Das Ende der Natur - Susanne Dohrn - E-Book
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Das Ende der Natur E-Book

Susanne Dohrn

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Beschreibung

In Deutschland ist die Natur doch noch in Ordnung? Wir Deutschen sind vorbildliche Naturschützer? Weit gefehlt. Zahllose Wiesen- und Ackerpflanzen, Insekten und Vögel gehörten bis vor wenigen Jahrzehnten ganz selbstverständlich zu unserer Landschaft. Heute sind viele von ihnen gefährdet oder schon verschwunden. Je mehr aus Bauern intensiv produzierende Landwirte wurden, desto stärker verödeten artenreiche Wiesen und Weiden zu Intensivgrünland und vielfältige Ackerlandschaften zu industriell bewirtschafteten Monokulturen. Statt dem Treiben Einhalt zu gebieten, fördert die Politik den Wahnsinn noch. So wird die Landwirtschaft vielerorts zur Totengräberin der biologischen Vielfalt.
Susanne Dohrn zeigt den stillen, aber drastischen Verlust auf, der sich vor unserer Haustür abspielt, indem sie die bedrohten Lebensräume und ihre Bewohner eindrücklich beschreibt. Sie benennt die Beteiligten und stellt Beispiele einer naturverträglichen Landwirtschaft vor.

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Seitenzahl: 339

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»Unkenntnis der Vergangenheitist ein Verlust für das Bewusstsein der Gegenwart.«

Golo Mann

DAS ENDEDER NATUR

Die Landwirtschaftund das stille Sterbenvor unserer Haustür

Für Gerhard und Walther, die mich – jeder aufseine Weise – gelehrt haben, genau hinzuschauen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2., durchgesehene und aktualisierte Auflage als E-Book, Januar 2018entspricht der 2. Druckauflage vom Dezember 2017© Christoph Links Verlag GmbH, 2017Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected]: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag,unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock (6452224)sowie zweier Fotos der SchmetterlingeFaulbaum-Bläuling und Kleiner Feuerfalter

eISBN 978-3-86284-402-9

INHALT

PROLOGDie industrielle Landwirtschaft –Totengräberin der biologischen Vielfalt

JANUAR: Eine Tüte Vielfalt

WIESEN UND WEIDENKein Platz für Mädesüß, Klappertopf und Männertreu

Hungerkünstler und Futterdiebe · Sargnägel für die Vielfalt · Retten was zu retten ist?

FEBRUAR: Schälen und fräsen

ÄCKERDer organisierte Feldzug gegen Klatschmohn,Kornblume und Co.

Auf dem Feuerlilienpfad · 100 Äcker für die Vielfalt · Kulturdenkmäler auf dem Acker · Dornröschen unter der Erde · Auf der Suche nach der Arche Noah

MÄRZ: Der Trick mit dem Sand

KNICKS UND HECKENPlattgemacht: Das Wegenetz der Artenvielfalt

Der beste Windschutz aller Zeiten · Umgehauen, abgeholzt, vernichtet

APRIL: Das Unheil wächst zuerst

MOOREKlimaschutz gratis mit Torfmoos, Sonnentau und Wollgras

Die Drohne im Moor · Neue Moore braucht das Land

MAI: Gießen oder nicht?

MAISEin Kraftprotz mit Nebenwirkungen

Gefährlicher Siegeszug · Der verstummte Acker · Der Mais, das Klima und der Boden

JUNI: Gruß aus der Samenbank

AMPHIBIENKleiner König ohne Heim

Zertifizierter Eiersucher · Ohne Wasser kein Leben · Killer auf dem Trecker

JULI: Manche mögen’s heiß

WIESENVÖGELAllerweltsarten in Not

Güllen, schleppen, mähen, ernten · Liebestaumel und schneller Sex · Aufhorchen bei der EU?

JULI: Sie sind wieder da

INSEKTENBekämpfen bis zum letzten Flügelschlag

Schlechte Zeiten für Spezialisten · Schmetterlinge zählen · Teuflische Wirkstoffe · Die Tankstellen-Offensive

AUGUST: Sensenleid

BODENBedrohter Hotspot unter unseren Füßen

Würmer: Schwerstarbeiter unter der Erde · Der Boden-Lobbyist · Gift und Gülle für den Boden · »Black Box« Boden

AUGUST: Ab ins Heu

AUSWIRKUNGEN AUF DEN MENSCHENGefährlich für die Gesundheit

Die Natur wird zur Latrine · Klimawandel und intensive Landwirtschaft · Resistente Keime aus dem Stall · Zu viel Nitrat im Grundwasser · Glyphosat – das neue DDT?

EIN JAHR SPÄTER

DIE MÄR VOM NATURSCHUTZLAND DEUTSCHLAND

Naturschutz: Ein Tiger ohne Zähne · Exklusiver Nestbesuch · Streit ums Wasser

ZURÜCK ZUR NATUREine andere Landwirtschaft ist möglich

ANHANG

Anmerkungen · Register von Tieren und Pflanzen · Dank · Über die Autorin

PROLOG

Die industrielle Landwirtschaft – Totengräberin der biologischen Vielfalt

Die unscheinbare Schöne mit den zartlila Kreuzblüten wächst seit Jahren unter unseren Apfelbäumen. Wiesenschaumkraut heißt sie und verdankt ihren Namen einem Fressfeind, der Wiesenschaumzikade. Ihre Larven beißen ein Loch in den Stängel und ernähren sich von Pflanzensaft. Zudem produzieren sie aus Eiweiß und Luft ein feuchtes Schaumnest. In dieser sogenannten Kuckucksspucke sind sie vor Fressfeinden geschützt. Schiebt man den Schaum ein wenig zur Seite, entdeckt man darin die kleine grüne Larve der Zikade.

Wegen des Wiesenschaumkrauts habe ich neuerdings ein schlechtes Gewissen. Das hat mit einem Falter zu tun. Sein Name: Aurorafalter. Sobald das Wiesenschaumkraut blüht, ist er da. Die Falter sind weiß, die Flügelspitzen der Weibchen grau, die der Männchen leuchtend orange. Bei den Gesprächen für dieses Buch habe ich viel darüber gelernt, wie eng Pflanzen und Insekten kooperieren. Aurorafalter suchen auf den Blüten des Wiesenschaumkrauts nicht nur Nektar, die Weibchen legen dort auch ihre Eier. Die kleinen Räupchen fressen bevorzugt Blüten und Samenschoten, verpuppen sich nach etwa fünf Wochen in Bodennähe und schlüpfen im kommenden Frühjahr. Hier kommen meine Gewissensbisse ins Spiel: Bis zum nächsten Frühjahr bearbeiten wir die Fläche mehrfach mit dem Motorrasenmäher, häckseln Raupen oder Puppen folglich klitzeklein. Wir verwandeln unser sorgfältig gehegtes Wiesenschaumkraut für den Aurorafalter in eine biologische Falle: Erst locken wir ihn an, dann bringen wir ihn um. Ich habe gelernt: Man kann nur schützen, was man kennt. In Zukunft wird das Wiesenschaumkraut nicht mehr gemäht, auch wenn das Stück Rasen irgendwann braun wird.

Aurorafalter sind häufig – noch. Möglicherweise gehören auch sie bald zu den bedrohten Arten. Denn die Landschaft um uns herum hat sich verändert: Bunt blühende Wiesen und Wegraine? Fehlanzeige. Äcker mit Mohn und Kornblume? Raritäten. Schmetterlinge? Seltene Gäste im Garten. Das morgendliche Vogelkonzert im Frühling und Frühsommer? Eine Stimme nach der anderen verstummt. Kröten, Unken, Salamander? Vom Aussterben bedroht. Wiesen- und Ackerpflanzen, zahllose Insektenarten und Feldvögel gehörten bis vor wenigen Jahrzehnten ganz selbstverständlich zu unserer Normallandschaft. Ihr Lebensraum sind die Wiesen und Weiden, Äcker, Wege, Hecken, Knicks und Feuchtgebiete, also landwirtschaftlich genutzte Flächen. Die machen mehr als 50 Prozent der Landfläche Deutschlands aus, sie sind unsere »Natur«.

Diese Vielfalt wurde von Menschenhand geschaffen, von Bauern, die das Land urbar machten und bearbeiteten. Doch als nach dem Zweiten Weltkrieg aus Bauern intensiv produzierende Landwirte wurden, änderte sich das rasant. Aus artenreichen Wiesen und Weiden machten sie Intensivgrünland, aus vielfältigen Ackerlandschaften industriell bewirtschaftete Monokulturen. Sie beseitigten Knicks, Hecken und Feldraine – das Wegenetz der Biodiversität – und legten nahezu jede Senke und Mulde trocken, die sich auf ihren Flächen befand. Weil Monokulturen anfälliger für Krankheiten sind, rücken sie nun mit Insektiziden, Herbiziden und Fungiziden – von der Industrie mit dem freundlichen Namen »Pflanzenschutzmittel« ausgestattet – allem zu Leibe, was von der angebauten Ackerfrucht abweicht, und vernichten so die Nahrungsgrundlage für alle körner- und insektenfressenden Tiere gleich mit. Und als wäre das noch nicht genug, verwandeln sie mit ihrer stinkenden, medikamentenverseuchten Güllefracht unsere Landschaft in eine gigantische Latrine.

Statt dem Treiben Einhalt zu gebieten, fördert die Politik den ganzen Wahnsinn mit Subventionen für Biogas noch zusätzlich. So wird die Landwirtschaft zur Totengräberin der biologischen Vielfalt, eine Entwicklung, die inzwischen sogar die Bodenlebewesen erfasst. Diesen rücksichtslosen Raubbau bekommen auch wir Menschen zu spüren. In vielen Bundesländern, auch in meiner Heimat Schleswig-Holstein, verseucht Nitrat aus der Gülle großräumig das Grundwasser. In den Urinproben vieler Menschen werden Rückstände von Glyphosat gefunden, einem Unkrautvernichter, der in Verdacht geraten ist, Krebs auszulösen. Seit Jahren streiten Wissenschaft und Politik, ob das Mittel verboten gehört.

Es ist pervers. Verglichen mit intensiv bewirtschafteten landwirtschaftlichen Flächen sind unsere Städte, ja sogar viele Randstreifen von Autobahnen mittlerweile geradezu ein Hort der Biodiversität. Exemplare der Bienen-Ragwurz, einer stark gefährdeten Orchideenart, wachsen in einem feuchten Graben entlang der A 8 nördlich von Amsterdam, weil dort nicht gedüngt und keine Herbizide ausgebracht werden. Auf den Randstreifen der A 14 bei Bernburg vermehren sich selten gewordene Zauneidechsen. Weil dort keine Insektizide ausgebracht werden, finden sie eine reiche Beute an toten und halbtoten Insekten, die ihnen die vorbeifahrenden Autos direkt vors Maul wirbeln. Die Eidechsen wandern von dort sogar auf neue Autobahnabschnitte aus.

In Ausnahmefällen leben an Autobahnen sogar Kreuzottern oder Schlingnattern. Auf dem Mittelstreifen einer Autobahn hat man neugeborene Blindschleichen gefunden, wie Klaus Richter, Professor an der Hochschule Anhalt, auf dem Deutschen Naturschutztag 2016 berichtete. Im Begleitgrün der A 14 bei Bernburg in Sachsen-Anhalt zählten Wissenschaftler und freiwillige Helfer 2014 zwischen Mai und September beispielsweise eine hohe Zahl an Tagfalterarten, wie man sie heute in der intensiv genutzten Agrarlandschaft vergeblich sucht. Vor allem für ehemals weit verbreitete Arten können solche Grünflächen heute wichtige Rückzugsräume sein, gelegentlich treten aber sogar Seltenheiten auf, wie zum Beispiel der Himmelblaue Bläuling, der in der Region Bernburg seit 1975 verschollen war, oder das Veränderliche Widderchen, das ebenfalls auf der Roten Liste steht. Übrigens ist die Fläche des Begleitgrüns in Deutschland mit etwa vier Prozent der Landesfläche etwa halb so groß wie die der Naturschutzgebiete in unserem Land.1

Landwirtschaftlich genutzt werden hingegen mehr als 50 Prozent der Fläche unseres Landes. Hinzu kommen noch gut 30 Prozent Wald. Siedlungs- und Verkehrsflächen machen nur knapp 14 Prozent der Landesfläche aus. Das als Hinweis an alle, die, wie kürzlich eine Agrarlobbyistin, meinen, den Verlust der Insektenvielfalt auf den Tod an Autofrontscheiben zurückführen zu können.

Bei einem der vielen Gespräche für dieses Buch fiel ein Satz, der sich mir eingebrannt hat: »Die Landschaften meiner Kindheit waren voller Leben.« Er stammt von Michael Succow, Landschaftsökologe und Träger des Alternativen Nobelpreises. Succow wurde 1941 in Brandenburg als Sohn eines Landwirts geboren. Vom Fenster seines Kinderzimmers sah er Großtrappen bei der Balz zu: Die Hähne leuchteten wie weiße Federbälle, die Weibchen mit ihren langen Beinen und Hälsen hielt er bei seinen ersten Begegnungen für Strauße. Im Dezember 1959 beobachtet er Tausende Finkenvögel: Grau-, Gold- und Rohrammern, Buch- und Bergfinken, Blut- und Berghänflinge, Birkenzeisige, Feldsperlinge bei der Suche nach Samen auf einem abgeernteten Acker. »Ich meinte damals, das bliebe immer so.« Wenn er heute die Landschaft seiner Kindheit besucht, stimmt ihn das traurig. Der Gesang der Gartenammer aus den Wipfeln der Linden ist verstummt, der einst von Schwanenblume und Pfeilkraut umsäumte Feldteich, in dem Wasserläufer und Gelbrandkäfer, Rotbauchunke und Kammmolch lebten, ist ausgetrocknet. Selbst die Regenwürmer sind selten geworden. »Komme ich heute in mein Heimatdorf, wandere ich durch Ackerfluren, die mir früher so vertraut waren, so bin ich immer wieder von neuem erschüttert. Wie wenig ist geblieben! Die Idylle meiner Kinderjahre – zur Unkenntlichkeit entstellt, ausgeräumt, erloschen.«2

Wer jung ist, mag denken: So jammerten die Alten schon immer. Ich gebe zu, eine Weile ging es mir ähnlich. Bis ich von »shifting baselines« las. Entdeckt hat sie der Fischereibiologe Daniel Pauly. Er stellte fest, dass Fischereiexperten die Fisch-Populationen am Beginn ihrer Karriere als Referenzpunkte nutzten, aber nicht die Populationen aus den Generationen davor. So fiel es ihnen zwar auf, dass im Laufe ihres Forscherlebens die Fische kleiner und seltener wurden. Doch um wie vieles häufiger und größer die Fische eine Generation davor waren, nahmen sie nicht wahr. Für die Biodiversität gilt Ähnliches. Wer nie im Leben eine artenreiche Blumenwiese gesehen hat, wie es sie in den 1950er Jahren noch überall gab, mag blühenden Raps und Löwenzahn für biologische Vielfalt halten. Wer die Vielfalt heimischer Schmetterlinge nicht erlebt hat, gibt sich mit Admiral und Tagpfauenauge zufrieden. Dabei gäbe es so viel mehr zu entdecken.

Heute frage ich mich, warum mir die Veränderungen nicht früher aufgefallen sind. Ich glaube, es liegt nicht nur daran, dass langsame Veränderungen sich unserer Wahrnehmung verschließen. Es kommt noch etwas Wichtiges hinzu: Berichte über Millionenausgaben für den Schutz von Großtrappen, über Fische oder Fledermäuse, die Autobahnen verhindern können, haben bei mir für das Gefühl gesorgt, es werde bei uns eher zu viel als zu wenig für den Naturschutz getan. Wenn sich dann noch Wolf, Wildkatze, Biber, Fisch- und Seeadler wieder ausbreiten, verstärkt sich der Eindruck, Deutschland sei eigentlich Europas ökologischer Musterschüler. Wie weit wir davon in Wirklichkeit entfernt sind, zeigt dieses Buch.

Manchmal gibt es Heureka-Momente. Als ich vor ein paar Jahren im Sommer nach Estland fuhr, entdeckte ich eine Landschaft, an der ich mich nicht sattsehen konnte: das zarte Grün der Wegraine durchsetzt mit lichtem Blau und einem kleinen Stich ins Lila, weil der Wiesenstorchschnabel in voller Blüte stand. Rosa Wiesen-Flockenblumen, auf denen Sechsfleck-Widderchen sich sonnten, die wegen ihrer leuchtend roten Punkte auf den Flügeln auch Blutströpfchen heißen. Blaue Kornblumen, an denen der Schwalbenschwanz, unser größter Tagfalter, Nektar saugte. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag: So etwas gab es bis vor wenigen Jahrzehnten auch bei uns. Warum ist das weg?

Also begab ich mich auf die Suche nach der verlorenen Vielfalt, sprach mit Bauern und Botanikern, mit Insekten- und Vogelkundlern, mit Natur- und Landschaftsschützern, sogar ein Laubfrosch-Experte war dabei, und schnell kristallisierte sich eine Hauptursache heraus: die intensive Landwirtschaft, der ab den 1960er Jahren alle anderen Interessen untergeordnet wurden. Als dabei Butterberge, Milchseen und Rindfleischgletscher entstanden, wurden sie vernichtet oder gingen – von der EU hoch subventioniert – in den Export. Als viele Höfe diese Politik nicht überlebten, gaben die Funktionäre von Landwirtschaft und Ernährungsindustrie die Maxime »Wachsen oder Weichen« aus. Ein Umdenken fand nicht statt, obwohl die Warnungen seit den 1980er Jahren immer lauter wurden, dass diese Art der Landwirtschaft die Vielfalt und Schönheit unserer Natur peu à peu zugrunde richtet. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, entdeckte die Politik die Biokraftstoffe und die Biogasanlagen, so dass heute auf knapp 20 Prozent der Ackerflächen keine Lebensmittel, sondern Pflanzen für die Energieerzeugung angebaut werden.3

Es ist verrückt: Jahrtausende waren Artenvielfalt und Landwirtschaft zwei Seiten einer Medaille, ja die Vielfalt früherer Jahrhunderte wäre ohne die Landwirtschaft gar nicht erst entstanden. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Landwirtschaft den Vertrag mit der Natur gekündigt. Sie wurde zu einer Industrie, die ohne Rücksicht auf Verluste unsere Lebensgrundlage ausbeutet und dabei eine Vielfalt zerstört, die nicht nur das Auge erfreut, sondern unsere Lebensgrundlage für die Zukunft sichert. Statt endlich umzudenken und umzusteuern, bietet die moderne Technik nur wieder eine scheinbar einfache Lösung an: Die Samen von Ackerwildkräutern werden in Samenbanken für die Zukunft konserviert, um sie bei Gelegenheit wieder herausholen zu können und ein paar Genschnipsel davon für eine neue Züchtung zu nutzen.

Dieses Buch will die Liebe wecken zu den bedrohten und viel zu oft übersehenen Pflanzen und Tieren der Agrarlandschaft – von den Wiesenblumen und den Ackerwildkräutern bis zu Insekten und Vögeln, die alle aufeinander angewiesen sind. Es ist ein J’accuse gegen die intensive Landwirtschaft, die die Vielfalt unserer Natur auf dem Altar immer neuer Ertragssteigerungen mit noch mehr Einsatz von Chemie und Dünger opfert, und eine Politik, die es fördert, dass tonnenweise Raps, Getreide und Mais in Biogasanlagen und Autotanks landen. Es ist zudem ein Appell, sich nicht Sand in die Augen streuen zu lassen, wenn Agrarlobbyisten immer wieder behaupten, das Land oder gar die Welt werde verhungern, wenn wir in Deutschland nicht jeden Flecken Ackerfläche intensiv bewirtschafteten.

Ob wir in Deutschland 20 Prozent mehr landwirtschaftliche Produktion haben oder weniger, wird die Nahrungsmittelsicherheit weltweit nicht berühren. Für die Artenvielfalt hingegen wären 20 Prozent nicht intensiv genutzte Ackerfläche ein Riesenschritt. Die Vielfalt unserer Natur ist ein kulturelles Erbe, über Jahrtausende von Menschenhand geschaffen, gehegt und gepflegt, älter als der Kölner Dom und vielfältiger als alle Kunstschätze aller Museen zusammen. Wir sollten uns endlich darauf besinnen, sie zu hüten und zu fördern. Gelungene Beispiele dafür gibt es, wenn auch noch viel zu selten. In diesem Buch kommen Landwirte, Forscher und Naturschützer ausführlich zu Wort, die beispielhaft für eine andere als die kritisierte Landwirtschaft stehen und gelungene Beispiele dafür sind, wie diese Vielfalt erhalten werden kann.

Einen Versuch dazu habe ich selbst gestartet. Mit Beginn der Recherche für dieses Buch habe ich in meinem Garten eine kleine, artenreiche Wiese angelegt. Ich habe ihr beim Wachsen und Blühen zugesehen, den Bienen, Hummeln, Schwebfliegen und Schmetterlingen, die sie besuchen. Meine kleine Wiese hat die Entstehung dieses Buches begleitet. Während ich diese Sätze schreibe, erwacht sie nach Schnee und Frost gerade zu neuem Leben.

Tornesch, im Mai 2017

JANUAR

Eine Tüte Vielfalt

Die Idee, der intensiven Landwirtschaft etwas Konkretes entgegenzusetzen, entsteht an einem Januartag in Halle an der Saale. Dort treffe ich Josef Settele, Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). Gerade hat er ein Buch über die Tagfalter Deutschlands herausgebracht. In seinem Garten hat er eine Wiese angelegt, nur einige Quadratmeter groß, hinter dem Rasen für die Kinder. »Wir haben uns von einem Gärtnerkollegen eine Mischung aus regionaltypischem Saatgut geholt«, erzählt er. Jeden Sommer beobachte er nun mit großer Freude, »was dort so lebt«, und greift im Spätsommer zur Sense, um sie zu mähen. Das Beispiel zeigt: Die biologische Vielfalt kann man auch im Kleinen fördern.

Auf der Rückfahrt beschließe ich, selbst eine kleine Wiese anzulegen. Sie soll so aussehen wie früher, als in der Feldmark (Äcker, Wiesen, Weiden, Wälder, Raine, alles was zu einem Ort gehört, aber nicht bebaut ist) rosa Kuckucks-Lichtnelken blühten, lila Wiesenschaumkraut, blaue Rundblättrige Glockenblumen und man niemandem erklären musste, dass es sich bei Bläuling, Blutströpfchen oder Schwalbenschwanz um Schmetterlinge handelt. Ich will den Tisch decken für Hummeln und Bienen, für Falter und Fliegen. Im Netz finde ich einen Betrieb, der sich auf die Herstellung von regionaltypischem – das Fachwort lautet autochthon – Saatgut spezialisiert hat, und schicke eine Mail.

Dieses Saatgut wird in der Region gesammelt, vermehrt und dort wieder ausgebracht. Die Idee dahinter hat mit der Entwicklung unserer Natur und Landschaft zu tun. Wildpflanzen haben sich im Laufe der Jahrhunderte an die lokalen Umweltbedingungen angepasst. Abhängig von Klima, Boden, Sonneneinstrahlung und Feuchtigkeit, haben sie unterschiedliche genetische Potenziale entwickelt, sind stärker oder weniger frostempfindlich, blühen früher oder später. Hinzu kommt ein Artenspektrum, das sich von Region zu Region entsprechend den Bodenverhältnissen stark unterscheidet. Nördlich und westlich von Halle und im Südharz gibt es Muschelkalkhänge und Karstlandschaften, also kalkhaltige Böden. In Schleswig-Holstein hingegen herrschen Marsch- und Sandböden vor. Auf einer typischen artenreichen Wiese in der Umgebung von Halle wachsen demzufolge andere Pflanzen als auf einer Wiese im Norden Hamburgs.

Eine Stunde nach der Mail kommt der Rückruf. Sogleich wird die Sache verzwickt: Offensichtlich habe ich das falsche Unternehmen ausgesucht. Es beliefert landwirtschaftliche Betriebe und Kommunen, die Blühstreifen anlegen wollen, Flächen-Minimum: ein Hektar. Mit 50 Quadratmetern sei meine Wiese viel zu klein, »Apothekermengen« würden sie eigentlich nicht verkaufen, sagt der Berater. Wir einigen uns auf 500 Gramm Saatgut, doppelt so viel, wie ich für meine kleine Wiese brauche. Weniger sei nicht möglich, weil die gewünschte Menge und die Zusammensetzung für jeden Kunden individuell zusammengestellt werden müsse. Sei die Menge zu klein, werde der Aufwand zu teuer.

Meine Mischung nennt sich »Nordwestdeutsches Tiefland«, umfasst Marschen, Flusslandschaften und Altmoränen von Emden bis Lüneburg und Hannover bis Flensburg. Andere Mischungen heißen »Nördliche Kalkalpen«, »Fränkisches Hügelland« oder »Uckermark mit Odertal«. 22 sind es insgesamt. Meine enthält 35 verschiedene Arten, eine unglaubliche Vielfalt im Vergleich zu Wiesen heute, auf denen zwei bis drei schnellwachsende Gräser wie das Deutsche Weidelgras wachsen und vielleicht noch Löwenzahn.

Meine Gräser hingegen tragen Namen wie Wiesenrispe, die in den USA Bluegrass genannt wird und einer Bergkette, den Bluegrass Mountains in Kentucky, den Namen gab. Ein anderes Gras heißt Wiesen-Fuchsschwanz und hat eine Ähre so dick wie Pfeifenputzer. Der Rotschwingel bildet dichte Horste am Boden. Würde meine kleine Wiese beweidet, wäre dies Gras für die Tiere ein besonderer Leckerbissen. Die Feld-Hainsimse, eine Binse, schmeckt eher den Ameisen. Sie hat einen raffinierten Trick entwickelt, um neue Standorte zu besiedeln. Biologen nennen ihn Myrmekochorie, von griechisch mýrmēx (= Ameise) und chōrein (= sich verbreiten). Die Simse stattet ihre Samen mit einem fettreichen Anhängsel aus. Diesen Leckerbissen tragen Ameisen mitsamt den Samen in ihre Bauten. Auf diese Weise verbreiten sie die Feld-Hainsimse.

Zu den Hülsenfrüchten gehört die Vogel-Wicke, die leuchtend blau-lila blüht und nahrhafte Samen produziert, über die sich die Vögel im Herbst freuen werden. Das Echte Mädesüß heißt so, weil es nach der Mahd angenehm duftet. Der himmelblaue GamanderEhrenpreis trägt im Volksmund den Spitznamen Männertreu: Wenn man die Pflanze pflückt, fallen die Blüten rasch ab. Nicht alle Pflanzen werde ich im Laufe des ersten Jahres kennenlernen, warnt der Berater. Manche keimen erst nach dem nächsten oder übernächsten Winter. Die Wiese werde ihre Zusammensetzung im Laufe der Jahre verändern.

Die Tüte, ein schlichter, weißer, oben grob zugenähter Papierbeutel, kommt zwei Wochen später. Sie enthält elf verschiedene Gräser, fünf Leguminosen, ein anderes Wort für Hülsenfrüchte, und 19 unterschiedliche Kräuter, die alle zusammen bis vor wenigen Jahrzehnten überall zu ganz normalen Wiesen gehörten. In meinem Garten sollen sie alle wachsen und blühen dürfen, als buntes, vielfältiges, nektarreiches Insekten-Eldorado. Für die Aussaat ist es noch zu früh. Wir haben gerade mal Ende Januar, und wo die Wiese wachsen soll, befindet sich noch Rasen. Der muss erst abgeschält werden, damit meine Wiesensaat eine Chance gegen die konkurrenzstarken Rasengräser bekommt. So habe ich Zeit, mich mit dem Inhalt der Tüte zu beschäftigen und die langen schmalen, dicken runden, großen und kleinen Saatkörner zu erforschen. Was heißt es, wenn die Tüte fünf Gramm Vogel-Wicke enthält, 2,5 Gramm Rotklee und 2,5 Gramm Gamander-Ehrenpreis, aber 70 Gramm Rotschwingel? Wie viele Pflanzen können das werden? Hunderte, Tausende, zehn, eine?

Die Recherche ergibt: Das Gewicht von Saatgut wird als Tausendkornmasse angegeben und die ist bei jeder Pflanze anders. Die Samen der Vogel-Wicke sind dick und schwer. 1000 Stück wiegen 40 Gramm, 1000 Rotkleesamen hingegen um die 2 Gramm, beim Rotschwingel sind es nur noch 1,2 Gramm, und der Gamander-Ehrenpreis ist geradezu ein Leichtgewicht. 1000 Samen bringen nur 0,2 Gramm auf die Waage. Entsprechend bunt ist die Saatgut-Mischung: Gut 125 Saatkörner von Vogel-Wicken, gut 1250 des Rotklees, 12 500 Ehrenpreissamen und 63 000 des Rotschwingels. Er ist eines der elf Gräser auf meiner kleinen Wiese und soll mehr als einen Meter hoch werden. Ob die Blütenpflanzen dazwischen überhaupt noch zu sehen sein werden? Wird die kleine Wiese womöglich Ehrenpreis-blau blühen oder Rotklee-rosa?

WIESEN UND WEIDEN

Kein Platz für Mädesüß, Klappertopf und Männertreu

Wiesen und Weiden sind Menschenwerk, ihre natürliche Vielfalt verdanken sie den Bauern. Es gibt sie, seit Menschen in der Jungsteinzeit begannen, sesshaft zu werden. Bauern haben sie dem Wald abgerungen, haben Bäume gefällt, auf die so entstandenen Grünflächen ihre Tiere getrieben und Äcker angelegt. Die Bäume des Waldes lieferten Viehfutter und Einstreu für die Ställe.1 Die biologische Vielfalt unserer Wiesen und Weiden entstand weitgehend aus dem schon vorhandenen Arteninventar, das der Beweidung standhielt oder sich ihr anpasste. Rinder, Schafe, Schweine und Ziegen sorgten dafür, dass neue Büsche und Bäume nicht nachwachsen konnten, und verbreiteten mit ihrem Fell und in ihrem Dung die Pflanzensamen.

Die strikte Trennung zwischen Wald und Weide, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. Das Vieh lebte vielerorts bis in die Neuzeit fast ganzjährig im Wald. Und zwar in großen Zahlen, wie ein Protokoll aus dem Jahr 1739 zum Vieheintrieb in den 4500 Hektar großen Kaufunger Wald in Nordosthessen/Südostniedersachsen zeigt: In ihn wurden jährlich 795 Schweine, 1173 Rinder und 3146 Schafe getrieben, im 21 000 Hektar großen Reinhardswald in Hessen waren es sogar 5459 Schweine, 3059 Pferde, 5869 Rinder, 19 374 Schafe und 718 Ziegen. Für kirchliche und weltliche Grundbesitzer war die Verpachtung von Weiderechten zur Schweinemast im Wald eine wichtige Geldquelle.2

Die tausendjährigen Eichen, die heute fälschlich als Urwaldrelikte angesehen werden, sind die Zeugen dieser Nutzung als Hute- oder Hudewald. Sie konnten nur deshalb so raumgreifende Kronen ausbilden, weil die Tiere die Flächen um sie herum kurz hielten und Platz schufen. Wo immer heute solche alten Eichenriesen stehen, kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass es sich um Bäume aus einem als Viehweide genutzten Hutewald handelt. Mit dem Ende dieser gemeinschaftlich genutzten Wälder spätestens im 19. Jahrhundert verschwanden Vögel wie der Wiedehopf aus der Landschaft. Der etwa drosselgroße Vogel wirkt wegen seiner aufrichtbaren fünf bis sechs Zentimeter langen Federhaube viel größer, nistet gern in den Höhlen alter Bäume, zum Beispiel von Hute-Eichen, sucht aber in offenen Landschaften mit kurzer Pflanzendecke seine Nahrung.

Die großen Heuwiesen hingegen sind eine Erfindung der vergangenen 100 bis 150 Jahre. Für die Heuwiesen nutzten die Landwirte vor allem Flussniederungen. Dort leiteten sie das Wasser im Frühjahr durch »Flöße« – das sind kleine Gräben – auf die Wiesen. Die nährstoffhaltigen Schwebstoffe des Flusswassers düngten die Wiesen, beanspruchten also keinen wertvollen und knappen Stallmist, der für die Feldkulturen benötigt wurde. So sind auch die ehemals artenreichen Feuchtwiesen durch menschliche Nutzung entstanden, denn die ein- bis zweimalige Heuernte begünstigt Blütenpflanzen, die das Licht lieben. Mit der Mahd werden dem Gras Nährstoffe entzogen und die Saat der Blütenpflanzen kann ausfallen, bevor das Heu abgefahren wird. Die Heuwiesen waren eine Folge des steigenden Fleischkonsums im 19. Jahrhundert, weshalb die Landwirte mehr Viehfutter für den Winter einlagern mussten. Damals wurde Fleisch zur Ikone der gesunden Ernährung. »Die gewöhnlichsten Erfahrungen geben zu erkennen, dass das Fleisch vor allen anderen Nahrungsstoffen die größte Ernährungsfähigkeit besitzt«, schrieb Justus von Liebig, der Erfinder von »Liebigs Fleischextrakt«, nicht ganz uneigennützig in seinen »Chemischen Briefen«, die er ab 1841 regelmäßig in der Augsburger Allgemeinen Zeitung veröffentlichte.3

Im Laufe der Jahrhunderte passten sich menschliche Nutzung, Pflanzen, Insekten und Vögel auf Weiden und Wiesen einander an. Auf trockenen Böden leben Pflanzen, die lange Durststrecken ertragen können, wie der Wiesensalbei, auf nassen Standorten solche, die mit viel Feuchtigkeit klarkommen, wie die Kuckucks-Lichtnelke mit ihren ausgefransten rosa Blüten. Es gibt Wiesenpflanzen, die an saure Böden angepasst sind, und solche, die lieber auf kalkhaltigen wachsen, wie in der Schwäbischen Alb. Auf mageren Wiesenstandorten gedeihen andere Pflanzen als auf nährstoffreicheren. Deshalb gehörte früher zu jeder Region und jedem Bodentyp eine typische Wiesenlandschaft mit ihrer ganz eigenen Blütenpracht.

Es gab gelb blühende Schlüsselblumen-Wiesen, Storchschnabel-Goldhafer-Wiesen, Salbei-Glatthafer-Wiesen, Wiesenschaumkraut-Fuchsschwanz-Wiesen, SumpfdotterblumenWiesen, um nur einige zu nennen. Botaniker haben jeder dieser Pflanzengesellschaften einen Namen gegeben. Alle sind an bestimmte Standortvoraussetzungen gebunden und haben eine ganz spezifische Zusammensetzung. In manchen Fällen wachsen 60 bis 100 verschiedene Pflanzenarten auf einer solchen Wiese. Das hat wiederum eine entsprechende Vielfalt von Insekten zur Folge und von Vögeln, die sich von ihnen ernähren.

Je magerer die Böden, umso größer ist oft die Vielfalt, denn auf diesen Standorten sind die langsam wachsenden Hungerkünstler zu Hause. Einige haben ausgebuffte Strategien entwickelt, um unter diesen widrigen Umständen zu überleben. Der gelb blühende Große und Kleine Klappertopf bemüht sich gar nicht erst, selbst für ausreichend Nahrung zu sorgen. Er zapft lieber die Wurzeln benachbarter Pflanzen an, um ihnen Wasser und Nährstoffe zu rauben, weshalb die Bauern ihn nicht schätzen und ihn Milchdieb nennen. Versucht er bei der Magerwiesen-Margerite auf Futterraub zu gehen, beißt er allerdings auf Granit, beziehungsweise auf Holz. Sie bildet harte Bereiche, um sich gegen den Nährstoffklau zu wehren.4

Pflanzen auf trockenen Standorten verhindern trickreich, dass sie zu viel Wasser verlieren. Eine Möglichkeit ist: Verdunstungsfläche reduzieren. Das geschieht mit kleinen, fein zerteilten Blättern oder mit einer schützenden Wachsschicht. Oder sie produzieren ihren Schatten selbst. Das Habichtskraut trägt dazu unter seinen Blättern einen dicken Filz. »Wenn wir zwei gleich große Blätter im selben Momente von der Pflanze abtrennen und so in die Sonne legen, dass eines die nackte Ober-, das andere die zottige Unterseite den Strahlen darbietet; ersteres wird weit früher welken«, ist unter dem Titel »Sommerlust« in einem Beitrag des Bulletin de la Société des naturalistes luxembourgeois aus dem Jahr 1900 zu lesen. Und das, obwohl sich die Wasser abgebenden Spaltöffnungen nur auf der Blattunterseite befänden, schreibt der Autor und erklärt, warum diese Pflanzen ihre Blätter einrollen, wenn die Sonne es zu bunt treibt. Dann zeigt das Habichtskraut nämlich seine behaarte Unterseite zur Sonne. Fetthennen mit ihren dickfleischigen Blättern schaffen es sogar, die Sammler von getrockneten Pflanzen auszutricksen. »Wenn man sie ins Herbarium presst, wachsen sie zwischen den Trockenpapieren lustig weiter und entfalten ihre bis dahin verschlossenen Blüten.«5

Eines haben alle Wiesenpflanzen gemeinsam: Sie sind langlebig. Sie können Jahre, manchmal Jahrzehnte an einem Standort existieren. Sie sind darauf angewiesen, dass sie – allerdings nicht zu oft – gemäht oder von Tieren abgefressen werden, sonst würden mehrjährige Stauden, Büsche und Bäume nach und nach ihre Fläche erobern und sie verdrängen. Ihre Samen hingegen sind eher kurzlebig. Sie sterben innerhalb von einem bis fünf Jahren ab. Nur weniger als 20 Prozent der Saaten von Grünlandarten überleben länger.6 Vermutlich waren ihre Lebensbedingungen verhältnismäßig konstant und es gab kaum eine Auslese hin zu langlebigem Saatgut. Für meine kleine Wiese hat das eine praktische Konsequenz: Ich werde sie im kommenden Jahr vergrößern müssen, bevor die Samen ihre Keimfähigkeit verlieren. Denn für die geplante Fläche brauche ich nur die Hälfte des Saatgutes, das ich erhalten habe.

Hungerkünstler und Futterdiebe

Bis in die 1960er Jahre waren Wiesen und Weiden ein Eldorado für Pflanzen, Insekten und Vögel. Die Vielfalt der Gräser und Kräuter bildete ein Mosaik aus kurzem und hohem Bewuchs. Es gab trockene, feuchte und nasse Stellen, und entsprechend dicht oder dünn war der Boden bewachsen. Auf offenen Trittstellen konnten Schmetterlinge Mineralien aus dem Boden saugen und sich in der Sonne wärmen, es konnten sich Pionierpflanzen ansiedeln wie der Kreuzenzian, der zum Keimen offenen Boden braucht. Auf den unbefestigten Feldwegen lebte eine »Trittgesellschaft« aus Pflanzen, die an Störungen angepasst war, wie Vogelknöterich und Breitwegerich, die ihre Nährstoffe in den Wurzeln speichern und sich nach Verletzungen durch Viehtritt oder Wagenräder rasch wieder erholen können. Minze und Disteln, die von den Rindern ungern gefressen werden, lieferten Pollen und Nektar für Fliegen, Käfer und Schmetterlinge, auf die wiederum insektenfressende Vögel Jagd machen.

Viele dieser Standorte, wie die Bergwiesen im Harz, wurden über Hunderte von Jahren auf die gleiche Art und Weise bewirtschaftet. Die Bergleute dort hielten Vieh, vor allem robuste Rinder wie das Harzer Rote Höhenvieh oder die genügsamen Harzziegen, und legten für die Winterfütterung Heuwiesen an. Extensive Beweidung, regelmäßige Mahd und ein Mangel an Düngemitteln haben im Harz Juwelen der Artenvielfalt entstehen lassen, die je nach Höhenlage und Wasserversorgung eine ganz unterschiedliche Zusammensetzung der Flora und Fauna zur Folge haben. Weiterbestehen kann sie nur, wenn diese Art der Nutzung beibehalten wird – mit extensiver Beweidung und Heugewinnung, in unzugänglichen Bereichen heute mit der Muskelkraft engagierter Naturschützer, wenn Maschinen nicht eingesetzt werden können, weil das Gelände zu steil oder unzugänglich ist. Bleibt diese Landschaftspflege aus, verschwindet diese Vielfalt innerhalb weniger Jahre. Hochwachsende Stauden, Büsche und Bäume verdrängen die Licht liebenden Wiesenpflanzen.

In der Nähe von Greifswald hat ein artenreiches Wiesen-Juwel inmitten landwirtschaftlich intensiv genutzter Flächen überlebt, der »Heidehügel von Mesekenhagen«. Für die Botaniker der Universität Greifswald war er schon zu DDR-Zeiten ein Hotspot der Diversität. Seit 2013 ist er ein Naturdenkmal und steht unter Naturschutz. Naturdenkmäler sind nach dem Bundesnaturschutzgesetz »Einzelschöpfungen der Natur«, zum Beispiel seltene Bäume, Findlinge oder bis zu fünf Hektar große Flächen von besonderer »Seltenheit, Eigenart oder Schönheit«. Den Heidehügel müsse ich unbedingt kennenlernen, sagt Peter König. Er lehrt an der Universität Greifswald und ist Kustos des Botanischen Gartens der Universität, eines der ältesten in Deutschland. Der Garten wurde 1763 von Samuel Gustav Wilcke gegründet, der bei dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné Naturalhistorie studiert hatte. Die naturkundliche Exkursion wird zu einer Schule des Sehens und wirbelt mein bisheriges Verständnis einer Heidelandschaft, in die früher unsere Bienen zum Honigsammeln gebracht wurden, ganz schön durcheinander.

Von Greifswald fahren wir Richtung Nordwesten und parken nach einigen Kilometern an einer nassen Wiese. Zu sehen ist nichts als feistes Grün mit dem einen oder anderen gelben Tupfer Löwenzahn. Wir stapfen gegen den Wind an, der an diesem kalten Maitag unerbittlich von der Ostsee weht, König mit dem schnellen Schritt des Ortskundigen vorneweg. Ich halte derweil Ausschau nach Heidepflanzen. Die sind nicht in Sicht. König bemerkt meinen Blick. »Sieht aus, als ob hier nichts los ist. Tote Hose, salopp gesagt«, so der Botaniker, als wir endlich stehen bleiben. Offensichtlich sind wir da, nur, wo bleibt die Heide? Die werde ich nicht zu Gesicht bekommen, erfahre ich, denn ich bin einem Missverständnis, besser gesagt meiner Unwissenheit, auf den Leim gegangen. »Früher war Heide alles, was nicht als Privatbesitz zugewiesen war, also Allmende.« Heide umfasste also eher einen Rechtsbegriff als die Landschaftsform, an die wir heute bei der Lüneburger Heide denken.

Bei der »Heide« von Mesekenhagen handelt es sich um einen eiszeitlich entstandenen Sandhügel, umgeben von ertragreichen Böden. In der Tat fällt beim genauen Hinschauen auf, dass der Bewuchs nicht ganz so dick und dicht ist wie auf der Wiese, über die wir gerade gekommen sind. Auch das Grün ist reicher an Schattierungen. Weil der Boden, anders als in der unmittelbaren Umgebung, wenig ertragreich ist, blieb er über die Jahrhunderte eine gemeinschaftlich genutzte Schafweide oder Streuwiese. So nannte man Wiesen, die einmal im Jahr, im Spätsommer, gemäht werden und deren nährstoffarmes Heu nicht als Futter, sondern als Einstreu im Winter verwendet wurde. Als zu DDR-Zeiten die Intensivierung der Landwirtschaft vorangetrieben wurde, blieb der Sandhügel verschont, weil er zu niedrige Erträge versprach. Deshalb hat sich dort eine Fülle von Arten erhalten, die man im Grünland der Umgebung vergeblich sucht.

König bückt sich, zupft einige unscheinbare Grashalme ab, reibt sie zwischen den Fingern und hält sie mir unter die Nase. Das Gras verströmt ein leichtes Waldmeisteraroma. Die Erklärung dafür: Es enthält eine chemische Vorstufe des Cumarins, das auch als blutgerinnungshemmender Arzneistoff bekannt ist. »Wohlriechendes Ruchgras, Anthoxanthum odoratum«, sagt König. »Das ist ein Gras, das sehr schwachwüchsig ist und an nährstoffarme Standorte angepasst ist. Wenn das Nährstoffangebot am Standort steigt, wird es verdrängt.« Einige Schritte weiter entdeckt er die auberginefarbene glockenartige Blüte der Bach-Nelkenwurz. »Geum rivale, die Wurzel hat man früher ausgegraben und als Nelkenersatz verwendet.« Daher der Name. Echte Nelken aus dem Kolonialwarenladen waren teuer und vermutlich auch nicht immer vorrätig. Er zeigt auf die Blätter der Färber-Scharte. »Sie hat bläulich-violette Blüten und ihre grünen Pflanzenteile wurden zum Gelbfärben verwendet.« So wird der Ausflug auf die Magerwiese zum Anschauungsunterricht in den vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten von Wildpflanzen.

Auf dem Heidehügel blüht zuhauf das Breitblättrige Knabenkraut, eine geschützte heimische Orchideenart. »Orchideen produzieren die winzigsten Samen, die es in der Natur gibt«, sagt der Botaniker und gewährt einen Einblick in deren raffinierte Vermehrungsstrategie: Die Samen wiegen nur wenige Mikrogramm und jede Pflanze produziert Abertausende. Die Samen sind so leicht, dass der Wind sie Hunderte Kilometer weit verbreiten kann. Damit steigt die Aussicht, dass sich irgendwo schon ein geeigneter Lebensraum finden wird. Diese Strategie hat einen gravierenden Nachteil: Den mikroskopisch kleinen Samen steht kein Nährgewebe zur Verfügung, von dem sie leben können, bis sie Keimblätter gebildet haben und Photosynthese betreiben können. Der Orchideenembryo braucht einen Partner, der ihm den notwendigen Energieinput in der ersten schwierigen Lebenszeit liefert. Dieser Partner ist ein Pilz. Nur dort, wo die Orchideensamenkörner auf diesen Pilz treffen, haben sie eine Chance zu wachsen.

Allerdings ist der Pilz nicht selbstlos. Sobald die Orchidee Blätter für die Photosynthese gebildet hat und Wurzeln, mit denen sie Mikronährstoffe im Boden anzapfen kann, fordere der Pilz seine Investition zurück, so König. Nun muss die Orchidee ihm Nährstoffe abgeben. Allerdings achtet sie dabei darauf, dass der Pilz nicht zu viel verlangt. »Wenn man einen Querschnitt durch die Wurzel macht, ist außen der Pilz mit seinen Hyphen.« Das sind fadenartige Zellen, mit denen Pilze ihre Nährstoffe und Wasser aufnehmen. König weiter: »Der Pilz dringt ein paar Zelllagen tief in die Wurzeln ein. Irgendwann sieht man keinen Pilz mehr, weil die Hyphen durch die Pflanze aufgelöst werden.«

Sargnägel für die Vielfalt

Kulturgrasland gehörte lange Zeit zu den artenreichsten Lebensräumen. Mehr als 1000 Pflanzenarten wurden darauf insgesamt nachgewiesen. Das war einmal. Ab den 1950er Jahren verwandelte sich die Vielfalt in einem rasanten Ausmaß in Eintönigkeit, eine Entwicklung, die ganz Deutschland erfasste. Es blieben einige wenige Rückzugsgebiete, auf denen sich die intensive Landwirtschaft nicht lohnte, die aber, wie der Heidehügel oder die Bergwiesen im Harz, weiter traditionell bewirtschaftet werden. Sie sind Archen der Vielfalt. »164 als schutzwürdig erkannte Halbtrockenrasen (in Niedersachsen) nehmen nur 0,02 % der Landesfläche ein; sie beherbergen jedoch 16 % aller höheren Pflanzen-, 25 % aller Schnecken-, 33 % aller Tagfalter- und 50 % aller Heuschreckenarten des Landes. In Bayern kommen sogar 38 % der gefährdeten höheren Pflanzen in den Trockenrasen vor, die 0,26 % (18 000 ha) der Landesfläche bedecken«, mahnte der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung (SRU) schon 1985.7 Seitdem hat sich die Situation weiter dramatisch verschlechtert.

Verursacht hat diesen Rückgang eine Landwirtschaft, die, unterstützt von der Politik, nur ein Ziel hat: die Steigerung der Erträge. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein gigantisches Modernisierungsprogramm ein. Eines der wichtigsten Projekte der Nachkriegszeit war die Flurbereinigung. Dabei wurden ab 1953 verstreute Flächen und zersplitterter Grundbesitz in ganz Deutschland zu größeren Flächen zusammengefasst, um sie effektiver nutzen zu können und die landwirtschaftliche Produktion zu erhöhen. Zur Flurbereinigung gehörten auch bodenverbessernde Maßnahmen wie Entwässerung, die Kultivierung von Ödland und Moorflächen, die Beseitigung von Knicks und die Befestigung der Wege mit robusten und leistungsfähigen Betonfahrspuren. »Ein Zurück zur Natursteppe kann es nicht geben«, heißt es 1980, beseelt vom Fortschrittsglauben, in einer Jubelbroschüre über »25 Jahre Flurbereinigung« in Schleswig-Holstein, herausgegeben vom Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Größere Flächen ermöglichten größere Maschinen, ermöglichten eine intensive Landbewirtschaftung, »die auf den Flächen nur die bestellte Frucht dulden kann«. Ziel war es, die Natur mithilfe der Technik so zu korrigieren, »dass den Nutzpflanzen an jedem Standort optimale Wachstumsbedingungen geboten werden«.8

Dass das negative Auswirkungen auf die Vielfalt der Natur hatte, wussten auch die Autoren der Broschüre. Die Zahl der gefährdeten oder vom Aussterben bedrohten Pflanzen- und Tierarten ist in ihr nachzulesen: »Nach der ›Roten Liste‹ der Pflanzenarten sind von den etwa 1380 Gefäßpflanzenarten in Schleswig-Holstein 546 Arten, d. s. rd. 40 Prozent, in ihrem Bestand gefährdet. 71 Arten sind bereits ausgestorben, 150 Arten sind bedroht. Die ›Rote Liste‹ der Brutvogelarten führt von 187 hier vorkommenden Arten 68 als gefährdet an.« Wohlgemerkt, das war 1980, und mit Gefäßpflanzen sind nicht etwa irgendwelche Sonderlinge der Natur gemeint, sondern alles, was Samen bildet, Wurzeln, Stängel, Zweige und Blätter – also Bäume, Sträucher, Blumen, Gräser und Farne. Die Autoren wischten die Erkenntnisse über die Rückgänge der Pflanzenarten mit dem Hinweis vom Tisch, die Mehrzahl konzentriere sich auf »im Wesentlichen die feuchten Standorte, wie Moore, Sümpfe und feuchte Wiesen, sowie die Knicks«. Die »Normallandschaft« war damit außen vor, ebenso wie der Naturschutz. Für den hatten die Autoren einen zynischen Vorschlag: Er solle, da er finanziell nun mal schlechter ausgestattet sei als die Flurbereinigungsverwaltung, die Zusammenarbeit suchen, um aus der Rolle als »ständiger Nein-Sager« herauszukommen.9

Kontra gab es für diese Sichtweise vom Sachverständigenrat für Umweltfragen. Die institutionelle Flurbereinigung habe den großflächigen Anbau erst ermöglicht und die »ökologische ›Ausräumung‹ der Landschaft« unterstützt. Es gehe um nichts Geringeres als den »Totalitätsanspruch der modernen landwirtschaftlichen Produktion«, bei dem praktisch »nichts mehr der Spontaneität der Natur überlassen« sei. Von einer rückläufigen Tendenz der Flurbereinigung könne auch 1985 nicht gesprochen werden, da die Zahl der angeordneten Verfahren seit 1982/83 wieder ansteige. Bemühungen, dem Anliegen des Naturschutzes und der Landschaftspflege Rechnung zu tragen, seien gemessen am Flächenanteil »relativ gering«.10

Größere Flächen ermöglichen intensivere Bewirtschaftung und mehr Ertrag, auch im Grünland. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Blütezeit des Mineraldüngers. Großindustriell herstellbar war er seit Anfang des 20. Jahrhunderts, jetzt entwickelte er seine volle Durchschlagskraft. Der Einsatz von Stickstoff verfünffachte sich in Westdeutschland von gut 500 000 Tonnen im Jahr 1949/50 auf knapp 2,5 Millionen Tonnen 1987/88.11 In der DDR war die Entwicklung ähnlich. Nährstoffarme Standorte wurden damit quasi im Handumdrehen beseitigt, magere Grasfluren innerhalb von wenigen Jahren in Fettwiesen umgewandelt. Die Düngegaben führten zu einem fast kompletten Artenaustausch, wettbewerbsstarke Arten übernahmen die Regie. Sie wachsen schnell, sind ertragreicher und werden deshalb von der Landwirtschaft bevorzugt. Gleichzeitig verdrängen sie die licht- und wärmeliebenden Spezialisten der mageren Standorte, eine Entwicklung, die durch die ständig steigenden Güllefrachten aus der Massentierhaltung noch verstärkt wird. Wer wissen will, ob eine Wiese, ein Grünstreifen, Graben- oder Wegesrand sehr nährstoffreich ist, kann das an einfachen Kriterien feststellen: reichblühender Löwenzahn im Frühjahr, Gras, das im Juni bis zum Bauch steht, viele Brennnesseln, weiß blühender Kerbel und Bärenklau. Diese Pflanzen lieben viel Stickstoff und nutzen das Nährstoffüberangebot, um sich richtig breitzumachen. Sogar die Art der Schmetterlinge ist verräterisch: Es sind vor allem weiße.

Mehr Dünger gleich mehr Wachstum gleich mehr Ertrag – heutzutage können Wiesen deshalb statt ein- oder zweimal im Jahr drei-, vier- und fünfmal im Jahr gemäht werden. Auch das beeinträchtigt die Vielfalt. »Die Vorverlegung des ersten Wiesenschnittes vor die Blütezeit entzieht vielen Wiesenkräutern die Möglichkeit zur Blüten- und Samenbildung und hat außerdem negative Auswirkungen auf blütenbesuchende Insekten und die Buntheit des Landschaftsbildes«, kritisierte der Sachverständigenrat für Umweltfragen schon 1985 und warnte, das Gras-Kräuter-Verhältnis habe sich deshalb von ehemals 70 zu 30 auf ein Verhältnis von 85 zu 15 verringert. Seitdem wurden den Landwirten auch 15 Prozent Kräuter auf einer Wiese zu viel. Sie pflügten die Wiesen um und ersetzten Dauergrünland durch »Ansaatgrünland« mit sechs und weniger Arten, die die höchsten Erträge für die Futtergewinnung und die Weidemast liefern.

Artenreiches Grünland, also blütenreiche Wiesen und Weiden, das war einmal. Kaum ein anderer in Deutschland hat den Verlust so intensiv verfolgt wie der Geobotaniker Professor Christoph Leuschner mit seinem Team. Ich habe ihn in der Georg-August-Universität Göttingen besucht, wo er die Abteilung Pflanzenökologie und Ökosystemforschung leitet. Er sei mit dem Naturschutzbund Deutschland (NABU) groß geworden, erzählt Leuschner. Seinen Berufsweg als Biologe hat das geprägt. »In den 1970er Jahren habe ich im Moorgürtel von Neugraben, der damals ein großes Grünland-Moorgebiet war, die Brachvögel und Uferschnepfen gezählt. Alles zusammengebrochen.« Biologie habe er immer als Ökologie verstanden. Leuschner und sein Team, an dem Wissenschaftler der Universität Göttingen und des Senckenberg Museums für Naturkunde in Görlitz beteiligt waren, haben 2008 bis 2013 untersucht, wie in den vergangenen Jahrzehnten aus bunter Vielfalt Einheitsgrün wurde. Dazu sind sie in die Archive gestiegen und haben alte Diplomarbeiten mit Vegetationsaufnahmen aus den 1950er und 1960er Jahren herausgesucht. Sie haben die damals artenreichen Standorte in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt noch einmal besucht, die Pflanzen mit den gleichen Methoden erneut gezählt und mit den Daten von früher verglichen. »BioChange-Germany« hieß das Forschungsprojekt, das zum ersten Mal seit 1985 in großem Stil vergleichbare Zahlen lieferte.