Das Erbe der Töchter - Juliet Hall - E-Book

Das Erbe der Töchter E-Book

Juliet Hall

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Beschreibung

Ein wunderschöner Familienroman, erfüllt von den Farben und Düften Italiens

Ein antiker Bernstein, ein Tagebuch und Fotos ihrer Mutter - das ist alles, was Cari von ihrer Familie geblieben ist. Doch das ändert sich, als die junge Designerin aus Brighton an die italienische Riviera reist. Was als Flucht vor einer unglücklichen Liebe begann, wird zu einem spannenden Abenteuer. Denn Cari findet nicht nur eine neue Liebe. In dem geheimnisvollen Irrgarten einer Villa, umgeben von Oleander und Jasmin, entdeckt sie ein Erbe, das kluge Frauen ihrer Familie ihr hinterlassen haben ...

"Der erste Roman der Britin Juliet Hall besticht durch seine warme Atmosphäre und eine genaue Darstellung der Schauplätze." Schweizer Familie, Zürich

Weitere Familiengeheimnis-Romane von Juliet Hall bei beHEARTBEAT: Julias Geheimnis. Ein letzter Tanz in Havanna. Das Leuchten des Safrans.

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Inhalt

CoverTitelWeitere Titel der AutorinÜber dieses BuchÜber die AutorinImpressumWidmungProlog · 1927Kapitel 1 · Samstagabend, 21 Uhr …Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39 · Im nächsten FrühlingKapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Dank

Weitere Titel der Autorin

Das Leuchten des Safrans

Ein letzter Tanz in Havanna

Ein verzauberter Sommer

Eine letzte Spur

Emilys Sehnsucht

Julias Geheimnis

Über dieses Buch

Ein wunderschöner Familienroman, erfüllt von den Farben und Düften Italiens

Ein antiker Bernstein, ein Tagebuch und Fotos ihrer Mutter – das ist alles, was Cari von ihrer Familie geblieben ist. Doch das ändert sich, als die junge Designerin aus Brighton an die italienische Riviera reist. Was als Flucht vor einer unglücklichen Liebe begann, wird zu einem spannenden Abenteuer. Denn Cari findet nicht nur eine neue Liebe. In dem geheimnisvollen Irrgarten einer Villa, umgeben von Oleander und Jasmin, entdeckt sie ein Erbe, das kluge Frauen ihrer Familie ihr hinterlassen haben …

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Über die Autorin

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2006 by Juliet Hall

Titel der englischen Originalausgabe: »The Italian Maze«

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Für diese Ausgabe: Copyright © 2007/2020 by Bastei Lübbe AG, Köln Lektorat: Regina Maria Hartig Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven von © stock_studio/Shutterstock; © blackboard1965/Shutterstock; © Master1305/Shutterstock; © Yongcharoen_kittiyaporn/Shutterstock eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde Vignetten von Jan Balaz

ISBN 978-3-7325-9527-3

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Angie mit Dank für deine Empathie, deinen Humor und deine Freundschaft

Prolog

1927

Hester beobachtete die beiden beim Abstieg über die brüchigen Stufen, die von den Klippen in die kleine Bucht hinunterführten, und wusste sofort Bescheid.    

Die junge Frau lehnte sich an ihn, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet. Lachend neckte er sie. Er hatte einen Arm in Richtung Ozean ausgestreckt, und es sah aus, als wolle er ihr die Welt zu Füßen legen. Vermutlich würde er das auch tun. Der andere Arm berührte ihren beinahe. Doch nur beinahe. Hester spürte die gegenseitige Anziehung der beiden nahezu körperlich.

Sie seufzte. Sie wusste, dass die Zeit die Wunden der Liebe heilen kann – auch wenn sie sich dies in jenen Monaten, in denen sie am Kiesstrand von Port Isaac auf Gino gewartet hatte, nicht hätte vorstellen können. Gino … Damals war sie noch so jung gewesen und hatte natürlich jemand anderen gefunden. Sie war glücklich geworden. Nein, sie fühlte kein Bedauern. Ihre Sympathie galt dem jungen Paar, das noch ganz am Anfang seiner Beziehung stand, was nicht einfach ist. Außerdem wussten die beiden jungen Leute so wenig über ihre Familiengeschichte.

Hester blickte aufs Meer hinaus, auf dem in der Ferne Fischerboote tanzten. Die zunächst olivgrün, dann grau leuchtenden Wellen verschmolzen mit dem Horizont. Eine Färbung, die Hester an einen anderen Landstrich erinnerte. Achtzehn war sie damals gewesen. Die verschwommenen Umrisse hochgewachsener, in Reih und Glied stehender graugrüner Olivenbäume ragten auf dem terrassierten Hügel in die Höhe. Als Hester die salzhaltige Luft einsog, fiel ihr ein anderer Küstenstreifen ein, an dem das Meer stets stahlblau schimmerte und die Sonne Tag für Tag warm und samtig schien – und wo Gino lebte.

Damals war die Landschaft für Hester nichts weiter als eine diffuse, unwirkliche Kulisse gewesen. Aber nun sah sie die Dinge anders. Sie sammelte Treibholz für ein neues abstraktes Objekt, das sie gerade in Arbeit hatte und das die Küste Cornwalls symbolisieren sollte, die Küste, an die sie mittlerweile ihr Herz verloren hatte. Sie stolperte beinahe. Liebe …

Als sie sich umwandte, sah sie den jungen Mann unbekümmert und geschmeidig wie ein junger Panther in großen Sätzen den Abhang hinunterstürmen. Grinsend blickte er zurück zu dem Mädchen, das zögerte, ihm zu folgen.

Als der junge Italiener vor ihrer Tür gestanden hatte, war sie, Hester, wie gelähmt gewesen.

»Gino?«, hatte sie gemurmelt.

»Mein Vater …«, hatte er zögernd geantwortet. »Er hat vor seinem Tod oft von Ihnen gesprochen.«

Halt suchend hatte sie sich an den Türrahmen gelehnt. Demnach war er tot. Und er hatte oft von ihr gesprochen.

»Sie sollten es erfahren«, hatte er hinzugesetzt.

»Kein Mitgefühl, bitte.« Hester hatte es nicht hören wollen. Sie würde sich ihre Erinnerungen bewahren.

»Aber …«

»Kein Aber.«

Du lieber Himmel, er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten! Sie ahnte, was geschehen würde und weshalb er gekommen war. Er selber hingegen wusste es nicht, was für die Männer der Familie Bianchi typisch war.

Müde bückte Hester sich nach dem letzten Stück Treibholz. Und wenn er gefunden hatte, wonach er gesucht hatte? Was dann? Würde sich der schwarze Panther zähmen lassen?

Sie blickte auf, als er über den knirschenden Kies zurücklief und die Arme ausbreitete.

»Komm!«, rief er der jungen Frau zu. »Bei mir bist du sicher.«

Mein Fels und mein Anker, dachte Hester. Ich durfte das nicht erleben.

Mary machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu, ehe sie ihm mit weit aufgerissenen Augen über die morschen Stufen entgegenlief.

Lachend fiel sie in seine Arme, und er zog sie an sich – ein hypnotischer Moment, an den Hester sich noch gut erinnerte.

Unbemerkt wandte sie sich ab. Er hat sie umarmt, ja. Aber hat er auch ihr Herz umarmt? Mit der Zeit würde es sich erweisen.

Kapitel 1

Samstagabend, 21 Uhr …

Cari löschte das Deckenlicht und versuchte sich zu entspannen. Da dieser Stadtteil mit seinen vielen Geschäften zum Flanieren einlud, ließ sie die Schaufensterbeleuchtung über Nacht an, damit die Passanten jederzeit die mit Perlen oder Ziermünzen bestickten Hochzeitskleider aus cremefarbener Seide, weißem Taft und Chiffon bestaunen konnten. Selbst zu dieser späten Stunde spazierte tatsächlich noch jemand über das Kopfsteinpflaster, um sich die Auslagen anzusehen. Ein Mann – wie ungewöhnlich! Meistens waren es junge Mädchen, die sich an diesen Kleidern nicht sattsehen konnten und Mütter, Freunde oder zukünftige Ehemänner hierherzerrten. Cari musterte den Mann. Er war allein und nicht gerade beeindruckt.

Sie hatte nur einen Wunsch: nach Hause zu gehen. Ein langer Tag lag hinter ihr. Seit dem Besuch der ersten Kundin um neun Uhr dreißig hatte sie den Laden nur einmal verlassen, um sich einen Bagel aus der Bäckerei nebenan zu holen. Ließ sie das Leben etwa an sich vorüberziehen?

Weshalb war dieser Mann so sehr an ihrem Schaufenster interessiert?

Als sie sich abwandte, stieg ihr der Hauch eines betörenden Duftes in die Nase. Auch das noch! Die Lilien brauchten vor dem Wochenende noch frisches Wasser. Sie streifte die Handtasche von der Schulter, trug die Blumenvase in ihr Atelier und füllte sie unter dem Wasserhahn auf.

Nein, heute würde sie nicht kochen, entschied sie. Und mit Dan würde sie sich auch nicht treffen. Sie würde sich beim Chinesen eine Kleinigkeit zu essen holen und dazu den Chardonnay trinken, der bereits gut gekühlt im Eisschrank lag. Es war eine verlockende Aussicht, allein zu sein und früh ins Bett zu gehen. Du meine Güte! Behutsam stellte sie die Vase auf ihren Schreibtisch. Alle Welt, selbst ihre Mutter, ging am Samstagabend aus, um sich zu amüsieren. Und sie? Sie war neunundzwanzig und nicht etwa fünfzig. Sollte sie ihre Zeit nicht lieber in einem Club verbringen oder mit Dan ein romantisches Abendessen in einem eleganten Restaurant genießen? War es nicht beunruhigend, dass sie den Abend lieber allein verbringen wollte? Sie straffte die Schultern. Aber warum eigentlich nicht? Schließlich hatte sie einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich und sehnte sich nach Muße und Entspannung.

Sie ordnete die Lilien neu. Sie war seit jeher unabhängig, und wenn Dan kein Verständnis dafür besaß … Es war schließlich nicht gerade ein Zuckerschlecken, ein kleines Unternehmen zu führen und am Samstagabend zu arbeiten, um die Termine einzuhalten. Doch die Selbständigkeit hatte auch gute Seiten. Man besaß völlig freie Hand. Niemand, dem man Rechenschaft schuldete. Cari lächelte versonnen. Ob das auch für ihre Beziehung galt?

Sie blickte auf. Der Passant hatte sich nicht vom Fleck gerührt; er stand immer noch direkt vor dem Schaufenster.

Irgendwie seltsam. Nun ja … Sie nahm ihre braune Wildledertasche und ließ den Blick ein letztes Mal prüfend durch den Raum wandern. Alles war, wie es sein sollte. Die Garne und Stoffe lagen akkurat in den Regalen, die Kleider hingen ordentlich auf Bügeln. Bügeleisen und Nähmaschine waren ausgeschaltet. Wenn es nach Dan ginge, würde er zu ihr ziehen, aber Cari war dazu noch nicht bereit. Sie brauchte das Gefühl von Eigenständigkeit und schätzte den Freiraum, den sie sich oft erkämpfen musste. Sollte sie ihre Freiheit aufgeben? Sie zuckte die Schultern. Andererseits war Dan ihr Freund und besaß somit ein Anrecht darauf, mit ihr zusammen zu sein.

Ein Geräusch von draußen riss sie aus den Gedanken. Der Mann war immer noch da – na, das war ja wohl ein ausgedehnter Schaufensterbummel. Sie runzelte die Stirn. Welcher Mann interessierte sich so sehr für Hochzeitskleider? Plötzlich wurde ihr klar, dass er nicht die Auslage betrachtete, sondern das Ladeninnere. Er hatte das Gesicht an die Scheibe gepresst …

Irgendetwas war faul daran. Instinktiv zog Cari sich aus dem Lichtkegel zurück. Womöglich waren im Verkaufsraum Dinge, die ihn interessierten – weiße Hochzeitsschuhe oder Sandalen, die Vitrine mit dem exklusiven Kopfschmuck. Aber eigentlich war das kaum vorstellbar. Er war relativ jung, vielleicht um die dreißig. So ein interessierter Bräutigam war Cari noch nie begegnet. Um solch ein Exemplar würden sich die Frauen garantiert reißen.

Aber irgendetwas stimmte da nicht. Er schien nach etwas Speziellem Ausschau zu halten – oder auch nach jemand Speziellem.

Lächerlich! Sie benahm sich wirklich albern. Trotzdem warf sie beinahe unwillkürlich einen prüfenden Blick auf die Ladentür. Sie war abgeschlossen. Logisch. Es konnte also gar nichts passieren. Sie war sicher – oder nicht? Ihr Tag war wohl doch etwas zu anstrengend gewesen, sonst würde ihr diese Situation nicht so zusetzen. Die letzte Kundin hatte den Laden um sechs verlassen, selig über das Hochzeitskleid aus Tüll mit dem herzförmigen Ausschnitt, das Cari für sie entworfen hatte. Sie selbst war – wie so oft – noch geblieben, um an Entwürfen zu arbeiten und zu nähen. Tätigkeiten, denen sie sich in den ruhigen Abendstunden widmete, da ihr tagsüber keine Zeit dafür blieb. Dann kamen Kunden und gingen, fragten nach Zubehör oder ließen sich beraten; sie stöberten in Caris Sortiment an Abendgarderobe und Ballkleidern und stolzierten in den Roben in Caris luxuriöser, mit sternenförmigen Lämpchen ausgestatteter Umkleidekabine umher. Unter der mitternachtsblauen, mit Samt dekorierten Garderobendecke tanzten gläserne Feen um silberne Spiegel – beinahe wie eine Szene aus Shakespeares »Sommernachtstraum«.

Sie spähte wieder hinaus. Er stand immer noch da. Kein typischer Brighton-Student. Bestimmt kein Engländer, dieser große Dunkle mit dem südländischen Aussehen und dem intensiven Blick.

Cari vermied jede Bewegung. Wie lange würde sie so reglos wie ihre Schaufensterpuppen dastehen können? Ob sie die Polizei rufen sollte? Klar doch! Um ihr zu erzählen, dass ein Mann ganze sieben Minuten in ihr Schaufenster gestarrt hatte? Das konnte sie sich sparen.

Und wenn sie Dan anriefe? Er würde binnen einer Minute hier aufkreuzen, stets bereit und überglücklich, sie retten zu dürfen. Fragte sich nur, wovor sie eigentlich gerettet werden wollte. Wie war das noch mit der Eigenständigkeit? Ihre Phantasie trieb Blüten. Dass dieser Mann vor dem Schaufenster stand, konnte eine Unzahl von Gründen haben. Trotzdem würde sie warten, bis er gegangen war, und erst danach das Geschäft verlassen. Cari fröstelte.

Sie war wie gelähmt. Nahezu unmerklich machte sie einen Schritt vorwärts und kam sich dabei wie ein Einbrecher im eigenen Haus vor. Der Mann trug ein eng anliegendes weißes T-Shirt, eine Lederjacke und eine eng sitzende Jeans, was ihr geschultes Auge wohlwollend zur Kenntnis nahm. Zugegebenermaßen kein schlechter Körperbau. Dieser Mann wirkte nicht im Geringsten gefährlich – im Gegenteil, eher ziemlich sexy. Aber auch Brighton hatte dunkle Seiten, und Cari wollte nichts herausfordern.

Unvermittelt drehte er sich um und ging davon. Einfach so. Cari sah ihm nach, als er die Straße hinunterspazierte und um die Ecke bog. Erleichtert atmete sie auf. Was war nur los mit ihr?

Sie trat an die Kleiderständer und glättete die Roben ein wenig. Weshalb hatte dieser Mann sie so verwirrt? Sie war sich geradezu entblößt vorgekommen. Irgendwie schutzlos. Weshalb wohl? Aber sie fand keine Erklärung dafür, spürte nur noch dieses eigenartige Gefühl. Ein Gefühl, das weder mit Dan zu tun hatte noch mit ihrer unvorstellbar heimlichtuerischen Mutter, die ihr nichts über ihre Familie erzählte. Ein winziger Funke war in ihr entzündet worden, aber das war auch schon alles.

Ihre Spontaneität hatte – zugegebenermaßen – in den letzten Jahren nachgelassen. Nein, nein, es liegt nicht an Dan, beschwichtigte sie sich rasch. Dank Dans Rechtschaffenheit fühlte sie sich nicht mehr so unsicher. Außer ihm hatte sie nur noch ihre Mutter. Aber heute Abend würde diese coole, mondäne Mutter bis in die Morgenstunden feiern. Sich auf einer Party vergnügen. Leben … Cari runzelte die Stirn. Empfand sie selbst deshalb dieses eigenartig bohrende Gefühl?

Wo mochte ihre Mutter heute Abend sein? Ehe sie aus dem Haus ging, hatte sie Cari angerufen. Arbeite nicht zu viel, Schätzchen!, hatte sie gesagt.

»Pass auf dich auf!«, hatte Cari ihr geantwortet, ohne sich zu erinnern, wann dieser Rollentausch stattgefunden und sie begonnen hatte, sich um ihre Mutter zu sorgen. Ihr war klar, dass Tasmin gefährlich nahe am Abgrund tanzte. Cari konnte es zuweilen an den Augen ihrer Mutter erkennen, die übermäßig funkelten – wie die Klinge eines Messers.

Cari rief sich ihre Termine am Montag in Erinnerung, öffnete die Ladentür und trat in die Nacht hinaus. Eine frische Brise strich über ihre Wangen. Plaudernde, lachende Fußgänger wanderten vorüber; Jazzrhythmen schallten aus der Kensington Bar auf der anderen Straßenseite zu ihr herüber. Brighton an einem Samstagabend. Sie liebte diese Atmosphäre. Alles war wie gewohnt. Cari schloss die Ladentür ab und wandte sich zum Gehen.

Oh, nein! Sie schluckte. Er war wieder da. Der Mann, der sie durch die Scheibe beobachtet hatte, stand plötzlich lächelnd vor ihr.

Tasmin zwängte sich an zahllosen schwitzenden Gästen vorbei, die rauchend, trinkend und flirtend in der Küche standen. Im Laufe der letzten dreißig Jahre hatte sie viele dieser Partys besucht: ein ausgelassenes Völkchen sowie eine beeindruckende Menge an Canapés, Sushi und teuflischen Desserts. Die Musik war so laut, dass sie sich unweigerlich an die Siebzigerjahre erinnert fühlte und die Gegenwart vergaß.

Allmählich stieg die Stimmung. Das Gelächter schwoll an, die Menschen wurden sichtlich lockerer. Kein Aschenbecher weit und breit, Zigarettenkippen schwammen in halb geleerten Biergläsern. Tasmin ergänzte das traurige Sortiment um eine weitere Kippe und öffnete den Kühlschrank, der vor einer Stunde voller Moët gewesen war. Gähnende Leere! Nicht eine einzige Flasche Champagner war übrig geblieben. Dafür kühlten im Waschbecken etliche Flaschen Weißwein in einem großen Eimer mit schmelzendem Eis. Tasmin prüfte die durchweichten Etiketten. Ein Pinot täte es auch – besser als nichts –, wenngleich sie für gewöhnlich alles mied, was mit Italien zu tun hatte. Zu viele Erinnerungen!

Plötzlich fiel ihr das Foto wieder ein. Die zierliche blonde Frau. Ein italienischer Garten. Ein Labyrinth? Tasmin löschte das Bild umgehend aus ihrem Gedächtnis und straffte den Rücken. Den Korkenzieher zu finden war jetzt viel wichtiger. Erinnerungen waren schmerzhaft. Alkohol brachte Vergessen – zumindest für eine Weile.

Tasmin füllte ihr Glas. Wenn sie arbeitete, trank sie nicht. Sie übte sich in Selbstdisziplin, die für sie etwas Beruhigendes hatte: Du schaffst es, Mädchen! Doch am Wochenende lebte sie in den Tag hinein. Da wollte sie sich vergnügen. Das war geradezu ein Muss.

»Schätzchen!« Ariadne tauchte unerwartet aus all dem Marihuana-Nebel, Zigarettenrauch und dem Dunstkreis anderer Leute vor ihr auf. »Da bist du ja!«, rief sie und legte die Hand auf Tasmins Arm. Etwas Anschmiegsames aus lila Chiffon umschmeichelte ihren raffinierten Halsausschnitt. Daumen und Zeigefinger hielten einen Joint. »Amüsierst du dich?« Sie küsste Tasmin überschwänglich auf beide Wangen.

»Und wie!« Das war typisch für die Welt der Künstler und Diven, in der man zuweilen einen Blick hinter das Gehabe werfen muss, um die wahren Juwelen ausfindig zu machen. Tasmin war damit vertraut. In Edwards Galerie hatte sie fast drei Jahrzehnte mit Künstlern dieser Sorte gearbeitet. Deren Partys hatten immer einen Touch von Boheme und waren zum Glück niemals langweilig.

»Wunderbar. Ist dir schon jemand … mmh, Interessantes über den Weg gelaufen?« Mit ihrem charakteristischen Blick musterte Ariadne Tasmins weiße Seidenhose und das dazu passende Oberteil. Tasmin konnte Ariadnes Gedanken förmlich lesen: knochige Schlampe auf der Jagd.

Sie lachte. »Nur keine Eile!« Welche Sorte Mann könnte man auf diesen Partys schon kennenlernen? Und was brächte das überhaupt? Eine flüchtige Begegnung in der Gewissheit, dass er sich schon am Morgen wieder aus ihrem Leben stehlen würde. Mehr durfte man nicht erwarten. Aber das wäre auch das Sicherste.

Tasmin entfernte sich unauffällig. Sie wollte Salsa tanzen, sich voll und ganz der Stimmung hingeben.

»Und was hast du so getrieben?«, erkundigte sich Ariadne mit wiehernder Stimme.

Die Frage bezog sich auf Tasmins kreatives Schaffen. Ariadne betrachtete gewöhnliche, nicht kreativ tätige Menschen ziemlich von oben herab. Da Tasmin als Fotografin in einer Galerie hinter den Kulissen arbeitete und nicht als Künstlerin in Erscheinung trat, bekam sie Ariadnes Verachtung häufig zu spüren. Aber das kümmerte sie nicht. Es gelang ihr ohnehin nur mit Mühe, Edward zu verheimlichen, was sie in Wahrheit tat, und da konnte sie auf Ariadnes Kommentare erst recht verzichten. Tasmins Arbeit erforderte Dunkelheit. Sie war nicht für ein Publikum gedacht. Überdies gab es Tage, die sogar dazu noch zu dunkel waren. Tage, an denen Erinnerungen zu einer Spirale der Hoffnungslosigkeit führten. Spiralen … Nein, nein, über Spiralen wollte sie jetzt nicht nachdenken.

»Nichts Besonderes.« Tasmin atmete die unterschiedlichsten Gerüche ein: von Bier, Rotwein, Gebäck, Parfum, Schweiß und Marihuana. Typische Party-Gerüche. »Bis später«, sagte sie und schlenderte weiter.

»He, Schätzchen, ich muss dir was erzählen. Es gibt jemanden …«

»Später!« Tasmin quetschte sich an einem großen Mann in einem terrakottafarbenen Leinenhemd und Jeans vorbei und warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Die Schatten unter seinen Augen besaßen genau die richtige Farbe. Vielleicht … Sie spürte, wie sie gegen ihn geschubst wurde.

»Es war etwas Wichtiges!«, wieherte Ariadne hinter ihr. »Jemand aus deiner Vergangenheit, der dich begrüßen möchte.«

Jemand aus meiner Vergangenheit?

»Tut mir leid.« Tasmin lächelte ihr Gegenüber entschuldigend an. Ende vierzig, vermutete sie.

Er lächelte zurück. »Mir nicht.«

Sie sah ihm in die Augen. Doch sie gaben nichts preis. Auch das war gut.

»Sind Sie allein hier?« Ein Anflug eines Lächelns umspielte seinen Mund. Könnten Sie vielleicht den Smalltalk beenden und zur Sache kommen? Wer sind Sie? Was beabsichtigen Sie? Wovon träumen Sie?

Sie nickte. »Tanzen?« Aus den Lautsprechern erklang ein Song von Santana. Typisch! Die frühen Siebziger waren genau Ariadnes Zeit gewesen.

»Warum nicht?« Er folgte ihr in eine Nische neben den Verandatüren. Ariadne hatte sie geöffnet, und einige Gäste waren in die kühle Frühlingsnacht hinausgetreten.

Tasmin spürte eine zarte Brise auf der Haut. Sie stellte ihren Drink ab und sah ihn an. An der Art, wie ein Mann tanzt, lässt sich eine Menge ablesen.

Im Stil von John Travolta in Saturday Night Fever zog er sich das Jackett aus.

Tasmin hätte am liebsten losgekichert. Jemand aus der Vergangenheit? Sie wurde wieder nüchtern. Das hörte sich ziemlich ominös an und gefiel ihr gar nicht.

»Hallo«, sagte er.

Cari versuchte den Akzent einzuordnen. Italien? »Kennen wir uns?« Natürlich nicht, sie hätte sich ja erinnert, aber ihre Mutter hatte ihr beigebracht, immer höflich zu sein.

Unverwandt lächelnd hob er eine Hand. Im Licht des Mondscheins und der Straßenlaternen wirkten seine dunklen Augen leidenschaftlich. »Nein, Sie kennen mich nicht.«

»Also, was wollen Sie?« Sie funkelte ihn an. Wie konnte er es wagen, in mein Schaufenster zu starren und mich beinahe zu Tode zu erschrecken?

»Was ich will?« Anscheinend hatte er ihre Frage nicht verstanden.

»Ich habe Sie beobachtet, als Sie sich die Auslage meines Geschäftes angesehen haben«, antwortete sie. »Und zwar verdammt lange.« Es klang etwas albern, das auszusprechen, aber sie wollte wissen, was hier vor sich ging. Und was in ihm vor sich ging.

»Ach so!« Er nahm zwar die Hand herunter, rührte sich aber nicht vom Fleck.

Cari atmete den bittersüßen Geruch von Leder, Oliven und Kaffee ein. Ein angenehmer Geruch.

»Ich habe mir die Auslage … für eine Freundin angesehen. Sie heiratet demnächst«, erklärte er stockend und wedelte abwehrend mit der Hand. »Nicht mich.«

»Wirklich?« Cari kreuzte die Arme über der Brust. Ihr war selbst nicht so recht klar, weshalb sie sich eigentlich auf ein Gespräch mit ihm einließ.

»Sì, sì …«, murmelte er vor sich hin.

Cari musterte ihn von Kopf bis Fuß. Warum auch nicht – schließlich hatte er ihren Laden auch lange ins Visier genommen. Schwarze, geschmeidige Lederschuhe und – wie sie richtig vermutet hatte – Jeans. Lederjacke, logisch. Das eng anliegende T-Shirt brachte sowohl den muskulösen Oberkörper als auch den sonnengebräunten Teint hervorragend zu Geltung. Wow!

»Entschuldigung.« Schon wieder. Er lächelte. Und noch einmal.

Es gibt Frauen, dachte Cari bei sich, die dieses Lächeln sexy finden. Aber dazu war sie natürlich viel zu verärgert. »Wofür entschuldigen Sie sich denn?«

»Ich habe Ihnen Angst gemacht.«

»Das ist doch lächerlich.«

»Meine Freundin …«

»Vielleicht sollte sich Ihre Freundin selbst in meinem Laden umschauen«, erwiderte sie gleichgültig. »Am besten zu den Öffnungszeiten.«

»Ja, Sie haben vollkommen Recht.« Er tippte auf seine Uhr. »Ich wollte schon viel früher hier sein«, erklärte er schulterzuckend. »Aber der Verkehr …«

In einer Fußgängerzone? Für Einkäufe war es ja nun wirklich zu spät. Hielt er sie etwa für dämlich? Sie strich sich durchs Haar, wohl wissend, dass es reichlich unordentlich war, und ärgerte sich gleichzeitig darüber, dass ihr das etwas ausmachte. Erfolgreiche Modedesignerin wird schwach, als attraktiver Italiener ungewöhnliches Interesse an ihrem Laden zeigt. Besagte Designerin sollte sich hüten! Schließlich konnte man nie wissen, wen man vor sich hatte. Sie spürte, dass ihre innere Unruhe sich in Ärger verwandelte. »Das nehme ich Ihnen nicht ab«, entgegnete sie.

»Aber …«

»Mir scheint, dass Sie eher nach etwas ganz Bestimmtem in meinem Laden Ausschau gehalten haben.«

»Nein, glauben Sie mir …«

»Und ich will Ihnen klipp und klar sagen, dass ich mit sonderbaren Männern, die in mein Schaufenster starren, nichts zu tun haben will.«

»Ich verstehe, aber …«

»Mein Laden ist mir sehr wichtig!« Was sagte sie da bloß? »Deshalb bitte ich Sie …«

»Selbstverständlich.«

»… zu verschwinden.« Sie sah ihn eindringlich an, während er immer noch lächelte. »Und nie wieder hier aufzutauchen.«

»Aber meine Freundin …«

»Wenn sie kommt …« Cari trat einen Schritt zurück. »Falls sie kommt … Falls es sie überhaupt gibt …«

Erneut zuckte er mit den Schultern. Und Cari ebenso. Zu zweit konnte man dieses Spiel gut spielen. »Sagen Sie ihr, sie soll allein kommen. Ohne Sie.«

Er wirkte sichtlich enttäuscht.

Ihre Worte hatten offenbar gesessen. Er war nun mal kein Kunde. Und noch dazu dieses Benehmen … Man musste es diesem Mann auf den Kopf zu sagen. Cari drehte sich um und machte sich auf den Nachhauseweg, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Ärger war das Letzte, was sie in ihrem Leben brauchte.

Kurz vor Mitternacht wurde Tasmin auf eine Frau aufmerksam. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie sie bereits auf der Party gesehen, noch dazu mehrfach, sie aber nicht erkannt. Na ja, immerhin lag ihre letzte Begegnung dreißig Jahre zurück.

In der Sekunde des Wiedererkennens flackerte die konkrete Erinnerung an die Achtzehnjährige von einst auf. Der Mann mit dem verhangenen Blick zog Tasmin an sich. Sie protestierte nicht. Er duftete nach Frühling, nach frisch geschnittenem Gras. Tasmin bemühte sich, locker zu bleiben. Sie musste sich entscheiden. Sollte Gail Sanderson tatsächlich hier sein? Würde sie, Tasmin, mit ihr reden wollen oder nicht? Wollte sie die Erinnerung an vergangene Zeiten wachrufen?

»Du bist plötzlich so angespannt«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Möchtest du dich vielleicht in meiner Wohnung ausruhen?«

Tasmin legte den Arm enger um seine Taille. »Lieber nicht«, antwortete sie. Obwohl er sexy war und tanzen konnte und ihr helfen würde zu vergessen – zumindest für eine Weile.

»Dann wenigstens einen Drink«, schlug er vor.

»Gern.« Die Frau, die Gail von einst, wanderte auf der Veranda auf und ab und fuhr sich wie früher nervös mit der Hand durchs Haar. Unverkennbar.

Tasmins Tanzpartner bahnte sich einen Weg durch die Tanzenden. So viele Männer – unglaublich, dachte sie. Verlor Ariadne etwa den Faden?

Nein. Sie wollte Gail nicht begrüßen. Gail war Teil ihrer Erinnerungen – und davon spukten noch immer viel zu viele in ihrem Kopf herum.

»Tasmin!«

O nein, das durfte doch nicht wahr sein! Nun stand sie tatsächlich vor ihr. »Gail?«

Schon schlang Gail die Arme um die einstige Freundin.

»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Tasmin, um ein Lächeln bemüht. Das Alter hatte bei Gail eindeutig Spuren hinterlassen. Der Hals war runzlig, zu viel Lippenstift haftete in den Fältchen um den Mund. Außerdem war sie zu dünn. Fast schon hager. Aber ihr Blick hatte nichts an Intensität eingebüßt. Tasmin spürte nach wie vor eine gewisse Nähe zu der langjährigen Freundin und erinnerte sich sogleich an die zahlreichen Wochenenden, die sie kichernd gemeinsam verbracht hatten. Sie hätte zu gern gewusst, wie es Gail in all den Jahren ergangen war, doch zugleich wollte sie Distanz wahren.

»Gut.« Gail musterte sie von Kopf bis Fuß. »Du hast dich kaum verändert.«

»Unsinn!«

»Und jetzt erzähl mir bloß noch, dieser appetitliche Tänzer ist dein Mann.« Gail hakte sich bei Tasmin ein.

Tasmin wollte nicht unfreundlich erscheinen. Sie wusste, dass sie bei einigen Leute als unleidlich galt und kaum jemand (allenfalls Cari und Edward) ihre andere Seite kannte. Aber woher sollten die anderen auch ahnen, was wirklich in ihr vorging und dass niemand ihr zu nahekommen durfte? Sie hatte schon viele Menschen verloren, die ihr nahegestanden hatten. Genau das geschah in Familien wie ihrer und passierte Menschen wie ihr. Die Folge davon war, dass man verletzt wurde, und zwar zutiefst. Nein, sie wollte nicht unfreundlich wirken, aber ebenso wenig wollte sie mit ihrer ehemaligen Freundin am Arm spazieren gehen.

Doch Gail führte sie hinaus in den Garten. »Immer wieder muss ich an diesen einen Sommer denken«, sagte sie.

»Ach, wirklich?« Trotz der vielen Menschen empfand Tasmin die herrlich duftende Nachtluft nach der verrauchten Atmosphäre auf der Tanzfläche als angenehm. Sie waren umgeben von Dunkelheit. Es war die Anonymität, die sie immer wieder auf Partys zog, eine Möglichkeit zur Flucht. Flucht vor der Vergangenheit. Nun fiel ihr die Libelle wieder ein. Es ist eine Schlankjungfer, eine Kleinlibelle, hatte Edward gesagt, als sie ihm das Insekt, das in warmem, durchsichtigem Bernstein eingeschlossen war, in einem schwachen Moment einmal gezeigt hatte. Genauso eingeschlossen und erstarrt fühlte Tasmin sich. Und nun wollte Gail alles wieder aufwühlen, ihre Erstarrung lösen und die Erinnerungen wieder beleben.

»Weißt du noch, wie eng wir damals befreundet waren?«

»Ja.« Sehr eng. Doch da ihre Mutter sie verlassen hatte und ihr Vater … hatten sie zwangsläufig den Kontakt verloren.

»Ich hoffte, du würdest es verstehen«, sagte Gail. »Meine Schuld war es nicht.«

Tasmin starrte sie an.

»Hast du es bemerkt?«

»Äh …« Wovon spricht diese Frau?

»Weißt du es?«, hakte Gail nach. »Du weißt doch, was damals passiert ist, oder nicht?«

Tasmins Stilettos sanken tief in den weichen Rasen. Sie standen vor einem Beet mit Stiefmütterchen und Narzissen, das von Buntglaslaternen beleuchtet wurde, die Ariadne geschickt in die Obstbäume gehängt hatte.

»Was damals passiert ist …«, wiederholte Tasmin. Dabei wollte sie es gar nicht wissen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, dachte sie. Das ist ein Klischee, doch wie die meisten Klischees ist es unbestritten wahr.

»Deine Mutter hat es dir doch bestimmt erzählt.«

»Meine Mutter …« Musik drang durch den Park zu ihnen. Tasmin entzog Gail den Arm. Sie wollte nicht an ihre Mutter denken. Sie wollte zurück zur Party.

Doch Gail war nicht aufzuhalten. »Sie hat mir sehr leid getan«, sagte sie.

»Wirklich?« Tasmin wusste, dass sie ziemlich reserviert klang. Weshalb soll Gail Mitleid mit meiner Mutter empfunden haben? Mutter hatte aus einer nüchternen Überlegung heraus eine Entscheidung getroffen. Eher aus Egoismus als aus Liebe. Sie hatte sich davongemacht. Ende der Geschichte.

»Wahrscheinlich war es zu demütigend für sie.« Gail strich mit der Hand über die Borke eines Eukalyptusbaums, dessen silbrige Blätter in der Dunkelheit zu leuchten schienen.

Tasmin ahnte, dass Gail es genoss. Was immer dieses »Es« sein mochte. Sie entschied, die Unterhaltung abzubrechen. »Lass uns wieder hineingehen!«, schlug sie vor und wandte sich dem Haus zu. Ihr Tanzpartner wartete bestimmt schon mit den Drinks. Und Ariadne hatte kolumbianische Musik aufgelegt – sie hörte bereits die heißen Salsa-Rhythmen. »Das ist schließlich eine Party. Ich bin hier, um zu tanzen.«

Aber Gail packte sie am Arm. »Du weißt also nichts davon, hab ich Recht?«, fragte sie, die Augen weit aufgerissen.

»Es liegt doch schon so lange zurück.« Tasmin beschleunigte den Schritt. In der Ferne schrie eine Eule. »Am besten vergisst man so etwas.«

»Wenn es einem gelingt.« Gail schüttelte den Kopf. »Wenn man so etwas überhaupt jemals vergessen kann.«

Tasmin seufzte. Sie wollte nicht über die Vergangenheit reden. Sie wollte zurück ins Haus, in das Hier und Jetzt, wollte nur das Hämmern der Musik hören. Sonst nichts. Sie wollte vergessen, verflixt noch mal! »Meine Mutter hat uns verlassen«, sagte Tasmin. »Ansonsten gibt es nichts zu erinnern.«

»Und kann man ihr das zum Vorwurf machen?«, ertönte Gails Stimme. »Kann man ihr, nach all dem, was sich dein Vater geleistet hatte, Vorhaltungen machen?«

Tasmin sah Gail entsetzt an. »Was hat er denn getan?«

Stille.

Genauso hatte sie es sich vorgestellt. Ein melodramatischer Auftritt. Typisch Gail! »Er hat getrunken – na und? Viele Leute trinken. Vielleicht war er Alkoholiker. Und wie hat Mutter ihm geholfen? Sie hat sich aus dem Haus geschlichen, um zu malen. Tag für Tag. Ohne sich um seinen erbärmlichen Zustand zu kümmern.« Tasmin spürte die Kälte auf den Wangen. Es war genug.

Gail holte tief Luft. »Du musst doch gewusst haben, dass das Problem weitaus größer war.«

Tasmin zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Meinst du?« Doch im Innern kochte sie vor Wut. Wie kommt Gail dazu, so über Vater zu reden?, fragte sie sich. Für wen hält sie sich eigentlich?

Gail blieb stehen. Neben der gefiederten blassrosa Clematis montana, die sich an einem Spalier emporrankte, wirkte ihr Gesicht beinahe durchsichtig. »Ich erzähle es dir«, sagte sie.

Und Tasmin hörte zu. Sie wollte es zwar eigentlich nicht, aber sie tat es dennoch.

Gail erzählte ihr die ganze Geschichte.

Vergeblich versuchte Tasmin, Gails Redeschwall zu unterbrechen, doch die einstige Freundin war nicht zu bremsen. Tasmin lauschte ihr entgeistert. Die Nacht erschien ihr nun ganz besonders trostlos, die Musik drang nur mehr als bruchstückhaftes Dröhnen an ihr Ohr, und die Partygäste verschwammen zu schattenhaften Gestalten. »Ich glaube dir nicht«, sagte sie schließlich.

»Denkst du etwa, ich habe mir das alles ausgedacht? Nach all den Jahren?« Gail ließ den Blick durch den Park schweifen.

Tasmin fühlte Übelkeit in sich aufsteigen.

Gail legte begütigend den Arm um Tasmins Schultern. »Es tut mit leid, aber ich war der Meinung, du solltest die Wahrheit erfahren.«

Tasmin schüttelte den Kopf. Die Wahrheit? Nach all den Jahren? »Verschwinde!«, murmelte sie. »Verschwinde einfach, okay?« Sie hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge und musste an die Briefe ihrer Mutter denken, an den wunderschönen Bernsteinanhänger, an einen weit zurückliegenden Tag, an dem Mutter die Hände um ihr Gesicht gelegt und ihr gesagt hatte, wie lieb sie ihre Tochter habe. »Mein schönes Mädchen«, hatte sie geflüstert. Mein schönes Mädchen.

Dann erinnerte Tasmin sich an ihren Vater, den sie geradezu angebetet hatte …

»Entschuldigung.« Sie war beinahe überrascht, als sie wieder im Haus war und sah, dass er auf sie gewartet hatte.

Er zuckte die Achseln. »Keine Ursache.«

Tasmin leerte das Weinglas in einem Zug.

»He!« Er lächelte. »Willst du mich auf einen Trip begleiten?«

»Auf einen Trip?«

Er öffnete die Faust. In seiner Handfläche lagen zwei kleine weiße Tabletten. »Eine für dich«, sagte er, »und eine für mich.«    

Tasmin zögerte. Es war noch nicht zu spät, oder? Nicht zu spät, um neue Beziehungen zu knüpfen, sich zu entspannen und Dinge aus der Vergangenheit ungeschehen zu machen.

Sie nahm eine Tablette. Warum nicht, dachte sie. Das andere konnte bis morgen warten. Heute Abend wollte sie mehr denn je einfach nur vergessen.

Kapitel 2

Die Luft war seidenweich und die Nacht still. Nur die Wellen rauschten leise. Aurelia saß auf den Kieseln, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Sie war schon immer gern allein gewesen. Vermutlich, weil es so viel nachzudenken gab. Hätte sie dieses und jenes anders machen können? Hätte sie das eine oder andere überhaupt anders machen wollen? Und die wichtigste Frage überhaupt: War es mittlerweile vielleicht schon zu spät?

Eine erwartungsvolle Stimmung lag in der klaren Frühlingsluft. Jenseits der Bucht blinkten die Lichter von Tellaro mit seinen hohen, schmalen Häusern, die in das felsige Vorgebirge gehauen waren. Shelley, Byron, D. H. Lawrence hatten in dieser Bucht gelebt. Il Golfo dei Poeti, die Bucht der Dichter. Vermutlich hatten auch sie sich dem besonderen Reiz der Küste nicht entziehen können.

Das ist meine Heimat, dachte Aurelia. Ligurien. Der südlichste Punkt der italienischen Riviera, ehe der Landesteil in die Toskana übergeht. Sie stand auf. Diese Gegend hatte ihr Herz erobert und ließ sie nicht mehr los. Sie hatte die Umgebung im Bild festgehalten. Die terrassierten, bewaldeten Hügel, die wilde, unversöhnliche Küste, das Aquamarinblau des Golfo della Spezia. Sie war der verlockenden Landschaft erlegen.

Aurelia verstaute ihren Skizzenblock und die Stifte. Sie wusste, dass sich ihre Arbeit in ihrem neuen Zuhause widerspiegelte. Alfonzo, Inhaber der Galleria D’Arte in Tellaro, in der sie ihre Arbeiten ausstellte und zu Preisen verkaufte, die ihr immer wieder den Atem verschlugen, schwärmte von der Fülle, der Tiefe, von ihrem »inneren Auge«. Nun ja … Aurelia war sich bewusst, dass das, was sie auf Leinwand oder Papier gebannt hatte, nur ein Bruchteil dessen war, was dieser Landstrich ihr geschenkt hatte – ihr als Künstlerin und auch als Frau. Mochte es noch so seltsam klingen, es entsprach der Wahrheit.

Vorsichtig erhob sie sich. Heimat. Ja. Dennoch verging kein Tag, an dem sie nicht an den Ort dachte, den sie verlassen hatte. Ihn und seine Bewohner. Täglich fragte sie sich, wie es ihnen ergehen mochte. Zugleich überlegte sie, wie es dazu kommen konnte, dass sie all das verloren hatte. Und wie es ihr gelungen war, trotzdem weiterzumachen.

Sie wandte sich um, blickte zurück auf die Reihe duftender Zwergkiefern, wo Sand und fester Boden aufeinandertrafen. An deren anderem Ende befanden sich bröckelnde Steinstufen, die zu einem schmiedeeisernen Tor führten. Im Mondlicht nahm Aurelia nur dessen Umrisse wahr, doch sie wusste, dass die Glyzinie bereits blühte, die sich um das Spalier des Eingangs zu Enricos Park rankte. War es ihr Garten? Nein, nicht wirklich. Hinter dem Tor stand Enricos schönes, weiß getünchtes Haus mit Möbeln aus Kastanienholz und in kühlen, klaren Farben gestrichenen Wänden, Holzböden, Wollteppichen, hohen weißen Decken und Jalousien vor den Fenstern. Aurelia nickte. Hier gehörte sie hin. Auch wenn sie nicht wusste, warum. Sie spürte, dass dieser Ort für sie bestimmt war – aber weshalb? Weshalb sollte sich eine Engländerin in Italien zu Hause fühlen? Weshalb empfand sie so intensiv, dass sie genau hierher gehörte? Und wenn es tatsächlich so war, weshalb konnte sie es Enrico dann nicht zeigen? Weshalb war es ihr nicht möglich, Vergangenes zu vergessen und ihn so zu lieben, wie er es verdiente?

Enrico und sie müssten schon längst auf dem Weg zu Elenas spätem Abendessen sein. Dennoch trödelte sie herum. Obwohl Elena durch und durch Italienerin war und sich gänzlich der heimischen Küche verschrieben hatte, war sie von der Tradition – pranzo unmittelbar nach zwölf Uhr mittags, Abendessen um sechs – abgerückt und servierte zahllose Gänge, was angesichts der vorgerückten Stunde gar nicht angebracht war, sodass man einen Grappa oder einen anderen digestivo benötigte, um die Verdauungssäfte zu beruhigen.

O weh, es war schon reichlich spät! Sie musste sich noch umziehen – irgendeine elegante Hose, in Schwarz am besten, und natürlich Schuhe.

Aber Aurelia rührte sich nicht vom Fleck, sondern starrte in die Ferne, in der sich die Umrisse der Berge abzeichneten, und dachte an Tasmin. Vielleicht würde sie es ja eines Tages verstehen. Vielleicht … eines Tages … Viel zu viele ihrer Überlegungen begangen mit diesen Worten … Vielleicht würde sie ihre Tochter wiedersehen. Vielleicht würde sie ihr eines Tages schreiben.

Unwiderstehlich vom Wasser angelockt, ging Aurelia über die knirschenden Kiesel, bis sie dem feinen Sand wichen. Wie nasse Zungen leckten die Wellen sanft an ihren nackten Füßen. Aurelia richtete den Blick zum Horizont. Jenseits der Bucht glänzten die nassen schwarzen Felsen in der Brandung. An der äußersten Spitze der Landzunge, an der Barockkirche, schimmerte ein Licht, das Aurelia als die alte Laterne erkannte, die an die Steinmauer aus rosa Granit montiert war. Hinter dem Dorf erhoben sich die dunkleren Schatten der Hügel. Die Olivenhaine und Weinberge, mit denen sich Enricos Familie einst den Lebensunterhalt verdient hatte, konnte sie nicht erkennen.

Sollte sie nach England zurückkehren? Um die Tochter ausfindig zu machen und ihr zu sagen: Das hat jetzt schon viel zu lange gedauert. Viel zu lange …

Schneidend kühl brannte das Wasser auf ihrer Haut, während der nasse Sand sich an ihre Sohlen heftete. England. Aurelia fröstelte, als hätte man sie an einem kalten, zugigen Februartag dorthin zurückgebracht.

Enrico meinte, eine Rückkehr komme nicht in Frage. »Du hast ihr doch alle Türen offengelassen, cara«, sagte er. »Sie muss den Schritt selbst tun, falls sie sich dafür entscheidet.«

Aurelia seufzte. »Und was ist, wenn …«

»Wenn sie sich dafür entscheidet«, wiederholte er. »Du hast dein Möglichstes getan.«

Die Arme vor der Brust verschränkt, atmete Aurelia die salzige Luft ein. Die See war heute ruhig.

Hatte sie wirklich alles getan, was in ihrer Macht stand?

Es wurde allmählich kalt. Aurelia wandte sich um, ging zur Steintreppe zurück und schlüpfte in ihre Sandalen. Enrico würde sich schon Sorgen machen. Vermutlich saß er am Flügel – sie glaubte sogar, dass sich in das Zirpen der Grillen eine Melodie mischte. Bestimmt war er trotz des Klavierspiels in Gedanken bei ihr. Behutsam öffnete sie das vertraut quietschende Gartentor, um die schweren Blüten der Glyzinie nicht einzuklemmen, und lief über den Sandweg auf das Haus zu.

Als sie an dem Labyrinth vorüberkam, hörte sie einen ungewohnten Laut. Ein Knacken. Vielleicht ein zertretener Zweig? Sie blieb stehen und lauschte. Sie hatte sich bereits an die Geräusche aus dem Irrgarten gewöhnt. Enrico lachte sie deswegen zwar aus, aber sie war schon seit langem der Überzeugung, dass von dem Labyrinth eine ganz besondere, spirituelle Kraft ausging. Dieses Geräusch war ihr allerdings fremd. Es klang beunruhigend.

»Wer ist da?«, rief sie und blickte suchend zu den Oleander- und Jasminbüschen. Der betäubende Duft des hellgelben Jasmins stieg ihr in die Nase. »Kommen Sie sofort heraus!« Wie lächerlich diese Worte klangen! Ob man heraushörte, dass sie mit dieser Aufforderung ihre Angst überspielte?

Keine Antwort. Niemand. Aurelia war zwar nicht überzeugt, aber es wurde zunehmend dunkler, und das erleuchtete Haus und Enrico, der ein schnelleres Tempo anschlug, schienen sie zu rufen. Als sie sich zum Haus umwandte, hörte sie das Knacken erneut. Ein hastiger, flacher Atem. Ihr eigener? Sie war sich nicht sicher. Sie stolperte.

Die Musik verstummte. »Aurelia?« Enricos Stimme kam von der Terrasse. »Wo bist du? Was tust du dort im Dunkeln?«

»Ich bin hier«, antwortete Aurelia laut und deutlich. »Bin schon da.«

So selbstsicher wie möglich ging sie auf Enrico und La Sirena, sein schönes, einladendes Haus, zu.

An der Tür blickte sie sich zu dem Labyrinth um. War bei den Lorbeerbäumen nicht ein Schatten? Oder trogen ihre Augen sie? Schließlich sah sie nicht mehr so gut. Egal. Sie würde Enrico nichts davon erzählen. Sie wollte ihm nicht schon wieder einen Anlass geben, sie zu ermahnen, ihr Arbeitspensum zu verringern.

»Wir werden zu spät kommen, du hast dich noch nicht mal umgezogen«, sagte Enrico, nahm zärtlich ihre Hand und schloss die Tür hinter ihr.

Zu Hause machte Cari es sich mit einem Buch, einem großen Glas Wein und etlichen Schälchen Dim Sum, kleinen chinesischen Klößen mit unterschiedlicher Füllung, auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer bequem. Die Begegnung mit dem jungen Italiener ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie kämpfte mit sich, ob sie Dan anrufen solle – sie hatte genügend zu essen eingekauft, und am Abend tat seine Ruhe ihr besonders gut. Aber vermutlich hatte er bereits gegessen. Außerdem konnte er es nicht ausstehen, beim Essen auf dem Sofa zu lümmeln, wenn daneben ein wunderbarer Esstisch stand. Sie nippte an ihrem Wein. Nein, sie würde bei ihrem Plan bleiben: ein Abend ganz für sie allein!

Dan verbrachte ohnehin vier, manchmal fünf Nächte in der Woche bei ihr, und es verging kein Tag, an dem er nicht anrief. Sie knabberte an einem Klößchen mit Hühnchenfüllung. Eine junge Kundin hatte heute das Hochzeitskleid anprobiert, das Cari für sie entworfen hatte. Ein ganz gewöhnliches Mädchen, das Cari für einen Tag in eine Prinzessin verzaubern würde. Als die Kundin sich vor dem Spiegel gedreht hatte, war der Rock tatsächlich wie bei einer Tarantella gewirbelt. Weißer Tüll, weiße Perlstickerei. Weißer Zuckerguss, dachte Cari. Wenn ich einmal heirate – falls ich jemals heirate –, werde ich etwas Atemberaubendes tragen, aber keinesfalls in Weiß. Ich mag es auch romantisch und verspielt, keine Frage. Das muss ich in meiner Branche auch. Doch meine Hochzeit soll Realität sein und nicht wie ein Trugbild wirken. Blut anstatt Wasser, Stärke und Verlässlichkeit statt einer vorgegaukelten Märchenwelt.

Cari ließ sich ein weiteres Klößchen schmecken, diesmal ein vegetarisches, das ebenfalls köstlich schmeckte. Cari probierte zu gern verschiedene Gerichte – Dim Sum erregte die Geschmacksknospen und machte Lust auf mehr.

»Sind Sie verheiratet?«, hatte die junge Frau bei der Anprobe gefragt.

»Nein.« Cari hatte innerlich gelächelt. Dan hatte zwar schon mehrmals um ihre Hand angehalten, und seit kurzem fragte sie sich, wie oft ein Mann die Ablehnung hinnehmen würde. Ob sie nach ihrer Mutter schlug? Unverheiratet und fest entschlossen, es zu bleiben? Hoffentlich nicht. Sie liebte ihre Mutter, sehnte sich jedoch nach einer großen Familie. Weniger nach Kindern oder besser gesagt: noch nicht. Ihre biologische Uhr hatte schließlich noch nicht zu ticken begonnen. Außerdem besaß sie ein Geschäft, das sie mit viel Mühe und Entbehrungen aufgebaut hatte. Aber sie wünschte sich eine Familie, wollte ihre Wurzeln kennenlernen. Sie wollte einen Anker im Leben haben und das Gefühl der Zugehörigkeit spüren.

Da Tasmin ihrer Tochter bestimmte Familienangelegenheiten stets verheimlicht hatte, war Cari in gewisser Weise ohne Wurzeln aufgewachsen. Dabei brauchte jeder Wurzeln, um aufrecht und gesund groß zu werden. Doch kaum wollte Cari etwas über ihre Vorfahren, Großeltern, Tanten, Onkels, Cousins und Cousinen wissen, winkte Tasmin ab. Wir brauchen keinen von ihnen, pflegte sie der Tochter zu sagen. Wir beide kommen doch wirklich wunderbar allein zurecht.

Aber Cari wollte sich selbst ein Bild verschaffen. Sie mochte es nicht, wenn etwas totgeschwiegen wurde. Tasmin dagegen war auf diesem Gebiet Expertin. Sie lebte im Dunkel; ihre Tätigkeit in der Galerie, ihre Fotografie, ihre Partys, ihre Amouren – vermutlich weiß niemand davon, argwöhnte Cari. Zumindest hielt sie die Bereiche sorgfältig voneinander getrennt. Nichts durfte nach außen dringen. Wovor fürchtet sie sich bloß?

»Ich könnte nicht ohne Gareth leben«, hatte die junge Frau im Geschäft erklärt.

Cari hatte ihrer Kundin in die Augen gesehen und auf Anhieb gewusst, dass es Liebe war und nicht etwa eine Romanze oder irgendwelche Phantasievorstellungen.

Sie hatte die junge Braut falsch eingeschätzt. Diese Frau war beileibe nicht durchschnittlich. Sie zählte zu den Glücklichen. Cari beneidete sie aus tiefstem Herzen.

Cari biss in eine frittierte Riesengarnele und seufzte. Die Liebe … Aber wann wurde die Liebe zu einer Falle? Seit wann genau löste Dans Stimme bei ihr statt des Begehrens nur ein Gefühl der Bedrängnis aus? Seit wann war sie eher genervt als erfreut, wenn sie seine Stimme hörte? Durchlebte sie vielleicht nur eine Phase der Unzufriedenheit? Oder war es mehr als das?

Chili brannte auf Caris Zunge wie heißer Honig. Sie nippte am Wein. Natürlich gab es auch gute Zeiten. Sie öffnete ein neues Schächtelchen und kostete von dem zarten, saftigen, in Zitronensaft schwimmenden Fleisch, das in eine Art Weinblatt gehüllt war. Die Zeiten, wenn sie Dan anrief, sich über eine schwierige Kundin beschwerte oder sich um ihre Mutter ängstigte. Oder wenn sie sich nach einem langen Arbeitstag erschöpft und unendlich dankbar zu ihm begab, um sich zu entspannen.

Cari streckte sich auf dem Sofa aus und stellte sich seine minimalistisch eingerichtete Wohnung vor, die einen femininen Touch vertragen konnte, wie Dan immer wieder betonte. Sie schloss die Augen. Was für ein herrliches Geschenk, verwöhnt zu werden! Nicht zu vergessen die Momente mitten in der Nacht, wenn sie sich beruhigt an seinen mit Sommersprossen übersäten Rücken schmiegen konnte, er sich umdrehte und instinktiv den Arm um sie schlang, selbst im Schlaf wissend, wann sie ihn brauchte – eine Geste, die ihm während des Tages nie in den Sinn käme.

Meine Güte! Wieso vertat sie die Zeit mit Grübeleien über Dan? Cari nahm ihr Buch zur Hand und versuchte sich zu konzentrieren. Doch draußen sang jemand »American Pie«. Der Song hat viel zu viele Verse, dachte sie stöhnend, erhob sich vom Sofa und klaubte den Abfall zusammen. Liebte sie Dan? Hatte sie ihn jemals geliebt? Und weshalb kamen ihre Zweifel stets am Abend und nie bei Tag, wenn sie in ihren Laden hetzte, die Bedürfnisse ihrer Kundinnen zu erfüllen, Termine einzuhalten und Träume zu verwirklichen suchte, oder wenn sie sich in ihrer Freizeit bemühte, einen Besuch bei ihrer Mutter, bei Dan, Lauren oder Meg einzuschieben. Vermutlich war dies ihre Art, sich über die einsamen Stunden zu retten. Falls es überhaupt eine Rettung darstellte.

Sie ging in die Küche, trat an den Kühlschrank und goss sich ein Glas Mineralwasser ein. Dann zog sie die Jalousien hoch, stellte sich dicht ans Fenster und starrte hinunter in den dunklen Garten. Der Mond war nahezu voll und der Himmel so klar, dass sie nicht nur den Umriss ihrer Tabakpflanzen und Lavendelsträucher deutlich erkennen konnte, sondern auch das Basilikum und den Rosmarin, die sie erst kürzlich in Töpfe gepflanzt hatte. Das Steinkraut wand sich bereits über die Einfassung des Hochbeets. Ein winziger Garten – aber ihr eigener.

Sie hatte Dan mit einundzwanzig kennengelernt, und sie waren noch heute – nach acht Jahren – ein Paar. Was hatte das zu bedeuten? Dass sie füreinander bestimmt waren? Oder war es nur ein Zeichen von mangelndem Mut?

Das Schloss ihres Schließfachs hatte geklemmt. Wild fluchend hatte sie den Schlüssel darin umgedreht, weil sie zu einem Referat erwartet wurde und ohnehin spät dran war. »Verflixt noch mal, oh nein, bitte nicht jetzt. Nein!«

»Probleme?«

Cari wandte sich blitzschnell um und blickte in ein freundliches Gesicht voller Sommersprossen. Sie spürte, dass sie den Tränen nahe war. Entweder lag es an all dem Stress oder ihrer bevorstehenden Periode. Wer weiß? Wen interessierte das überhaupt? Oder es lag daran, dass all das Zeug, das sie jetzt dringend brauchte, in einem grauen Fach eingeschlossen und somit unerreichbar war? Sie schlug mit der Faust dagegen. Es war zwar vergeblich, aber erstaunlich entlastend. »Ich kriege dieses verdammte Ding nicht auf.«

»Lass mich mal.« Er zog den Schlüssel ein wenig heraus und drehte ihn vorsichtig.

Männer!, dachte Cari und hätte zu gern wieder selbst angepackt. Weshalb soll man sie eigentlich immer in dem Glauben unterstützen, sie wären fähiger …?

»Schon erledigt!« Er öffnete die Tür weit.

»Ach, du lieber Himmel!« Cari holte ihre Sachen hervor, ehe die Tür erneut zufiel. »Vielen, vielen Dank, ähm …«

»Dan.«

»Dan.« Sie hatte den Eindruck, sie sollte noch eine Weile dableiben und sich mit ihm unterhalten, aber die Zeit drängte. »Du bist mein Held«, scherzte sie.

»Jederzeit«, antwortete er und sah sie aus dunkelbraunen Augen freundlich an. »Ich stelle mich jederzeit als Held zur Verfügung.«

»Oh.« Tja, was sagte man zu einem Angebot wie diesem? Diese unverblümte Art war verführerisch und verdiente es eigentlich nicht, ignoriert zu werden.

Cari verschwand in ihrem Hörsaal, war aber tags drauf nicht allzu überrascht, als er auf sie zukam, um sich mit ihr auf einen Kaffee zu verabreden.

»Okay.« Es war ja bloß auf einen Kaffee.

Beim Cappuccino erzählte er ihr, dass er Betriebswirtschaft studiere und Unternehmensberater werden wolle.

»Nicht schlecht«, antwortete Cari und fragte sich gleichzeitig, wie sicher er sich seiner beruflichen Pläne überhaupt sein konnte. Sie stellte sich die Zukunft immer als einen schwierigen Weg mit verzwickten Kreuzungen vor, auf dem man mit toten Winkeln sowie unüberwindbaren Steigungen und gefährlichem Gefälle zu rechnen hatte. So war das Leben doch, oder nicht?

Cari ließ die Jalousien wieder herunter. Inzwischen hatte sie begriffen, warum er nicht um seine Zukunft bangte: weil er die Vergangenheit seiner Familie kannte. Sie dagegen hatte mehr angenommen von ihrer Mutter, die alle Brücken abgebrochen hatte, als ihr bewusst gewesen war. Im Gegensatz zu Dan … Jedes seiner Ziele und jeder Traum war in seiner Familie verankert.

Aus den gelegentlichen Treffen zum Kaffee war ein Kinobesuch mit dem ersten Kuss geworden. Insgesamt war alles weitaus angenehmer verlaufen, als Cari erwartet hatte. Sie hatte das Gefühl … umsorgt zu sein. Dan hatte angerufen und sie zum Abendessen in ein preiswertes vegetarisches Restaurant in der North Street eingeladen. Es war anregend gewesen. Er war humorvoll und intelligent, doch vor allem verlässlich. Sie entwickelten eine unkomplizierte Beziehung. Die Küsse wurden allmählich intensiver. Eines Tages reichten sie ihnen nicht mehr, und sie schliefen in Caris möbliertem Zimmer miteinander. Es war nicht gerade eine überwältigende Leidenschaft, aber Cari empfand … Zufriedenheit. Sie fühlte sich beschützt und war glücklicher als je zuvor in ihrem Leben. Sie waren ein Paar. Das war vollkommen in Ordnung.

Seit ihren Anfangstagen hatte sich viel ereignet. Dan arbeitete mittlerweile in der Geschäftsleitung, während sie ihr Modestudio eröffnet und eine Wohnung im belebten Zentrum von Brighton bezogen hatte, nicht weit von ihrem Atelier und der North Laine entfernt. Dort gab es eine verrückte Mischung ausgefallener Läden und Märkte nahe der Seepromenade mit ihren großen Regency-Gebäuden, dem Palace Pier und faszinierenden Antik- und Schmuckgeschäften. Brighton wurde seinem Namen gerecht. Die Stadt war lebhaft, bunt, schillernd. Sie riss einen mit und schien niemals zu schlafen. Ganz wie Cari – zumindest im Augenblick.

Nach einigen Monaten hatte Dan sie seinen Eltern vorgestellt, die in der Nähe von Eastbourne wohnten. In ihrem Bungalow an der Küste tranken sie aus zarten Porzellantassen Tee mit Milch. Auf der Anrichte des Wohnzimmers hatten die Familienfotos einen festen Platz. Dan und sein Bruder Toby als kleine Jungen, verschmitzt in die Kamera grinsend; daneben Mr und Mrs Elsmore – an ihrem Hochzeitstag und bei einer Taufe. Mrs Elsmore hatte ein weißes Bündel im Arm, das sowohl Dan als auch Toby darstellen konnte. Daneben Mr Elsmore als junger Mann, die Arme lässig um die Schultern seiner Eltern geschlungen – der Vater gar förmlich im Anzug, in steifer Haltung, die Mutter unsicher wegen ihres Sohnes, der – wann bloß? – zum Mann geworden war.

Cari konnte den Blick nicht von den Fotos wenden, bis Dans Mutter neben sie trat und den Aufnahmen Namen und Orte zuordnete. »In Clacton«, erklärte sie und wies auf ein Bild. »Dan war schon immer ein außerordentlich hübscher Junge.«

»Ach, Mum, Cari interessiert das nicht …«

Cari musste schlucken. Sie entschuldigte sich, durchquerte hastig den Raum, der mit einem gesprenkelten Teppich ausgelegt war und dessen Wände Tapeten mit Magnoliendekor schmückten, und ging die Treppe hinunter zur Toilette, auf die ein kleines Messingschild an der Tür hinwies.

»Verdammt noch mal!«, fluchte sie, drehte den Kaltwasserhahn auf und befeuchtete ihr Gesicht. Ihr Make-up war dahin, aber es war ihr egal. Ihre Wangen brannten. Mit sprühenden Augen und wirrem Haar betrachtete sie sich im Spiegel. Das konnte sie unmöglich sein!

»Das ist unfair!«, stieß sie hervor. »Das ist wirklich unfair!« Aufgebracht schloss sie die Augen. Sie wollte ihre Mutter nicht hassen und ihr nichts nachtragen. Sie liebte Tasmin doch. Aber wo war ihre Familie? Wo war das Foto ihres Vaters? Ein Name wäre schon mal ein Anfang gewesen. Wo war das Foto ihrer Großeltern? Dass sie tot waren, wusste sie, doch seit wann bedeutete »tot sein«, dass man nicht existiert hatte?

Sie lehnte die Stirn an das kühle, beschlagene Glas. »Lass gut sein, Cari!«, hatte Edward mehr als einmal zu ihr gesagt. »Deine Mutter wird dir alles erzählen, sobald sie bereit dazu ist.« Sein Blick war weich geworden. »Frag nicht ständig nach!«, hatte er gebeten. »Sie ist deine Mutter, und sie liebt dich. Lass es damit gut sein. Jedenfalls für den Augenblick.«

Doch wie konnte sie es damit gut sein lassen? Cari hatte sich die Fragen verkniffen, aber ihre Mutter würde niemals zu Antworten bereit sein. Inzwischen hatte sich die Anzahl von Fragen in Caris Kopf bereits vervielfacht, und sie würde mit ihnen ebenso wenig fertig werden wie mit den Trigonometrieaufgaben von einst, die sie nie hatte lösen können. Was war bloß so schmerzhaft, dass Tasmin sich weigerte, über ihre Eltern zu sprechen? Weshalb durfte sie, Cari, es nicht wissen?

»Du kannst dich glücklich schätzen«, hatte Cari zu Dan auf ihrer Zugfahrt zurück nach Brighton gesagt. »Unheimlich glücklich.«

Ich werde schon noch rechtzeitig dahinterkommen, redete sie sich nun zu und ging in ihr Schlafzimmer. Sie war diese Heimlichtuerei satt. Ich werde das Rätsel lösen, bevor es zu spät ist. Keine Geheimniskrämereien mehr! Ich werde Mutter erzählen, wie mir zu Mute ist. Tasmin muss mir reinen Wein einschenken. Mein Gott, ich bin immerhin fast dreißig und an einem Wendepunkt in meinem Leben. Ich muss die Wahrheit erfahren.

»Meine Eltern sind wirklich außergewöhnlich, findest du nicht?«, hatte Dan damals strahlend geantwortet, als hätten er und Cari einen weiteren Schritt auf ihrem verheißungsvollen Weg in die gemeinsame Zukunft zurückgelegt.

»Ja«, hatte Cari geantwortet. Aber darum ging es nicht. Er konnte sich glücklich schätzen, dass er seine Wurzeln kannte. Wurzeln, an denen er sich würde festhalten können, wenn Dinge auseinanderzufallen drohten. Einen Anker, von dem aus er sich verwirklichen konnte. Ein Fundament, auf das er bauen konnte. Und vermutlich auch eine Identität.

Sie hatte Dan ihre Gedanken mitteilen wollen. Doch er hatte so viel Selbstzufriedenheit ausgestrahlt, dass sie beschlossen hatte, es ihm vielleicht ein andermal zu sagen.

Ich habe es ihm immer noch nicht gesagt, überlegte Cari nun. Sie setzte sich aufs Bett. Stattdessen habe ich mir einen Bruchteil seiner Sicherheit zu eigen gemacht. Dan war ihr Fels. Sie würde sich immer auf ihn verlassen können. Und sie mochte ihn sehr, sehr gern. Selbst an fremde, sexy Italiener, die in ihr Schaufenster starrten und sie in eine Unterhaltung verwickelten, würde sie nicht einen Gedanken verschwenden. Was sollte das schon bringen?

Sie steckte ihr Haar mit einer Klammer fest und trug in langsamen Kreisen Reinigungsmilch auf ihr Gesicht auf, während sie sich dabei im Spiegel betrachtete. Die Augen ihrer heutigen Kundin schienen sie aus dem Spiegel anzusehen und sie etwas zu fragen. Ja, es war ein Wendepunkt. Sie wusste es. Sie stand an einer Schwelle zu etwas, was sie nicht begriff. Sollte sie auf der Schwelle verharren oder tief einatmen und einfach drauflosgehen?

Kapitel 3

»Herein, nur herein …« Elena winkte Aurelia ins warme Haus, in dem es köstlich nach Pastete, gefüllt mit porcini, Steinpilzen, und gebratenem Gemüse sowie nach Pesto duftete. Essen war in Italien beinahe eine heilige Handlung, und Aurelia wusste genau, dass sich Elena wie jede italienische Frau einen Großteil des Tages hingebungsvoll der Vorbereitung der Mahlzeiten widmete. Wobei selbstverständlich nur besonders frische einheimische Zutaten von erstklassiger Qualität Verwendung fanden.

»Buona sera. Wie geht es euch, meine Lieben?« Elena küsste sie liebevoll, als hätten sie einander seit Monaten nicht gesehen. Im Inneren des Hauses war alles blitzblank. Auch das war typisch für Italien, hatte Aurelia gelernt: Man war überzeugt, Gäste könnten sich nur dann wohl fühlen, wenn das Haus zuvor von oben bis unten geschrubbt worden war.

Sie lächelte. Elenas Abendeinladungen waren wirklich ein Vergnügen. Sie hatte Elena über die Jahre hinweg lieb gewonnen, womit sie anfangs gar nicht gerechnet hatte, da Elena die jüngere Schwester von Enricos verstorbener Frau Catarina war. Aber Elena hatte sie so nett aufgenommen und sich so liebevoll um sie gekümmert, als wäre Aurelia wiederum ihre jüngere Schwester, und ihr geholfen, sich in Ligurien heimisch zu fühlen.

»Hoffentlich habt ihr genug Hunger mitgebracht.« Elena strich ihr blaues Seidenkleid glatt, das sich an ihre zierliche Gestalt schmiegte. Auch mit Ende siebzig, dachte Aurelia anerkennend, achtet sie wie eh und je auf ihr Aussehen.

»Ich habe Hunger wie ein Bär.« Enrico rollte die dunklen Augen und ging voran ins Wohnzimmer, das von einer mit Perlenschnüren verzierten Lampe und einigen cremefarbenen Kerzen erleuchtet wurde.

»Sehr gut.« Elena hob die schmale braungebrannte Hand. »Während ich also in der Küche die letzten Handgriffe erledige …« – sie deutete auf das elegante Klavier in einer Ecke des Zimmers –, »… spielst du doch bestimmt etwas für uns, Enrico, sì?«

Enrico zuckte die Achseln.

»Ich helfe dir …«

Aber davon wollte Elena nichts hören. »Entspann dich, und lausche dem Maestro!« Sie nickte. »In Ordnung?«

Wer würde es wagen, dieser Frau etwas abzuschlagen, deren zarte Gestalt in keinem Verhältnis zu der Macht stand, die sie über ihre Freunde und ihre Familie ausübte? Aurelia gewiss nicht.

»Also gut.« Sie setzte sich auf eines von Elenas grünen Sofas und versank in dem weichen, kühlen Leder. Obwohl die Terrasse im Dunkeln lag, konnte Aurelia die Umrisse von Elenas sorgfältig gestutzten Zitronen- und Orangenbäumen ausmachen, die eben erst aus ihrem Winterquartier, der limonaia, geholt worden waren, sowie die schattige Pergola aus Kastanienholz, die bald dicht mit Wein berankt sein würde.

»Aurelia, Aurelia …« Elena sang ihren Namen, während sie einen Schemel herbeiholte. »Ich habe mich immer gefragt, warum du bei deinem ersten Besuch in Italien nicht sofort in das Dorf gefahren bist, nach dem du benannt bist.«

Die Frage überraschte Aurelia nicht. Seit sie Elena und Enrico kannte, äußerten die beiden immer wieder ihre Verwunderung darüber, dass sie denselben Namen trug wie deren Heimatdorf. Das Dörfchen Aurelia, südlich von Tellaro gelegen, nicht weit von der bezaubernden italienischen Riviera entfernt. Natürlich war das purer Zufall. Enrico hatte ihr erzählt, dass es auch eine Via Aurelia gab, die Goldene Straße, die aus der Römerzeit stammte und von Rom bis nach Frankreich führte.

»Es ist doch nur ein Name«, antwortete sie zum soundsovielten Mal, streckte die Beine aus und streifte die Sandalen von den Füßen. »Erst nachdem ich Enrico kennengelernt hatte, ist mir klar geworden, dass es ein italienischer Name ist.«

»Stimmt.« Enrico nahm auf dem Klavierhocker Platz, strich imaginäre Frackschöße glatt und zwinkerte Aurelia zu. »Was soll ich spielen?«

»Pachelbel, bitte.« Elena schenkte den aperitivo ein und setzte eine vielsagende Miene auf. »Deine Mutter hat es doch bestimmt gewusst.«

»Das bezweifle ich.« Mary hatte diesen Namen für ihre Tochter vermutlich nur gewählt, weil er so vornehm klang. Allerdings konnte Aurelia sich nicht erklären, warum ihr Vater Mary nicht gezwungen hatte, sich für einen weniger extravaganten Namen zu entscheiden – beispielsweise Jane oder Susan.

»Oder dein Vater? Wie hieß er doch gleich … Hugh?« Elenas dunkle Augen funkelten neugierig. Sie stellte die Gläser auf den Couchtisch.

Bereits bei ihrer ersten Begegnung hatte sie Aurelias Familiengeschichte erforscht. Aurelia nahm an, dass den Italienern der eigene Stammbaum wichtig war. Sie hielten große Stücke auf ihre Wurzeln.