Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In einer Welt, in der Magie und Macht untrennbar miteinander verbunden sind, gerät die rebellische Prinzessin Halen Arkin ins Zentrum eines uralten Konflikts. Als sie das Amulett ihrer Mutter erbt, entfesselt sie nicht nur ungeahnte Kräfte, sondern auch eine dunkle Macht, die sie unweigerlich mit dem rachsüchtigen Yroma-Anführer Asgor zusammenführt. Dieser kehrt zurück - fest entschlossen, zu erlangen, was ihm einst verwehrt wurde. Mit der Hilfe des geheimnisvollen Colias und der Magie, die in ihren Adern erwacht, stellt sich Halen dem Krieg, der ihre Heimat zu zerstören droht. Doch während Geister der Vergangenheit ihr Herz auf die Probe stellen, steht sie vor einer alles entscheidenden Wahl: Frieden oder Rache?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 478
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für all jene, die in der Dunkelheit nach ihrem eigenen Licht suchen, die stolpern und dennoch immer wieder aufstehen.
Diese Geschichte gehört euch.
Widmung
Hinweis:
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Content Warnung
Danksagung
Über die Autorin
Impressum
Hinweis:
Dieses Buch behandelt ernste und emotionale Themen. Eine ausführliche Content Warnung findest du am Ende des Buches. Bitte entscheide selbst, ob du sie vorab lesen möchtest.
Halen seufzte genervt. „Wieso hat das so lange gedauert?"
Nicholas trat näher an sie heran, seine Stiefel knirschten leise auf dem mit Stroh bedeckten Boden. „Verzeih, aber ich bin zweimal gegen eine Wand gelaufen. So dunkel habe ich es mir immer auf dem Grund des Meeres vorgestellt!"
Halen schreckte vor Nicholas' Händen zurück, die sich in ihrem Gesicht wiederfanden.
„Das ist mein Auge", witzelte sie.
Doch dann fanden seine Hände, was sie wollten. Er umfasste Halens Hinterkopf und ließ sie zu ihrem Nacken hinuntergleiten. In sanfter Umklammerung presste er seine Lippen begierig auf ihre.
Halen löste sich. „Nic!"
„Was ist? Willst du mich etwa ein ganzes Jahr hinhalten? Bis wir verheiratet sind, kann ich nicht warten." Nicholas' Stimme klang flach, fast resigniert. Halen spürte, dass er versuchte die Enttäuschung zu verbergen, die in seinem Tonfall deutlich zu hören war.
Selbst im schwachen Licht der Nacht wirkte Nicholas für seine siebzehn Jahre erstaunlich erwachsen. Er stand mit einer unerschütterlichen Ruhe, die eher zu einem Mann als zu einem Jungen passte – die Schultern gerade, den Blick fest, als könne ihn nichts aus der Fassung bringen.
Halen atmete tief ein. Sie war zwei Jahre älter als ihr Gegenüber, und trotzdem fühlte sich der Gedanke, einen Jungen zu heiraten, der für sie wie ein Bruder war, vollkommen surreal an. Nicholas war ihr vertraut wie niemand sonst, und vielleicht war genau das das Problem.
„Nein", betonte sie ernst, die Gedanken an die Zukunft beiseiteschiebend. „Aber deswegen sind wir nicht hier."
Halen spürte die Wärme seiner Hände auf ihren Wangen. In seinen Augen spiegelte sich das Mondlicht, das durch die Risse der hölzernen Wände fiel.
Nicholas trat einen Schritt näher, die Stirn in Falten gelegt. „Und warum treffen wir uns mitten in der Nacht im Stall?" Seine Stimme klang gedämpft, fast widerstrebend.
„Ich muss raus aus Wyatt Castle. Ich muss in die Stadt."
Nicholas ließ seine Hände sinken. Vergeblich versuchte Halen seinen Gesichtsausdruck zu deuten, doch das Dunkel verschluckte seine Züge. In Gedanken stellte sie sich vor, wie er bedauernd das Gesicht verzog. Sicher würde er jetzt lieber in seiner warmen Bettstatt mit ihr liegen, anstatt hier an diesem untröstlichen Ort zu sein.
„Heiliger Elass, was hast du vor?"
Halen presste die Lippen zusammen. „Du hast versprochen, keine Fragen zu stellen."
„Das war, bevor ich wusste, dass du mit mir einen nächtlichen Spaziergang durch eine verseuchte Stadt machen willst."
„Die Kettelseuche ist vorbei. Es gab seit Tagen keinen Ausbruch mehr. Und die Toten können dir nichts mehr anhaben."
„Sie können mich anstecken!"
„Aber das wird nicht passieren." Halen legte sich ein dreieckiges Tuch vor das Gesicht und knotete es im Nacken fest. Dann reichte sie Nicholas auch eins.
„Binde dir das über Mund und Nase", riet sie ihm. Halens Stimme klang gedämpft durch den Stoff. „So steckst du dich nicht an."
„Sag mir, wo du hinwillst", drängte Nicholas.
Halen atmete tief aus, als sie den Stoff in Nicholas' Gesicht sah. Ein leichter Druck in ihrer Brust löste sich, als sie bemerkte, dass er ihn richtig angelegt hatte. Sie öffnete den Mund, doch bevor ein Wort ihre Lippen verlassen konnte, durchbrach das raue Krächzen eines Vogels die Stille der Nacht.
Der Laut hallte durch die engen Gassen von Wyatt und drang bis zur Festung, die durch eine mächtige Mauer von der Stadt getrennt war. Halen fröstelte bei dem Gedanken an das leidende Tier. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie an die unsäglichen Qualen dachte, das es ertragen musste. Sie konnte nicht länger warten – sie musste es befreien.
An Nicholas' schweren Atemzügen erkannte sie, dass er verstanden hatte. Sein Schweigen war wie ein drückender Schatten, der sich zwischen sie schob. Und je länger die Stille anhielt, desto mehr wuchs in ihr das Gefühl, dass etwas zwischen ihnen stand. Sie wollte nicht warten, bis ihre Zweifel die Oberhand gewannen. Ohne Vorwarnung packte sie die Hand ihres Verlobten und zog ihn weiter in Richtung der Stadt.
Nicholas protestierte, doch nach ein paar Schritten schien ihm klar zu werden, dass er den Weg unmöglich allein zurückfinden würde. Er war auf Halen angewiesen, deren scharfe Augen selbst das hartnäckige Schwarz dieser Nacht durchblickten.
Dass es sich bei dem schrecklich leidenden Tier um einen Waldkauz handeln musste, hatte Halen an seinem Ruf ausmachen können. Schon unzählige Male hatte sie diesem gelauscht. Waldkäuze hielten sich häufig in dieser Gegend auf. In den sumpfigen Weiden Wyatts jagen sie Mäuse, Kröten und Jungkaninchen; ihre Nester jedoch bauen sie in den hohen Baumhöhlen des nördlichen Waldes.
Die Erinnerung an die Vögel verblasste allmählich, als der drückende Sommerwind über die steinernen Wege zog. Halen und Nicholas hatten die Festungsmauer erreicht. In sicherer Entfernung kauerten sie hinter einem alten Holzhaufen, der ihnen gerade genug Deckung bot. Vor ihnen ragte eins von insgesamt acht massiven Stadttoren in die Nacht. Das Westtor war von Wyatt Castle aus der einzige Zugang zur Stadt. Zwei Wachen standen wachsam davor, ihre Lanzen fest in den Händen. Ihre Schatten erstreckten sich ruhig im silbernen Mondlicht, die Spitzen der Waffen scharf auf den Pflastersteinen.
„Ich hoffe, dass ich das nicht bereuen werde, Hal", flüsterte Nicholas, seine Stimme schwankte zwischen Zweifel und Sorge, als er einen letzten Blick auf die Festung hinter sich warf.
„Scht!", zischte Halen zurück, ohne ihn anzusehen. Ihre Augen brannten von der Anspannung, als sie die Wachen musterte. Der Mond warf lange Schatten, die die unruhigen Bewegungen der Männer verstärkten. Der Mann auf der linken Seite rieb sich wiederholt die Lider, als versuche er, der Schläfrigkeit zu entkommen. Der andere stützte sich mit einem unterdrückten Gähnen auf seine Lanze, die in der Dunkelheit wie ein stummer Wächter neben ihm stand.
Ein leises Geräusch in der Ferne ließ ihn aufhorchen. Er blinzelte in die Dunkelheit, dann schien er einen Moment lang unentschlossen zu verharren. Schließlich drehte er sich um und schlenderte mit langsamen, gleichmäßigen Schritten in Richtung der Festung. Der andere blieb kurz stehen, als ob er etwas abwägen wollte, bevor er ihm schließlich nachging.
Halen hob den Kopf und schaute zum Himmel. Eine dichte Wolke schob sich vor den Mond und das Torhaus wurde von der Dunkelheit verschluckt. Sie lächelte zufrieden. „Jetzt!" Ohne ein Geräusch zu verursachen, erhob sie sich.
Gemeinsam huschten sie zum Tor. Dort angekommen kniete Halen sich vor die schwere Holzkonstruktion und tastete mit ihren Fingern nach dem versteckten Mechanismus. Sie hatte ihren Vater oft dabei beobachtet, wie er das Tor öffnete, als sie noch ein Kind war. Der kleine Riegel war in die massive Struktur des Tors eingearbeitet – unscheinbar, aber leicht zu öffnen für die, die ihn kannten.
„Gib mir Rückendeckung!", raunte sie Nicholas zu, während sie den Hebel mit einem leisen Knirschen zur Seite schob. Ein schmaler Spalt öffnete sich, gerade groß genug, dass sie hindurchschlüpfen konnten.
Halen atmete durch. Endlich. Sie hatten es in die Stadt geschafft. Für einen Augenblick huschte ein silberner Lichtstrahl über den gepflasterten Weg vor ihnen. Kurz darauf verschlang der Himmel den Mond und die Dunkelheit regierte wieder Wyatt.
Sie hoffte, dass die regenbehangenen Wolken diese leuchtende Scheibe für eine Weile verdecken würden. Die Dunkelheit war ihr Schutzmantel, den sie in dieser heißen Augustnacht mehr als nur gut gebrauchen konnten. Jederzeit könnte jemand aus dem Fenster spähen und sie entdecken. Dann wäre ihre Befreiungsaktion gescheitert, und ihr gefiederter Schützling würde sterben.
Winzige, kalte Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Halen war darauf bedacht, keinerlei Geräusche zu verursachen. Wann immer sie die Steine unter Nicholas' Füßen knirschen hörte, gab sie ihm mit einem „Scht" zu verstehen, behutsamer zu sein.
Stoisch setzte Halen einen Fuß vor den anderen, schlich mit gesenktem Kopf entlang der Hauswände und duckte sich unter den Fenstern hindurch. Die Gassen von Wyatt kannte sie so gut, dass sie sie mit verbundenen Augen hätte durchqueren können. Früher, vor der Kettelseuche, war sie fast täglich hier gewesen. Auch wenn sie nur in Begleitung ihrer überfürsorglichen Tante Lydia hinausdurfte, hatte sie jede Gelegenheit genutzt, um dem einengenden Gemäuer von Wyatt Castle zu entkommen.
Gerüche von verbranntem Fleisch stiegen ihr in die Nase. Vergeblich versuchte sie, sie mit einem Ärmel vor dem Gesicht abzuschwächen.
Sie bogen gerade in die nächste Gasse ein, als Halen über ein Hindernis auf der Straße stolperte und das Gleichgewicht verlor. Mit einem dumpfen Schmatzen landete sie auf den Knien – mitten im Dreck. Ein fauliger Gestank schlug ihr entgegen, und sie verzog das Gesicht. Der Boden war feucht und schmierig. Als sie versuchte, sich abzustützen, um wieder auf die Füße zu kommen, versanken ihre Hände in einer klebrigen Substanz. Halens Magen verkrampfte sich.
Was zur Hölle war das? Exkremente? Abfälle? Wahrscheinlich beides. Halen schluckte und atmete durch den Mund, um den Geruch zu verdrängen.
„Alles in Ordnung?", fragte Nicholas mit Besorgnis in der Stimme.
„Nichts passiert", presste seine Begleiterin heraus, ohne sich nach ihm umzusehen.
Sie versuchte, gleichmäßig zu atmen und die von der Kettelschwärze verunstaltete Leiche unter sich zu ignorieren. Doch der faulige Geruch, den der tote Körper verströmte, machte das fast unmöglich. Halen rappelte sich auf. Sie hielt ihre Hände davon ab, das Tuch fester über Mund und Nase zu ziehen, und wischte sie stattdessen an den Hosenbeinen ab.
Ihr Blick wanderte zum Ende der Gasse, das vom flackernden Kerzenschein eines Fensters erhellt wurde.
Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie auf das, was sich vor ihr abspielte, unfähig, es zu fassen. Es war ein schwarzer Schatten in der Gestalt eines Tieres. Und - hatte es etwa Flügel? Halen konnte zwei Beine und einen Schnabel erkennen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf.
Nicholas schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. „Halen, was ist los?" Seine Hand berührte ihre Schulter, doch Halen nahm dies kaum wahr.
Ich fantasiere, redete sie sich ein. Die Kettelseuche ließ Menschen die ungeheuerlichsten Dinge sehen. Trotzdem blieb ihr Atem flach, ihre Nackenhaare stellten sich auf. Langsam drehte sie den Kopf, unfähig, dem Schock zu entkommen. Grelles Mondlicht flutete die Gasse – die Gestalt war verschwunden.
„Hal?" Halen hörte Nicholas kaum. Ihr Herz raste. Ohne nachzudenken, packte sie ihn am Arm und zog ihn mit sich.
Nicholas stolperte hinter ihr her. „Was ist los?"
Halen keuchte. „Lauf!"
„Halen, warte!" Seine Stimme war drängend, aber sie ließ nicht locker.
Die Schattengestalt hatte Halen bis dahin nur in ihren Albträumen gesehen.
Ist sie meinetwegen hier? Will sie mir etwas sagen? Oder werde ich jetzt verrückt wie Mutter?
Sie schüttelte den Kopf, als könne sie so die wirren Gedanken wieder sortieren. Dann wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr auf ihre Umgebung geachtet hatte. Keuchend kam Halen an der nächsten Hauswand zum Stehen. Erschöpft lehnte sie ihren Rücken gegen die kühlen Steine und schloss für kurze Zeit die Augen.
Nicholas wollte etwas sagen, brachte jedoch nur ein unverständliches Röcheln heraus.
„Hol mich das ewige Eis!", versuchte er es erneut. „Was ist bloß in dich gefahren?"
„Ich ..." Halen schluckte schwer, ihr Herz hämmerte noch immer gegen ihre Rippen. „Ich habe mich nur erschrocken." Doch ihre Stimme klang rau, als hätte die Angst ihr die Kehle zugeschnürt.
Ihre Hände tasteten nach dem kleinen Beutel, der ihr um die Taille hing. Er war noch da. Vor ihrem geistigen Auge tauchte die Kette mit dem fein geschnitzten Eulenanhänger auf. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihr Glück oder Pech brachte.
„Lass uns zurückgehen, Hal", flehte Nicholas.
„Nein, wir müssen weiter." Halen klang entschlossener, als ihr zumute war.
Behutsam setzten sie ihren Weg in Richtung Westen fort und hielten erst an, als das schrille Todesgeschrei des Waldkauzes ihnen durch Mark und Bein fuhr. Gleich mussten sie da sein – am westlichsten Punkt Wyatts, wo das Landtor den Rand der Stadtmauer ablöste. Einst führte der Weg hier hinaus, doch seit der Seuche blieb dieses Tor unzugänglich.
Halen spürte noch das Echo des markerschütternden Schreies in ihren Knochen, als ihr Blick nach oben glitt - und sie erstarrte. Dort, am schweren Holz des Tores, hing der Waldkauz. Seine Flügel waren grotesk ausgebreitet, als hätte er sich im letzten Moment gegen das Unvermeidliche gewehrt. Doch es war vergebens gewesen. Zwei lange, rostige Nägel trieben sich mitten durch seine Flügel und hielten ihn fest wie eine makabre Warnung.
Sie musste sich auf Zehenspitzen stellen, um den Vogel von den massiven Nägeln zu lösen, die ihn brutal mit dem Holz des Landtors fixierten.
Halen setzte das mitgebrachte Eisen unter den Kopf des Nagels an, ihre Hand zitterte vor Nervosität. Der Kauz schrie erbärmlich laut auf, und für einen Moment hielt sie inne. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, und mit einem schnellen Ruck hatte sie den ersten Nagel aus dem Holz befördert, wodurch ein Flügel des Tieres endlich befreit war.
Der Vogel flatterte wild. Halen hielt ihn mit dem rechten Arm an Ort und Stelle, doch das Tier wehrte sich mit all seinen verbliebenen Kräften, fauchte und schrie angstgeplagt. Sein Schnabel schnappte nach ihren Fingern, während sich seine Krallen in ihren Ärmel gruben.
„Hal, lass mich helfen!" Nicholas trat näher und griff nach dem zitternden Körper des Vogels, um seine flatternden Flügel unter Kontrolle zu bringen.
„Halt ihn gut fest!", keuchte Halen, während sie den nächsten Nagel ins Visier nahm. Der Kauz schlug verzweifelt mit seinem freien Flügel und versuchte, sich loszureißen.
„Ich hab ihn", presste Nicholas hervor, obwohl der Schnabel des Tieres immer wieder nach seiner Hand schnappte.
Halens Herz hämmerte, als der Vogel flatterte und kreischte. Sie musste ihn beruhigen – musste verhindern, dass er sich selbst verletzte. Die Angst, er könnte den Flügel vom festsitzenden Nagel reißen und sich dabei schwer verletzen, lag wie ein schwerer Stein in ihrer Brust.
Sie warf Nicholas einen kurzen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf ihre Aufgabe.
Mit der linken Hand setzte sie das Nageleisen an und zog den zweiten Nagel mit aller Kraft heraus. Als die Befreiung geglückt war, entließ Nicholas den Kauz aus seinem Griff.
Prompt stürzte er zu Boden, doch Halen schaffte es gerade noch, ihn aufzufangen. In ihren Händen bebte das Tier, wand sich vor Angst und suchte nach einem Ausweg. Nun, da kein Eisen mehr seine Flügel durchbohrte, versiegten die Schreie allmählich, bis nur noch ein zittriges Gurgeln blieb. Halens Tränen fielen lautlos auf das weiche Gefieder. Sie würde den Kauz in den Wald zurückbringen. Dorthin, wo er hingehörte und geschützt war vor dem abergläubischen Herrscher Wyatts. Die Seuche hatte ihn so weit getrieben, dass ihm in seiner verzweifelten Wut alles zuzutrauen war.
Wann immer eine ungewöhnliche Hitze die Inseln von Solandis überfällt, dauert es nicht lange, bis sich eine Seuche ausbreitet. Wyatt befand sich in einem Ausnahmezustand und die Menschen waren verzweifelt genug, um vor den Toren von Wyatt Castle um Hilfe zu flehen. Einige versuchten sogar, mit Leitern oder Seilen die steilen Mauern zu erklimmen, obwohl die Steine von der Sonneneinstrahlung unerträglich heiß glühten. Die Wenigen, die es hinaufschafften, wurden mit schweren Steinen von oben abgeworfen. Wenn das nicht half, wurde auch mal ein Pfeil verschwendet.
Dennoch ließ Uthred Arkin, der Herrscher von Wyatt, nichts unversucht, um das Volk von seiner Macht und Stärke zu überzeugen. Schließlich musste er beweisen, dass er mächtiger war als die Seuche, die seine Untergebenen dezimierte – selbst, wenn er dafür die falschen Mittel wählen musste.
So bediente er sich nicht zuletzt ihres Aberglaubens. Am gestrigen Morgen hatte er einen Kauz fangen lassen, um diesen dann, lebendig und mit ausgebreiteten Flügeln, an das Landtor der Stadt zu schlagen. Die geflügelten Dämonen erschienen wie ein angemessenes Opfer, um den Zorn des allmächtigen Gottes Elass zu besänftigen. Das Wehklagen des Volkes verstummte, und Halen fragte sich, ob dies auf Ehrfurcht vor ihrem Gott oder auf nackte Angst vor ihrem Herrscher zurückzuführen war.
Allein auf der Festung herrschte weiterhin ein geregelter Tagesablauf. Dessen oberste Regel hatten Halen und Nicholas heute Nacht gebrochen. Sie hatten die sichere Festung verlassen und waren damit das Risiko eingegangen, selbst an der Seuche zu erkranken. Oder – schlimmer noch – die Krankheit mit nach Wyatt Castle zu bringen.
Es war kein Leichtes gewesen, sich des Nachts hinauszuschleichen. Wyatt Castle und die umliegende Stadt lagen auf einer Flussinsel, getrennt durch eine mächtige Mauer, die das Herrschergeschlecht schützen sollte. Wyatt war seit dem Ausbruch der Seuche vor einem Monat abgeriegelt worden. Es führten Wege hinaus, aber keine zurück – jedenfalls, soweit die meisten wussten.
Halen war auf dem Weg zu den Stallungen, jeder Schritt schien schwerer zu wiegen als sonst. Die Anstrengung der letzten Nacht hing ihr noch in den Knochen. Gemeinsam mit Nicholas hatte sie die verwundete Eule vom Landtor befreit – ein Unterfangen, das ihr nicht nur zerkratzte Hände, sondern auch eine nahezu schlaflose Nacht eingebracht hatte.
Müdigkeit brachte ihre Augen zum Brennen, doch sie zwang sich, eine aufrechte Haltung beizubehalten, als sie am Westtor vorbeiging.
Dort hatte sich bereits der Lord von Wyatt eingefunden.
Die Haltung ihres Vaters war wie immer tadellos, doch sein Blick ruhte ungeduldig auf dem Tor. Halen verlangsamte ihre Schritte und versteckte sich hinter einer Hausecke.
Das Geräusch von Hufen auf dem gepflasterten Boden drang an ihre Ohren. Der Steward tauchte in ihrem Sichtfeld auf: Ein hagerer Mann, der ohne viel Aufhebens vom Pferd stieg und Uthred Arkin eine knappe Verbeugung schenkte.
Der Steward nahm sich das Tuch, das er für seinen wöchentlichen Rundgang durch die Stadt streng über Mund und Nase gebunden hatte, ab, und legte es ordentlich beiseite. Dann ging er mit einem selbstbewussten Schritt zu dem Unterstand, in dem sich der Altar zu Ehren Elass' befand. Mit einer gewissen Zeremonie warf er den Stoff in das immerwährende Torffeuer, das in einem flimmernden Tanz loderte. Danach griff er zum Eimer neben dem Altar, um sich die Hände zu waschen, gefolgt von seinem verschwitzten Gesicht, als wollte er sich in der heiligen Atmosphäre erneuern.
Erst jetzt trat der Steward zu seinem Lord und sie wechselten kaum hörbare Worte. Neugierig blieb Halen stehen und tat so, als würde sie die Schnallen an ihren Stiefeln richten.
Ob ihm aufgefallen ist, dass die Eule am Landtor verschwunden ist?, fragte sie sich beunruhigt. Mit Sicherheit hatte er das. Ned war schließlich derjenige, den Lord Arkin für diese unheilvolle Aufgabe auserkoren hatte. Um sicherzustellen, dass er von der Seuche unberührt war, hatte man ihn für zwei Tage und zwei Nächte einsam und allein in den zweiten Zwillingsturm gesperrt.
Es war ein Prüfstein, wie es die Heiler nannten – eine letzte Gewissheit, dass sein Leib der Krankheit widerstand. Als die Tür zum Turm wieder geöffnet wurde, musste er Arme, Beine und Hals entblößen, damit man ihn auf jegliche Male oder Zeichen untersuchen konnte, die auf die Seuche hindeuten würden. Erst, als man ihn für rein erklärt hatte, wurde er zurück in den Dienst genommen.
Halen huschte weiter in den Schatten einer näheren Holzhütte und spähte vorsichtig hervor. Uthred Arkin stand in königlicher Manier. Seine weit auseinanderstehenden Beine verliehen seiner Erscheinung Selbstvertrauen und Standhaftigkeit. Die linke Hand hatte er in seine Hüfte gestützt. Doch reine rechte, mit der er nachdenklich sein hellbärtiges Kinn massierte, verriet sein Unbehagen.
Ihr Blick wanderte zur Sonne, die sich langsam, aber sicher dem Zenit näherte. Ein Fluchen lag ihr auf der Zunge. Wenn sie nicht bald aufbrach, würde sie zu spät zum Schwertunterricht bei Hengist kommen.
Sie straffte die Schultern und zwang sich, ihren müden Körper in Bewegung zu setzen. Bevor sie zum Unterricht konnte, musste sie noch bei den Stallungen vorbeischauen. Sie trat aus dem Schatten und versuchte, dem Lord nicht ins Gesicht zu sehen. Doch die Unruhe in ihr wuchs, bis sie nicht länger widerstehen konnte. Als sie für einen Moment hinsah, begegneten sich ihre Blicke. Sie fühlte sich ertappt, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, und ein Hauch von Unsicherheit kroch in ihr hoch. Aber der Lord schien abgelenkt, seine Gedanken in eine andere Richtung verloren. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte sie, als er den Kontakt wieder abbrach.
Halen lief schnurstracks weiter, durchkreuzte den weiten, von Wirtschaftsgebäuden gesäumten Hof und die angrenzenden Kräutergärten. Vor der Tür zur Küche blieb sie stehen und lugte vorsichtig durch den Spalt. Als sie sich sicher war, unbemerkt zu sein, huschte sie lautlos in den Raum und stibitzte einen großen Schenkelknochen vom Schwein, der noch vom Abendessen übrig war. Der Knochen war größtenteils von Fleisch befreit, doch für Hancock würde er ausreichen. Sie verschwand so schnell, wie sie gekommen war, und lief als nächstes zu den Pferdeställen, in denen auch ihr treuer Wolfshund seinen Schlafplatz hatte.
Jeden Tag brachte Halen Hancock ein paar Reste Fleisch oder Tierknochen aus der Küche mit. Dies war unlängst zu einem Ritual geworden. Nachdem der Wolfshund alles aufgefressen hatte, folgte er ihr für den restlichen Tag wie ein Schatten und ließ erst von ihr ab, wenn sie ihn in der Abenddämmerung zurück in den Stall brachte. So auch heute. Gesättigt tänzelte Hancock neben seiner Herrin her, bis sie den umzäunten Übungsplatz erreicht hatten.
Halen kam keine Sekunde zu spät, die Sonne hatte gerade ihren Zenit erreicht.
Nicholas hatte bereits eine vorbildliche Haltung eingenommen: Sein linker Fuß zeigte auf den Lehrer, während sein rechtes Bein im rechten Winkel dazu nach hinten gerichtet war. Einige Male wippte der junge Mann hin und her, um sein Gewicht gleichmäßig auf beide Beine zu verlagern. Anmutig lag das_hölzerne Schwert in seinen Händen, bevor er damit kurz die Klinge seines Lehrers berührte – der Kampf war eröffnet.
Hengist war ein kleiner Mann, dessen schlaksige Gestalt so manchen über seine Manneskraft hinwegtäuschen konnte. Er führte seinen ersten Schlag aus, indem er mit seinem Schwert mit beiden Händen über dem Kopf ausholte und die Klinge von schräg oben auf Nicholas' linkes Schlüsselbein herabsausen ließ. Sein Schüler reagierte schnell und parierte den gegnerischen Schlag so hoch er konnte. Halen wusste, dass er die Schwertspitze erheblich höher als das Heft halten musste, um Hengists Waffe im richtigen Winkel zu treffen. Mit voller Wucht trafen die Schwerter aufeinander. Nicholas musste seine ganze Kraft aufbieten, um Hengists Angriff standzuhalten. Es glückte. Noch während Hengist seine Klinge zurückzog, setzte Nicholas zum nächsten Schlag an. Er führte einen Stich von der Körpermitte aus. Doch Hengist kannte seinen Schüler gut. Geschwind nahm er eine tiefe Standposition ein, um mit der Flachseite seiner Klinge Nicholas' Angriff abzuwehren.
Der heftige Zusammenstoß der Holzschwerter schleuderte Nicholas' Waffe aus seinen Händen. Er verlor das Gleichgewicht und landete unsanft auf den Knien. Dreck spritzte auf. Im Versuch sein Unglück wettzumachen, griff er nach dem lederüberzogenen Heft und kam wieder auf die Beine. Doch er war nicht schnell genug. Lachend kam Hengist näher, sein Schwert schon gegen den Hals seines Schülers gerichtet, bevor dieser irgendwelche Versuche unternehmen konnte.
„Ihr seid ein passabler Kämpfer, Nie", versicherte er ihm. „Aber Eure Selbstüberschätzung kostet Euch eines Tages noch das Leben."
Nicholas gab ein trotziges Schnaufen von sich. „Nennt mich gefälligst Nicholas, ich bin kein kleiner Junge mehr!"
Halen beobachtete, wie Hengist die Augenbrauen leicht anhob – ein spöttisches Lächeln spielte an seinen Mundwinkeln. Offensichtlich verkniff er sich eine kecke Antwort, die mit Sicherheit an Nicholas' schwachem Selbstvertrauen gekratzt hätte. Sie hatte sich an der Umzäunung des Gevierts angelehnt und presste ihre Lippen zusammen, um ihre Schadenfreude zu verbergen.
Als Nicholas sie entdeckte, schmiss er frustriert sein Schwert auf den Boden und marschierte auf sie zu. Hancock, der neben ihr auf dem Boden lag, richtete sich sofort auf und fixierte den Jungen mit seinen scharfen Augen.
Hengists Lachen übertönte den ganzen Platz. „Was denn, Ihr wollt schon gehen?"
Bei Halen angekommen stemmte Nicholas seine Hände in die Hüften. „Das findest du wohl lustig, he?"
„Nur ein wenig", gab Halen zu und betrachtete, wie er dreckstarrend vor ihr stand. Ein breites Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Hancock machte einen Schritt vor, als wolle er sich zwischen die beiden stellen. Halen hielt ihn jedoch zurück und strich ihm beruhigend über das Fell.
„Wenn Lord Arkin dich hier sieht, wird er toben", warnte Nicholas und verschränkte die Arme. „Lydia hat mich beim Frühstück nach deinem Verbleib gefragt. Sie will dir Nachhilfe im Sticken geben."
Halens Laune kippte sofort, ihre Schultern zogen sich zusammen, als würde die Anspannung ihren Körper verkrampfen. „Hör auf, mich kontrollieren zu wollen, Nic. Außerdem hat mein Vater mir versprochen, dass ich im Schwertkampf unterrichtet werde."
„Du meinst, du hast ihn geschickt reingelegt. Er konnte gar nicht anders, als es dir zu erlauben."
„So steht es doch in Elass' Lehren geschrieben: sollen eure Nachkommen zu Elass' Kriegern werden. Ob die Nachkommen weiblich oder männlich sind, bleibt unerwähnt. Das konnte nicht mal Vater ignorieren!"
Kaum hatte Halen ihre Worte beendet, stieß sie sich vom Zaun ab. Im Vorbeigehen griff sie nach einem der Übungsschwerter, die in einem Fass voller Sand steckten, und von der Mittagssonne aufgeheizt waren. Der Griff brannte fast in ihrer Hand, doch sie verzog keine Miene und lief auf den staubigen Platz. Vor ihrem Lehrer angekommen, ging sie in Position. Schweiß perlte ihr von der Stirn und lief ihr in den Nacken.
Der Kampf hatte kaum begonnen, da hörte sie bereits, wie Lord Arkins Schritte sich von Weitem her näherten. Er hatte diese entschiedene Gangart, die auffallen wollte. Aus den Augenwinkeln bekam Halen mit, wie ihr Vater an der Umzäunung stehen blieb.
Hengist parierte ihren Schlag und führte sein Schwert nach unten. Dann löste er es so schnell wieder von ihrer Klinge, dass Halen ein paar Schritte nach vorne machen musste, um nicht hinzufallen. Als sie bemerkte, dass sie Hengist viel zu nahe gekommen war, wich sie mit dem Oberkörper rasch nach hinten aus und parierte den Schlag, der seitlich auf sie niederfuhr.
Sie wusste, dass sie ihm nicht standhalten würde, wollte aber verdammt sein, es nicht zu versuchen. Mit aller Kraft riss Halen ihr Schwert nach oben, spannte jeden Muskel an. Länger, als sie erwartet hatte, hielt sie dem Druck stand – Hengist aber war stärker. Schließlich wich sie zurück, und in genau diesem Moment zielte Hengist bereits mit seiner Klinge auf ihre Körpermitte.
„Ihr habt wacker gekämpft!", lobte Hengist sie mit einem zufriedenen Lächeln.
Halen senkte den Blick, ihre Stimme blieb jedoch fest. „Das reicht nicht."
Ihr Lehrer trat einen Schritt näher. „Mit der Zeit werdet Ihr stärker werden. Aber es wird immer jemanden geben, der noch stärker ist."
Mit dem Unterarm wischte sich Halen über die Stirn. Schweiß brannte in ihren Augen, und ihre Tunika klebte längst an ihrem Rücken. Stirnrunzelnd sah sie ihn an. Sie wusste nicht, wie ihr diese Aussage helfen sollte – nicht in diesem Moment, in dem jeder Atemzug schwerfiel und die Sonne selbst wie ein Gegner wirkte.
„Wenn Euer Gegner stärker ist, müsst Ihr eben schneller sein", erklärte Hengist, nachdem er die Verwirrung aus Halens Miene herausgelesen hatte. Er klopfte seiner Schülerin derb auf die Schulter und führte sie anschließend vom Platz. „Machen wir eine kurze Pause."
Gemeinsam traten sie Lord Arkin entgegen, der aufgebracht die Arme verschränkte. „Im Kriegsgetümmel gibt es auch keine Pausen!"
Bei seinem Herrscher angekommen, vollführte Hengist eine überraschend elegante Verbeugung, die man ihm so gar nicht zugetraut hätte.
Lord Arkin deutete auf seine Tochter. „So wird aus ihr nie eine Kriegerin Elass'!" Mit diesen Worten ging er in Kampfstellung und streckte Hengist seine Hand entgegen, in die dieser ohne Widerworte sein Holzschwert drückte.
Ohne Umschweife führte Lord Arkin sein Schwert an Halens Hals. „Wie lautet die fünfte Lehre?"
Widerwillig sah Halen ihm in die Augen. „Elass' Stärke fließt durch den, der glaubt."
Damit fingen sie an, zu kämpfen. Uthred trieb seine Tochter hektisch von Stich zu Stich und ließ ihr keinerlei Zeit, einen ihrer Angriffe zu Ende zu führen.
„Weiter!", forderte er sie auf.
Halen keuchte. „... er führt sein Schwert im Kampfe ..." „Weiter!"
„... und lässt ihn nicht verlieren."
Halen wusste, dass ihr Vater ihre Schwächen gnadenlos ausnutzte, um ihr vor Augen zu führen, dass sie ihm als Kämpferin unterlegen war. Sie verstand das nur zu gut. Es war, als hätte jede ihrer Bewegungen, jeder Schlag, jede Parade seine Erwartungen bestätigt – dass sie nie gut genug sein würde, um eine wahre Kriegerin zu werden.
Immer öfter geriet Halen in Bedrängnis, bis sie schließlich hart am Arm getroffen wurde und mit einem verzweifelten Aufschrei auf den Knien landete. Kurz bevor sie wieder gänzlich auf die Beine gekommen war, riss sie ein zweiter Schlag erneut zu Boden. Diesmal kippte sie nach vorne und landete vollends im Dreck.
Ihr Vater ging direkt vor ihr in die Hocke und lächelte. „Ich muss zugeben, du hast dich verbessert."
Sein sarkastischer Unterton konnte Halen nichts vormachen. Schleppend rappelte sie sich auf.
„Aber?", hakte sie ungeduldig nach.
„Sieh doch endlich ein, dass die Schwertausbildung kein angemessener Zeitvertreib für eine Prinzessin ist."
Halen ballte ihre Hände zu Fäusten, bis ihre Fingernägel in ihre Handflächen schnitten. „Ich hasse dieses Wort!"
Ihr Vater runzelte die Stirn. „Prinzessin?"
„Wieso musst du das wiederholen?"
„Aber das ist es, was du bist", erinnerte er sie. „Du solltest dich glücklich schätzen: Nicht jedem Mädchen ist ein Leben als ...", er zögerte kurz, „... Prinzessin vergönnt."
„Und was, wenn ich lieber eine Kriegerin wäre?"
„Sieh dich an! Das bist du doch längst."
Halen schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich."
Ihr Vater trat näher an sie heran und legte seine Rechte auf ihre Schulter. „Du kannst mit dem Schwert üben, bis du mit Nicholas verheiratet bist. Das war unsere Abmachung, richtig?"
Mit geschürzten Lippen sah Halen zu ihm hoch. „Ich hatte gehofft, dass du das vergessen würdest."
„Und ich hatte gehofft, du würdest endlich zur Vernunft kommen!" Uthred räusperte sich. „Wie auch immer, Lydia wartet auf dich. Du solltest dich sputen, wenn du dir ihre Tiraden über Pünktlichkeit ersparen willst"
„Aber ..."
„Hal, ich habe dir erlaubt mit dem Schwert zu kämpfen, aber ich habe dir nicht erlaubt, deine höfische Ausbildung deswegen schleifen zu lassen."
Halen tarnte ihr Augenrollen mit einem Blick zum wolkenlosen Himmel. „Ich gehe ja schon", murrte sie und kehrte ihrem Vater den Rücken. Mit einem kurzen, scharfen Pfeifen rief sie nach Hancock. Dieser sprang ruckartig aus seinem Schläfchen hoch und stürmte auf sie zu.
Kaum hatte Halen das Geviert hinter sich gelassen, erklang die Stimme von Lord Arkin: „Und du solltest dich umziehen!"
Sie hielt inne, drehte sich zu ihm um und verschränkte die Arme. „Ich bin nicht so verrückt, mich in Beinlingen bei Lydia blicken zu lassen", entgegnete sie mit einem schiefen Grinsen und fügte murmelnd hinzu: „Aber die Vorstellung gefällt mir!"
***
„Du bist zu spät", tadelte Lydia sie, als Halen die kleine Halle betrat, die mit ihren bodentiefen Fenstern den hellsten Raum in ganz Wyatt Castle darstellte.
„Verzeih, ich musste mich noch umkleiden", entgegnete Halen in einem Ton, der keine Reue verriet. Hancock kroch in den nächstgelegenen Schatten, um unbemerkt in Halens Nähe bleiben zu können.
Lydia musterte sie abschätzig. „Sag bloß, du warst wieder in Männerkleidung unterwegs. Mein Kind, wenn deine Mutter das wüsste – sie würde einen weiteren Anfall erleiden."
„Dann schlage ich vor, du unterlässt diese winzige Information bei deiner wöchentlichen Berichterstattung."
„Sie ist meine Schwester, ich kann ihr keine Informationen über ihre Tochter vorenthalten. Vor allem nicht eine so ungemein wichtige. Also schlage ich vor, du verhältst dich künftig, wie man es von einer Prinzessin erwartet. Dann musst du auch nicht von mir verlangen, dass ich für dich lüge."
Seit Halen denken konnte, lebte ihre Tante bei ihnen auf Wyatt Castle. Als sich herausstellte, dass Alethea nicht mehr die Kraft hatte, Halens Erziehung weiterzuführen, hatte Lydia diese Aufgabe für sie übernommen.
Ihre Tante hatte keinerlei Ahnung, was sich für eine Prinzessin ziemte. Und auch wenn das auf Halen auch nicht immer zutraf, so wusste diese doch eines: was sich für eine Frau von Stand nicht geziemt. Ununterbrochenes Plappern. Lydia konnte kaum einen Moment Stillschweigen und schien dem Zwang unterlegen, sich ständig mitzuteilen. Es trieb Halen in den Wahnsinn. Lydia hielt zu gern Tiraden über angemessenes Verhalten. Sie lachte lauthals, wenn sie sich über etwas freute, und sie fand immer einen Grund, sich zu beschweren. Uber das Essen, das Wetter, die Kleidung oder die Erziehung des Arkin-Nachwuchses. Lydia hatte immer eine Bemerkung zu machen.
„Halen, setz dich zu uns!" Mari, die Tochter des Stallmeisters, klopfte mit der linken Hand auf den leeren Stuhl neben sich. Neben ihr saß Helga, die Frau des Stewards, und beide waren in ihre Stickarbeiten vertieft.
Normalerweise wäre es undenkbar gewesen, dass jemand, der nicht von Stand war, so ungezwungen mit Halen zusammensaß. Doch bis die Kettelseuche abgeklungen war, durften alle in der Festung ausharren, unabhängig von ihrer Herkunft.
Halen sah, wie die Furche zwischen Lydias Augen tiefer wurde.
„Bei Elass' Geduld! Mari, wie oft habe ich dir gesagt, dass du die Prinzessin mit Mylady anzusprechen hast!"
Halen ersparte sich einen Kommentar, es würde ja ohnehin nichts bringen. Mari war nur ein Jahr jünger als sie. Von ihr mit Mylady angesprochen zu werden, war ihr äußerst unangenehm. Also zwinkerte sie Mari nur verschwörerisch zu, während diese zerknirscht bei Lydia um Vergebung bat. Dann ließ sie sich neben Mari auf den freien Stuhl fallen und nahm den Stickrahmen entgegen, den Lydia ihr hinhielt.
Halen war froh über die Gesellschaft, auch wenn die Tage der Abgeschiedenheit in der Festung sie langweilten. Der Betrieb auf der Festung hatte sich auf ein Minimum reduziert – die Wachen hielten die Tore geschlossen, Vorräte wurden streng bewacht, und in den Gärten kümmerte man sich um den Anbau von Nahrungsmitteln. Nur Halen wurde das Gefühl nicht los, nichts Nützliches tun zu können.
Natürlich hätte sie viel lieber Schwertunterricht genommen, ihre Fähigkeiten verbessert und dabei das Gefühl gehabt, etwas Sinnvolles zu tun. Aber allein in ihrem Zimmer zu sitzen und die Minuten tatenlos verstreichen zu lassen, würde sich noch unerträglicher anfühlen. Da kam ihr selbst eine Runde Stickarbeit mit Mari und Helga wie eine willkommene Abwechslung vor.
Sie arbeitete an einem blauen, wellenförmigen Muster, durchsetzt mit hellen Schnörkeln. Ihr fiel einfach nichts Besseres ein. Früher hatte sie ihre Freude an filigranen Handarbeiten gehabt, doch in diesen Tagen fühlten sich Nadel und Stickrahmen schwer in ihrer Hand an.
Zu wissen, dass die Kettelseuche außerhalb der Festungsmauem Mensch um Mensch verschlang, machte sie verzweifelt. Einer Krankheit so machtlos gegenüberzustehen, quälte sie. Es fühlte sich unerträglich falsch an, tatenlos herumzusitzen und so zu tun, als würde die Welt um sie herum nicht völlig auseinanderfallen.
Doch andererseits, was konnte sie schon tun? Sie war die Tochter von Uthred Arkin, Lord von Wyatt. Es war ihr Privileg, vieles erlernen zu können. Fähigkeiten, die sie zwar beherrschte, aber niemals eigenständig ausüben durfte. Sie hatte gelernt, Wäsche zu waschen. Aber sie wusste, sie würde ihre Kleider niemals auf den kalten Steinen des Dyne walken müssen. Dafür gab es Bedienstete, die sich tagein, tagaus ihre Hände aufrieben. Sie lernte Lesen und Schreiben, und doch würde es ihr nie erlaubt sein, ihre eigenen Worte auf Papier fließen zu lassen. Dafür gab es den Steward. Als sie zehn Jahre alt war, hatte sie ihren Vater sogar dazu überredet, ihr das Reiten beizubringen. Aber ohne Begleitung auszureiten? Das würde eine Wunschvorstellung bleiben.
Sie stellte sich vor, wie es wäre, nicht die Tochter eines der mächtigsten Lords von Meerell zu sein. An Lydias Gesichtsausdruck erkannte sie, dass sie dem Gespräch lieber folgen sollte.
„... Seuchen werden immer schlimmer. Wenn Ihr mich fragt, Herrin, ist es der Fluch der weißen Königin!", plapperte Mari.
„Mari!", rügte Helga sie.
Lydia gab sich geduldig. „Der Fluch der nowark'schen Königin kann uns hier nichts anhaben. Und euch Kindern, die auf Meerell geboren sind, erst recht nicht."
Nowark war das kalte Land nördlich des Inselarchipels Solandis, aus dem ihr Vater stammte. Halen kannte es nur von seinen Erzählungen. Er hatte ihr berichtet, dass Nowark ein Land der Weite sei, mit immensen Weiden und Anbauflächen. Deutlich kühler als Meerell, vor allem in den nördlichen Regionen. Er hatte von Schneestürmen erzählt und davon, wie sie im Winter mit Skiern von einem Ort zum anderen gefahren waren. Auch hatte er von der Königin gesprochen, die das Land weit über ihre Lebensdauer hinaus regiert hatte, und, dass sie ihretwegen Nowark verlassen hatten müssen. Doch Halen hatte vergessen, warum.
Verschwörerisch schaute Helga in die Runde. „Ratet mal, welche Entdeckung mein Mann bei seinem wöchentlichen Ritt durch die Stadt gemacht hat ... Jemand hat die Eule an Wyatts Landtor entwendet!"
Mari schlug die Hand vor den Mund. „Wer könnte so etwas bloß tun?"
Lydia sah von ihrem Stickrahmen auf. „Wenn ihr mich fragt, jemand mit wenig Verstand."
Halen spürte, wie sich ein kaltes Gefühl in ihrem Brustkorb ausbreitete. In ihrem Schoß ballte sie die Hände zu Fäusten, doch ihre Stimme blieb ruhig, als sie den Kopf langsam zur Seite neigte. „Oder jemand mit einem Herz für ein unschuldiges Tier, der zudem nicht daran glaubt, dass ein Kauz für die Kettelseuche verantwortlich ist." Ihre Augen verengten sich und ihr Blick haftete fest auf Lydia.
„Den Kauz macht keiner verantwortlich", korrigierte Lydia sie. „Aber Elass' Opfergaben zu stehlen, ist töricht und obendrein Blasphemie." Sie hielt kurz inne. „Außerdem hast du keinen Grund so vorlaut zu sein, junge Prinzessin. Denn ich habe deinen nächtlichen Alleingang gestern entlarvt. Glaubtest du wirklich, ich würde das nicht mitkriegen?"
Halen sah sie an, der Moment schien sich zu dehnen. Sie versuchte die richtigen Worte zu finden. Doch darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Sie hatte geglaubt, in der letzten Nacht unbemerkt geblieben zu sein. Vielleicht hatten die Schreie des Vogels Lydia hellhörig gemacht. Denkbar war auch, dass sie ihr leeres Bett bemerkt, jedoch nicht genau gewusst hatte, wo Halen sich um diese späte Stunde noch herumtrieb. Also zwang Halen sich, Lydias quälende Redepause auszuhalten.
„Du warst bei Alethea", stieß Lydia schließlich aus. „Du hast deine Mutter besucht, obwohl es dir strikt verboten war!"
Hunderte Gedanken schossen Halen gleichzeitig durch den Kopf. Wie hatte Lydia bloß davon erfahren?
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Sie war eine Närrin, dass sie nicht eher darauf gekommen war. Nic.
Schlagartig rückte Lydia auf ihrem Stuhl nach vorne. Dabei rutschte ihr der Stickrahmen aus der Hand und schlug scheppernd auf den Fliesen auf. Ihre Tante ignorierte das und schnappte Halen mit beiden Händen an den Schultern. „Sag mir, dass das nicht wahr ist!"
Halen blieb nichts anderes übrig, als Lydia anzusehen. Doch was sie sah, verblüffte sie. Ihre Tante starrte sie an, das Gesicht blass, die Augen weit aufgerissen. Ein Zittern zog durch ihre Lippen, und ihre Hände verkrampften sich zu Fäusten. Halen hatte noch nie gesehen, dass Lydia sich fürchtete.
„Es ist wahr", log Halen.
Genau genommen war es auch die Wahrheit. Eine Wahrheit, die nach so vielen Monaten der Geheimnistuerei endlich ihren Weg nach draußen fand. Eine Wahrheit, die Halen Tränen in die Augen trieb. Sie besuchte ihre Mutter, wann immer es ihr möglich war, sich ungesehen davonzuschleichen. Ihr Vater hatte keine Ahnung. Seit Mutters Anfall, der schon über zwei Jahre zurücklag, wurde in Wyatt Castle nicht über ihren Zustand gesprochen. Vater versagte Halen jeglichen Kontakt zu ihrer Mutter, die in ihrem kränklichen Zustand im ersten Zwillingsturm untergebracht war.
Es widerstrebte Halen zutiefst, ihre Besuche als Vorwand für ein anderes Vergehen zu missbrauchen. Aber die missliche Lage, in der sie sich befand, ließ ihr keine andere Wahl. Ihr Vater würde nicht ruhen, bevor er herausgefunden hatte, wer es war, der ihn mit der Befreiung der Eule herausfordern wollte. Und Halen wollte keine Diskussionen darüber führen, zu welchen Taten ein Herrscher in schweren Zeiten gezwungen war. Worüber sie aber sehr wohl reden wollte, war ihre Mutter. Sie sah, dass sie krank war. Ihre Haut war fahl, als würde das Leben langsam aus ihr weichen. Dunkle Schatten lagen unter ihren trüben Augen. Die Wangen waren eingefallen, ihre hohen Wangenknochen stachen scharf hervor.
Sie verstand nicht, warum Alethea dieses Los in Einsamkeit ertragen musste. Halen genoss die Besuche bei ihr. Auch wenn Mutter manchmal weit weg zu sein schien, mochte Halen die Ruhe, die sie in ihrer Gegenwart verspürte. An guten Tagen unterhielten sie sich über Gott und die Welt. An schlechten hielt Halen einfach nur stumm ihre Hand.
„Geh hoch und warte in deiner Kammer!", herrschte Lydia ihre Nichte an.
Gramgebeugt schlurfte Halen davon. Hancock wollte ihr folgen.
„Der Köter bleibt draußen!", knurrte Lydia.
Halen gab ihm ein Zeichen, woraufhin der Wolfshund sich willig ins Freie trollte. Er würde sich im Schatten des Brunnens ein Plätzchen suchen und auf sie warten. Und Halen war sich sicher: Lange würde sie sich nicht in ihrer Kammer einsperren lassen.
Halen hielt auf die Treppe zu, welche die kleine Halle mit dem Wohntrakt verband. Mühsam erklomm sie die schiefen, ausgetretenen Stufen zum Obergeschoss, wo sich die Gemächer ihrer Familie befanden. Trotz der lodernden Wandfackeln handelte es sich bei dem Treppenhaus um einen düsteren Ort, in dem stets ein frischer Luftzug Kühlung versprach.
In ihrer Kammer angekommen, schlug Halen die Tür hinter sich zu – so fest, dass die Scharniere protestierten. Achtlos warf sie ihren Umhang auf den Boden, zerrte die Haarbänder aus ihrem Zopf und schüttelte ihr dunkelblondes Haar wild aus, als könnte sie so die aufgestaute Wut abschütteln.
Die Strafen, die Lydia sich für sie ausdenken würde, brannten sich in ihre Gedanken – tagelanger Arrest in ihrer Kammer, ohne ein Wort mit jemandem wechseln zu dürfen. Oder schlimmer noch: endlose Stunden in der Stickerei, unter Lydias wachsamen Augen. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, doch die Angst wich schnell brodelndem Zorn.
„Nicholas!", fauchte sie und ballte die Hände zu Fäusten. Er war es, der sie erst in diese Lage gebracht hatte! Wenn er jetzt durch diese Tür käme, könnte sie für nichts garantieren.
Doch dann kam ihr ein anderer Gedanke. Letztendlich war sie es gewesen, die ihn hatte gewähren lassen. Und so richtete sich ihre Wut nicht nur gegen Nicholas - sondern auch gegen sich selbst.
Werde ich für immer unfähig sein, mich zu wehren?
Ein dumpfes Poltern durchbrach die Stille und riss Halen aus ihren Grübeleien. Sie fuhr herum, ihre Augen weit aufgerissen. War es Lydia? Würde sie ihr jetzt schon ihre Strafe verkünden? Oder war es Nicholas? Der Gedanke an ihren Versprochenen ließ eine Kälte durch ihre Glieder kriechen, gefolgt von Wut. Hatte er ihr Vertrauen verraten? Sie vermutete, dass Lydia durch ihn irgendwie von der Befreiung der Eule erfahren hatte. Ihre Finger verkrampften sich zu Fäusten. Sie wollte ihn nicht sehen, nicht jetzt.
Als die Tür sich öffnete, blinzelte Halen gegen das grelle Tageslicht an. Sie kniff die Augen zusammen, doch zunächst war alles nur ein verschwommener, weißer Schleier. Erst nach einem Moment gewöhnte sie sich an das Licht, und die Umrisse der Person vor ihr wurden langsam deutlicher. Dann erkannte sie die Gestalt in der Tür – und ihr Zorn flammte auf wie ein Funke in trockenem Holz. Ihr Atem wurde schneller, ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Ohne nachzudenken, stürzte sie sich auf Nicholas, packte ihn am Kragen und riss ihn herum.
„Hör mir zu", stieß er aus, während er Halens Schlägen ungeschickt auszuweichen versuchte.
Erst als Halen merkte, dass Nicholas nicht zur Gegenwehr ansetzte, hörte sie auf, ihn zu attackieren. Keuchend trat sie einen Schritt zurück und musterte ihn. Den Jungen, den alle für ihre große Liebe hielten – dabei war er für sie nie mehr gewesen als ein Bruder.
Sie hatten gerade mal acht Sommer gezählt und mit den Kindern aus der Stadt Verstecken gespielt, als sie sich heimlich davongestohlen hatten. Halen erinnerte sich gern daran zurück, wie sie im Zwinger der Stadtmauer, geschützt vor neugierigen Blicken, einen schüchternen Kuss ausgetauscht hatten, nur um herauszufinden, wie sich das anfühlte.
Nun hockte Nicholas vor ihr und hielt die Arme schützend vor seinen Kopf. Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Wo war der Junge geblieben, der unbeschwert mit ihr gekichert hatte? Sie waren keine Kinder mehr. Und dieser Moment ließ Zweifel in ihr aufsteigen, ob sie sich nicht langsam voneinander entfernten.
„Es ist anders, als du denkst", beteuerte er.
Nicholas blinzelte durch seine Finger zu ihr herauf, um sicherzugehen, dass er sich erklären durfte. Vorsichtig stand er auf. Seine blaugrauen Augen hoben sich hell vom dämmrigen Licht des Zimmers ab.
„Ich habe dich nicht verraten!"
Verächtlich schüttelte Halen den Kopf. „Du denkst doch nicht wirklich, dass ich dir das glaube. Nic, wir haben geschworen, uns gegenseitig zu beschützen. Kannst du dich daran erinnern?"
„Ich habe meinen Schwur nicht gebrochen! “
Geräuschlos betrat Lydia den Raum. „Raus hier, Nicholas."
Halen stand inmitten ihrer düsteren Kammer. Die Arme hingen kraftlos an den Seiten, der Kopf stoisch gen Boden hängend, die Augen geschlossen. Ihr Zorn war verebbt und Furcht keimte in ihr auf, als sich Lydias Gegenwart wie ein drückender Stein auf ihr Gemüt legte.
„Es war nicht Nicholas, der dich verraten hat", eröffnete ihr Lydia. „Es war deine Mutter."
Mutter. Das Wort klang in Halens Ohren wie etwas Verwunschenes. Wie ein Name aus einem Märchen. Eine heldenhafte Figur, an die man glaubt, und sich wünscht, wie sie zu sein, auch wenn man weiß, dass sie nur erfunden ist.
Sie zwang sich, den Kopf zu heben, Lydia anzusehen und ihren Blickkontakt auszuhalten. Doch die Geduld ihrer Tante war bereits aufgebraucht. Mit schnellen Schritten schloss sie die Lücke zwischen ihnen und schlug Halen so hart ins Gesicht, dass sie zu Boden stürzte.
Halens Hände bebten, als sie sich aufrichtete und auf der Kante ihrer Bettstatt niederließ. Sie presste die Finger gegen ihre Schläfen, doch das heiße Brodeln in ihrem Inneren ließ sich nicht bändigen.
„Das stand dir nicht zu!", fauchte Halen.
Lydia atmete tief durch und versuchte, sich zu fassen. Schniefend trat sie zum Fenster und öffnete die schweren Holzläden. Das Tageslicht strömte herein und vertrieb die letzten Schatten aus dem Raum. Die Heiterkeit des Morgens schien Halen jedoch nur noch mehr zu bedrängen. Sie wehrte sich dagegen, ihre düstere Stimmung konnte nicht einfach so aufgehellt werden.
Ihre Tante wandte sich ihr zu und fixierte sie mit kühlem Blick. „Seit wann?"
Halen senkte den Kopf. „Kurz nachdem Mutter krank geworden ist", antwortete sie wahrheitsgemäß.
„Der erste Zwillingsturm ist Tag und Nacht von einer Wache besetzt. Wie bist du in den Turm gelangt?"
Halen seufzte. „Ich bin geklettert."
Wider Erwarten schien Lydia nicht überrascht zu sein. Dennoch runzelte sie die Stirn. „Und dich hat keiner bemerkt?"
Halen spannte die Schultern an, hob das Kinn und ließ sich nicht von der prüfenden Miene ihrer Tante einschüchtem. „Warum wird Mutter in diesem Turm eingesperrt? Und warum lasst ihr mich nicht zu ihr?"
Diese Fragen hatte Halen schon unzählige Male ausgesprochen, nicht in der Hoffnung auf eine Antwort, sondern weil das brennende Ziehen in ihrer Brust mit jedem Tag unerträglicher wurde.
Ihre Mutter krank zu sehen, war eine Sache. Eine ganz andere war es, ihr nicht beistehen zu dürfen. Sie wollte für sie da sein, so wie ihre Mutter immer für sie da gewesen war.
Halen entgingen die fleckigen Rötungen an Lydias Hals nicht. Die Hitze gepaart mit der Aufregung bekamen ihrer Tante nicht.
„Du willst es nicht verstehen!“, begann diese aufgewühlt. „Deine Mutter hat ein Geschwür in ihrem Kopf, das stetig wächst. Sie hat Wahnvorstellungen! Ist dir das bewusst?"
Halen hatte es satt, dieses Zeug zu hören. Sie wollte endlich Antworten.
„Das beantwortet nicht meine Fragen! Ich weiß um ihre Krankheit, ich weiß, wie es um sie steht", schrie sie und sprang vom Bett hoch.
Wider Erwarten blieb Lydia ruhig, als hätte sie diese Reaktion erwartet. Und wieder bemerkte Halen etwas an ihr. Ihre Augenbrauen hoben sich einen Hauch, als würde sie eine unausgesprochene Sorge plagen. Ihre Lippen pressten sich aufeinander, nur um sich kurz darauf wieder zu lösen, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie etwas sagen sollte oder nicht.
„Du hast Angst", brach es aus Halen heraus.
Lydia schwieg. Sie fing an, in der Kammer auf- und abzugehen, als ob sie angestrengt über etwas nachdachte.
Halen zuckte zusammen, als etwas an der Wand neben ihr zerbarst und Tausend kleine Holzteilchen in einer staubigen Wolke zu Boden prasselten. Lydia hielt den zersplitterten Holzrahmen eines Stuhls in den Händen.
Als Halen den Blick senkte, entdeckte sie das Eulenamulett. Sie hatte es nach ihrer Rückkehr aus der Stadt letzte Nacht in einem Beutel an den Stuhl gehängt. Nun lag es gut sichtbar neben Lydias Füßen. Noch hatte diese es nicht bemerkt.
Ein scharfer Stich schoss durch Halens Brust. Sie hatte Angst, das Amulett zu verlieren. Angst, dass es ihr entglitt, wie so vieles in ihrem Leben, die sie nicht festhalten konnte.
Sie erinnerte sich an den Besuch bei ihrer Mutter, als diese ihr das Amulett in die Hand gedrückt hatte. Dieser Tag lag schon einige Wochen zurück und hatte etwas Eigenartiges an sich gehabt. Ihre Mutter war eindeutig nicht bei Sinnen gewesen. Sie hatte gezittert, als sie ihr die Kette mit der fein geschnitzten Eule überreicht hatte. Halen hatte jemanden zu Hilfe holen wollen, doch Alethea hatte ihre Hand mit einer Kraft festgehalten, die Halen schon für verloren geglaubt hatte. Die Worte ihrer Mutter waren unheimlich gewesen. „Finde sie, Hal! Du musst sie finden!"
Es war nur ein flüchtiger Moment vergangen und Halen sah rasch wieder zu Lydia, in der Hoffnung, dass diese das Amulett noch nicht bemerkt hatte. Ihre Hände krampften sich unwillkürlich zusammen. Ihre Tante aber schien völlig in ihren eigenen Gedanken gefangen, unempfänglich für Halens angespannte Haltung.
Doch dann trat sie einen Schritt zur Seite, als ob sich der Boden unter ihren Füßen seltsam anfühlte. Instinktiv hielt Halen den Atem an.
Bevor Lydia das Amulett erreichte, fischte Halen es vom Boden und ließ es hektisch in einer Hand hinter ihrem Rücken verschwinden.
„Was hast du da? Zeig es mir!"
Halen schluckte. Warum tue ich das? Soll sie das Amulett doch sehen.
Es war ihr ehrlich nicht geheuer. Aber sie konnte es nicht hergeben. Warum wusste sie nicht. Sie wollte herausfinden, was es damit auf sich hatte. Aber was sollte es denn damit auf sich haben? Mutter hat unsinniges Zeug geredet. Das Geschwür in ihrem Kopf lässt sie diese Dinge sagen.
Lydias Stimme katapultierte Halen wieder ins Hier und Jetzt zurück. „Ich sagte: Gib es mir!"
Halen hörte die Worte klar und deutlich, doch sie ließ sie nicht zu sich durchdringen. Etwas in ihr warnte sie, dass es falsch war. Ihre Beine bewegten sich, bevor ihr Verstand sie einholen konnte, und im nächsten Moment rannte sie.
Halen stürmte die Stufen der Treppe hinunter, an deren Ende Nicholas sie mit schreckgeweiteten Augen empfing.
„Halen, was ist passiert?"
Anstelle einer Antwort fasste sie nur seine Hand und zerrte ihn mit sich ins Freie. „Ich brauche deine Hilfe!"
Sie hatten kaum einen Schritt aus der großen Halle gemacht, da tauchte Hancock schon an Halens Seite auf. Bereit, ihr zu folgen, wohin sie auch ging.
„Was ist passiert?", versuchte es Nicholas noch einmal.
„Ich habe keine Zeit für Erklärungen. Hilf mir einfach!"
Halen konnte sich fast unbemerkt durch die Festungsanlage bewegen. Sie war stets lautlos, eine Eigenschaft, die nur ihr zu eigen war, und führte Nicholas in die Schatten der offenstehenden Küchentür.
„Würdest du mir wenigstens verraten, was du vorhast?", hakte dieser nach, während Halen mit ausdrucksloser Miene zum ersten Zwillingsturm hinaufsah.
„Ich muss in den Turm", murmelte sie mehr zu sich selbst als zu ihm.
„Halen, das kannst du nicht ..."
„Ich muss", unterbrach sie ihn. „Ich erkläre dir später, wieso."
Sie führte ihn am Hof vorbei, quer durch die Wirtschaftsgebäude, bis sie den Wehrgang im Südosten erreichten.
„Warum machen wir diesen Umweg?"
Halen erspähte die hölzernen Wehrgänge. „Die Hurden bieten den perfekten Sichtschutz."
„Sichtschutz? Vor wem?"
Sie musterte ihn verständnislos. „Lydia", gab sie zurück, als wäre das selbstverständlich.
Am ersten Zwillingsturm angekommen, hielt sie an. Ihr Blick fiel auf ein Fenster, das sich etwa sechszehn Fuß über dem Boden befand – zumindest schätzte sie so. Als Kinder war kein Baum je zu hoch für sie gewesen. Die Zwillingstürme hingegen waren nicht nur von monströser Gestalt, sondern auch von sattem Efeu umrankt.
Nicholas' Kiefermuskeln spannten sich, und seine Augen verengten sich leicht, während er unruhig mit dem Fuß auf dem Boden tippte. Dennoch fasste er seine Hände ineinander und legte ein Knie auf dem Boden ab, um Halen mehr Stabilität zu bieten. Behutsam setzte diese ihren linken Fuß auf seinen Handtellern ab. Sie griff nach den erstbesten Steinen des Turms. Mit einem kräftigen Ruck zog sie sich hoch.
Mühelos, fast tänzerisch, arbeitete sie sich mit fließenden Bewegungen empor. Ihre Füße suchten ganz intuitiv nach festem Halt, während ihre Finger sich an einer Steinplatte festkrallten.
Als sie die nächste Ebene erreichte, blieb ihr Blick für einen Moment am Himmel hängen. Ein Waldkauz flog lautlos über den Turm hinweg. Der Vogel zog seine Kreise, als sei er ein stiller Wächter ihres Vorhabens.
Mit einem letzten, geschmeidigen Zug erreichte sie das Fenster und schlüpfte hinein.
Im Gemach ihrer Mutter angekommen stand sie zunächst reglos da, unklar, wie es weitergehen sollte. Sie betrachtete ihre Mutter, die fest schlief. Halen fühlte sich von einer Welle der Sorge ergriffen – war ihre Mutter wirklich sicher? Oder war diese Stille nur ein weiteres Zeichen für den Zerfall, der sie langsam heimsuchte?
Sie betrachtete die Kette mit dem Holzanhänger in ihrer Hand. Ein warmes, vertrautes Gefühl breitete sich in ihr aus, als hätte der Anhänger immer schon zu ihr gehört.
Gleichwohl fragte sie sich, ob die Kette überhaupt in ihren Besitz hatte gelangen sollen. Es war durchaus möglich, dass Mutter sie ihr in einem schwachen Moment überreicht hatte. Dass sie nicht gänzlich bei Sinnen gewesen war.
Es bestand aber auch die Möglichkeit, dass Mutter ihr mit dem Anhänger etwas hatte sagen wollen. Etwas, das eine Erklärung für Halens Albträume lieferte. Oder für diese Schattengestalt, die ihr letzte Nacht erschienen war. Aber vielleicht wollte Halen das auch nur glauben. Darauf hoffen, dass ihre Mutter nicht wahnsinnig war. Dass es kein Geschwür gab, das sie von innen zerfraß. Dass alle Welt das nur glauben wollte, weil es die einfachste Erklärung für ihren Zustand war.
Halen wollte an diesen Gedanken festhalten, weil sie das immer tat, wenn sie versuchte, der Welt die Stirn zu bieten. Sie sträubte sich, rebellierte innerlich. Und egal, was es in Wirklichkeit war – eine Wunschvorstellung oder ihre Art, zu trotzen – sie musste herausfinden, was es mit dem Eulenamulett auf sich hatte.
Seit dem Moment, in dem Halen das Amulett vor Lydia versteckt und damit weggerannt war, wusste sie, dass sie es nicht bei sich behalten konnte. Die fremde Macht, die von ihm ausging, ließ ihr keine Ruhe. Sie musste es loswerden, doch ein Teil von ihr konnte sich nicht vollständig davon trennen.
Sie wollte das Amulett zurück zu ihrer Mutter bringen. Der Gedanke daran ließ ihre Finger etwas fester um den Anhänger greifen, als sich ein schweres, aber bestimmtes Gefühl in ihr ausbreitete. Ihre Mutter war krank und schwach, doch der Gedanke, es ihr zurückzugeben, fühlte sich richtig an.
Halen schaute sich um, mit einem Ohr ununterbrochen Richtung Tür lauschend. Wenn Lydia ihre Gewohnheit nicht brach und nach einem Streit mit ihr immer noch Rat bei ihrer Schwester suchte, dann sollte ihr nicht viel Zeit gewährt bleiben.
Ihre Augen suchten das Zimmer nach einem Versteck ab. Sie hörte ein entferntes Räuspern. Vorsichtig spähte sie aus dem Fenster. Lydia. Sie hatte es gewusst. Halen drehte sich um. Ihr Atem ging schneller, die Hände wurden feucht, und das Gefühl von Ohnmacht drohte sie zu überwältigen.
Du findest ein Versteck, redete sie sich selbst gut zu. Wo wird Lydia nicht suchen?
Halen und Nicholas waren auf ihrem Weg zu den Stallungen, der Himmel über der Burg verblasste bereits in sanften Farben. Sie sprachen kein Wort miteinander. An ihrem Ziel angekommen, tippelte Hancock zufrieden in sein Strohlager. Halen lehnte sich an eine Holzwand und beobachtete geistesabwesend, wie ihr Wolfshund es sich gemütlich machte.
Nicholas suchte zaghaft Halens Blick. „Erzähl mir, was passiert ist", bat er sie.
„Nichts", erwiderte Halen, ihre Stimme leiser, als sie sich abwandte.
Doch er schloss zu ihr auf, hielt sie am Arm fest und zwang sie damit, sich zu ihm umzudrehen.
„Seit du dieses Amulett besitzt, schläfst du nicht richtig, und wenn, dann begleiten dich Albträume, die deinen Körper durchschütteln. Es fällt mir wahrlich nicht leicht, das mit anzusehen. Bitte sag mir, was mit dir los ist."
Er entließ sie von seinem Griff. Halen ging ein paar Schritte zurück, bevor sie sich rücklings ins weiche Heulager fallen ließ.
„Ich habe die Schattengestalt gesehen."
Nicholas setzte sich zu ihr. „Du träumst wieder von ihr?"
Erst jetzt sah sie ihm in die Augen. „Ich habe sie nicht im Traum gesehen", erklärte sie ernst. „Sie war hier. In Wyatt, letzte Nacht."
Aufmerksam beobachtete Halen seine Reaktion. Hältst du mich jetzt für verrückt?
„Ich nehme an, du hattest auch das Amulett dabei?", fragte Nicholas weiter.
„Wieso?"
„Weil ich stark vermute, dass beides irgendwie zusammenhängt. Seit Lady Alethea es dir gegeben hat, hast du schreckliche Albträume oder errettest plötzlich in Nacht-und-Nebel-Aktionen Elass' heilige Opfergaben."
„Es war ein Kauz. Ein armer, unschuldiger Kauz!"
„Du weißt nichts über dieses Amulett. Es könnte mit einem alten Zauber belegt sein."