgend ein dunkler Beweggrund, ob die Anstiftung neuen Aufruhrs oder ein anderer, den unauffindbaren Schlupfwinkel zu verlassen, der für die englisch-indische Polizei noch immer ein Geheimniß blieb, so konnten es nur die Provinzen Dekkans sein, die ihm freies Feld und eine gewisse Sicherheit boten.

Wir sahen jedoch, daß der Statthalter von seinem Erscheinen in der Präsidentschaft Wind bekommen und sofort auf seinen Kopf einen Preis gesetzt hatte.

Immerhin ist hierzu die Bemerkung am Platze, daß die höheren Gesellschaftsclassen von Aurungabad, die Magistratsmitglieder, Officiere und Beamten, in die dem Statthalter zugegangenen Nachrichten doch leise Zweifel setzten. Das Gerücht, der unergreifbare Dandu Pant sei gesehen oder gar verhaftet worden, war schon zu häufig aufgetreten. Ueber ihn gingen so viele falsche Nachrichten, daß sich endlich eine Art Legende von seiner Allgegenwärtigkeit und seiner Schlauheit verbreitete, auch die gewandtesten Agenten der Polizei zu überlisten; die große Menge dagegen glaubte die Worte der Regierung.

Unter die Zahl der minder Ungläubigen gehörte natürlich auch der alte Gefangene des Nabab. Der arme Teufel von Hindu dachte, verwirrt durch seine Beutegier und gereizt von dem Drange nach persönlicher Rache, nur daran, in's Feld zu rücken, und sah seinen Erfolg für so gut wie gesichert an. Sein Plan war sehr einfach. Am folgenden Tage wollte er dem Statthalter seine Dienste anbieten; nachdem er sich dann genau über Alles unterrichtet, was man von Dandu Pant wußte, das heißt worauf sich die in der Bekanntmachung mitgetheilten Nachrichten gründeten, gedachte er nach dem Orte selbst zu gehen, von dem jene Meldung eingegangen war.

Gegen elf Uhr Abends wollte der Hindu, nachdem er so vielerlei Aussagen gehört, die, im Kopfe durcheinander wirbelnd, ihn nur noch mehr in seinem Vorhaben bestärkten, endlich einige Ruhe suchen. Als Wohnung diente ihm nur eine am Doudhma-Ufer angelegte Barke, und träumend, mit halb geschlossenen Augen, wandte er die Schritte dahin.

Der Flüchtling war bemerkt worden.

Ohne sich dessen zu versehen, hatte der Fakir ihn nicht verlassen; ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen, folgte dieser ihm möglichst im Schatten nach.

Am Ende jenes dichtbevölkerten Theiles von Aurungabad waren die Straßen um jene Stunde weniger belebt. Die Hauptverkehrsader mündete nach einem verödeten Terrain hinaus, dessen Rand eines der Ufer der Doudhma bildete. Es war eine Art Wüste dicht an der Stadt. Wenige verspätete Leute schritten noch gemächlich durch dieselbe den belebteren Straßen zu. Bald erstarb der Schall der letzten Schritte; der Hindu achtete indessen nicht darauf, daß er allein am Ufer des Stromes dahinging.

Der Fakir folgte ihm noch immer und suchte die dunkelsten Stellen des Weges auf, entweder unter dem Schutze der Bäume, oder indem er an den düsteren Mauern der da und dort verstreuten Ruinen von Häusern hinstrich.

Diese Vorsicht erschien nicht unnütz. Eben ging der Mond auf und verbreitete einen ungewissen Schimmer. Der Hindu hätte also sehen können, daß Jemand ihm nachspähte und ihn scharf verfolgte. Des Fakirs Schritte konnte er doch unmöglich vernehmen. Dieser glitt ja mit den bloßen Füßen mehr über den Boden, als daß er ging. Kein leises Geräusch verrieth seine Mitanwesenheit am Ufer der Doudhma.

So verstrichen fünf Minuten. Der Hindu strebte – sozusagen maschinenartig – der elenden Barke zu, in der er die Nacht zu verbringen pflegte; eine andere Erklärung gestattete die von ihm eingehaltene Richtung nicht. Er ging wie Einer, der es gewöhnt ist, allabendlich diese einsame Gegend zu durchwandern, ganz eingenommen von dem Gedanken an den Schritt, den er am nächsten Tage bei dem Statthalter thun wollte. Die Hoffnung, sich rächen zu können an dem Nabab, der mit seinen Gefangenen damals nicht eben glimpflich umging, und die heftige Begierde, jene Belohnung zu gewinnen, machten ihn gleichzeitig taub und blind.

Natürlich hatte er keine Ahnung von der Gefahr, die ihn in Folge seiner unklugen Aeußerungen bedrohte.

Er sah nicht, wie der Fakir sich ihm mehr und mehr näherte.

Aber plötzlich stürzte sich, gleich einem Tiger, ein Mann, mit einem Blitz in der Hand über ihn. Es war ein Mondstrahl, der auf der Klinge eines malayischen Dolches spielte.

In die Brust getroffen, sank der Hindu schwerfällig zur Erde.

Obwohl ein sicherer Arm den Stoß geführt hatte, war der Unglückliche doch nicht sofort getödtet. Mit einem Blutstrome quollen einige halb articulirte Worte aus seinem Munde.

Der Mörder beugte sich nieder, ergriff sein Opfer, hob es hoch auf und fragte, während er jetzt das volle Mondlicht auf sein Gesicht fallen ließ:

»Erkennst Du mich nun wieder?

– Er ist's!« murmelte der Hindu.

Der entsetzliche Name des Fakirs war sein letztes Wort, als er an rascher Erstickung verendete.

Einen Augenblick danach verschwand der Körper des Hindu in den Fluthen der Doudhma, die ihn nicht wieder hergeben sollten.

Der Fakir wartete, bis das Plätschern der Wellen sich legte. – Dann kehrte er um, durchschritt die verlassene Gegend, hierauf die Stadttheile, in denen es allgemach stiller wurde, und begab sich schnellen Schrittes nach einem der Thore der Stadt. Eben dort angelangt, schlossen sich dessen Flügel. Einige Soldaten der königlichen Armee standen an demselben Wache. Der Fakir konnte entgegen seiner Absicht, Aurungabad nicht verlassen.

»Und ich muß doch hinaus, noch diese Nacht... oder niemals!« murmelte er für sich hin.

Er wandte sich zurück, folgte dem Wege längs des Glacis und erkletterte, zweihundert Schritt weiter, die Böschung, um nach dem oberen Theile des Festungswalles zu gelangen.

Dieser ragte nach außen zu um fünfzig Fuß über die Sohle des davor ausgehobenen Grabens empor. Seine Bekleidung bildete eine lothrechte Mauer ohne jeden Vorsprung, der als Stütze hätte dienen können. Es erschien ganz unmöglich, an dieser Wandfläche etwa hinabzugleiten. Mittels eines Strickes ließ sich das Hinabsteigen wohl bewerkstelligen, des Fakirs Lendengürtel maß aber nur wenige Fuß, war also ungeeignet, damit den Boden zu erreichen.

Der Fakir stand einen Augenblick still, forschte mit den Augen rings umher und überlegte, was er nun beginnen sollte.

Auf der Bekrönung des Walles breitete sich da und dort ein dunkles Blätterdach aus, die Wipfel großer Bäume, welche Aurungabad wie ein lebender Rahmen umfassen. Die Baumkronen aber hatten lange, biegsame und zähe Aeste, die ja vielleicht dazu zu benutzen waren, den Grund des Wallgrabens, wenn auch mit großer Gefahr, zu erreichen.

Als dem Fakir dieser Gedanke kam, zögerte er nicht länger. Er verschwand unter einem solchen Blätterdache und erschien bald wieder außerhalb der Mauer, am unteren Drittel eines langen Zweiges hängend, der sich unter seiner Last allmählich senkte. Als derselbe sich soweit gebogen hatte, um den oberen Saum der Mauer zu streifen, glitt der Fakir langsam nach abwärts, so als ob er ein Seil mit Knoten hielte. Bis fast zur Hälfte der Escarpe konnte er auf diese Weise wohl gelangen, noch immer trennten ihn aber gegen dreißig Fuß vom Erdboden, den er erreichen mußte, um entfliehen zu können.

Da hing er nun schwankend zwischen Himmel und Erde und suchte mit dem Fuß nach einem Einschnitt in der Mauer, um sich dagegen zu stemmen.

Plötzlich leuchteten mehrere Blitze durch das Dunkel. Einige Schüsse krachten. Der Flüchtling war von den Wachposten bemerkt worden. Diese gaben Feuer, doch ohne ihn zu treffen. Dagegen schlug zwei Zoll über seinem Kopfe eine Kugel durch den Zweig, der ihn hielt.

Zwanzig Secunden später riß der Zweig, und der Fakir fiel in den Wallgraben... Ein Anderer hätte dabei den Tod gefunden, er blieb heil und gesund. Aufzuspringen, die gegenüber liegende Böschung unter einem Hagel von Kugeln, die ihn alle fehlten, zu erklimmen und in dem Dunkel der Nacht zu verschwinden, das war für den Fliehenden nur ein Spiel.

Das Gespräch kam wieder auf die Reise.

Zwei Meilen von hier aus eilte er, ohne bemerkt zu werden, am Cantonnement der englischen Truppen vorüber, welche außerhalb Aurungabads lagerten.

Zweihundert Schritte davon hielt er inne, drehte sich um und erhob die verstümmelte Hand drohend gegen die Stadt mit den Worten:

»Weh' Denen, die noch in Dandu Pant's Hände fallen! Engländer, Ihr seid mit Nana Sahib noch nicht zu Ende!«

Nana Sahib! diesen Kriegsnamen, den gefürchtetsten von allen blutigen Andenkens aus dem großen Aufstande von 1857, rief der Nabab noch einmal wie eine letzte Herausforderung den Eroberern Indiens zu.

Zweites Capitel. Oberst Munro.

»Aber, lieber Maucler, begann der Ingenieur Banks zu mir, Sie sprechen von Ihrer Reise auch kein Sterbenswörtchen. Man sollte glauben, Sie hätten Paris noch gar nicht verlassen. Wie finden Sie Indien?

– Indien? erwiderte ich, ja, um davon sprechen zu können, müßte ich das Land doch wenigstens gesehen haben.

– Sehr schön! versetzte der Ingenieur. Sind Sie nicht von Bombay nach Calcutta durch die ganze Halbinsel gekommen? Nun, und wenn Sie nicht blind waren...

– Das bin ich nicht, lieber Banks, wohl aber war ich während jener Fahrt geblendet...

– Geblendet?...

– Gewiß! Geblendet durch den Rauch, den Dampf, den Staub, noch mehr aber durch die Schnelligkeit der Fortbewegung. Ich will die Eisenbahnen nicht lästern, es ist ja Ihr Beruf, solche zu bauen, mein bester Banks; aber sich in das Coupé eines Waggons einzupferchen, als Gesichtsfeld nichts als die Scheiben der Wagenthür zu haben, Tag und Nacht mit einer mittleren Geschwindigkeit von zehn Meilen in der Stunde dahin zu jagen, jetzt über hohe Viaducte in Gesellschaft von Adlern und Lämmergeiern, nachher durch Tunnels in Gesellschaft von Ratten und Fledermäusen, nur an den Bahnhöfen anzuhalten, die einer so aussehen wie der andere, von Städten weiter nichts zu sehen als die Außenseite der Mauern und die oberste Spitze der Minarets, und das Alles unter dem unaufhörlichen Lärmen des Pustens der Locomotive, unter dem Pfeifen des Kessels, dem Aechzen der Schienen und dem Knarren der Bremsen – nennen Sie das etwa reisen?

– Sehr richtig! rief der Kapitän Hod. Nun antworten Sie darauf, Banks, wenn Sie es können. Was meinen Sie dazu, Herr Oberst?«

Der Oberst, an den Kapitän Hod seine Worte richtete, neigte den Kopf ein wenig und sagte nur:

»Ich wäre begierig, zu hören, was Banks unserem Gaste, Herrn Maucler, für eine Antwort geben kann.

– O, das setzt mich keineswegs in Verlegenheit, meinte der Ingenieur, ich gebe ja zu, daß Maucler vollkommen Recht hat.

– Nun, fiel Kapitän Hod ein, wenn dem so ist, warum erbauen Sie Eisenbahnen?

– Um es Ihnen, Kapitän, zu ermöglichen, binnen sechzig Stunden von Calcutta nach Bombay gelangen zu können, wenn Sie Eile haben.

– Ich habe niemals Eile.

– Schön, dann wählen Sie die Great Trunk-Straße, antwortete der Ingenieur. Wählen Sie diese, Hod, und reisen Sie zu Fuß!

– Das beabsichtige ich auch zu thun.

– Wann?

– Sobald der Herr Oberst zustimmt, mich bei einem herrlichen Spaziergange von acht- bis neunhundert Meilen quer durch die Halbinsel zu begleiten!«

Der Oberst lächelte still und verfiel in seine gewohnte lange Träumerei, aus der ihn selbst seine besten Freunde, wie der Ingenieur Banks und Kapitän Hod, nur mit Mühe zu erwecken vermochten.

Seit einem Monate war ich in Indien angelangt, hatte aber, da ich von Bombay über Allahabad nach Calcutta die Great Indian Peninsular-Bahnlinie benutzte, von der Halbinsel so gut wie nichts kennen gelernt.

Meine Absicht ging jedoch dahin, zunächst deren nördlichen Theil, jenseit des Ganges, zu durchstreifen, die großen Städte daselbst zu besuchen, die hervorragendsten Denkmäler zu studieren und dieser Untersuchung die erforderliche Zeit zu widmen, um sie gründlich durchzuführen.

Den Ingenieur Banks hatte ich in Paris kennen gelernt. Seit einigen Jahren schon verband uns eine innige Freundschaft, welche der nähere vertraute Umgang nur steigern konnte. Ich versprach ihm seinerzeit nach Indien zu kommen, sobald die Vollendung der Scind Punjab and Delhi-Linie, deren Bau er leitete, ihm einige Muße gönnen würde. Das war nun jetzt der Fall. Banks hatte gerechten Anspruch auf eine mehrmonatliche Erholung, und ich kam nun mit dem Vorschlage, diese Ruhe auf einer anstrengenden Reise durch Indien zu genießen. Es versteht sich von selbst, daß er auf meinen Wunsch mit voller Begeisterung einging. In einigen Wochen schon, wenn die günstigere Jahreszeit eintrat, wollten wir aufbrechen.

Bei meiner Ankunft in Calcutta, im März 1867, hatte Banks mich mit einem seiner ehrenwerthen Kameraden, dem Kapitän Hod, bekannt gemacht, und später mich auch seinem Freunde, dem Oberst Munro vorgestellt, bei dem wir eben die Abendstunden verbracht hatten.

Der damals siebenundvierzigjährige Oberst bewohnte im europäischen Stadtviertel ein etwas vereinsamt liegendes Haus, fern dem Getümmel, das die Handelsstadt und die schwarze Stadt, die beiden Bestandtheile der Hauptstadt Indiens, kennzeichnet. Jenes Quartier wird zuweilen die »Stadt der Paläste« genannt, und wirklich fehlt es demselben an letzteren nicht, wenn man diese Bezeichnung auf Wohnungen anwenden darf, die von Palästen freilich nichts weiter als Hallen, Säulen und Terrassen haben. Calcutta ist der Sammelpunkt aller Baustyle, welche der englische Geschmack in den Städten der Alten und Neuen Welt mit Vorliebe verwendet.

Was die Wohnstätte des Obersten betrifft, so war diese ein sogenannter »Bungalow« in einfachster Form, das heißt ein auf einem Ziegelunterbau errichtetes Haus nur mit Erdgeschoß, dessen Dach pyramidenartig hoch aufstieg. Rings um dasselbe lief eine von leichten Säulen getragene Veranda. An den Seiten bildeten die Küchen, Schuppen und Dienerwohnungen zwei ausspringende Flügel. Das Ganze lag inmitten eines mit schönen Bäumen bestandenen und von niedrigen Mauern umgebenen Gartens.

Das Haus des Obersten verrieth die Wohlhabenheit des Besitzers. Das Dienstpersonal war so zahlreich, wie es die Lebensweise der indo-englischen Familien mit sich bringt. Mobiliar, Stoffe, innere Einrichtung, Alles zeigte in der Auswahl und dem wohl erhaltenen Zustande, daß hier zuerst die Hand einer verständigen Hausfrau gewaltet, aber daneben auch, daß diese Frau hier nicht mehr weilen könne. Bezüglich der Aufsicht der Dienstleute und der allgemeinen Führung des Hauswesens verließ sich der Oberst vollständig auf einen seiner alten Waffengenossen, einen Schotten, früheren »Conductor« der königlichen Armee, den Sergeanten Mac Neil, mit dem er alle Feldzüge in Indien durchgefochten hatte, eines jener braven Herzen, die in der Brust Derjenigen zu schlagen scheinen, denen sie sich einmal ergeben haben. Es war das ein großer, starker Mann von fünfundvierzig Jahren, mit Vollbart wie alle Bergschotten. Seiner Haltung, dem Gesichtsausdrucke, sowie dem althergebrachten Costüm nach war er mit Leib und Seele Highlander geblieben, obwohl er den Militärdienst gleichzeitig mit Oberst Munro quittirte. Beide hatten seit 1860 ihren Abschied genommen. Statt aber zu den »Glens« der Heimat, in die Mitte der alten »Clans« ihrer Vorfahren zurückzukehren, waren Beide in Indien geblieben und lebten in einer Art Zurückgezogenheit und Einsamkeit, welche eine breitere Erklärung erfordern.

Als Banks mich dem Oberst Munro vorstellte, empfahl er mir nur eines:

»Erwähnen Sie mit keiner Silbe des Sipahi-Aufstandes, sagte er, und vorzüglich sprechen Sie niemals den Namen Nana Sahib aus!«

Der Oberst Edward Munro gehörte einer alten schottischen Familie an, deren Vorfahren sich in der Geschichte des Vereinigten Königreiches einen Namen gemacht hatten. Zu seinen Ahnen zählte er jenen Sir Hector Munro, der im Jahre 1760 die Armee von Bengalen befehligte und eine Empörung niederwarf, welche die Sipahis, fast genau ein Jahrhundert später, wieder erneuern sollten. Major Munro erstickte den Aufstand mit unerbittlicher Energie und scheute nicht davor zurück, an einem Tage achtundzwanzig Rebellen vor die Mündung von Kanonen binden und in Stücke schießen zu lassen – eine entsetzliche Hinrichtungsart, welche 1857 wiederholt zur Anwendung kam und deren Erfinder vielleicht der Ahnherr des Obersten war.

Zur Zeit, als die Sipahis sich erhoben, befehligte Oberst Munro das 93. Regiment schottischer Infanterie der königlichen Armee. Er wohnte fast dem ganzen Feldzuge unter dem Oberbefehle Sir James Outram's bei, jenes Helden dieses Krieges, der sich den Namen des »Bayard der indischen Armee« verdiente, wie Sir Charles Napier ihn bezeichnete. Mit diesem befand sich Oberst Munro also in Khanpur; er nahm Theil an dem zweiten Feldzuge Colin Campbell's in Indien, wohnte der Belagerung von Laknau bei und verließ diesen berühmten Soldaten erst, als Outram zum Mitgliede des Rathes von Indien in Calcutta ernannt worden war. Im Jahre 1858 sehen wir den Oberst Sir Edward Munro als Commandeur des Sternes von Indien, »the Star of India (K.C.S.J.)«.

Er war zum Baronet erhoben worden und seine Gattin hätte damit den Titel Lady Munro erhalten, wenn die Unglückliche nicht am 15. Juli 1857 bei dem schauerlichen Gemetzel in Khanpur – eine Blutthat, die sich unter den Augen und auf Befehl Nana Sahib's vollzog – umgekommen wäre.

Lady Munro – des Obersten Freunde nannten sie niemals anders – wurde von ihrem Gatten angebetet. Sie zählte kaum siebenundzwanzig Jahre, als sie, gleichzeitig mit zweihundert anderen Opfern, bei jener abscheulichen Schlächterei spurlos verschwand. Die nach der Einnahme von Laknau wie durch ein Wunder geretteten Mistreß Orr und Miß Jackson hatten die Eine ihren Gatten, die Andere ihren Vater überlebt. Lady Munro sollte dem Oberst Munro nicht zurückgegeben werden. Es war sogar unmöglich, ihre, mit denen der zahlreichen Opfer in dem Schachte von Khanpur vermengten Ueberreste wieder aufzufinden und ihr ein christliches Begräbniß zu bereiten.

In seiner Verzweiflung erfüllte Sir Edward Munro nur noch ein Gedanke, der einzige, Nana Sahib, den die englische Regierung allerwärts suchen ließ, aufzufinden und den ihn verzehrenden, gerechten Durst nach Rache zu löschen. Um in dieser Richtung minder beschränkt zu sein, hatte er den Abschied genommen. Der Sergeant Mac Neil folgte ihm auf Schritt und Tritt. Von demselben Geiste beseelt, von demselben Gedanken getrieben und ein und dasselbe Ziel im Auge, verfolgten die beiden Männer jede Spur und forschten der geringsten Andeutung weiter nach, waren dabei aber nicht glücklicher als die englischindische Polizei. Nana Sahib entging allen ihren Nachforschungen. Nach drei Jahren fruchtlosen Bemühens mußten sich der Oberst und der Sergeant entschließen, vorläufig von weiteren Schritten abzusehen. Uebrigens verbreitete sich zu eben jener Zeit in Indien das Gerücht von Nana Sahib's Tode, und zwar diesmal mit einem solchen Grade von Glaubwürdigkeit, daß man es nicht wohl länger bezweifeln durfte.

Sir Edward Munro und Mac Neil kehrten also nach Calcutta zurück, wo sie sich in dem isolirten Bungalow festsetzten. Hier lasen sie weder Bücher noch Journale, welche an die blutige Zeit des Aufruhrs hätten erinnern können, und verließen niemals die Wohnung, in der der Oberst gleich einem Manne mit einem ziel- und zwecklosen Leben dahin vegetirte.

Die Nachricht von dem Wiedererscheinen Nana's in der Präsidentschaft Bombay – eine Neuigkeit, welche schon mehrere Tage von Mund zu Mund ging – schien nicht zur Kenntniß des Obersten gekommen zu sein. Und das war ein Glück zu nennen, denn er hätte den Bungalow sofort verlassen.

Hierin bestanden etwa Bank's Mittheilungen, bevor er mich in jenes Haus einführte, aus dem die Freude für immer verbannt war. Ebendeshalb sollte jede Andeutung an die Empörung der Sipahis und deren grausamsten Anführer Nana Sahib vermieden werden.

Nur zwei Freunde – zwei allseitig erprobte Freunde – besuchten fleißig das Haus des Obersten, der Ingenieur Banks und der Kapitän Hod.

Banks hatte, wie erwähnt, eben die ihm bei der Erbauung der Great Indian Peninsular-Eisenbahn übertragenen Arbeiten vollendet. Er war ein Mann von fünfundvierzig Jahren, in der ganzen Kraft seines Alters. Zwar sollte er nun auch an der, zur Verbindung des arabischen Golfs mit der Bai von Bengalen zu errichtenden Madras-Bahn thätigen Antheil nehmen, doch konnten diese Arbeiten vor Ablauf eines Jahres schwerlich beginnen. Er genoß diese Muße also in Calcutta, immer beschäftigt mit mechanischen Problemen, denn in ihm wohnte ein rastloser, fruchtbarer Geist, der stets mit irgend einer neuen Erfindung schwanger ging. Außer dieser Thätigkeit widmete er jede Stunde dem Obersten, mit dem ihn eine zwanzigjährige Freundschaft verband. Fast jeden Abend verbrachte er unter der Veranda des Bungalow in Gesellschaft Sir Edward Munro's und des Kapitän Hod, der eben einen zehnmonatlichen Urlaub erhalten hatte.

Hod stand bei der 1. Escadron der Karabiniers der königlichen Armee und hatte den ganzen Feldzug 1857-58 mitgemacht, erst unter Sir Colin Campbell in Audh und Rohilkhande, dann unter Sir H. Rose in den Centralstaaten – ein Kampf, der mit der Einnahme von Gwalior endigte.

Der in der rauhen Schule Indiens erzogene Kapitän Hod, eines der hervorragendsten Mitglieder des Clubs von Madras, rothblond von Bart und Haar, zählte nicht mehr als dreißig Jahre. Obwohl er der königlichen Armee zugehörte, hätte man ihn wohl für einen Officier der eingebornen Truppen halten können. Ihm erschien Indien als das Reich von Gottes Gnaden, das gelobte Land, das einzige, in dem ein Mann leben könnte und sollte. Hier konnte er alle seine Neigungen befriedigen. Soldat von Temperament, bot sich ihm unausgesetzt Gelegenheit, sich zu schlagen. Verweilte er als ausgedienter Jäger nicht in dem Lande, wo die Natur alles Raubgethier der Schöpfung neben allem Pelz- und Federwild der Neuen und Alten Welt vereinigt zu haben schien? Hatte er als leidenschaftlicher Bergsteiger nicht die imposante Kette von Thibet zur Hand, in der die höchsten Gipfel der Erde emporstreben? Was hinderte ihn als unerschrockenen Reisenden den Fuß dahin zu setzen, wohin vor ihm noch Niemand gedrungen war, in jenen unnahbaren Regionen der Himalaya-Grenze? Fehlten ihm als enthusiasmirten Turfisten die Rennbahnen Indiens, die in seinen Augen denen von Marche und Epsom gleichkamen? In letzterer Beziehung gingen seine und Banks' Ansichten allerdings weit auseinander. Als Vollblut-Mechaniker interessirte sich der Ingenieur nur sehr wenig für die Pferde-Heldenthaten eines »Gladiator« oder einer »Tochter der Luft«.

Eines Tages, als ihm Kapitän Hod deshalb besonders zusetzte, erwiderte Banks, daß die Wettrennen eigentlich nur unter einer Bedingung ein höheres Interesse erwecken könnten.

»Und diese wäre? fragte Hod.

– Die Aufstellung der Bedingung, erklärte Banks ganz ernsthaft, daß der zuletzt ankommende Jockey am Pfosten sofort füsilirt würde!

– Das nenne ich eine Idee!...« antwortete einfach Hod.

Er wäre auch der Mann dazu gewesen, persönlich auf das Wagstück einzugehen.

Solcher Art waren die beiden fleißigen Gäste in Sir Edward Munro's Bungalow. Der Oberst hörte sie gern über allerlei plaudern, und ihre zäh fortgesetzten Reden und Gegenreden lockten manchmal sogar ein Lächeln auf seine Lippen.

Die beiden wackeren Leute begegneten sich jedoch in dem einen Wunsche, den Oberst zu einer Reise zu bestimmen, die ihm einige Zerstreuung bieten könnte. Schon wiederholt hatten sie den Vorschlag gemacht, nach dem Norden der Halbinsel zu gehen, um mehrere Monate in der Nähe jener. »Sanitarien« zuzubringen, in welche sich die reiche anglo-indische Gesellschaft während der heißen Jahreszeit freiwillig flüchtet. Der Oberst war nie darauf eingegangen.

Auch bezüglich der von mir und Banks geplanten Reise hatten wir seine Meinung zu erforschen gesucht. Eben an jenem Abend kam das Gespräch wieder auf dieselbe. Der Leser weiß bereits, daß Kapitän Hod von nichts Geringerem sprach als von einer weitläufigen Fußtour nach dem Norden Indiens. Wenn Banks die Pferde nicht liebte, so war Hod ein Feind der Eisenbahnen. Beide befanden sich also in Widerspruch.

Ein Mittelweg hätte sich damit finden lassen, daß man, wie und wann es eben beliebte, im Wagen oder Palankin reiste, was auf den schönen und wohlerhaltenen Hauptstraßen von Hindostan ohne Schwierigkeit auszuführen ist.

Mac Neil.

»Reden Sie mir nicht von ihren Geschirren mit Ochsen oder bucklichen Zebus! rief Banks. Ohne uns wären Sie noch heute auf diese primitiven Fuhrwerke beschränkt, von denen man in Europa schon seit fünfhundert Jahren nichts mehr wissen mochte.

– Oho, Banks, erwiderte Kapitän Hod, mit Ihren Waggons und ihren Cramptons können sie sich wohl messen! Solche große Büffel, welche im tüchtigen Galopp gehen und die man an jeder Poststation von zwei zu zwei Stunden wechselt...

– Und die so eine Art vierrädriger Tartanen ziehen, in denen man mehr umhergeworfen wird, als die Fischer in ihren Booten auf bewegtem Wasser!

– Ich sprach nicht von Tartanen, Banks, antwortete Kapitän Hod. Giebt es denn keine Wagen mit zwei, drei oder vier Pferden, die an Schnelligkeit mit Euern. »Convois«, welche diesen traurigen Namen mit Recht führen, wetteifern. Ich würde den einfachen Palankin vorziehen...

– Nun gar Ihre Palankins, Kapitän Hod, wahrhafte Särge von sechs Fuß Länge und vier Fuß Breite, in denen man wie ein Leichnam eingebettet liegt!

– Zugegeben, Banks, aber da giebt es kein Schütteln und kein Stoßen; man kann nach Belieben lesen, schreiben, schlafen, ohne an jeder Station aufgeweckt zu werden. In einem Palankin mit vier bis sechs bengalischen Gamals (Name der Palankinträger in Indien) legt man bequem vier und eine halbe Meile (gegen acht Kilometer) zurück, ohne, wie bei Ihren unbarmherzigen Expreßzügen, Gefahr zu laufen, daß man fast eher am Ziel anlangt, als man abgefahren ist.

– Das Beste, warf ich da ein, wäre doch, gleich sein Haus mitführen zu können!

– Als Schnecke! rief Banks.

– Lieber Freund, antwortete ich, eine Schnecke, die ihr Haus nach Belieben verlassen und auch wieder in dasselbe eintreten könnte, wäre wohl nicht allzu schwer zu beklagen. In seinem Hause zu reisen, das nach Wunsch da oder dorthin rollt, das wäre ja die höchste Potenz des Fortschritts im Reisen!

– Vielleicht, sagte da Oberst Munro; von der Stelle zu kommen, während man immer in seinen vier Pfählen weilt, seine ganze Umgebung und alle Erinnerungen, die daran hängen, mit sich zu nehmen, den Horizont, den Gesichtspunkt, Atmosphäre und Klima mit anderen zu vertauschen, ohne seine gewohnte Lebensweise zu ändern... ja, ja,... vielleicht!

– Da umgeht man die für Reisende bestimmten Bungalows, fuhr Kapitän Hod fort, in denen der Comfort immer zu wünschen übrig läßt, und worin man nur mit Erlaubniß der Ortsbehörden verweilen darf!

– Ebenso wie die abscheulichen Gasthäuser, in denen Einem moralisch und physisch das Fell über die Ohren gezogen wird! bemerkte ich dazu nicht ohne Grund.

– Der Wagen der Quacksalber und Marktschreier! rief Kapitän Hod, aber in modernisirter Façon! Welch' schöner Traum! Anzuhalten, wenn man will, abzufahren, wenn es beliebt, zu Fuß neben her zu gehen, wenn man spazieren will, im Galopp zu fahren, wenn es darauf ankommt, nicht nur ein Schlafzimmer mitzunehmen, sondern auch den Salon, das Speise- und Rauchzimmer und vor Allem Küche und Koch dazu, das wäre ein Fortschritt, Freund Banks! Versuchen Sie, das zu widerlegen, Herr Ingenieur, versuchen Sie es!

– Ei, ei, Freund Hod, antwortete Banks, ich wäre ja vollkommen Ihrer Ansicht, wenn...

– Wenn?... wiederholte der Kapitän achselzuckend.

– Wenn Sie in Ihrem Fortschritts-Schnelllauf nur nicht urplötzlich angehalten hätten.

– Es giebt also noch Besseres?

– Nun, hören Sie. Sie erklären das bewegliche Haus für überlegen dem Waggon, dem Salonwagen, sogar den Sleping-cars der Eisenbahn. Sie haben recht, lieber Kapitän, wenn man Zeit zu verlieren hat, wenn man zum Vergnügen und nicht in Geschäften reist. Ich glaube, hierin stimmen wir Alle überein?

– Alle!« bestätigte man.

Der Oberst Munro nickte mit dem Kopfe als Zeichen seiner Zustimmung.

»Das ist also abgemacht, fuhr Banks fort. Nun weiter. Angenommen, Sie hätten sich an ein Doppelwesen, einen Wagenbauer-Architekten, gewendet und er erbauete Ihnen das gewünschte rollende Haus. Da steht es nun im besten Chic, allen Anforderungen eines Freundes des Comforts entsprechend. Es ist nicht allzu hoch, wodurch ihm das Umfallen erspart bleibt, nicht zu breit, um auf jedem Wege fort zu können, und sinnreich auf Federn befestigt, um leicht und bequem darin zu fahren. Mit einem Worte, es ist vollkommen. Ich nehme an, es wäre für unseren Freund, den Obersten, hergestellt worden. Er ladet uns Alle ein. Wir wollen meinetwegen die nördlichen Theile Indiens besuchen, als Schnecken, aber als solche Schnecken, deren Schwanz nicht untrennbar mit dem Gehäuse verwachsen ist. Alles ist bereit. Man hat nichts vergessen... nicht einmal den Koch und die Küche, die dem Kapitän so sehr am Herzen liegen. Der Tag der Abreise ist gekommen; man schickt sich dazu an. All right!... Ja, wer wird es aber ziehen, Euer rollendes Haus, mein bester Freund?

– Wer? rief Kapitän Hod. Nun, Maulesel, Esel, Pferde, Büffel!

– Gleich zu Dutzenden? fragte Banks.

– Elephanten! versetzte Kapitän Hod, Elephanten! Das wäre herrlich und majestätisch! Ein Haus gezogen von einem Elephantengespann, von wohldressirten, stolzen Thieren, welche davongehen und galoppiren trotz der besten Kutschpferde der Welt!

– Das wäre großartig, Herr Kapitän.

– Ein Rajah-Zug auf dem Lande, Herr Ingenieur.

– Gewiß! Aber...

– Aber... was? Giebt es noch ein Aber? fiel ihm Kapitän Hod in's Wort.

– Ein großes Aber!

– O, über diese Ingenieurs! Sie taugen zu nichts, als überall Schwierigkeiten zu wittern!...

– Und sie zu beseitigen, wenn das überhaupt möglich ist, erwiderte Banks.

– So schaffen Sie sie beiseite!

– Das werde ich, und zwar folgendermaßen. Alle jene bewegenden Kräfte, lieber Munro, welche der Kapitän da aufgezählt hat, sie gehen wohl, sie schleppen, sie ziehen, aber – sie ermüden auch. Sie werden widerspenstig, eigenwillig, vorzüglich aber brauchen alle – Futter. Sobald nun Mangel an Weiden eintritt, da man doch nicht wohl fünfhundert Acres Wiesen mitnehmen kann, so steht das Gespann still, verliert die Kräfte, stürzt, stirbt vor Hunger, das rollende Haus bewegt sich nicht weiter und bleibt ebenso auf demselben Flecke, wie der Bungalow, in dem wir jetzt darüber sprechen. Daraus folgt, daß besagtes Haus nicht eher praktisch brauchbar werden wird, als bis es in der Gestalt eines Dampfhauses auftritt.

– Das natürlich auf Schienen läuft! rief der Kapitän achselzuckend.

– Nein, auf allen Wegen, entgegnete der Ingenieur, indem es von einer verbesserten Straßenlocomotive gezogen wird.

– Bravo! jubelte der Kapitän, bravo! Von der Stunde an, wo Ihr Dampfhaus nicht mehr auf einem Schienenwege rollt und gehen kann, wohin es will, ohne jenem gebieterischen Eisenstrang folgen zu müssen, bin ich gern dabei!

– Aber, warf ich Banks noch ein, wenn Maulesel, Esel, Pferde, Büffel und Elephanten fressen, so braucht eine Maschine auch Nahrung, denn wenn es ihr an Brennmaterial fehlt, wird sie ebenso unterwegs stehen bleiben.

– Ein Dampfroß, antwortete Banks, entwickelt die Kräfte von drei bis vier gewöhnlichen Pferden, und diese Leistung kann im Nothfall auch noch gesteigert werden. Das Dampfroß unterliegt keiner Ermüdung, keiner Krankheit. Jederzeit, unter jeder Breite, jeder Sonne, unter Regen und Schnee geht es ohne Erschöpfung weiter. Es braucht nicht einmal die Angriffe wilder Thiere zu fürchten, nicht den Biß der Schlangen, nicht den Stich der Bremsen oder anderer lästiger Insecten. Es bedarf nicht des Stachels des Büffeltreibers, nicht der Peitsche der Wagenführer. Ihm ist auszuruhen unnöthig, der Schlaf unbekannt. Das aus der Hand des Menschen hervorgegangene Dampfroß ist, wenn man nur dessen Zweck im Auge behält und nicht auch von ihm erwartet, daß es einmal am Spieße gebraten werden könne, allen Zugthieren überlegen, welche die Vorsehung den Menschen gegeben hat. Etwas Oel oder Fett, ein wenig Kohle oder Holz, das ist Alles, was es verzehrt. Sie wissen aber, meine Freunde, daß auf der indischen Halbinsel an Wäldern kein Mangel ist und das Holz Jedem gehört, der es nimmt.

– Sehr schön, rief Kapitän Hod. Ein Hurrah dem Dampfrosse! Ich sehe schon des Ingenieur Banks' rollendes Haus auf den Landstraßen Indiens dahingezogen, wie es durch die Dschungeln dringt, schnaubend tief in die Wälder zieht, sich vorwagt bis zu der Höhle des Löwen, des Panthers, Tigers, des Bären, Leoparden und des Guepards; unter dem Schutze seiner Mauern erlegen wir Hekatomben von Raubthieren und stechen die Anderson, Gérard, Pertuiset, Chassaing und alle Nimrods der Welt aus! O, Banks, mir läuft das Wasser im Munde zusammen, Sie lassen es mich bedauern, nicht fünfzig Jahre später geboren zu sein!

– Und weshalb, Herr Kapitän?

– Weil Ihr Traum in fünfzig Jahren in Erfüllung gehen und das Dampfhaus gebaut sein wird.

– Das ist schon so gut wie geschehen, antwortete einfach der Ingenieur.

– Geschehen und vielleicht durch Sie?

– Durch mich, und ich fürchte dabei nur das Eine, daß es Ihren Traum noch übertreffen dürfte...

– An's Werk, Banks, an's Werk!« rief Kapitän Hod, der wie von einem elektrischen Schlage getroffen aufsprang und zur Abreise schon bereit schien.

Der Ingenieur beruhigte ihn durch eine Handbewegung, dann wendete er sich mit ernster Stimme an Sir Edward Munro.

»Edward, sagte er, wenn ich Dir ein rollendes Haus zur Verfügung stelle, wenn ich nach einem Monat bei Eintritt der besseren Jahreszeit komme und zu Dir sage: Hier ist Dein Zimmer, das sich fortbewegt und geht, wohin Du willst, hier Deine Freunde, Maucler, Kapitän Hod und ich, welche lebhaft wünschen, Dich auf einem Ausfluge nach dem Norden Indiens zu begleiten, wirst Du mir dann antworten: »Brechen wir auf, Banks, brechen wir auf, und möge der Gott der Reisenden uns behüten?«

– Ja, meine Freunde, antwortete Oberst Munro nach kurzer Ueberlegung. Banks, ich stelle Dir die nöthigen Mittel zur Verfügung. Halte Dein Versprechen! Bring' uns das ideale Dampfhaus, das Hod's Träume noch übertrifft, und wir streifen durch ganz Indien!

– Hurrah! Hurrah! Hurrah! rief Kapitän Hod, und wehe dem Raubzeug an den Grenzen von Nepal!«

Da erschien, herbeigelockt durch die Hurrahs des Kapitäns, der Sergeant Mac Neil in der Thür.

»Mac Neil, redete der Oberst ihn an, wir reisen in einem Monat nach dem Norden von Indien ab. Du bist doch dabei?

– Selbstverständlich, Herr Oberst, da Sie ja dabei sind!« antwortete der Sergeant Mac Neil.

Drittes Capitel. Der Aufstand der Sipahis.

Einige Zeilen werden uns im Allgemeinen darüber belehren, in welchem Zustande sich Indien zur Zeit unserer Erzählung befand, und vorzüglich über jenen gewaltigen Aufstand der Sipahis, dessen Hauptzüge wir im Folgenden vorführen.

Im Jahre 1600 unter der Regierung Elisabeth's entstand auf dem heiligen Boden von Aryawarta, inmitten einer Bevölkerung von zweihundert Millionen Seelen, von der hundertzwölf Millionen der Hindu-Religion angehörten, die ehrenwerthe Indische Compagnie, bekannt unter dem Spitznamen »Old John Company«.

Dieselbe bildete anfangs nur eine »Vereinigung von Kaufleuten, die mit Ostindien in Verkehr standen«, und an deren Spitze der Herzog von Cumberland trat.

Jener Zeit nahm die in Indien früher so ausgedehnte Macht Portugals schon merklich ab. Die Engländer machten sich diese Verhältnisse zunutze und schritten zu dem Versuche, in der Präsidentschaft Bengalen, deren Hauptstadt Calcutta der Mittelpunkt einer neuen Regierung werden sollte, eine politische und militärische Administration einzuführen. Zuerst besetzte die Provinz das von England geschickte 39. Regiment der königlichen Armee. Daher stammt die Inschrift, welche es noch jetzt auf seiner Fahne führt, »Primus in Indiis«.

Inzwischen war, ziemlich zu derselben Zeit und unter der Patronage Colbert's, eine französische Gesellschaft zusammengetreten, welche das nämliche Ziel verfolgte, wie die Vereinigung der Londoner Kaufleute. Aus dieser Rivalität entstanden natürlich manche Reibungen und langdauernde Kämpfe mit wechselndem Erfolge, in welche sich unter Anderen die Dupleix, Labourdonnais und Lally Tollendal auszeichneten. Zuletzt mußten die von der Uebermacht erdrückten Franzosen Karnatik verlassen, jenes Gebiet der Halbinsel, das einen Theil der östlichen Küste umfaßt.

Von den früheren Mitbewerbern befreit und weder von Portugal noch von Frankreich etwas fürchtend, strebte Lord Clyve danach, den Erwerb Bengalens zu sichern, zu dessen General-Gouverneur Lord Hastings ernannt wurde. Zum Zweck einer brauchbaren und dauernden Administration wurden nun verschiedene Reformen durchgesetzt. Als die so mächtige und alles in sich aufnehmende Indische Compagnie aber auf der Höhe ihrer Macht stand, traf sie ein Schlag, der ihre wichtigsten Lebensinteressen verletzte. Einige Jahre später, im Jahre 1784, brachte Pitt   noch mehrere Abänderungen ihrer ursprünglichen Charte in Vorschlag.

Die Brahmanen entflammten die Gemüther.

Die Gewalt sollte danach in die Hand der Räthe der Krone übergehen. Die Folge dieser neuen Ordnung der Dinge war, daß die Compagnie im Jahre 1813 das Monopol des Handels in Indien und 1833 das chinesische Handelsmonopol verlieren sollte.

Sie brauchen mich nicht festbinden zu lassen.

Hatte England nun auch nicht ferner mit fremden Mächten auf der Halbinsel zu kämpfen, so mußte es doch viele langwierige Kriege führen, theils mit den früheren Besitzern des Landes, theils mit den letzten asiatischen Eroberern dieser Gebiete.

Hierher gehört z.B. unter Lord Cornwallis, 1784, der Kampf gegen Tippo Sahib, der am 4. Mai 1799 beim letzten Angriffe des General Harris auf Seringapatam getödtet wurde. Ferner der Krieg mit den Maharatten, einer im 18. Jahrhundert noch sehr mächtigen Race, sowie der Kampf mit den Pindarris, welche so heldenmüthigen Widerstand leisteten. Ferner der Krieg gegen die Gourgkhas von Nepal, jene kühnen Bergbewohner, die sich bei der harten Probe des Jahres 1857 als treue Verbündete der Engländer bewähren sollten. Endlich der Krieg mit den Birmanen, 1823-1824.

Im Jahre 1828 waren die Engländer, direct oder indirect, die Herren eines großen Theiles des Reiches. Mit Lord William Bentinck begann eine neue administrative Aera.

Seit Regulirung der Wehrkräfte Indiens hatte die Armee von jeher aus zwei völlig verschiedenen Contingenten bestanden, aus dem europäischen Heerestheile und dem der Eingebornen oder Natifs. Der erstere bildete die königliche Armee mit Cavallerie-Regimentern, Infanterie-Bataillonen und mehreren Bataillonen europäischer Infanterie im Dienste der Indischen Compagnie; der zweite bestand aus der Natifs-Armee und enthielt Infanterie- und Cavallerie-Bataillone, doch wurden die Eingebornen von englischen Officieren befehligt. Hierzu trat noch die Artillerie, deren der Compagnie angehörende Mannschaften, mit Ausnahme einiger Batterien, lauter Europäer waren.

Die Kopfzahl dieser Regimenter oder Bataillone, welche in der königlichen Armee ohne Unterschied so bezeichnet werden, erreichte für die Infanterie elfhundert Mann per Bataillon bei der Armee von Bengalen, und acht- bis neunhundert bei den Armeen von Bombay und Madras; bezüglich der Cavallerie rechnete man sechshundert Säbel auf jedes Regiment beider Armeen.

Nach den sehr genauen Angaben de Velbezen's, in seinem höchst beachtenswerthen Buche »Neue Studien über die Engländer und Indien«, 1857, konnte man »die eingebornen Truppen auf zweimalhunderttausend, die europäischen Truppen aus allen drei Präsidentschaften auf fünfundvierzigtausend schätzen.«

Die Sipahis, ein reguläres Corps unter englischen Officieren, waren von jeher nicht abgeneigt, das Joch der europäischen Disciplin abzuschütteln, das ihre Besieger ihnen aufbürdeten. Schon im Jahre 1806 hatte die in Vallore cantonnirende Garnison von Madras, vielleicht auf Anstiften des Sohnes Tippo Sahib's, die Feldwache des 69. Regimentes der königlichen Armee ermordet, die Kaserne in Brand gesteckt, die Officiere und deren Familien umgebracht und selbst in den Lazarethen die kranken Soldaten erschossen. Was war aber die Ursache dieser Empörung, wenigstens die äußerliche? Angeblich eine die Schnurrbärte, die Haartracht und die Ohrringe betreffende Frage, in Wahrheit der Haß der Unterdrückten gegen die Sieger.

Diese erste Erhebung wurde durch die in Ascol garnisonirende königliche Macht schnell niedergeworfen.

Ein ähnlicher Grund – auch nur ein Vorwand – sollte auch 1857 den ersten Anstoß zu der Erhebung geben, zu einem weit furchtbareren Aufstande, der vielleicht die Macht Englands in Indien vernichtet hätte, wenn die eingebornen Truppen der Präsidentschaften Madras und Bombay sich an demselben betheiligten.

Vor Allem muß man aber vor Augen behalten, daß dieser Aufstand des nationalen Charakters entbehrte. Die Hindus des Landes wie der Städte hielten sich demselben vollständig fern. Uebrigens beschränkte er sich auf die halb unabhängigen Staaten Central-Indiens, auf die Nordwest-Provinzen und das Königreich Audh. Das Pendjab mit seinen drei Schwadronen Kaukasus-Indiern blieb den Engländern treu. Treu blieben auch die Shiks, jene Arbeiter der unteren Kaste, die sich bei der Belagerung Delhis besonders auszeichneten; ferner die Gourgkhas, welche der Rajah von Nepal in der Zahl von zwölftausend zur Belagerung Laknaus herbeiführte; endlich die Maharajahs von Gwalior und Pattyala, der Rajah von Rampore, die Rani von Bhopal, welche ihre militärische Ehre bewahrten, oder, um den unter den Natifs von Indien gewöhnlichen Ausdruck zu gebrauchen, »dem Salz treu blieben«.

Zu Anfang der Empörung stand der General-Gouverneur Lord Canning an der Spitze der Verwalkung. Vielleicht täuschte sich dieser Staatsmann über die Tragweite der Bewegung. Schon seit einigen Jahren erblich der Stern des Vereinigten Königreichs sichtlich am Hindu-Himmel. Der Rückzug aus Kabul 1848 verminderte das frühere Ansehen der europäischen Eroberer nur noch mehr. Auch im Krim-Kriege befand sich die englische Armee nach manchen Seiten hin nicht auf der Höhe der Situation. Da dachten die Sipahis, welche von den Vorfällen am Schwarzen Meere eingehende Nachrichten erhielten, schon an die Möglichkeit, daß eine Erhebung der eingebornen Truppen wohl von Erfolg sein könne. Es bedurfte nur noch eines Funkens zur Entflammung der Gemüther, die durch ihre Dichter und Sänger, die Brahmanen und die »Moulvis«, hinlänglich vorbereitet waren.

Diese Gelegenheit bot sich 1857, als der Bestand der königlichen Armee in Folge äußerer Verwickelungen gerade nicht unerheblich geschwächt war.

Zu Anfang genannten Jahres begab sich Nana Sahib, oder Nabab Dandou-Pant, der in der Nähe von Khanpur residirte, erst nach Delhi und dann nach Laknau, offenbar um die von langer Hand her vorbereitete Erhebung in's Leben zu rufen. Wirklich brach kurze Zeit nach der Abreise Nana's die insurrectionelle Bewegung offen aus.

Die englische Regierung hatte in der Natifs-Armee eben die Einfield-Büchse eingeführt, bei deren Gebrauch eingefettete Patronen in Anwendung kommen. Da verbreitete sich plötzlich das Gerücht, dieses Fett rühre theils von Kühen, theils von Schweinen her, je nachdem die Patronen für die Hindus oder Muselmanen der eingebornen Armee bestimmt seien.

In einem Lande nun, in welchem sich die Einwohner sogar der Seife enthalten, weil das Fett eines geheiligten oder verbotenen Thieres in deren Zusammensetzung eingegangen sein könne, konnte die Verwendung solcher mit Fett bestrichenen Patronen, die übrigens mit den Zähnen zerrissen werden mußten, nicht ohne Schwierigkeit durchgeführt werden. Die Regierung trug den ihnen gemachten Vorstellungen theilweise Rechnung; trotzdem aber, daß sie die Handhabung des Gewehrs modificirte und die Versicherung gab, daß zu den Patronen kein solches verpöntes Fett verwendet werde, gelang es ihr damit doch nicht, in der Armee der Sipahis auch nur einen Mann zu überzeugen und zu beruhigen.

Am 24. Februar verweigerte das 34. Regiment in Berampore die Entgegennahme der Patronen. Mitte März wird ein Adjutant ermordet, und trägt das nach Hinrichtung der Mörder entlassene Regiment den Keim der Empörung in die benachbarten Provinzen.

Am 10. Mai erheben sich in Miral, etwas nördlich von Delhi, das 3., 11. und 20. Regiment, die Meuterer ermorden ihre Obersten und einige Stabsofficiere; plündern die Stadt und ziehen sich dann nach Delhi zurück. Dort schließt sich ihnen der Rajah, ein Nachkomme Timur's, an, das Zeughaus fällt in ihre Hand und die Officiere des 54. Regiments werden niedergemetzelt.

Am 11. Mai werden in Delhi der Gouverneur Fraser und seine Officiere, sogar im Palaste des europäischen Commandanten, schonungslos massacrirt, und am 16. Mai fallen neunundvierzig Gefangene, Männer, Frauen und Kinder, unter dem Beile der Mörder.

Am 20. Mai tödtete das nahe bei Lahore cantonnirende Regiment den Hafencommandanten und den europäischen Sergeant-Major.

Nun war die fürchterlichste Metzelei in Gang gebracht.

Am 28. Mai fallen in Nourabad weitere Opfer unter den anglo-indischen Officieren.

Am 30. Mai im Cantonnement von Laknau, Ermordung des Brigade-Commandanten, seines Adjutanten und mehrerer Officiere.

Am 31. Mai zu Bareilli in Rohilkhande, Niedermetzelung einiger überraschter Officiere, die sich nicht zu vertheidigen vermögen.

Am nämlichen Tage, in Shajahanpore, Ermordung des Steuereinnehmers und einer Anzahl Officiere durch Sipahis vom 38. Regiment, und am nächsten Tage, jenseits Bavar, Ueberfall und Abschlachtung vieler Officiere, Frauen und Kinder, auf der Flucht nach der, eine Meile von Aurungabad gelegenen Station Sivapore.

In den ersten Tagen des Juni in Bhopal, Ermordung eines Theiles der europäischen Einwohnerschaft, und in Jansi, unter der Hetzerei der furchtbaren abgesetzten Rani, grausame Abschlachtung vieler in das Fort geflüchteter Frauen und Kinder.

Am 6. Juni erliegen in Allahabad sechs junge Fähnriche den Streichen der Sipahis.

Am 14. Juni Erhebung zweier Natifs-Regimenter in Gwalior und Ermordung der Officiere.

Am 27. Juni, in Khanpur, die erste Hekatombe von Opfern jeden Alters und Geschlechts, welche erschossen oder ertränkt werden, das Vorspiel zu dem furchtbaren Drama, das mehrere Wochen später Schrecken und Entsetzen verbreiten sollte.

In Holkar, am 1. Juli, Ermordung von vierunddreißig Europäern, Officieren, Frauen und Kindern, Plünderung, Brandstiftung, und in Ugow gleichzeitig Ermordung des Obersten und des Adjutanten vom 23. Regiment der königlichen Armee.

Am 15. Juli zweiter Massenmord in Khanpur. An diesem Tage wurden mehrere Kinder und Frauen – unter diesen auch Lady Munro – mit einer Grausamkeit ohne Gleichen auf Befehl Nana Sahib's umgebracht, der die muselmännischen Metzger aus den Schlachthäusern dabei Hilfe leisten ließ. Es gab ein schreckliches Gemetzel, nach dem die Körper der Erschlagenen in einen legendenhaft gewordenen Schacht gestürzt wurden. Am 26. September säbelte man auf einem Platze Laknaus, der seitdem der »Square der Bahren« genannt wird, zahlreiche schon Verwundete nieder und warf sie noch lebend in's Feuer. In den Städten und auf dem Lande kamen daneben noch viele vereinzelte Mordthaten vor, welche dieser Erhebung den Stempel der wildesten Grausamkeit aufdrückten.

Auf diese Schandthaten antworteten die englischen Generale sofort mit entsprechenden Repressalien, welche vielleicht nothwendig sein mochten, um dem englischen Namen unter den Empörern Achtung einzuflößen, die aber an und für sich wirklich furchtbar waren.

Im Anfang der Erhebung hatte der Ober-Auditeur Montgommery und der Brigadier Corbett unter dem Schutze von zwölf Kanonen mit brennender Lunte ohne Blutvergießen das 8., 16., 26. und 49. Regiment der eingebornen Armee zu entwaffnen vermocht. Ebenso hatten das 62. und 29. Regiment in Moultan, ohne ernsthaften Widerstand leisten zu können, die Waffen ablegen müssen. Auch in Peschavar wurden das 24., 27. und 51. Regiment durch den Brigadier S. Colton und den Oberst Nicholson kurz vor Ausbruch eines Aufstandes entwaffnet. Auf die Köpfe der entflohenen Officiere des 51. Regimentes wurden Preise ausgeschrieben und Alle durch die Bewohner der benachbarten Berge bald wieder zugeführt.

Das war der Anfang der Repressalien.

Eine von Oberst Nicholson commandirte Colonne setzte sich gegen ein nach Delhi marschirendes Natifs-Regiment in Bewegung. Letzteres wurde bald erreicht, geschlagen, zerstreut und hundertzwanzig Gefangene kehrten nach Peschavar zurück, die Alle sofort zum Tode verurtheilt, aber nur jeder dritte Mann erschossen wurden. Auf dem Exercierplatz fuhr man zehn Kanonen auf, vor die Mündung einer jeden wurde je ein Gefangener gebunden, und viermal gaben die zehn Kanonen Feuer, wobei sie die Umgebung mit unförmlich zerfetzten Stücken der Todten bedeckten, über denen eine von dem verbrannten Fleisch verpestete Atmosphäre lagerte.

Nach Belbezen starben diese Verurtheilten fast Alle mit jenem heroischen Gleichmuth, den die Indier gegenüber dem Tode so gut zu bewahren wissen.

»Herr Kapitän, sagte zu einem der die Execution leitenden Officiere ein hübscher Sipahi von zwanzig Jahren, während er das furchtbare Todesinstrument mit der Hand streichelte, Herr Kapitän, Sie brauchen mich nicht festbinden zu lassen, ich habe keine Lust zu entfliehen!«

Das war die erste, entsetzliche Hinrichtung, der noch so viele folgen sollten.

Der Tagesbefehl, welchen an jenem Tage der Brigadier Chamberlain in Lahore nach Hinrichtung zweier Sipahis vom 55. Regiment erließ, lautete übrigens wie folgt:

»Ihr habt eben gesehen, wie zwei Eurer Kameraden lebend vor den Lauf der Kanonen gebunden und in Stücke zerrissen wurden; die gleiche Strafe wird jeden Verräther treffen. Euer Bewußtsein wird Euch die Leiden verkünden, welchen jene in der anderen Welt unterliegen. Die beiden Soldaten wurden durch Kanonen und nicht durch den Galgen vom Leben zum Tode befördert, weil ich ihnen die Verunreinigung durch die Berührung des Henkers ersparen und den Beweis liefern wollte, daß die Regierung auch in diesen Tagen der Gefahr nichts thun will, was Euren religiösen und Kasten-Anschauungen zu nahe treten könnte.«

Am 30. Juli fielen nach und nach zwölfhundertsiebenunddreißig Gefangene von den Kugeln und fünfzig Andere entgingen demselben Tode nur dadurch, daß sie in dem Gefängnisse, worin man sie verwahrte, vorher vor Hunger starben oder erstickten.

Am 28. August wurden von achthundertsiebzig Sipahis, die aus Lahore flohen, von den Soldaten der königlichen Armee nicht weniger als sechshundertfünfzig ohne Erbarmen niedergemacht.

Nach der Einnahme von Delhi, am 23. September, ergaben sich drei Prinzen der königlichen Familie, der präsumtive Thronerbe und seine beiden Vettern, auf Gnade und Ungnade dem General Hudson, der sie mit einer Bedeckung von nur fünf Mann durch eine drohende Menge von wenigstens fünftausend Hindus – 1 gegen 1000 – abführte. Auf halbem Wege ließ Hudson den Wagen mit den Gefangenen anhalten, stieg selbst ein, befahl ihnen, die Brust zu entblößen, und streckte Alle durch drei Revolverschüsse nieder.

General Hudson ließ den Wagen anhalten.

 »Diese blutige Execution von der Hand eines englischen Officiers, sagt Velbezen, erregte im Pendjab die höchste Bewunderung.«

Nach der Einnahme von Delhi endigten dreihundert Gefangene durch die Kanonen oder den Galgen, unter ihnen neunundzwanzig Angehörige der königlichen Familie. Freilich hatte die Belagerung der Stadt zweitausendeinhunderteinundfünfzig Europäer und sechzehnhundertsechsundachtzig Eingeborne gekostet.

In Allahabad ereigneten sich entsetzliche Menschenschlächtereien, weniger unter den Sipahis, als unter dem anderen Volk, das von Fanatikern fast unbewußt zum Plündern veranlaßt worden war.

Am 16. September bedeckten in Laknau die Leichen von zweitausend erschossenen Sipahis einen Raum von hundertfünfzig Meter im Quadrat.

Nach dem Massacre in Khanpur zwang der Oberst Neil die Verurtheilten, bevor er sie dem Galgen überlieferte, je nach ihrer Kaste, jeden Blutfleck, der sich noch in dem Hause vorfand, in dem vormals jene Opfer fielen, zu reinigen und mit der Zunge abzulecken.

Vom Standpunkt der Indier aus war das die schimpflichste Entehrung vor dem Tode. Während der Expedition in Central-Indien folgten sich die Hinrichtungen der Gefangenen unaufhörlich und unter dem Knattern der Gewehre »sanken ganze Mauern von Menschenfleisch zur Erde«.

Bei Gelegenheit der zweiten Belagerung von Laknau wurde nach dem Angriffe auf das Gelbe Haus am 9. März 1858, nachdem viele Sipahis niedergemetzelt waren, einer der unglücklichen Gefangenen von den Shiks, und noch dazu unter den Augen der englischen Officiere, lebendig geröstet.

Am 11. füllten fünfzig Leiber der Sipahis die Gräben des Palastes der Begum in Laknau, ohne daß auch nur ein Verwundeter von den Soldaten, die sich nicht mehr zu zügeln vermochten, verschont worden wäre.

An zwölf Gefechtstagen kamen dreitausend Natifs durch den Strick oder die Kugel um's Leben, und unter ihnen dreihundertachtzig auf der Insel Hidaspe angesammelte Flüchtlinge, die sich bis nach Kaschmir zu retten vermocht hatten.

Alles in Allem, ohne die Sipahis zu zählen, welche mit den Waffen in der Hand, getödtet wurden, findet man, daß bei diesen unbarmherzigen Repressalien, bei denen von Gefangenen keine Rede sein konnte, nur in dem Pendjab-Feldzuge nicht weniger als sechshundertachtundzwanzig Eingeborne durch die Militärbehörden entweder standrechtlich erschossen oder vor die Mündung der Kanonen gebunden wurden, neben dreizehnhundertsiebzig Mann, welche von den Civilbehörden, und dreihundertsechsundachtzig, die auf Anordnung beider öffentlichen Gewalten gehenkt wurden.