Das Erste Problem - Lynda La Plante - E-Book
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Lynda La Plante

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Beschreibung

DER INTERNATIONALE BESTSELLER ERSTMALIG AUF DEUTSCH!

Jeder Mensch hat Geheimnisse. Doch manche gehen über Leichen, um sie zu bewahren …
Als der erfahrene DCI Shefford unerwartet stirbt, bietet sich Kommissarin Jane Tennison eine einmalige Gelegenheit: Sie übernimmt seine letzte Mordermittlung, die sie beruflich endlich voranbringen soll. Doch schnell stellt sich heraus, dass nichts an diesem Fall simpel ist.
Die Identität der ermordeten Prostituierten Della Mornay ist eine Lüge, die Beweislage widersprüchlich und der Hauptverdächtige verschlossen. Während Tennison an allen Fronten auf Widerstand stößt, kämpft sie nicht nur gegen interne Machtspiele, sondern auch gegen eine erschreckende Serie weiterer Morde. 
Je tiefer sie in die Ermittlungen eintaucht, desto dichter wird das Netz aus Täuschung, Intrigen und Gewalt. Wem kann sie noch vertrauen – und wie viele Opfer muss es geben, bevor sie die Wahrheit ans Licht bringt?

“Das erste Problem” ist der fesselnde Auftakt der Krimi-Reihe “Prime Suspect” von "Queen of Crime Drama" Lynda LaPlante. Die Reihe begeistert Leser und Fernsehzuschauer weltweit seit über 30 Jahren. Jetzt endlich auch auf Deutsch – für alle Fans von spannenden Krimis mit Tiefgang!

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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DAS ERSTE PROBLEM

PRIME SUSPECT

BUCH 1

LYNDA LA PLANTE

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

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Cover: Zeilenfluss

Satz: Zeilenfluss

Übersetzung: Dr. Andreas Fischer

Korrektorat: Dr. Andreas Fischer, Johannes Eickhorst

_____________________

Text copyright © La Plante Global Ltd, 1991

Originally published as "Prime Suspect" in the English language in the UK by Simon and Schuster UK Ltd. The moral rights of the Author have been asserted.

_____________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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ISBN: 978-3-96714-464-2

KAPITELEINS

Mrs Corrina Salbanna wurde durch das Geräusch der Haustür, die im Wind auf und zu schlug, aus dem Tiefschlaf gerissen.

Sie schielte zum Wecker auf dem Nachttisch – es war fast zwei. Sie fluchte auf Spanisch, ihrer Muttersprache, wälzte das Bettzeug beiseite und steckte ihre plumpen Füße in die Hausschuhe.

Sie schlurfte die Treppe hinauf in den Flur und auf die noch offene Haustür zu, wobei sie ihren Morgenmantel gegen die Kälte um sich wickelte. Die nackte Glühbirne verlieh dem schäbigen Flur einen gelblichen Farbton, der die sich ablösende Tapete und die braune, abblätternde Farbe nicht gerade beschönigte. Mrs Salbanna schürzte die Lippen und schlug die Tür fest zu. Sie sah keinen Grund, warum es jemand anderem im Haus gestattet sein sollte zu schlafen, wenn sie es nicht konnte.

Als sie sich wieder in Richtung ihres warmen Betts wandte, bemerkte sie einen Lichtschein unter der Tür von Della Mornay im ersten Stock. Sie zählte zwei und zwei zusammen; es musste das kleine Flittchen gewesen sein, das die Tür offen gelassen hatte. Della war drei Monatsmieten im Rückstand und bereits verwarnt worden, nicht wieder Männer mit auf ihr Zimmer zu bringen. Jetzt war es an der Zeit, sie auf frischer Tat zu ertappen. So schnell sie konnte, kehrte Mrs Salbanna in den Keller zurück, holte den Generalschlüssel und hastete dann in den ersten Stock.

»Della, ich weiß, dass du da drin bist, mach auf!« Sie wartete und hielt ein Ohr an die Tür. Als sie nichts hörte, rüttelte sie an der Klinke. »Della?«

Es kam keine Antwort. Mit versteinerter Miene führte Mrs Salbanna den Schlüssel ein, entriegelte die Tür und stieß sie auf. Der große Raum war genauso schäbig wie der Rest des heruntergekommenen viktorianischen Hauses, das, lange bevor Mrs Salbanna und ihr Mann es in den Sechzigerjahren übernommen hatten, in Einliegerwohnungen aufgeteilt worden war. Viele der Zimmer erinnerten noch an die Hippiezeit. Nur die Poster in diesem hier hatten sich verändert; Jimi Hendrix war moderneren Rock- und Filmhelden gewichen. Das Erste, was Mrs Salbanna sah, war ein großes Foto von Madonna, die mit schmollenden Lippen über dem Kopfende des altmodischen Doppelbetts den schmuddeligen, mit Kleidern übersäten Raum dominierte. Ein roter Schal war über die Nachttischlampe drapiert worden. In deren Schein konnte Mrs Salbanna erkennen, dass die Kissen und die rote Satindecke auf die andere Seite des Bettes gezogen worden waren und somit das fleckige Gewebe der Matratze zum Vorschein kam.

Von Della fehlte jede Spur. Zitternd vor Abscheu schaute sich Mrs Salbanna um. Sie traute es der kleinen Schlampe durchaus zu, sich zu verstecken; immerhin war sie recht verschlagen, wenn es darum ging, ihre Miete nicht zu bezahlen. Sie schnupperte: schaler Körpergeruch und billiges Parfüm. Der Geruch verstärkte sich, als sie in den Mahagonischrank schaute, aber der enthielt nur Kleider und Schuhe.

Die Schranktür, längst nicht mehr in den Angeln, war gegen die Wand gelehnt. Der durchgehende Spiegel mit Fliegengitter hatte einen Riss, und eine Ecke fehlte, aber er war noch klar genug, um Mrs Salbanna ein Bein zu zeigen, das unter dem Bettzeug auf dem Boden hervorlugte. Sie drehte sich um.

»Du kleine Schlampe! Ich wusste, dass du hier drin bist!«

Trotz ihres Gewichts bewegte sich die Hausherrin schnell durch den Raum und bückte sich, um Dellas entblößten Knöchel zu umfassen. Mit der anderen Hand warf sie das Bettzeug zur Seite. Ihr Mund öffnete sich, um zu schreien, aber es kam kein Ton heraus; sie verlor das Gleichgewicht, fiel und landete auf dem Hinterteil. In Panik kroch sie zur Tür und zog sich an der offenen Schublade einer Kommode hoch. Fläschchen und Döschen mit Make-up fielen zu Boden, als sich ihr Schrei endlich löste.

Mrs Salbanna schrie und schrie …

Als Detective Chief Inspector John Shefford eintraf, war das Haus in der Milner Road, Gray’s Inn, bereits abgeriegelt. Er war der Letzte am Tatort; zwei Streifenwagen parkten vor dem Haus, und uniformierte Beamte wehrten die Schaulustigen ab. Ein Krankenwagen stand in der Nähe, die Türen waren geöffnet, die Besatzung saß drinnen und trank Tee. Ein Leichenwagen fuhr gerade vor und musste ausweichen, als Sheffords Auto genau dort mit quietschenden Reifen zum Stehen kam, wo dessen Fahrer hatte parken wollen. Sheffords Tür flog auf, als er die Handbremse anzog. Er setzte sich in Bewegung und kramte seinen Ausweis aus der Tasche hervor, als er die Absperrung überschritt. Ein junger Polizist, der ihn erkannte, geleitete ihn die Treppe zum Haus hinauf.

Selbst um halb drei an einem winterlichen Sonntagmorgen schien es sich bereits herumgesprochen zu haben, dass ein Mord geschehen war. In vielen Fenstern brannte Licht, Menschen im Morgenmantel drängten sich auf den Stufen ihrer Häuser. Ein paar Jugendliche waren aufgetaucht und wetteiferten miteinander, wie nah sie an die Polizeiabsperrung herankommen konnten, ohne sie zu durchbrechen. Fünf Rastafarians hatten sich mit einem Ghettoblaster auf einer nahegelegenen Mauer niedergelassen, lachten und riefen sich Sprüche und Witze zu, als wäre das alles hier ein Straßenfest.

Shefford, mit seinen knapp eins neunzig ein Bär von einem Mann, überragte alle um sich herum. Er war in den späten Siebzigerjahren, als er für England gespielt hatte, auf dem Rugbyfeld berüchtigt gewesen. Mit seinem krausen Haar, dem zerknitterten Hemd und der losen Krawatte sah er nicht gerade so aus, als könnte er eine Untersuchung einleiten. Man hatte ihn aus der Abschlussfeier zum Ende eines langen und mühsamen Mordfalls geholt, und er war todmüde. Jetzt sollte er die Ermittlungen in einem weiteren Mordfall führen, aber dieser war anders.

Mit vielen der Beamten in dem dunklen, überfüllten Flur hatte er schon einmal zusammengearbeitet. Er besah sich die Gesichter, während seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Er vergaß nie ein Gesicht und begrüßte jeden Kollegen, den er kannte, mit seinem Namen.

Am Fuß der Treppe hielt er einen Moment inne und richtete seine Krawatte. Es war nicht seine Art, vor einer unangenehmen Aufgabe zurückzuschrecken, aber er musste sich zu jeder einzelnen Stufe zwingen. Er schwitzte. Über dem Stimmengewirr war ein hohes Jammern zu hören. Es schien vom Keller heraufzukommen.

Als er Sheffords Stimme vernahm, hörte Detective Sergeant Bill Otley damit auf, im Treppenhaus auf und ab zu gehen, und lehnte sich über das Geländer. Er gab seinem Vorgesetzten ein Zeichen, sich zu ihm in die Dunkelheit am anderen Ende des Flurs zu begeben. Er sprach leise und behielt die Männer im Auge, die im Zimmer des Opfers ein und aus gingen.

»Es ist Della Mornay, Chef. Ich habe den Tipp von Al Franks bekommen.«

Er konnte den Schnaps in Sheffords Atem riechen. Er packte ein Pfefferminzbonbon aus und reichte es ihm. Der Chef war nicht betrunken; wahrscheinlich war er es vor einer Weile noch gewesen, nun aber wieder auf dem Weg der Besserung. Dann schüttelte Otley für jeden von ihnen ein Paar weiße Kittel aus der Verpackung. Während sie sich abmühten, sie überzuziehen, wurde die dunkle Nische vom Wohnschlafzimmer aus in regelmäßigen Abständen durch das kräftige Blitzlicht einer Kamera erhellt.

Während Shefford an einer Zigarette zog, wurde er einer vertrauten, tiefen, schroffen Stimme gewahr, die die ganze Zeit, seit er im Haus war, immer wieder zu hören gewesen war. Er ging zur Tür und lauschte.

»… Sie liegt neben dem Doppelbett, auf der dem Fenster zugewandten und von der Tür abgewandten Seite. Sie ist halb zugedeckt mit einer roten Seidenbettdecke. Das Fenster ist offen, eine Kommode steht davor. Es gibt ein Laken, eine Decke, eine Ausgabe der Sunday Times vom Dezember 1990 … Sieht aus, als hätte man diese benutzt, um etwas einzuwickeln. Sie liegt mit dem Gesicht nach unten, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Sie trägt eine Art enges Rib-Top, einen Minirock, keine Strümpfe. Der rechte Schuh ist am Fuß, der linke liegt daneben …«

»Wurde sie vergewaltigt?«, fragte Shefford Otley, während er seinen Overall zuzog.

»Ich weiß nicht, aber da drin herrscht ein ziemliches Chaos.«

Das hysterische Geschrei und Geschluchze von Mrs Salbanna ging Shefford allmählich auf die Nerven. Er lehnte sich über das Geländer und hatte freie Sicht auf DC Dave Jones, der auf der Kellertreppe versuchte, die Hausherrin zu beruhigen. Ein Sanitäter wollte ihr helfen, sie nach oben führen, aber sie fuhr ihn mit einem solchen Schwall aus gemischtem Spanisch und Englisch und heftigen Gesten an, dass er sich zurückzog, weil er um seine Sicherheit fürchtete.

Der Pathologe war zu einer ersten Einschätzung bereit, und Shefford und Otley durften den Raum betreten. Shefford nahm einen letzten Zug an seiner Zigarette, inhalierte tief, drückte sie aus und steckte den Stummel in seine Tasche. Dann schob er sich an dem Durcheinander aus zerbrochenen Flaschen und Make-up-Döschen vorbei, tunlichst darauf bedacht, wo er seine Schritte setzte, und stellte sich in einiger Entfernung vom Bett auf. Alles, was er von Della sehen konnte, war ihr linker Fuß.

Der hell erleuchtete Raum war voller weiß gekleideter Männer, die alle zügig und still ihrer Arbeit nachgingen. Immer noch flackerte Blitzlicht, aber schon wurden Gegenstände für den Abtransport eingetütet und gekennzeichnet. Die massige Gestalt von Felix Norman, dem Pathologen, war über die Leiche gebeugt und streifte Della sorgfältig Plastiktüten über die Hände. Er war ein rundlicher Mann, seltsam birnenförmig, dessen Gewicht sich zum größten Teil auf dem Hintern sammelte. Sein Äußeres wurde von einem dichten, grauen Haarschopf und einem widerspenstigen grauen Bart abgerundet. Man munkelte, dass seine Halbmondbrille seit 1983 von demselben Stück Pflaster zusammengehalten wurde, nachdem sich eine Leiche, die er gerade sezierte, plötzlich aufgerichtet und auf ihn eingeschlagen habe. Aber das war nur ein Gerücht, von Norman selbst in die Welt gesetzt. Es war seine Stimme, die Shefford in ein Tonbandgerät hatte murmeln hören.

Er schaute auf und winkte Shefford kurz zu, diktierte jedoch weiter: »Offensichtliche Kopfverletzungen … mögliche Stichwunden, durch ihre Kleidung, an ihrem Hals, den oberen Schultern … Viele Blutflecken, Blut auf der linken Seite ihres Kopfes und im Gesicht. Der Raum ist verdammt kalt, etwa fünf Grad …«

Norman bekam einen Hustenanfall, machte sich aber nicht die Mühe, das Diktiergerät abzustellen. Er beugte sich über das untere Ende der Leiche, aber Shefford konnte nicht erkennen, was er tat. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und fuhr fort: »Sagen wir zwei oder drei Grad, als sie gefunden wurde, das Licht und das Herumtrampeln der Leute dürften den Raum inzwischen erwärmt haben.« Er zwinkerte Shefford zu, während er weitersprach. »Fenster halb offen, Vorhänge halb zugezogen, keine Wärmequelle … Von der Tür zum Treppenhaus kommt ein starker Luftzug, die Wohnungstür wurde offen gelassen …«

Er tastete die Arme und Beine der Leiche ab, untersuchte die Kopfhaut und begann dann nach einer Waffe oder einem Gegenstand Ausschau zu halten, der in der Kleidung steckte und beim Entfernen der Leiche herunterfallen könnte. Wieder machte er keine Atempause. »Völlige Abwesenheit von Rigor, keine Hypostase sichtbar …« Er beugte sich erneut über die Leiche, lehnte sich dann zurück und drehte ein Thermometer ins Licht. Er blinzelte darauf. »Tiefe rektale Temperatur … Ich kann es beim besten Willen nicht ablesen … Ah, wir haben zwei Uhr achtunddreißig, fünfunddreißig Komma acht Grad, also angenommen, sie hat bei siebenunddreißig begonnen, dann dürfte es um …«

Shefford verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und schluckte hart. Als Norman die Leiche vorsichtig umdrehte, konnte er das Blut sehen, das sich in dem blonden Haar verfangen hatte, und musste sich abwenden. Es lag nicht am Anblick des Blutes, davon hatte er in seiner Zeit wahrlich genug gesehen, sondern daran, wie klein sie wirkte, klein und zerbrochen.

Zwei weiß gekleidete Männer kamen herein und untersuchten den Teppich, auf dem das tote Mädchen gelegen hatte. Norman bekam einen weiteren Hustenanfall, und Shefford nutzte die Gelegenheit, um zu fragen, wie lange sie schon tot war.

»Nun, mein alter Junge, hier drin wäre sie ziemlich schnell abgekühlt, bei offenem Fenster und ohne eingeschaltete Heizung … Irgendwann zwischen Mitternacht, vielleicht etwas später, und … grob geschätzt halb eins.«

»Wurde sie vergewaltigt, Felix?«, fragte Shefford, obwohl er wusste, dass Norman nicht antworten würde.

Norman warf Shefford nur einen bösen Blick zu; er machte sich nicht mehr die Mühe, auf Fragen einzugehen, die voraussetzten, dass er telepathische Fähigkeiten oder einen Röntgenblick besaß. Er sah sich im Raum um und rief einem Assistenten zu: »Gut, Leichensack!«

Zwei Männer hoben die Leiche in den schwarzen Plastiksack. Shefford zuckte zusammen und wandte den Kopf ab, schockiert über die Deformierung ihres Gesichts. Er hatte nur ihr Profil gesehen, das kaum noch als menschlich zu erkennen war; ihre Nase und Wange waren eine Masse aus geronnenem Blut, und das Auge war völlig verschwunden.

»Kein schöner Anblick«, sagte Norman emotionslos.

Shefford nickte, aber seine Stimme klang gedämpft, als er antwortete: »Sie war aber hübsch. Ihr Name ist Della Mornay. Ich habe sie selbst gebucht, als ich noch bei der Sitte war.«

Norman schniefte. »Ja, nun, bringen wir sie hier raus und runter in die Leichenhalle. Je schneller ich an ihr dran bin, desto früher wirst du Ergebnisse erhalten.«

Obwohl er schon einmal gefragt hatte, konnte Shefford sich nicht zurückhalten, sich zu wiederholen: »Wurde sie vergewaltigt?«

Norman verzog das Gesicht. »Verpiss dich, nach der Obduktion erzähle ich dir alles, was du wissen willst.« Er schaute sich in der Wohnung um, während der Sack verschlossen und die Leiche auf eine Bahre gehoben wurde. »Die brauchen einen verdammten Umzugswagen, um das alles in die Gerichtsmedizin zu bringen. Hast du gefrühstückt? Du solltest besser etwas essen, bevor du dich zu mir schleppst. Gib mir ein paar Stunden.«

Mit einem Winken machte sich Shefford auf den Weg zum Treppenhaus. Er hielt inne und drehte dem uniformierten Polizisten den Rücken zu, als er Otley schnell einen kleinen Gegenstand in die Hand drückte. Niemand hatte gesehen, wie er diesen unter der Matratze hervorgezogen hatte. Otley schob sich das Buch rasch in die Tasche.

Es dämmerte noch nicht, aber die Straße war noch genauso belebt, als Shefford das Haus verließ. Die Zuschauer verfolgten gebannt, wie die Bahre zum bereitstehenden Leichenwagen getragen wurde und die Polizei Tüte für Tüte mit Beweismaterial aus dem Haus holte. Sowohl Mrs Salbanna als auch Shefford selbst hatten die Leiche identifiziert.

Die Spurensicherung, auch ›SOCOs‹ (Scenes of Crime Officers) genannt, hatte damit begonnen, auf allen möglichen Oberflächen Fingerabdrücke zu sichern, den größten Teil des Raums mit einem Film aus grauem, glänzendem Staub zu bedecken. Sie hatten nicht allzu großes Glück, denn viele der günstigsten Stellen waren sorgfältig abgewischt worden.

Nachdem er ein schnelles Frühstück in der Kantine eingenommen und Otley angewiesen hatte, sich um die Besetzung der Einsatzzentrale zu kümmern, traf Shefford um neun Uhr in der Leichenhalle ein. DI Frank Burkin und DC Dave Jones stießen dort zu ihm, um den Tagesablauf zu besprechen. Sie saßen im Vorraum des Hauptlabors, wobei sie alle außer Jones das große Rauchverbotsschild geflissentlich ignorierten.

Während sie warteten, benutzte John Shefford das Münztelefon, um zu Hause anzurufen. Am nächsten Tag hatte sein Sohn Geburtstag, und Otley, der Patenonkel des Jungen, wollte wissen, was er ihm schenken sollte. Seine Frau hatte jedoch noch mehr auf dem Herzen.

»Hast du den Clown für Tommys Party gebucht, John?«, fragte Sheila. »Ich habe dir die Nummer letzte Woche gegeben, weißt du noch?«

Shefford war drauf und dran, zu gestehen, dass er das alles vergessen hatte, als die Türglocke ihn rettete; Felix Normans Assistent kam, um ihn hereinzuholen.

»Ich muss los, Schatz, sie rufen mich gerade rein. Wir reden später!«

Mit Kittel, Mundschutz und den vorgeschriebenen Gummischuhen kam Shefford zu Norman.

Zwei nackte, blasse Füße ragten unter dem Ende des grünen Lakens hervor, an einem Knöchel war ein Etikett mit Della Mornays Namen und einer Nummer befestigt. Norman begann zu sprechen, noch bevor Shefford den Wagen erreicht hatte.

»Todeszeitpunkt, alter Kumpel, war gegen null Uhr fünfzehn – es ist ein Klassiker, ihre Uhr ist kaputtgegangen und stehen geblieben. Der goldene Aufzieher fehlt übrigens, also müssen sie den Teppich durchkämmen. Das Ziffernblatt ist unversehrt, aber das Seil, mit dem ihre Handgelenke gefesselt waren, muss den Aufzugsstift aus der Uhr gedreht haben. So, du hast gefragt, ob sie vergewaltigt wurde; könnte sein. Kürzliche Ablagerungen von Sperma in der Vagina, im Rektum und im Mund, ausgedehnte Blutergüsse im Genitalbereich. Ich habe die Abstriche zu Willy ins Labor geschickt …«, er sah auf die Uhr, »vor fünf Stunden. Er müsste am Nachmittag eine Blutgruppe haben. Okay, die Wunden …«

Norman warf das grüne Laken über den Kopf der Toten, um deren Torso freizulegen, und zeigte auf die Einstichstellen. Die Leiche war gereinigt worden, daher waren sie deutlich zu sehen.

»Obere rechte Schulter, rechte Brust, Lunge hier und hier durchstochen. Eine weitere Risswunde an der Kehle, die sechste tiefe Wunde knapp über dem Nabel. Die Wunden sind sauber, durch einen kleinen, abgerundeten Gegenstand verursacht, die Spitze schmal, flach und scharf, wie bei einem angespitzten Schraubenzieher vielleicht. Nicht alle sind gleich tief – eine ist drei Zentimeter, eine sechs Zentimeter tief, die in der rechten Brust ist noch tiefer.«

Shefford inspizierte die Wunden, hörte aufmerksam zu und nickte mit dem Kopf. Felix Norman war einer der Besten auf seinem Gebiet, und aus Erfahrung ließ Shefford ihn erst einmal ausreden, bevor er Fragen stellte.

Norman fuhr fort: »Okay, sie hat auch eine tiefe Einstichstelle am linken Auge, wahrscheinlich hat die sie erledigt. Eine ziemliche Sauerei, willst du mal sehen?«

»Nein, mach einfach weiter«, antwortete Shefford angewidert und fuhr sich mit den Händen durch die Haare.

Norman sah in seine Notizen. »Oh, ja, das ist interessant. Schau dir mal ihre Hände an. Sie scheinen geschrubbt worden zu sein, mit einer Drahtbürste, wie es aussieht. Aber hier ist eine hässliche kleine Kerbe, und es riecht nach Chlor, einer Art Haushaltsbleichmittel. Zweifellos werde ich die genaue Marke herausfinden, wenn ich die Zeit habe, die ein Mann meines Kalibers gerne hat, um seine Arbeit gewissenhaft zu machen. Wie dem auch sei, es hat den Anschein, als ob das Schrubben ihrer Hände jedwede Ablagerung von Blut oder Gewebefragmenten unter den Nägeln beseitigt hat. Sie hat sich wahrscheinlich nicht besonders gewehrt, aber ihr waren ja auch die Hände gebunden …«

Shefford vermied es so weit wie möglich, den nackten Oberkörper zu betrachten. »Sonst noch etwas?«

Norman schniefte. »Ja, etwas Seltsames …« Er legte sein Klemmbrett beiseite und hob einen der Arme der Leiche an. »Siehst du, auf beiden Seiten dasselbe? Tiefe Striemen und Quetschungen an den Oberarmen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich noch nicht sagen, was die Ursache war, aber vielleicht wurde sie aufgehängt. Ich muss noch ein paar mehr Tests machen, aber es sieht so aus, als wäre sie in eine Art Klammer gesteckt worden. Interessant, nicht wahr?«

Shefford nickte. Irgendwo in seinem Hinterkopf klingelte es, aber er konnte die Erinnerung nicht festhalten … Norman deckte die Leiche wieder zu und fuhr über seine Brille hinweg fort: »Rechtshändiger Mörder, Größe schwer einzuschätzen, vor allem, wenn sie aufgehängt war, aber vier der Wunden sind schräg nach oben in den Körper eingedrungen, und zwei sind gerade, also schätze ich, dass er etwa eins achtzig groß ist. Aber nagel mich nicht fest, bevor ich nicht …«

Shefford verzog das Gesicht. Norman hielt sich trotz seiner Angeberei streng an die Vorschriften und hasste es, wenn man ihn zu Ergebnissen drängte, bevor er sich nicht hundertprozentig sicher war.

»Danke, Kumpel. Melde dich bei mir, sobald du etwas herausgefunden hast. Wenn der Bericht fertig ist, kann Bill ihn persönlich abholen. Und, Felix – ich weiß das wirklich zu schätzen!«

Norman schnaubte.Erhatte schnell gearbeitet, aber er und John Shefford waren ja auch alte Freunde. Er beobachtete, wie Shefford seine Maske abnahm und damit begann, seinen Kittel loszubinden.

»Hast du etwas, John?«

Shefford schüttelte den Kopf. »Sieht so aus, als ob einer ihrer Freier auf Fesseln stand und die Dinge außer Kontrolle gerieten. Wir sehen uns.«

Auf dem Revier wurden Della Mornays Habseligkeiten sortiert und untersucht. Ihre Handtasche war gefunden worden, aber sie enthielt keine Schlüssel. Raubüberfall konnte als Motiv ausgeschlossen werden, da sich ihre Geldbörse mit fünfzehn Pfund in der Tasche befand und ein Schmuckkästchen auf ihrem Schminktisch, das einige Silberketten und einen oder zwei goldene Armreife enthielt, unangetastet war.

In King’s Cross, dem Einzugsgebiet von Della Mornay, befragten fünfzehn Männer von Shefford alle bekannten Prostituierten und Callgirls. Sie bekamen wenig Unterstützung, aber die Rückmeldung war, dass Della seit Wochen nicht mehr gesehen worden sei. Die Vermutung wurde geäußert, dass sie nach Leeds gefahren sein könnte, um eine schwer an Aids erkrankte Freundin zu besuchen, aber es wurde kein Name genannt.

Die mühsame Überprüfung aller kriminaltechnischen Proben, der Faserspuren, der Fingerabdrücke hatte gerade erst begonnen und war bisher ergebnislos verlaufen. Das gesamte Gebiet wurde erfolglos nach der Tatwaffe durchsucht. In dieser Gegend gab niemand freiwillig Auskunft, schon gar nicht gegenüber der Polizei.

Shefford und Otley trafen sich erneut an der Milner Road und verbrachten etwa eine Stunde mit weiteren Befragungen und einer abermaligen Besichtigung der Wohnung, doch sie entdeckten nichts Neues. Mrs Salbanna, die sich von ihrem Schock erholt hatte, fragte bereits, wann sie das Zimmer wieder vermieten könne.

Shefford war hungrig und sehr müde. Er trank ein paar Bier und aß eine Schweinefleischpastete im Lokal, dann legte er sich in seinem Büro schlafen, während Otley nach Hause ging, um seinem Chef ein sauberes Hemd zu holen. Shefford übernachtete oft bei ihm und hatte dort ein paar Kleidungsstücke für Notfälle deponiert.

Obwohl er selbst ein paar Stunden Ruhe hätte vertragen können, besprühte Otley das Hemd mit Wäschestärke und bügelte es, wobei er besonders auf den Kragen achtete. Zufrieden mit seiner Arbeit hängte er es auf einen Bügel und gönnte sich eine Tasse Tee. Er hatte ein System, um das Abwaschen zu vermeiden; er benutzte einfach immer dieselbe Tasse, denselben Teller und dasselbe Besteck. Er nahm alle Hauptmahlzeiten in der Kantine des Reviers ein und verzichtete inzwischen sogar auf seine morgendlichen Maisflocken, weil sie nur schwer aus der Schüssel zu bekommen waren, wenn man sie über Nacht stehen ließ.

Die silbergerahmten Fotos seiner Frau, seiner geliebten Ellen, benötigten eine gründliche Politur, aber die würde er bis zu seinem nächsten freien Wochenende aufschieben müssen. Sie waren die einzigen persönlichen Gegenstände in der Wohnung, um die er sich kümmerte. Ellen war die Liebe seines Lebens gewesen, seine einzige Liebe seit der Teenagerzeit. Vor sieben Jahren war sie an Magenkrebsverstorben, hatte ihn völlig verzweifelt zurückgelassen, und er trauerte ihr heute noch genauso nach wie damals, als sie gegangen war. Er hatte hilflos mit ansehen müssen, wie sie sich vor seinen Augen auflöste. Sie war so schwach geworden, so abgemagert, dass er hoffnungslos und einsam für ihren Tod gebetet hatte.

Jedem auf der Arbeit war klar gewesen, dass Skipper Bill Otley persönliche Probleme hatte, aber er hatte sich niemandem anvertraut. Sein einsamer Alkoholkonsum und seine wütende Verbitterung hatten zu etlichen Disputen geführt, und seine ›Jungs‹, wie er sie nannte, hatten ihn schließlich sich selbst überlassen. Am Ende hatte John Shefford ihn beiseite genommen und gefragt, was los sei. Das hatte ihm allerdings bloß eine beleidigende Antwort eingebracht: ›Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß, mein Privatleben geht nur mich was an.‹

Shefford hatte wütend erwidert, dass es, wenn es seine Arbeit beträfe, sehr wohl die Angelegenheit des Chefs sei und Otley ohne Umschweife rausfliegen würde, sollte er nicht endlich damit rausrücken, was ihn quälte. Er bedrängte Otley so sehr, dass dieser schließlich einknickte.

Als Shefford dann Bescheid wusste, war er wie ein Fels in der Brandung gewesen. Er hatte im Krankenhaus gewartet, vor der Station, als Ellen starb. Er hatte die Beerdigung organisiert, alles getan, was er konnte, um ihm zu helfen. Er war immer da, immer verfügbar, wie die innige, geliebte Freundin, die Otley beerdigt hatte. Als Sheffords Sohn geboren wurde, hatte er Otley gebeten, Patenonkel zu werden; der Trauernde war Teil der Familie geworden, seine Anwesenheit war beim sonntäglichen Mittagessen, bei Ausflügen und Feiern gefragt. Er und Ellen hatten sich immer Kinder gewünscht – vergeblich; jetzt jedoch war seine dienstfreie Zeit angefüllt vom Lachen und den Streichen des kleinen Tom. Also bügelte Otley nicht nur das Hemd seines Chefs, sondern wusch es auch, und seine Socken gleich mit.

John Shefford bedeutete ihm mehr, als er je in Worte fassen konnte; er liebte den Mann, bewunderte ihn und unterstützte ihn nach Kräften in der Überzeugung, dass er es eines Tages zum Commander bringen würde. Keiner würde dann stolzer auf ihn sein als Bill Otley.

Mit dem sauberen Hemd über dem Arm machte er sich pfeifend auf den Weg zurück aufs Revier.

Um elf Uhr parkte Detective Chief Inspector Jane Tennison ihren Ford Fiesta und betrat das Polizeipräsidium Southampton Row. Es war ein frischer, frostiger Tag, und sie hatte sich gut gegen die Kälte eingepackt.

Offiziell hatte sie dienstfrei, war aber gekommen, um einige letzte Unterlagen für einen Gerichtstermin am folgenden Tag vorzubereiten.

Keine der Blutproben, die in der Wohnung sichergestellt worden waren, hatte einen Hinweis auf die Identität von Della Mornays Mörder ergeben. Ihre Blutgruppe kam sehr häufig vor und war als einzige am Tatort gefunden worden. Die DNA-Tests des Spermas, das der Leiche entnommen worden war, ergaben jedoch ein anderes Bild.

Das neue computergestützte DNA-System befand sich noch in der Erprobungsphase, aber die Ergebnisse von Tausenden von Tests während der letzten zwei Jahre waren bereits in das System eingegeben worden. Das forensische Team um Willy Chang verglich routinemäßig das Ergebnis im Fall Della Mornay mit den vorhandenen Datensätzen und stellte mit Erstaunen eine Übereinstimmung fest; eine visuelle Überprüfung der Negative mit Hilfe eines Leuchtkastens bestätigte dies. Der Mann, mit dem Della Mornay kurz vor ihrer Ermordung Sex gehabt hatte, war 1988 wegen versuchter Vergewaltigung und schweren Raubes verurteilt worden.

Willy Chang war überglücklich; das war der Hebel, den sie brauchten, um die Regierung zur Freigabe von Mitteln für eine nationale DNA-Profildatenbank zu bewegen. Er setzte sich ans Telefon.

Die Nachricht erreichte Shefford auf der Lambeth Bridge, auf dem Heimweg zum Mittagessen und nur einen Steinwurf vom Innenministerium entfernt. Er hängte den Hörer ein, wendete sofort das Auto und schlug Otley auf den Arm.

»Du wirst es nicht glauben, wir haben einen verdammten Verdächtigen! Er hat eine seltene Blutgruppe, und sie ist auf diesem verfluchten Computer gespeichert!«

Während der letzten drei Monate hatte DCI Tennison an einem langwierigen Betrugsfall gearbeitet, bei dem es um einen Tabakwarenhändler ging, der wegen Nichtabführung der Mehrwertsteuer verklagt wurde. Dieser verschlagene Geschäftsmann hatte mehr Tricks auf Lager als ein Hexenmeister und eine ellenlange Liste ärztlicher Atteste, die ihn vom Erscheinen vor Gericht befreiten. Aber morgen würde Richter George Philpott endlich seine Zusammenfassung vervollständigen. Philpott, der wegen seines guten Aussehens und seiner Langsamkeit als das juristische Äquivalent zu Cary Grant bekannt war, hatte bereits zwei Tage gebraucht; Tennison hoffte, dass er ausnahmsweise einmal schnell fertig werden würde, damit sie vor dem Ende des Tages noch Zeit hatte, ihren Schreibtisch zu überprüfen.

Nicht, dass es irgendetwas Interessantes geben würde; in ihrer ganzen Zeit beim Sondereinsatzkommando für Großschadensereignisse, AMIT genannt, hatte es nur Schreibtischarbeit gegeben. Sie hatte sich oft gefragt, warum sie sich die Mühe gemacht hatte, von der Flying Squad zu wechseln, wo sie wenigstens beschäftigt gewesen war. Die Zusammenarbeit von fünf DCIs und deren Teams hatte ihr gefallen, und sie hatte geglaubt, ihre Fähigkeiten voll ausschöpfen zu können.

Als Tennison an ihrem Schreibtisch saß, hörte sie das Quietschen von Reifen auf dem Parkplatz. Sie warf einen Blick aus dem Fenster, um Shefford gerade noch in das Gebäude rennen zu sehen.

»Was macht DCI Shefford heute hier, Maureen?«, fragte sie ihre Assistentin, WPC Havers. »Er sollte doch im Urlaub sein.«

»Ich glaube, er leitet die Ermittlung.«

»Was für eine Ermittlung?«

»Eine Prostituierte wurde tot in ihrem Zimmer in der Milner Road aufgefunden.«

»Haben sie einen Verdächtigen?«, hakte Tennison nach.

»Noch nicht, aber sie besorgen sich bei der Sitte alle Akten über die Kunden des Opfers.«

Tennison wurde stutzig. »Wie hat Shefford den Fall so schnell bekommen? Ich war gestern Abend bis nach zehn Uhr hier!«

Maureen zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, Chef, wahrscheinlich war das eine Nacht-und-Nebel-Aktion. Womöglich hat ihndas aus der Kneipe geholt, in der er seinen Rausch ausschlafen wollte.«

»Aber er ist doch gerade erst mit der Schießerei in Kilburn fertig geworden – und davor gab es die Sache mit den iranischen Diplomaten.«

Tennison ballte die Fäuste und stürmte hinaus. Maureen zuckte zusammen, als die Tür krachend in Schloss fiel.

DCI Tennison ging auf dem Korridor auf und ab und versuchte, sich selbst zu beruhigen. Achtzehn Monate lang hatte sie auf einen anständigen Fall gewartet, mehr Papierkram erledigt als in ihrer gesamten Zeit im Dezernat für Sexualdelikte in Reading, und jetzt hatte ihr Chef alles darangesetzt, DCI Shefford den Fall zu geben, der eigentlich ihrer hätte sein müssen. Als sie sich um die Versetzung beworben hatte, hatte sie gewusst, dass ihr eine harte Zeit bevorstand; wäre sie geblieben, wo sie war, hätte man sie inzwischen auf einen Schreibtischjob verwiesen.

Aber fünf Jahre bei der Flying Squad hatten sie abgehärtet. Sie ging zurück in ihr Zimmer und rief im Büro des Chefs an, entschlossen, die Sache mit ihm auszudiskutieren, aber er war in einer Besprechung. Sie versuchte, an ihren Unterlagen für die Gerichtsverhandlung weiterzuarbeiten, aber ihre Frustration ließ sie nicht zur Ruhe kommen.

Um die Mittagszeit wurde Tennison erneut von Motorengeräuschen auf dem Parkplatz gestört. Shefford fuhr wieder weg, und zwar in großer Eile. Sie gab den Versuch, zu arbeiten, auf und packte ihre Sachen zusammen; es war ohnehin schon fast Essenszeit.

Tennison bekam nichts von den ›Hitzewallungen‹ mit, in denen Shefford sein Team zusammentrommelte und Befehle erteilte, die seine dröhnende Stimme mit etlichen Schimpfworten garnierten. Das unglaubliche Glück, das ihm seinen Verdächtigen auf dem Silbertablett serviert hatte, ließ ihn zügig vorankommen.

George Arthur Marlow war wegen versuchter Vergewaltigung und Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt worden, hatte aber nur achtzehn Monate abgesessen. Selbst als er von der Anklagebank weggeführt wurde, hatte er noch lautstark auf seiner Unschuld beharrt.

Der Fall hatte sich lange hingezogen, da Marlow darauf bestand, unschuldig zu sein. Zunächst hatte er geleugnet, das Opfer, das nur als ›Miss X‹ bezeichnet wurde, überhaupt zu kennen, aber als er mit den Beweisen konfrontiert wurde, hatte er der Polizei gesagt, er und ›Miss X‹ hätten gemeinsam etwas in einer Weinbar getrunken. Er gab an, dass sie ihn unverhohlen zu seinen Annäherungsversuchen ermutigt habe, aber als es dann zur Sache ging, habe sie ihn abgewiesen.

Marlows Bluttests hatten damals ergeben, dass er eine außergewöhnlich seltene Blutgruppe besaß; er gehörte zu einem kleinen Prozentsatz von AB-Trägern, von denen es nur einen unter zweitausendfünfhundert Menschen gab. Er war einer der Ersten, deren Profil in den neuen Computer eingegeben worden war, und als eine Laborassistentin seine Daten durch das System laufen ließ, hatte sie den Jackpot erwischt.

Der Haftbefehl war ausgestellt. Shefford, aufgeputscht vom Adrenalin, rief seine Männer zusammen. Er hatte bereits Kaffee auf sein sauberes Hemd geträufelt, und nun folgte noch Zigarettenasche. Otley bürstete ihn ab, während er brüllte: »DCI Donald Paxman hält den Präsidiumsrekord, Jungs, er hat einen Verdächtigen innerhalb von vierundzwanzig Stunden festgenommen und angeklagt. Gebt mir den Regenmantel … Kippen, wer hat meine Kippen?«

Er schlüpfte so bedenkenlos in seinen Mantel, wie es nur ein Mann tun konnte, der ohnehin ständig zerknittert aussah, zündete sich eine Zigarette an und wechselte sie von einer Hand in die andere, während seine großen Fäuste die Ärmel herunterkrempelten. »Wir brechen den Rekord, Jungs, und dann gibt’s Getränke für alle, also lasst uns gehen! Los, los!«

Jane Tennison betrat ihre kleine Mietwohnung, die sie seit drei Monaten mit ihrem Freund Peter Rawlins teilte. Er war einen Meter achtzig groß, hatte eine breite Brust, und sein sandfarbenes Haar war stets mit Farbflecken übersät. Er war der erste Mann, mit dem sie dauerhaft zusammenlebte.

Peter kam aus der Küche, als er ihren Schlüssel in der Tür hörte, und strahlte sie an. »Okay, wir haben Hühnchen Kiew mit braunem Reis, wie klingt das?«

»Das ist mir sehr recht!«

Sie warf ihre Aktentasche auf den Flurtisch, und er zog sie kurz an sich, hielt sie dann auf Armeslänge vor sich und sah ihr ins Gesicht. »Schlechten Tag gehabt?«

Sie nickte und ging ins Schlafzimmer, wo sie ihren Mantel auf das Bett warf. Er lehnte sich gegen den Türrahmen. »Willst du darüber reden?«

»Wenn ich geduscht habe.«

Sie hatten stets viel miteinander geredet, seit sie sich kennengelernt hatten; Peter steckte in den Wirren einer Scheidung, und Jane hatte ihm ein offenes Ohr geschenkt. Marianne hatte ihn wegen eines anderen Mannes verlassen; das hatte ihn schwer getroffen, denn es handelte sich nicht um irgendeinen anderen Mann, sondern um Peters besten Freund und Partner in seiner Baufirma. Und sie hatte auch noch den kleinen Sohn mitgenommen, den er so sehr liebte, Joey.

Die Beziehung zwischen Jane und Peter hatte ganz zwanglos begonnen; sie waren bei einem Turnier im Squash-Verein gemeinsam in ein Team eingeteilt worden und hatten sich seither bei mehreren Gelegenheiten auf einen Drink oder eine Tasse Kaffee nach einem Spiel getroffen. Schließlich hatte er sie gebeten, mit ihm einen Film zu sehen, und bei dieser ersten richtigen Verabredung hatte sie sich die genauen Umstände seiner Scheidung angehört. Erst nach mehreren Filmen hatte er dann den Versuch unternommen, sie zu küssen.

Jane hatte Peter geholfen, in eine Übergangswohnung zu ziehen, während sein Haus verkauft wurde, und allmählich hatte sich ihre Beziehung vertieft. Als er nach einer dauerhaften Wohnung suchen wollte, hatte sie ihm vorgeschlagen, für eine Weile bei ihr einzuziehen. Es war zwar nicht sehr romantisch, aber im Laufe der Wochen fand sie immer mehr Gefallen an ihm. Er war unkompliziert, fürsorglich und rücksichtsvoll. Als er ihr sagte, dass er sie liebe, und ihr vorschlug, sich gemeinsam eine größere Wohnung zu suchen, stimmte sie zu. Es war eine angenehme Überraschung für sie selbst, wie sehr sie mit ihm zusammen sein wollte.

Als sie geduscht hatte, setzte sich Jane in ihrem Morgenmantel an den Tisch, und Peter präsentierte ihr mit Schwung sein Hähnchen Kiew. Sie war so dankbar und glücklich, dass sie jemanden hatte, mit dem sie ihr Leben teilen konnte, dass sie für einen Moment ihre Probleme vergaß.

Als er eine Flasche Wein öffnete, neigte sie ihren Kopf auf eine Seite und lächelte. »Weißt du, ich habe mich so an dich gewöhnt, dass ich nicht weiß, was ich ohne dich tun würde. Ich schätze, was ich auf meine umständliche Art mitzuteilen versuche, ist …«

»Prost!«, sagte er und hob sein Glas.

»Ja, auf dich, auf mich, auf uns …«

Marlow schien von der Ankunft der Polizei wie benommen. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand stand er im schmalen Flur seiner Wohnung und schien nicht zu begreifen, was die von ihm wollten.

»George Arthur Marlow, ich verhafte Sie wegen Mordverdachts …« Otley musste seine Botschaft wiederholen und Marlow dann selbst die Tasse aus der Hand nehmen, um ihm die Handschellen anzulegen.

Moyra Henson, Marlows Freundin, kam aus der Küche, gefolgt von dem Geruch nach gebratenem Lammfleisch.

»Was zum Teufel ist hier los? He, wo bringen Sie ihn hin? Er hat noch nicht zu Abend gegessen …«

Ohne sie zu beachten, führten sie Marlow so schnell wie möglich zum Auto hinaus. In seiner Fassungslosigkeit wäre er fast mit dem Kopf am Dach des Streifenwagens aufgeschlagen, als man ihm hineinhalf.

Die uniformierten Beamten traten ein, um die Wohnung zu durchsuchen, während eine Polizistin Moyra in die Küche führte und ihr mitteilte, dass Marlow wegen des Verdachts des Mordes an einer Prostituierten verhaftet worden sei. Moyras Augen wurden riesengroß, und sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Das ist ein furchtbarer Irrtum, das können Sie ihm nicht antun, es ist ein Irrtum …« Sie riss sich von der Polizistin los und ranntezur Eingangstür. Sie kreischte wie am Spieß, als sie bemerkte, dass die Beamten durchsichtige Plastiktüten mit Kleidung füllten und in großer Eile fortschafften. Marlows Schuhe, Jacken, Hemden, alle aufgelistet und mit Etiketten versehen, wurden Moyra vorgeführt, die immer noch mit schriller Stimme protestierte. Aber sie versuchte nicht, die Polizisten aufzuhalten, und die blieben stundenlang und durchsuchten und entnahmen alle möglichen Gegenstände. Als sie fertig waren, wurde Moyra zu einer Befragung auf die Polizeiwache gebracht.

Sie war nicht mehr nur wütend, sondern völlig aufgebracht. Sie hasste die Bullen, hasste sie. Sie hatten George bereits für ein Verbrechen eingesperrt, von dem sie wusste, dass er es nicht begangen hatte, und jetzt war sie sicher, dass sie ihm einen Mord anhängen wollten. All die Krimis, die sie im Fernsehen geschaut hatte, und die moralischen Aspekte von Dallas und EastEnders hatten sie gelehrt, dass sie im Recht war und diesen Schweinen nicht trauen durfte.

Jane lag zusammengerollt in Peters Armen und erzählte ihm von Shefford und seiner Einstellung ihr gegenüber; zwar nicht offen feindselig, aber es fehlte nicht viel. Es war so ziemlich das Gleiche wie bei allen Männern, aber Shefford war so ein Macho, dass es ihm Spaß machte, sie an die Decke gehen zu lassen, wenn auch hinter ihrem Rücken.

Es war immer noch neu für sie, jemanden zu haben, der sich ihre Probleme anhörte. Sie war so schlecht gelaunt gewesen, als sie nach Hause gekommen war, und der Sex mit ihm hatte ihr die ganze Anspannung genommen. Es war gut,Peter zu haben, sich geliebt und gewollt zu fühlen. Sie erzählte ihm, wie der Chef ihr die übliche Ansprache gehalten hatte, sie solle warten, aber sie musste bald eine Entscheidung treffen. Je länger sie wartete und bloß die Fälle annahm, die sonst niemand wollte, desto mehr wusste sie, dass sie ausgenutzt werden würde. Wenn Kernan ihr nicht endlich einen Durchbruch verschaffte, würde sie kündigen. Die Männer zollten ihr keinen Respekt …

Peter lachte. »Sie kennen dich nicht, oder?«

Sie grinste. »Nein, ich schätze, das tun sie wirklich nicht. Eines Tages werde ich einen Durchbruch haben, und bei Gott, dann werden sie merken, wie es um sie steht.«

Er biss ihr ins Ohr. »Bring sie dazu, eine Partie Squash gegen dich zu spielen, dann werden sie dieses entschlossene kleine Gesicht ganz schnell ernst nehmen. Als ich das erste Mal gegen dich gespielt habe, dachte ich: ›Heiliger Strohsack, das ist eine Wahnsinnige.‹«

Sie schenkte ihm ihr wunderbares, tiefes, kehliges Lachen. Wenn sie sich liebten, spielte es keine Rolle mehr, dass ihre Chefs sie übergangen hatten; nur Peter zählte. Das hatte sie ihm an diesem Nachmittag bereits gesagt, ebenso, dass sie ihn liebte.

Er schmiegte sich eng an sie. »Ich bin froh, dass wir einander haben, denn für mich läuft es gerade nicht so gut. Es kann sein, dass wir die Suche nach einer größeren Wohnung verschieben müssen, die Firma ist in einem schlechten Zustand, und ich muss Kapital zuschießen, bis ich wieder auf die Beine komme.«

Sie murmelte, dass das nichts ausmache, die Wohnung sei groß genug. Sie fragte ihn dann, wie es sich angefühlt habe, zu wissen, dass seine Frau eine Affäre mit seinem besten Freund hatte, ein Thema, das sie immer gemieden hatte.

Er seufzte und starrtean die Decke. »Als hätte man mir die Eier abgeschnitten. Zuerst konnte ich es nicht glauben, das muss schon seit Jahren hinter meinem Rücken so gelaufen sein. Dann kam ich mir wie ein verdammter Idiot vor, dass ich es nicht früher bemerkt habe. Er war immer im Haus, aber wir waren Partner, und ich habe einfach angenommen, er wäre da, um sich mit mir zu treffen. Und dabei vögelte er meine Frau in meinem eigenen Bett!« Er schlug hart in seine Handfläche; es gab ein befriedigendes Klatschen. Erneut seufzte er. »Ich wollte ihn verprügeln, es auf diese Weise austragen, aber es hatte keinen Sinn. Ich habe mich einfach von allem zurückgezogen. Sie hat die Hälfte des Geldes aus dem Hausverkauf, und ich habe ihn aus der Firma herausgekauft, das ist einer der Gründe, warum das Geld im Moment so knapp ist. Ich hätte ihm einfach sagen sollen, dass er sich verpissen soll, aber so bin ich nicht, und Joey ist ja auch noch zu berücksichtigen. Ich habe damit gerechnet, dass sie, wenn ich wegen der Scheidung Ärger machen würde, versucht hätte, mir Joey zu entziehen. Ich liebe den Jungen, ich könnte es nicht ertragen, ihn nicht mehr zu sehen.«

Jane strich ihm sanft über die Wange. »Wenn du willst, dass er herkommt, ist er jederzeit willkommen, das weißt du doch, oder?«

Er umarmte sie. »Ja, das weiß ich, und ich weiß es zu schätzen. Du bist das Beste, was mir seit Jahren passiert ist. Ich weiß, dass sich für dich alles zum Guten wenden wird, du musst nur Geduld haben.«

Sie lächelte, ohne zu erwähnen, dass dies genau die Haltung ihres Chefs war. Aber sie hatte nicht die Absicht, geduldig zu sein. Peter verstand nicht wirklich, wie wichtig ihre Arbeit für sie war, aber er sollte es schneller herausfinden, als sie beide es für möglich hielten.

George Marlow war ruhig und kooperativ. Seine Fingerabdrücke wurden genommen, und er wurde zu den Zellen geführt. Er kam ein wenig ins Stottern, als er darum bat, seinen Anwalt anzurufen, und nannte die Nummer. Obwohl er den Tränen nahe war und sich alle Mühe gab, mitzuhelfen, fragte er dennoch immer wieder, warum er verhaftet worden sei.

Shefford war den ganzen Tag über unterwegs gewesen. Jetzt bereitete er sich darauf vor, Marlow zu befragen. Sein Gesicht war gerötet, er rauchte wie ein Schlot und machte Witze; es war offensichtlich, dass das Adrenalin noch immer sprudelte.

Die Männer im Team klopften ihm auf die Schulter und nannten ihn einen verdammten Glückspilz, was für ein Durchbruch! Einige schlossen Wetten ab über den Ausgang des Falles.

DI Burkin fiel plötzlich etwas ein. »Hört mal, sein Sohn hat doch morgen Geburtstag! Solange wir alle nichts zu tun haben, können wir ihm etwas kaufen. Ihr kennt doch Otley, er ist so geizig, dass der Junge nicht mal ein Eis von ihm bekommt. Was meint ihr, fünfzig Pence von jedem?«

In bester Laune legten sie alle zusammen.

Bevor er in den Verhörraum ging, rief Shefford zu Hause an, um Sheila, seiner Frau, mitzuteilen, dass er sich verspäten würde und sie nicht auf ihn warten sollte. Er war zu aufgedreht, um dem, was sie sagte, viel Aufmerksamkeit zu schenken.

»Du hast mir heute Morgen nicht geantwortet, John. Hast du den Clown für Toms Party gebucht?«

»Ja, ja, ich kriege das schon hin …« Er reichte das Telefon an Bill Otley weiter und flüsterte: »Rede du mit meiner Frau, du bist schließlich der Patenonkel, verdammt. Ich habe keine Zeit …«

Er zündete sich eine weitere Zigarette an und wandte sich den Akten zu, während Otley den Hörer nahm und treulich versprach, sich selbst als Clown zu verkleiden, falls sie Biffo nicht für die Geburtstagsparty engagieren konnten.

Die ›Jungs‹ hatten sich in ihrem Skipper reichlich getäuscht; Otley hatte an diesem Wochenende mehr Zeit und Geld in Hamley’s Spielzeugladen ausgegeben, als sie je geglaubt hätten. Die Eisenbahnsets hatten ein Vermögen gekostet, aber er war bereit, seine Ersparnisse anzuzapfen. Er und Ellen hatten stundenlang darüber nachgedacht, wofür sie das Geld ausgeben würden, sobald er in den Ruhestand ging; jetzt sollte sein Patenkind davon profitieren. Die Kaufentscheidung zu treffen, hatte die meiste Zeit gekostet, ebenso das amüsante Schlendern durch den Laden.

Otley legte den Hörer auf und wandte sich an Shefford. »Okay, Chef? Brauchst du noch was? Marlows Anwalt ist auf dem Weg, in etwa einer Stunde hier. Arnold Upcher, vertrat ihn bei seinem letzten Fall. Ein harter Hund, aber er ist fair. Er schreit nicht so viel wie ein paar andere von diesen Arschlöchern.«

Shefford zwinkerte ihm zu. »Ich will ihn so weit haben, bevor Upcher hier eintrifft. Schön für uns, was? Was für ein verdammter Glücksfall! Mal sehen, ob wir Paxmans Bestmarke nicht unterbieten können. Schick eine Flasche Schampus an die Spurensicherung, sag ihnen, dass ich sie liebe, und sag Willy, er soll sich bereithalten für den ganzen Kram aus Marlows Haus. Und, ja, ich bin bereit. Schnappen wir uns den Bastard.«

George Marlow saß in der Zelle, die Hände im Schoß, den Kopf gesenkt. Er trug ein blau gestreiftes Hemd, der weiße Kragen war am Hals geöffnet; die Krawatte war ihm abgenommen worden. Seine grauen Flanellhosen waren ordentlich gebügelt, und sein Jackett hing über der Stuhllehne. Bei seinem südländischen Aussehen war es offensichtlich, dass er sich zweimal am Tag rasieren musste, aber noch war sein Kinn sauber. Er hob den Kopf, als ein uniformierter Beamter die Tür öffnete und ihn höflich aufforderte, ihn in den Verhörraum zu begleiten.

DCI Shefford hatte die Anweisung gegeben, dass Upcher aufgehalten werden sollte, falls er früher eintraf. Er wollte die Gelegenheit nutzen, Marlow ohne seinen Anwalt zu befragen. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, warf seine massiven Schultern zurück und schritt den Korridor entlang zu Zimmer 4C. Er bemerkte, wie Marlow tatsächlich vor Schreck zusammenzuckte, als er die Tür aufstieß.

Mit einer Geste an Marlow, sitzen zu bleiben, drehte er mit einer Hand einen unbequemen Holzstuhl herum, stellte ihn genau gegenüber dem Verdächtigen ab und setzte sich.

»George? Ich bin Detective Chief Inspector John Shefford. Das ist Detective Sergeant Bill Otley, und das ist DC Jones drüben an der Tür. Bevor wir uns mit Ihrem Anwalt befassen – ich meine, wir bräuchten ihn vielleicht gar nicht –, möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen, in Ordnung?«

Er zog den Aschenbecher zu sich heran, schabte damit über die Oberfläche des Tisches, bis es quietschte, und zündete sich eine Zigarette an. »Rauchen Sie, George?«

»Nein, Sir.«

»Gut … Also dann, George, können Sie uns sagen, wo Sie in der Nacht des dreizehnten Januars waren? Lassen Sie sich Zeit.«

Marlow hielt den Kopf gesenkt. »Der dreizehnte Januar? Samstag? Also, das ist einfach. Ich war mit meiner Frau zu Hause. Normalerweise gehen wir nicht aus, wir holen uns einen Film und einen Imbiss … Ja, ich war mit meiner Frau zusammen.«

»Ihre Frau? Sie meinen Moyra Henson, die Frau, mit der Sie zusammenleben? Sie sagte, sie sei nicht Ihre Frau, sie ist Ihre Freundin. Wen meinen Sie, George? Komm schon, Sohn, bring uns nicht durcheinander.«

»Nun, sie ist meine Lebensgefährtin, wir sind nicht wirklich verheiratet.«

Sheffords Zunge schmeckte und fühlte sich an wie ein alter Teppich. Er durchsuchte seine Taschen und fand ein zerknittertes Stück Wrigley’s Kaugummi im hintersten Winkel. Der musste schon einige Zeit dort zugebracht haben, denn er hatte seine äußere Verpackung verloren, und das silberne Papier war mit Flusen und Asche bedeckt, weil er die Tasche als Aschenbecher benutzt hatte. Er nahm die Folie ab, begutachtete den grauen Kaugummi, steckte ihn in den Mund und kaute rabiat darauf herum. Marlow beobachtete jede seiner Bewegungen, als wäre er gelähmt.

Shefford faltete die Folie zu einem schmalen Streifen, fuhr mit demFingernagel darüber, warf sie beiseite und zündete sich eine Zigarette an.

»Was haben Sie so gegen – sagen wir mal – zweiundzwanzig Uhr gemacht?«, fragte er beiläufig.

»Da sollte ich zu Hause gewesen sein … Oh, warten Sie, davor … Ich weiß, was ich davor gemacht habe.«

Shefford inhalierte den letzten Rest seiner Zigarette und ließ den Rauch aus seinen Nasenlöchern entweichen. »Na dann, wollen Sie es mir sagen?«

Mit einem reumütigen Lächeln zuckte Marlow leicht mit den Schultern. »Ich habe ein Mädchen aufgegabelt. Sie ging auf den Strich.«

»Sie kannten das Mädchen, nicht wahr?«

Marlow schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf Otley, der ein wenig entfernt saß und sich Notizen machte. »Ich war ihr noch nie begegnet, aber ich sah sie vor der U-Bahn-Station Ladbroke Grove. Sie beugte sich nach unten, wissen Sie, und schaute in die vorbeifahrenden Autos … Ladbroke Grove U-Bahn-Station. Ich habe angehalten und sie gefragt, wie viel sie kostet.«

»Aber Sie haben sie nicht gekannt?«

»Nein, ich hatte sie noch nie getroffen. Ich habe sie zuerst gefragt, wie viel, und sie sagte, das komme darauf an. Sie wissen ja, die wollen so viel wie möglich aus einem herausquetschen …«

»Ach wirklich? Aber Sie waren schon mal dran, George. Sie mögen keinen Ärger. Della Mornay hat Sie angekotzt, stimmt’s? Stimmt’s?«

Marlow runzelte die Stirn und sah dann Shefford an. »Della Mornay …?«