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DIE INTERNATIONALE BESTSELLER-REIHE ERSTMALIG AUF DEUTSCH!
Sie ist klüger als ihre Gegner. Härter als ihr Ruf. Und gefährlich nah an der Wahrheit.
Detective Chief Inspector Jane Tennison tritt ihren neuen Posten im Londoner Sittendezernat an und übernimmt einen Fall, den niemand anrühren will. Operation Contract soll ein Netzwerk jugendlicher Prostitution zerschlagen, doch das Misstrauen den Ermittelnden gegenüber ist groß und die Ergebnisse mager. Bis in einer abgebrannten Wohnung die Leiche eines Callboys gefunden wird.
Die Spur führt Tennison zu einem einflussreichen Jugendbetreuer, einer glamourösen Drag-Queen, einem sadistischen Schläger – und mitten in die Kreise einflussreicher Männer, die alles zu verlieren haben. Je näher Tennison der Wahrheit kommt, desto mehr Widerstand erfährt sie von Vorgesetzten und selbst ihrem eigenen Team.
Und während sie an der Fassade der Autoritäten rüttelt, muss sie sich einer Nachricht stellen, die auch ihr Leben für immer verändern könnte …
“Verstummte Opfer” ist der dritte Band der Krimi-Reihe “Prime Suspect” von “Queen of Crime Drama” Lynda La Plante. Die Reihe begeistert Leser und Fernsehzuschauer weltweit seit über 30 Jahren. Jetzt endlich auch auf Deutsch – für Fans von klassischen britischen Polizeithrillern und psychologisch packenden Ermittlungen!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
PRIME SUSPECT
BUCH 3
Verlag:
Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH
Werinherstr. 3
81541 München
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Cover: Zeilenfluss
Satz: Zeilenfluss
Übersetzung: Dr. Andreas Fischer
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer, Johannes Eickhorst
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Text copyright © La Plante Global Ltd, 1994
Originally published as "Silent Victims" in the English language in the UK by Simon & Schuster UK Ltd. The moral rights of the Author have been asserted.
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Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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ISBN: 978-3-96714-535-9
Das Farbdia einer nackten Frauenleiche flackerte auf der Bildfläche auf. Das Mädchen war etwa siebzehn Jahre alt, mit langen blonden Haaren, die ihr über die weißen Schultern fielen. Sie war einmal sehr hübsch gewesen. Der Projektor klickte, und die Leinwand füllte sich mit einer Nahaufnahme ihres Kopfes. Die Schlinge, ein Stück Zaundraht, schnitt tief in das weiche Fleisch ihres Halses. Ihre einst schönen blauen Augen waren geschwollen, blutunterlaufen und starrten blind in den Himmel. Ihre Zunge ragte heraus wie ein fetter violetter Wurm.
Die Anwesenden in dem abgedunkelten Raum rührten sich nicht. Die Beamten der Mordkommission, die medizinischen Teams der Polizei und die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Pathologie waren ausgebildet, keine Emotionen zu zeigen, saßen schweigend auf ihren Plätzen und ertrugen die grausige Peepshow. Abgehärtet oder nicht, erfahren oder nicht, einigen drohte sich der Magen umzudrehen. Vor allem ein paar der jüngeren Männer kämpften gegen eine nahe Ohnmacht, Übelkeit oder beides. Die Stimme des Vortragenden war da keine Hilfe. Jake Hunter fuhr unerbittlich fort, wobei seine Aufzählung menschlicher Verderbtheit und Perversion durch seinen gebildeten Bostoner Dialekt noch abschreckender wirkte.
»Bislang waren die bekannten Serienmörder – abgesehen von einem aktuellen Fall in den Vereinigten Staaten – allesamt männlich, fast ausnahmslos weiß, oft ungewöhnlich intelligent oder extrem gerissen. Die meisten Opfer sind weiblich, in der Regel junge Frauen, deren Tod – wie Sie hier sehen – häufig mit gewaltsamen sexuellen Übergriffen einhergeht. Stets gibt es Hinweise auf Folter und Verstümmelung. An einer Reihe von Fällen waren Homosexuelle beteiligt.«
Ein weiteres Dia blitzte auf. Eine Großaufnahme des Gesichts eines dunkelhaarigen, unrasierten Mannes mit stechenden, irrsinnig wirkenden Augen, die durch eine knochige Nasenkuppe voneinander getrennt waren. Sein dünner, geäderter Hals wurde von einem neunstelligen Fahndungscode verdeckt.
»Richard Trenton Chase, der ›Vampirkiller‹ von Sacramento«, fuhr Hunter fort. »Verhaftet wegen sieben Morden.« Das Dia wechselte. »Schauen Sie sich seine Handschrift an, sie stammt von einer gekritzelten Nachricht, die er am Tatort eines seiner Verbrechen hinterlassen hat. ›Fangt mich, bevor ich noch mehr töte, ich kann mich nicht beherrschen.‹«
Hunter wandte sich an sein Publikum. Er war mittelgroß und hatte eine athletische Statur, die seinen aufwendig geschneiderten Tweed-Anzug ausfüllte. Darunter trug er ein cremefarbenes Hemd mit Knopfleiste und eine gestreifte Seidenkrawatte. Während der Anzug seinen Modestil als transatlantisch auswies, waren die braunen Kuhfellstiefel mit Steigbügelbesatz eindeutig aus Dallas und nicht aus der Fifth Avenue.
Hunter fuhr fort: »Später werde ich nochmals auf die Hinweise zu sprechen kommen, die die Handschrift als Einblick in die Persönlichkeit des Mörders liefert.«
Er hatte Tennison nicht bemerkt. Sie war absichtlich zu spät gekommen und stand an der Tür, ihr kurzes Haar war ein honigblonder Fleck in der flackernden Dunkelheit. Es amüsierte sie, dass Jake nicht wusste, dass sie da war, obwohl sie sich bereits zweimal während seiner Vortragsreise durch England getroffen hatten. Ihn heimlich im Schein des Bildschirms zu beobachten, verursachte ihr einen leichten Schauer der Erregung, teils aus Nervosität, teils aus sexueller Anspannung.
Sein kurzes braunes Haar war ein wenig grauer geworden, was sich besonders an den sauber getrimmten Koteletten bemerkbar machte, doch der Bastard sah immer noch so gut aus wie eh und je. Seine Augenbrauen waren von der Sonne gebleicht und hoben sich von seinen gebräunten, zerklüfteten Gesichtszügen ab. War sie genauso attraktiv gealtert? Auf der Straße wurde sie immer noch oft angeschaut, Arbeiter pfiffen ihr von Baugerüsten aus hinterher, aber innerlich fühlte sie sich manchmal wie die Böse Hexe des Westens aus dem Zauberer von Oz. Das war der Job. Eine Frau in einer Männerwelt. Von ihr wurde erwartet, dass sie den täglich anfallenden Mist verarbeitete und nicht davor zurückwich.
Daher war sie nicht überrascht, hier drin die einzige Frau zu sein, wie sie beim Eintreten festgestellt hatte. Sie war schon der einzige weibliche Detective Chief Inspector innerhalb der Mordkommission an ihrem vorigen Dienstort in Southampton Row gewesen. Jane Tennison war im Begriff, zur Sitte am nördlichen Stadtrand von Soho zu wechseln, und bezweifelte kaum, dass sie dort die mit meilenweitem Abstand dienstälteste Beamtin sein würde.
»Massenmord ist das amerikanische Verbrechen schlechthin«, referierte Hunter vor seinem aufmerksamen Publikum. »Vor einem Jahrhundert war das praktisch unbekannt, jetzt ist es fast zu einer Epidemie geworden. Wir befinden uns in einer Phase, in der Männer im Alter zwischen dreißig und fünfzig Jahren brutaler und gewalttätiger sind als je zuvor. Ich halte es für sehr naheliegend, dass Massenmord eine ansteckende Komponente hat …«
Sie hörten schweigend zu, nicht aus Höflichkeit oder Langeweile, sondern weil Jake Hunter mit der Autorität einer hart erkämpften Erfahrung sprach. Er hatte all das bereits miterlebt, war an vorderster Front dabei gewesen. Als Berater der Abteilung für Pathologie und forensische Forschung der New Yorker Polizei war er einer der weltweit führenden Experten auf diesem Gebiet; er hatte nicht nur den theoretischen und historischen Hintergrund eingehend studiert, sondern war auch Zeuge der verstörenden blutigen Tatsachen geworden. Er war einer der Pioniere der psychologischen Profilerstellung, die heute von den Polizeibehörden in den Vereinigten Staaten und Europa genutzt wurde. Seine Bücher galten inzwischen als Standardwerke für die Ausbildung von Beamten der Mordkommission und waren außerdem Pflichtlektüre für Studenten und Wissenschaftler, die sich auf Kriminalpsychologie spezialisierten.
In den letzten Jahren hatte er sich der Belletristik zugewandt und drei Bestseller-Romane verfasst, von denen zwei an Hollywood-Studios verkauft worden waren. Sein neuestes Werk jedoch – aus diesem Grund war er hier, hielt Vorträge an Hochschulen und stellte es somit einem breiteren Publikum vor – war ein Sachbuch, eine Zusammenfassung seiner langjährigen Erfahrung als führender Kriminologe des Landes, der Patentrechte auf das Konzept des Serienmordes innehatte.
Ein weiteres Dia blitzte auf.
»George Henard exekutierte«, Hunter wiederholte das Wort in seinem sanften Tonfall, »exekutierte dreiundzwanzig Menschen, indem er ihnen aus nächster Nähe eine Salve in den Kopf schoss, bevor er sie umdrehte …«
Kurz hielt er inne, als er Tennison bemerkte. Er blinzelte. Tennison schenkte ihm ein warmes, leicht verschmitztes Lächeln.
»… bevor er die halbautomatische Neun-Millimeter-Pistole für einen letzten Schuss gegen seine rechte Schläfe richtete. Was wir nicht fassen können«, so Hunter, der zu seiner erschütternden Schlussfolgerung kam, »ist, dass die Welt voller Menschen ist, die das Potenzial haben, so etwas zu tun.«
Jemand hatte dem kleinen Connie etwas äußerst Unangenehmes angetan. Er war ein schlankes, blasses, schmächtiges Wesen mit lockigem, rotem Haar, das im Sonnenlicht einen goldenen Schimmer aufwies. Er lag auf einem durchgesessenen Sofa in der Wohnung einer Drag Queen namens Vernon – oder Vera – Reynolds, die genau in diesem Moment, um einundzwanzig Uhr fünfunddreißig, in violettem Scheinwerferlicht schwebte und als Marlene Dietrich verkleidet mit heiserem, bebendem Bariton Falling in Love Again sang.
Connie versuchte sich aufzurichten. Seine leuchtenden dunkelbraunen Augen waren benebelt. Die Wolke aus kastanienbraunem Haar purzelte über seine weiße Stirn, aber seine Schönheit wurde durch einen dunklen Fleck getrockneten Blutes getrübt, einer Spur aus Schneckenschleim an seiner glatten Wange gleich, wo es aus der klebrigen Wunde an der rechten Schläfe herabgesickert war.
Wieder versuchte er aufzustehen, scheiterte, fiel zurück. Auf dem Teppich war eine Front aus rasenden blauen Flammen zu sehen. Sie berührten das Sofa und kletterten den zerknitterten Bezug hinauf. Die Flammen färbten sich orange, ihr heller Widerschein glitzerte in Veras extravaganten, paillettenbesetzten Kleidern auf dem Regal in der hinteren Nische. Die Pfauenfedern eines anderen Kostüms wehten im Aufwind, als das Feuer um sich griff. Das halbe Zimmer stand in Flammen, die das Sofa und den Jungen so schnell verschlangen, dass ihm die Luft aus den Lungen gesaugt wurde und der Schrei in seiner rauen Kehle verstummte.
Das Regal mit den Kleidern fing Feuer. Federn und verkohlte Chiffonstücke gingen in einer sich windenden Rauchwolke auf. Die Vorhänge flogen nach oben. Der Lack am Rahmen des geschlossenen Fensters warf Blasen und blätterte ab. Das gesamte Wohnzimmer und die unaufgeräumte winzige Küche von Vera Reynolds’ schäbiger beengter Wohnung standen nun in Flammen.
Mit dem Getöse und der Wucht einer kleinen, aber mächtigen Bombe flog das Fenster in die Nacht hinaus. Die Explosion erschütterte die Ruhe über den sechs roten Backsteinblöcken der Wohnanlage. Brennende Trümmer ergossen sich in den gepflasterten Innenhof drei Stockwerke tiefer und setzten eine Wäscheleine in Brand.
Von irgendwo in der Stadt ertönte bereits die Sirene eines Krankenwagens.
Er würde diesen Bastard finden! Jimmy Jackson lenkte den alten, nachtblauen Mercedes in eine Seitenstraße in der Nähe des Kanals, die Scheinwerfer hinterließen ölige Schlieren auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Er hielt das Lenkrad fest umklammert, das gefurchte, pockennarbige Gesicht nach vorne gestreckt, die geschlitzten Augen spähten hitzig und wütend durch die rissige Windschutzscheibe. Seine dicken, fleischigen Lippen waren bis hinauf zu den Zähnen gezogen. Wo zum Teufel steckte der kleine Scheißer? Es lag auf der Hand, dass Fletcher hier unten beim Abschaum war, ein weiteres obdachloses, rotznasiges Kind, das in einem dieser Pappkartons hauste, mit Säufern, Schnorrern und Kanalratten als Nachbarn.
Jackson bemerkte eine Bewegung. Er grinste und trat auf das große Bremspedal. In der nächsten Sekunde riss er die Tür auf, war draußen und stürmte los, mächtig und bedrohlich in einer Nietenlederjacke und zerrissenen Jeans, mit knielangen Bikerstiefeln, die auf dem schmierigen Bürgersteig klapperten.
Der verängstigte Junge war losgerannt, in Richtung der Eisenbrücke über dem Kanal. Aber jeder von Jacksons stampfenden Schritten war so lang wie drei von Fletchers. Er holte ihn am Rande des Kanals ein, aus dessen fauliger Oberfläche die Kadaver von Bettgestellen, Fahrrädern und Einkaufswagen ragten. Jackson streckte eine krallenbewehrte Hand aus, packte den Jungen an den Haaren und zwang ihn zum Stillstand; allein das zu tun, dieser Reiz der Macht, bereitete ihm fast ein sinnliches Vergnügen.
Der Junge stammelte vor lauter Angst. Jackson beugte seine schlanke, aber muskulöse Statur von einem Meter achtzig nach vorn und hieb ihm auf die Zähne. Erneut schlug er ihn mit den gewölbten Händen, linke Faust, rechte Faust, auf Stirn und Kiefer. Der Junge wälzte sich auf dem Boden, eine schmutzige Hand mit abgebissenen Nägeln hielt er verzweifelt hoch, um weitere Schläge abzuwehren.
Jackson hob seine Faust.
»Ich weiß nicht … ich weiß nicht, wo er ist!« Fletcher schrie aus seinem blutigen Mund. »Ich weiß nicht, wo er ist – ich schwöre!«
Jackson machte einen Schritt zur Seite und trat ihm in die Leiste. Die Stahlkappe des Stiefels schlug mit einem befriedigenden dumpfen Laut ein. Er schob seinen stacheligen Haarschopf mit beiden Händen zurück. Womöglich wusste der Junge tatsächlich nicht Bescheid, aber vielleicht auch doch. Jackson musste wohl noch ein bisschen überzeugender sein. Er griff nach ihm.
Fletcher schrie: »Nein, bitte … Ich weiß es nicht, ich schwöre! Bitte nicht, bitte nicht … BITTE TUN SIE MIR NICHT WEH!«
Kleine Gruppen von Menschen in Nachthemden standen auf den Balkonen und sahen den Feuerwehrleuten bei der Arbeit zu. Einige von ihnen hatten Babys und Kleinkinder auf dem Arm. Schläuche aus drei Tanklöschfahrzeugen schlängelten sich die Backsteinmauern hinauf und über die Betonbalkone zu der Wohnung im dritten Stockwerk. Das Feuer war gelöscht, nur eine schmutziggraue Rauchwolke quoll aus dem geschwärzten, zerborstenen Fenster und wehte in einer nördlichen Brise davon.
Ein Streifenwagen mit ausgeschaltetem Martinshorn und Blaulicht raste von der Hauptstraße in den Hof und hielt mit quietschenden Reifen und schwankender Federung an. Zwei Uniformierte, klobig und mit kantigem Körperbau, sprangen heraus und rannten zur Treppe. Eine schlankere Gestalt mit runden Schultern und einem unförmigen Regenmantel, den man schon vor Jahren an Oxfam hätte geben sollen, kletterte ebenso heraus und watschelte hinter ihnen her. Er hielt inne und blickte zum Fenster hinauf. Das helle Flackern der Bogenlampen, die von der Feuerwehr aufgestellt worden waren, leuchtete den Balkon wie eine Filmkulisse aus. Detective Sergeant Bill Otley schnupperte und kniff sich die Hakennase zu. Der bei der Polizei eingegangene Notruf hatte mindestens eine Leiche gemeldet. Das war zwar nicht unbedingt sein Fachgebiet, aber Otley besaß die Angewohnheit, seine Nase in Dinge zu stecken, die ihn nichts angingen.
Otley ließ sich Zeit, wie er es immer tat, und stieg das düstere Treppenhaus hinauf. Auf dem Treppenabsatz im dritten Stock – alles voller Wasserpfützen – blickte er sich um, den scharfen Augen in seinem schmalen, intensiven Gesicht entging nur wenig. Otley wirkte angestrengt, wie wenn er die Sportseite des Mirror las oder den Wetterbericht im Fernsehen verfolgte. Als wäre er jedem und allem gegenüber misstrauisch, auf der Suche nach der Schuld, dem wahren Motiv, hinter der unschuldigen Fassade des Lebens. Das Leben war alles andere als unschuldig, das wusste er verdammt gut; jeder war an etwas schuldig.
»Einige der Mieter wollen wissen, ob es sicher ist, wenn sie in ihre Wohnungen zurückkehren«, sagte eine Stimme aus dem Inneren.
Der Feuerwehrkommandant antwortete: »Halten Sie erst mal alle zurück. Wir überprüfen die Wohnungen direkt darüber und darunter.«
Die Sanitäter brachten die Leiche heraus. Nur diese eine. Otley stand ein paar Meter innerhalb des winzigen Flures und sah dabei zu, wie sie sie auf eine Bahre hoben und mit Plastikfolie abdeckten. Ihre Ausrichtung war seltsam. Die Hitze des Feuers hatte die verkohlten, spindeldürren, schwarzen Knochen so versteinert, wie die Leiche im Moment des Todes ausgesehen haben musste. Die Arme ragten wie steife Stöcke hervor. Die Beine waren angewinkelt, die Füße nach unten gerollt. Der Schädel war ein formloser Knubbel aus klebrigem Teer.
Otley drückte sich an die Wand, um sie passieren zu lassen. »Hat jemand einen Ausweis gefunden?«
»Machen Sie Witze?«, entgegnete einer der Sanitäter, der die Trage durch die Eingangstür manövrierte. »Man kann noch nicht einmal sagen, ob die Person männlich oder weiblich ist!«
Otley grinste. Er ließ sie gehen und streckte seinen Kopf in das Wohnzimmer. Die Bogenlampen warfen grelle Schatten auf die Feuerwehrleute und die beiden uniformierten Beamten, die in den Trümmern herumwühlten.
Der Feuerwehrkommandant gestikulierte. »Kann jemand einen Laufrost auf dem Balkon anbringen?«
Otley zog sich durch den Korridor zurück. Als er hinausging, vernahm er einen der uniformierten Beamten: »Die Wohnung gehört einem Vernon Reynolds. Lebt allein. Alter zwischen Ende zwanzig und Anfang dreißig.«
Otley kniff sich in die hakige Nasenspitze und stieg in die Dunkelheit des Treppenhauses hinab.
»Ich dachte, es wäre vielleicht ganz nett, heute Abend im Zimmer zu essen«, sagte Jake Hunter. Er lümmelte sich auf dem Beifahrersitz, einen Arm lässig auf der Rückenlehne von Tennisons Sitz abgelegt, als sie ihn zum Duke's Hotel an der St. James's Street fuhr. Dort hatte sein Verleger ihm eine Suite gebucht. An seinen Lippen baumelte ein Stumpen. Er wirkte wie ein Schauspieler, der sich nach einer Vorstellung ausruhte. Aber in Jane Tennisons Gesellschaft fühlte er sich immer wohl. Auch ihr ging es in seiner Gegenwart so, obwohl sie sich hin und wieder fragte, warum zum Teufel das der Fall war.
Zehn Jahre war es her, dass er das letzte Mal hierhergekommen war. Damals hatten sie sich kennengelernt, und aus ihrer Affäre war eine Langzeitbeziehung geworden. ›Langfristig‹ im Sinne von sieben Monaten und vierzehn Tagen, die sie zusammen in Janes Wohnung in Chiswick gelebt hatten.
Als Detective Sergeant bei der Lambeth Met hatte sie einen Kurs am Bramshill Officer Training College besucht, wo Jake Gastdozent gewesen war. Sie war ungebunden gewesen, und er ebenso. Bei einem abendlichen Drink in der Bar und einer fast augenblicklichen gegenseitigen Anziehung waren sie auf natürliche und unvermeidliche Weise ein Liebespaar geworden. Mit ihren vierunddreißig Jahren war Jane keine unschuldige Jungfrau mit leuchtenden Augen mehr. Jake, zwei Jahre älter als sie, war in seinen Zwanzigern verheiratet gewesen; seine Frau war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, noch ehe sie ihren ersten Jahrestag gefeiert hatten. Doch als sie ihre Affäre begannen, war keinem von ihnen klar, worauf sie sich einließen. Und als sie es dann merkten, war es zu spät, etwas dagegen zu unternehmen.
Früher oder später hatte sie sich jedoch mit einer unangenehmen Tatsache konfrontieren müssen. Jake sollte in die USA zurückkehren, um seine beratende Funktion bei der Pathologie- und forensischen Forschungsabteilung der New Yorker Polizei anzutreten. Jane war kurz vor ihrer Beförderung zum Detective Inspector gestanden – wofür sie hartnäckig gekämpft hatte – und hatte die Chance erhalten, die Leitung des Reading Rape Centre zu übernehmen.
Für sie beide gab es keinen Mittelweg. Sie hatten sich ihrer Karriere verschrieben und waren ebenso sehr verliebt. Dies unter einen Hut zu bekommen war ausgeschlossen. Also war Jake nach Hause zurückgekehrt, Jane hatte ihre Beförderung erreicht und war nach Reading gezogen.
Seitdem hatte sich nicht mehr viel getan. Ein paar Postkarten, Telefonate, ein Geburtstagsgruß – den sie, sorgfältig formuliert, an sein Büro gesandt hatte. Das war das Ende der Geschichte, bis vor drei Wochen, als die Flamme wieder entfacht worden war.
Tennison war sich seines sanften, eher amüsierten Blicks bewusst und konzentrierte sich umso mehr auf die Fahrbahn.
»Ich finde, heute Abend ist es wirklich gut gelaufen«, sagte Jake. Das war keine Prahlerei, sondern eine simple Benennung von Tatsachen. »Besser als letzten Dienstag. Es fühlte sich entspannter an, meinst du nicht auch?«
»Oh, du beeindruckst mich immer«, entgegnete Tennison mit einem Hauch von Spott, obwohl es zutraf. Das tat es immer. »Wie lange wirst du unterwegs sein?«
»Zwei Wochen.«
Sein Verleger hatte neun Vorträge und doppelt so viele Signierstunden von Brighton bis Edinburgh angesetzt, ein straffer Zeitplan.
»Kommst du mit mir?«
Tennison zögerte. Dann schüttelte sie entschlossen mit dem Kopf. »Ich wollte es dir schon lange sagen. Ich trete eine neue Stelle an …«
»Aahhh …« Jake pustete Rauch gegen die Windschutzscheibe und nickte wissend. Das hatte er vermutlich erwartet. Natürlich hatte er das.
»Fahren wir immer noch zurück zum Hotel?«, fragte er, wobei er seine Stimme neutral hielt.
»Ja«, antwortete Tennison gleichmäßig, ohne eine Pause einzulegen. »Nur auf einen Drink.«
Mike Chow, der leitende Pathologe, und seine drei Assistenten in ihren langen grünen Plastikschürzen und weißen Gummistiefeln bereiteten den Leichnam für die Autopsie vor. Die Leiche lag auf dem Edelstahltisch und war in eine natürlichere Position gebracht worden. Die geschwärzten Arme ruhten gerade an den Seiten, die Beine waren aus ihrer defensiven fötalen Hocke gelöst worden.
»Okay«, sagte Mike Chow und stocherte mit einem Stahlspatel in den verkohlten Stofffetzen herum, »wir entfernen die Kleidung und sehen, was übrig bleibt.«
Ein Polizeifotograf bewegte sich um den Tisch und machte Blitzlichtaufnahmen aus jedem Winkel. Einer der Assistenten begann, die verbrannte Kleidung mit seinen behandschuhten Fingern vorsichtig abzuziehen.
Der Pathologe beugte sich vor und sah sich den Kopf der Leiche genau an. Ein paar angesengte Strähnen rotbraunen Haares klebten noch an dem grauen Schädelklumpen. Es ließ sich jedoch unmöglich sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.
Mike Chow nahm sein Klemmbrett in die Hand und blätterte eine Seite um. Er blinzelte durch seine Brille. »Das könnte ein … sein.« Ein Stirnrunzeln trübte sein Gesicht, als er sich umdrehte und die Leiche anstarrte. »Vera Schrägstrich Vernon Reynolds. Was hat das zu bedeuten?«
Sie hatten in Jakes Suite ein spätes Abendessen eingenommen, das für Hotelverhältnisse erstaunlich gut war. Dazu eine Flasche alten Chateauneuf-du-Pape und zwei große Brandys zu ihrem Kaffee. Jake lag auf dem Bett, die Weste aufgeknöpft, die Krawatte locker aus dem geöffneten Kragen gezogen. Er trug immer noch seine schicken Kuhfellstiefel, was ihm nicht schadete, sondern die Aura seines völligen Wohlbefindens noch verstärkte.
Tennison stand an dem kleinen Tisch neben dem Fenster und blätterte in einem der zwanzig darauf gestapelten Exemplare von Jakes Buch. In der Buchhandlung hatte sie einen Aufsteller mit einer Vergrößerung des Schutzumschlags und mehreren Hochglanzfotos von Jake mit seiner seriösesten Miene gesehen. Eines davon nahm die gesamte Rückseite des Buches ein, das Tennison in der Hand hielt.
Sie las den Klappentext auf der Innenseite des Umschlags, blickte auf und lächelte. »Du hast dein Alter um vier Jahre verringert!«
Jake ließ träge die Beine sinken und stand mit hängenden Schultern auf. Er war keineswegs verlegen. »Serienmörder sind ein lukratives Geschäft.«
Seine Stimme klang ein wenig undeutlich, als er eine schnippische Geste in Richtung des Bücherstapels machte.
»Bedien dich. Nun, sie waren ein lukratives Geschäft – letztes Jahr! Ich schätze, ich habe idealen Zeitpunkt zum Absahnen schon verpasst.« Er warf ihr einen Blick unter seinen sonnengebleichten Augenbrauen zu. »Wäre fast die Geschichte meines Lebens geworden.«
»Darf ich?«, fragte Tennison und hielt das Buch hoch.
»Eins? Bloß eins?« Jake kam herüber und nahm einen Stift in die Hand. »Wenn du nur eines nimmst, bekommst du acht Freiexemplare«, drohte er und wedelte mit dem Stift.
Tennison legte ihren Arm auf seine Schulter, während er sich zum Schreiben vorbeugte. Sie lächelte, als sie die Widmung las. Sehr persönlich, aber nicht so intim – oder verfänglich –, um sie nicht mit Stolz ein oder zwei engen Freunden zeigen zu können. Sie schenkte ihm eine Umarmung.
»Ich danke dir.«
Jake nahm ihre Hand in seine beiden. »Warum kommst du nicht mit mir?«
Der Wein und der Brandy waren ihm vielleicht zu Kopf gestiegen, aber sie wusste, dass er es ernst meinte und nicht nur herumalberte.
»Ich will nicht wieder verletzt werden«, sagte Tennison leise.
»Wieder? Das ergibt doch keinen Sinn.«
Sie schluckte. »Jake, es gab niemanden sonst, bevor … du weißt schon.« Zehn Jahre später war die Erinnerung noch nicht verblasst, obwohl sie den Schmerz ausgetrieben hatte, zumindest dachte sie das. »Es ging einfach zu schnell. Es war eine so weitreichende Entscheidung.«
»Warum hast du dann nicht mit mir darüber geredet?«
»Weil du sonst die Entscheidung getroffen hättest. Für mich.«
Er hob eine Augenbraue und beobachtete sie aufmerksam. »Wäre das so schlimm gewesen?«
»Es hat keinen Sinn, im Nachhinein darüber zu diskutieren«, befand Tennison und zog ihre Hand zurück. Sie wandte sich ab.
»Für dich vielleicht nicht, aber für mich schon. Ich wollte dich heiraten. Ich wollte Kinder mit dir haben, das weißt du.« Seine Stimme war jetzt felsenfest, jegliche Unsicherheit wie weggefegt. »Glaubst du nicht, dass ich mehr verdient habe als einen Abschiedsanruf …? ›Es tut mir leid, Jake, es wird nicht funktionieren.‹« Er schüttelte langsam und traurig den Kopf. »Du hast dem nie eine Chance gegeben.«
Tennison drehte sich um. In einem Ton scharfer Anschuldigung rief sie: »Ich wusste nicht, dass du nicht zurückkommen würdest.«
»Was hast du von mir erwartet? Dass ich dir nachlaufe?« Er breitete hilflos die Hände aus. »Du hast gesagt, es sei vorbei, dann hast du aufgelegt. Und jetzt tust du genau dasselbe. Wovor hast du solche Angst?«
»Das ist ein bisschen lächerlich.« Tennison ballte ohnmächtig die Fäuste. Hätte sie doch nur vernünftig gehandelt, wie die reife Frau, die sie war, und sich von ihm ferngehalten. Wenn sie nur nicht immer noch wie verrückt auf ihn abfahren würde. »Das ist alles schon lange her, und es ist nicht mehr dasselbe wie früher.« Wenn es nur so wäre! »Ich hätte mich nicht wieder mit dir treffen sollen …«
»Warum bist du heute Abend gekommen?«, fragte Jake leise.
»Vielleicht konnte ich einfach nicht die Finger von dir lassen«, erwiderte sie, seinen Augen ausweichend.
»Bleib einfach heute Nacht«, sagte Jake, noch leiser. »Dann gehe ich auf meine Tour, und du gehst …?« Er gestikulierte.
»Zur Sitte. Ich werde ein Sittendezernat leiten.« Tennison schaute nicht zu Jake, aber sie war sich seiner Annäherung sehr bewusst. Ihre Bauchmuskeln verkrampften sich vor Anspannung. Seine Finger berührten sanft ihre Schulter, drehten sie zu ihm hin. Langsam legte er seine Arme um sie und zog sie an sich. Seine Wärme, seine Nähe, der moschusartige Geruch seines Rasierwassers, vermischt mit Zigarettenrauch, raubten ihr den Atem. Sie machte keinen Versuch, sich zu wehren.
»Ich darf nicht«, wisperte sie und blickte mit ihren graugrünen Augen direkt zu ihm auf. Er berührte ihre Wange. »Ich darf nicht.«
Bereits vor neun Uhr dreißig hatte Commander Chiswick zweimal versucht, Superintendent Halliday zu erreichen, ohne Erfolg. Hoffentlich hatte er beim dritten Mal Glück. Leicht gebückt, mit schütterem, grauem Haar, stand der große Chiswick am Fenster seines Büros im neunten Stock von New Scotland Yard, das Telefon in der Hand, und blickte über das Victoria Embankment auf die Themse hinaus, die an ihrer trägen, eisengrauen Oberfläche kaum eine Welle zeigte. Eine tief hängende dunkle Wolke drohte mit dem unmittelbar bevorstehenden Regen, den der morgendliche Wetterbericht angekündigt hatte.
Er richtete sich auf, und seine Augen wurden scharf, als Halliday sich endlich meldete.
»Es ist öffentlich.« Chiswicks Tonfall war schroff. »John Kenningtons formaler Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen wurde angenommen. Das war's. Keine Option, wie ich gehört habe – Klage abgewiesen.« Er lauschte und atmete schwer vor Verärgerung. »Ich habe es gerade erst erfahren. Ich treffe Sie dort, einverstanden? Wir müssen hingehen, sonst sieht es verdächtig aus …«
Er warf einen hastigen Blick über seine Schulter, als seine persönliche Assistentin an die Tür klopfte und mit einem Bündel geöffneter Post in der Hand hereinkam.
»Gut«, sagte Chiswick ungeduldig in das Telefon. »Ich mache mich jetzt besser auf den Weg zu Ihnen. Ihr neuer DCI sollte jede Minute da sein.«
Er knallte den Hörer auf die Gabel und lief zur Tür. Seine Assistentin hielt ihm die Post hin, aber er ging weiter und ignorierte sie. Seine schroffe Stimme hallte in den Raum zurück, als er ihn verließ. »Rufen Sie meine Frau an. Ich habe heute Abend ein Dinner. Bitten Sie sie, mir meinen Anzug zu schicken.«
Seine Assistentin öffnete den Mund, um ihn an etwas zu erinnern, aber es war zu spät, er war bereits verschwunden.
Als er beim Morddezernat in der Southampton Row gearbeitet hatte, war Bill Otley allen als ›Skipper‹ bekannt gewesen. Der Name war mit ihm weitergezogen, als er zur Soho Division in der Broadwick Street wechselte. Er war einer der dienstältesten Polizisten der Metropolitan Force, aber immer noch ein einfacher Sergeant. Seine persönlichen Probleme, seine verbohrte Einstellung, aber vor allem sein einsamer Alkoholkonsum hatten ihn aufgehalten. Seine Frau Ellen war acht Jahre zuvor an Magenkrebs gestorben. Sie hatten sich immer Kinder gewünscht, aber nie welche bekommen können. Seine Ehe war sehr glücklich gewesen, und seit ihrem Tod schien es, als wäre Skipper Bill Otley jegliche Wärme, Licht und Freude entzogen worden. Er lebte allein in einem kleinen Reihenhaus im East End und vermied emotionale Verstrickungen. Die Arbeit, und nichts anderes als die Arbeit, hielt ihn zusammen, gab einer ansonsten sinnlosen Existenz einen gewissen Zweck. Ohne sie hätte er nicht zweimal darüber nachgedacht, seinen Kopf in den Gasherd zu stecken.
Ab und zu winkte der Gedanke noch, wie eine lächelnde Verführerin, meist wenn der Mond voll war oder Chelsea ein Heimspiel verloren hatte.
Otley lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück, einen Styroporbecher Kaffee mit zwei Stück Zucker auf dem Schreibtisch neben seinem Ellbogen, und gab dem metallenen Papierkorb einen Tritt, der wie ein Gong klang. Alle sahen sich um. Die gesamte Mannschaft des Sittendezernats war anwesend, zehn Männer und fünf Frauen. Letztere fungierten als Verwaltungspersonal, wie es in diesem chauvinistischen Dinosaurier von einer Institution, der britischen Polizei, üblich war.
»Sollen wir den ganzen Morgen hier sitzen?«, forderte Otley spöttisch. Das Team war versammelt, um seine neue DCI, Jane Tennison, offiziell in Empfang zu nehmen. Es war fünf Minuten vor zehn und keine Tennison in Sicht. Otley war stinksauer, und das musste er natürlich allen mitteilen.
Inspektor Larry Hall kam vorbei und schlug Otley die Handschellen auf den Hinterkopf. Hall hatte ein rundes, glatthäutiges Gesicht und große, sanfte braune Augen, und als Ausgleich zu diesem jungenhaften Äußeren trug er schnittige Anzüge und schicke Krawatten, jeden Tag eine andere, wie es schien. Außerdem hatte er eine vorzeitige Glatze, weshalb er die Haare, die ihm noch verblieben waren, stets dicht an der Kopfhaut abschnitt, um den Kontrast zu minimieren.
Hall wandte sich dem Raum zu. »Gut, Leute, ich schlage vor, wir geben uns noch fünf Minuten« – Otleys finsteren Blick ignorierte er geflissentlich – »und machen mit dem Tagesprogramm weiter. Wir brauchen eine Identifizierung der Leiche, die gestern Abend in der ausgebrannten Wohnung gefunden wurde.«
»Die wollüstige Vera mietet sie.« Otley schenkte Hall ein abfälliges Grinsen. »Aber die war nicht die Tote. Es war ein Junge zwischen siebzehn und zwanzig.«
»Wir machen wohl Überstunden, was?«, rüffelte Hall ihn. Aber für Otley waren es keine Überstunden, wie jeder wusste. Er war Tag und Nacht mit den Ermittlungen beschäftigt und träumte wahrscheinlich auch von dem Job.
»Es scheint mir nicht so, als wäre sie übereifrig, anzufangen«, erwiderte Otley, der immer das letzte Wort hatte. An Tennison herumzunörgeln, bereitete ihm eine besondere Genugtuung. Er hatte die ›eierlegende Wollmilchsau‹ schon damals nicht gemocht, als sie in Southampton Row zusammen am Mordfall Marlow gearbeitet hatten, und daran hatte sich nichts geändert, dessen war er sich verdammt sicher.
Er trank seinen Kaffee in einem Zug aus, und anstatt wie die anderen Trottel zu warten, machte er sich auf den Weg zum Leichenschauhaus, das nur ein paar Blocks und zehn Minuten Fußmarsch entfernt lag, nördlich der Oxford Street.
Mike Chow war im Schleusenraum und zog seine Maske und Handschuhe aus. Er ließ die rußgeschwärzten Handschuhe in den Verbrennungsofen fallen und füllte gerade die Schüssel mit heißem Wasser, als Otley seinen Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Was hast du zu dem gegrillten Jungen?«
»Ich muss weitere Tests machen, aber er hatte einen üblen Riss über den gesamten Schädel.« Der Pathologe schaute über seine randlose Brille hinweg. »Die Beine und ein Arm weisen Verbrennungen dritten Grades auf, Hitzeschürfungen, der Rest des Körpers ist verbrannt.«
Otley neigte den Kopf und deutete an, dass er einen Blick darauf werfen wolle. Mike Chow nickte, wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und führte ihn in das Labor. Er zog sich ein frisches Paar Handschuhe an.
»Das Carboxyhämoglobin ist erhöht – das Blut ist aufgrund des hohen Anteils an Carboxyhämoglobin rosa.«
Otley betrachtete die Überreste des Schädels auf einem Metalltablett auf dem Labortisch. Dann inspizierte er eingehend die illuminierten Röntgenaufnahmen von Zähnen und Schädel, die im Leuchtkasten an der Wand hingen. Mit einem Blick über die Schulter und heruntergezogenen Mundwinkeln vermittelte er Mike Chow sein für ihn so typisches Bild eines verbitterten, lebensüberdrüssigen Jagdhundes. »Verdammter Mist … Das sieht ja aus, als hätte ihn jemand mit einer Axt bearbeitet!«
Scheiße und Verderbnis! Der erste Tag auf ihrem neuen Posten und sie war über eine Stunde zu spät. Nachdem sie die Nacht im Hotel verbracht hatte, war sie erst gegen zehn Uhr wieder in ihrer Wohnung angekommen. Sie hatte sich frischgemacht, ihre Aktentasche geschnappt und sich durch den Verkehr gekämpft. Sogar der Commander war vor ihr gekommen. Er hatte bereits gewartet, um sie herumzuführen und ihr das Gebäude zu zeigen, doch zum Glück schien er zu sehr mit etwas anderem beschäftigt zu sein, um seinen Unmut zu äußern.
Tennison mühte sich, mit Chiswick Schritt zu halten, als er den Hauptkorridor entlanglief, befreite sich zuckend aus ihrem Regenmantel und versuchte sich dabei mit den Füßen nicht in ihrer Aktentasche zu verfangen.
»Es gab eine Bombendrohung, daher wurde der gesamte Verkehr umgeleitet, und dann war mein Akku leer, also habe ich …« Es klang erbärmlich, und sie wusste es. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin.«
Chiswick schien nicht einmal zuzuhören. Er wies auf eine Doppeltür mit Milchglasscheiben, ohne in seinem Lauf innezuhalten. Er schien es verdammt eilig zu haben. »Das ist das Büro der Abteilung Squad. Ihnen ist ein gutes, fleißiges Team zugeteilt worden.«
Tennison nickte atemlos.
Er drehte eine Klinke und stieß eine Tür zu einem Raum auf, den Tennison zunächst für die Besenkammer einer Reinigungskraft hielt: ein nackter Holzschreibtisch, ein Stuhl mit Metallgestell, verstaubte Bücherregale, drei Aktenschränke, eine kleine Plastikvase mit einer vor sich hinwelkenden Blume.
»Wenn Sie es sich gemütlich machen wollen …« Chiswick war bereits im Begriff, sich zu entfernen, und ließ sie auf dem teppichlosen Boden stehen. »Ich werde mal schauen, ob Superintendent Halliday etwas arrangiert hat. Er sitzt gleich nebenan.« Der Commander deutete auf die Wand, die mit einer Farbmischung aus verdorbenem Senf und Nikotin gestrichen war.
Er ging hinaus und schloss die Tür.
Tennison warf ihre Aktentasche auf den Schreibtisch und wirbelte dabei eine Staubwolke auf. Eine Duftnote lag im Raum, die sie nicht identifizieren konnte. ›Tote Katze‹ vielleicht. Ein klappriges Rollo verdeckte das Fenster. Sie zog es hoch, in der Hoffnung auf etwas Licht und Weite. Es ratterte nach oben, und sie starrte hinaus auf eine leere Backsteinwand.
Sie drehte sich um und rief »Herein«, als es an der Tür klopfte. Sie vernahm ein schlurfendes Geräusch. Mit einem Seufzer ging Tennison zur Tür und öffnete sie. Davor entdeckte sie eine rotgesichtige Polizistin in Uniform, die unter einem Stapel von Akten und Ringbüchern erdrückt zu werden drohte. Tennison trat beiseite und sah zu, wie das pummelige, eher unscheinbare Mädchen mit kurzen dunklen Haaren hereinstolperte und die Akten auf dem Schreibtisch ablegte, was noch mehr Staub aufwirbelte.
»Sie sind?«
»WPC Hastings. Norma. Ich wurde beauftragt, Ihnen dies zu bringen.«
Kein ›Ma'am‹. Ging es hier so locker zu oder war das einfach nur Nachlässigkeit?
Tennison verschränkte die Arme. Langsam und vorsichtig, nichts überstürzen. »Ist da eine Liste mit allen Officers der Truppe dabei?«
Die schwitzende und aufgeregte WPC Hastings runzelte die Stirn. »Haben Sie heute Morgen keine bekommen?«
Sie hatte große, eckige Zähne mit einer Lücke in der Mitte.
»Ich bin gerade erst eingetroffen«, erklärte Tennison, atmete gleichmäßig und versuchte nicht gereizt zu klingen, obwohl sie es bereits war. »Wenn Sie das sofort erledigen könnten und dafür sorgen, dass sich alle in der Einsatzzentrale versammeln?«
»Die meisten sind nicht da.« Norma zuckte mit den Schultern. »Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein, nur die Liste«, sagte Tennison geduldig.
Die junge Frau verließ das Zimmer. Tennison blickte sich in ihren vier Wänden um. Das musste ein Scherz sein. Heute war doch nicht der erste April, oder? Sie sah die Akten durch, dann versuchte sie es mit der obersten Schublade des Schreibtischs. Die kam fünf Zentimeter heraus und blieb dann stecken. Sie probierte die nächste, und die klemmte schon nach zweien. Sie trat sie zu, was ihren großen Zeh zum Pochen brachte und sie selbst zum Fluchen. Was für ein muffiges Drecksloch war das?
Superintendent Halliday war ein gepflegter, anspruchsvoll aussehender Mann mit kurzem, blondem Haar und klarblauen Augen, die von hellen Wimpern umrandet waren. Er war nicht gerade klein – er war fast einen Meter achtzig groß und hatte knochige Schultern, die den Stoff seines dunkelgrauen Anzugs anspannten –, aber auch nicht besonders kräftig, so Tennisons erster Eindruck. Von dem Moment an, als sie sein großes, geräumiges, hübsch eingerichtetes Eckbüro (direkt neben ihrem Kaninchenstall!) betrat, warf er immer wieder einen Blick auf die goldene Rolex an seinem sommersprossigen Handgelenk. Sie hatte zwar nicht mit einer Begrüßung gerechnet, aber zumindest hätte er ihr die Höflichkeit entgegenbringen können, die einem hochrangigen Officer gebührte, der im Begriff war, die Leitung des Sittendezernats zu übernehmen. Das hätte er auch getan, dachte Tennison, falls sie nur ein Mann gewesen wäre.
»Ich möchte, dass Sie der Operation Contract Ihre volle und sofortige Aufmerksamkeit widmen. Ich weiß, dass es ein neues Gebiet für Sie ist, aber ich bin sicher, dass Ihre Erfahrung ein zusätzlicher Vorteil sein wird.«
Das Einfühlungsvermögen einer sprechenden Uhr, dachte Tennison bei sich. Als ob er es im Schlaf einstudiert hätte. Sie hatte keine Ahnung, was Operation Contract war. Sie überlegte, ob sie ihn fragen sollte, entschied sich dann aber, ihm keinen Grund zu liefern, sie zu traktieren, indem sie ihre Unwissenheit zur Schau stellte. Sie nickte, um bereitwillig zu wirken.
Halliday tippte mit manikürten Fingern auf den Schreibtisch. »Wir müssen unbedingt Ergebnisse erzielen – und zwar schnell. Es wurde schon genug Zeit vergeudet.«
Er schloss seine Manschette und blickte erneut auf seine Uhr.
»Ich hatte noch keine Zeit, mich mit einem der Fälle vertraut zu machen.« Tennison war abgelenkt, als WPC Hastings eintrat, ohne anzuklopfen. Halliday zeigte keine Anzeichen, deren Anwesenheit zu bemerken. Norma drapierte einen schwarzen Abendanzug in einer Reinigungstasche über die Rückenlehne eines Stuhls und ging hinaus.
»… mit den Fällen, die ich übernehmen werde. Aber, äh – Operation Contract werde ich zu meiner Priorität machen.«
Halliday stand auf. »Gut.« Er streckte seine Hand aus. Tennison schüttelte sie. »Das Team wird Sie über unsere bisherigen Fortschritte informieren.« Ein weiterer schneller Blick auf die Rolex. »Ich habe Sie früher erwartet.«
Es grenzte ja an ein Wunder, dass er sich erinnern konnte, wer sie überhaupt war, dachte Tennison im Stillen und verließ sein Büro.
Sergeant Otley schnippte den Zuckerwürfel in die Untertasse. Er tat es noch zweimal, den Kopf auf die Hand gestützt, den Ellbogen auf den Tisch. Vera beobachtete ihn mit schweren, seelenvollen Augen, die Hände drehten sich nervös in ihrem Schoß, und ihr Hals wölbte sich, ihr Adamsapfel kräuselte sich wie ein gefangenes Wesen. Inspector Hall stand mit lässig verschränkten Armen neben der Tür des Verhörraums. Er war gespannt und insgeheim auch amüsiert, wie der Skipper mit Vernon Schrägstrich Vera Reynolds umgehen würde. Da war zunächst einmal die leidige Frage nach dem Geschlecht.
»Ich habe es Ihnen doch schon erzählt … Ich habe die Show gemacht und bin dann mit ein paar Freunden essen gegangen.« Die Antwort war halb geflüstert, aber die Stimme klang werde lispelnd noch gekünstelt.
Abseits der Bühne putzte Vera sich nicht wie eine Drag-Queen heraus. Sie machte kein Geheimnis daraus, wer und was sie war, kleidete sich jedoch schlicht und konservativ, bevorzugte eine einfache Bluse in Altrosa, einen geraden, dunklen Rock und Slingback-Lederschuhe mit niedrigen, quadratischen Absätzen. Ein paar Ringe und eine violette Perlenkette waren ihre einzigen Schmuckstücke. Unter ihrer Perücke und dem Make-up besaß Vera ein ziemlich kräftiges Gesicht, fand Hall, mit festen Knochen, obwohl der wohlgeformte und feinsinnige Mund ein eindeutiges Indiz war.
Otley schnippte den Zuckerwürfel.
»Und Sie wissen nicht, wer sich in Ihrer Wohnung aufgehalten hat?«, erkundigte er sich in seinem üblichen düsteren Ton.
Vera schüttelte leicht den Kopf.
Hall legte seine Hände auf die Lehne von Otleys Stuhl und beugte sich vor. »Vernon«, sagte er nicht unfreundlich, »wenn ich rausgehe und jemanden in meiner Bude pennen lasse, wäre ich nicht so dumm, zu behaupten, dass ich ihn nicht kenne. Ich meine, das ist doch dumm, oder?«
Vera warf ihre Hände in die Höhe, die Knöchel rot, wo sie sie geknetet hatte. Sie schluckte schwer, und ihr Adamsapfel machte eine doppelte Drehung. »Es hätten alle möglichen Leute sein können – es ist bekannt, dass ich einen Schlüssel oben auf der Haustür hinterlasse.«
Otley gab einen Laut von sich, eine Art gedämpftes Schnauben. Er seufzte, schüttelte den Kopf und zerbröselte den Zuckerwürfel zwischen seinen langen, harten Nägeln.
»Ungefähr siebzehn Jahre alt?«, fuhr Hall fort. »Rotblondes Haar … Klingelt's da bei Ihnen?«
Vera biss sich auf die Lippe und starrte auf den Tisch hinunter. Dann schüttelte sie schnell und fest den Kopf. Sie wappnete sich für die nächste Frage, als sie von Norma davor bewahrt wurde, deren Gesicht an der kleinen Glasscheibe in der Tür auftauchte. Sie klopfte und steckte den Kopf herein.
»Das Feuerwehrteam möchte Mr Reynolds so schnell wie möglich sprechen. Und es gibt Sandwiches und Kaffee im Mannschaftsraum. Können Sie dafür sorgen, dass sich alle um Punkt zwölf Uhr dreißig dort einfinden?« Norma wackelte mit ihren dunklen, ungezupften Augenbrauen. »Sie ist hier.«
Während Inspector Hall Vera Reynolds hinausbegleitete und in die Obhut von zwei Uniformierten gab, folgte Otley Norma durch den Korridor zu Tennisons Büro, in dem Tennison im Moment nicht anwesend war. Der Skipper spähte hinein, ein böses Grinsen im Gesicht, und beobachtete, wie Norma in der schummrigen, staubigen Abstellkammer krampfhaft eine der Schreibtischschubladen zu öffnen versuchte. Sie schaute auf und wurde stutzig.
»Das wird ihr nicht gefallen«, sagte Otley schadenfroh und rieb sich die Hände.
»Sie ist nicht hier, Sergeant. Das sollten Sie auch nicht sein«, erwiderte Norma spitzfindig.
Otley lachte.
Tennison klappte ihren Füllfederhalter mit einem entschlossenen Klicken zu und stand auf. Sie zerrte ihr Jackett vorne gerade und kam um den Schreibtisch herum, um sich ihnen zuzuwenden. In der Einsatzzentrale herrschte Stille. Sie war nicht sehr groß, weniger als einen Meter siebzig, und ihr honigblondes Haar war ihr in die Stirn geschnitten, sodass sie in einem Raum voller kräftiger Männer fehl am Platz wirkte; alle Polizistinnen bis auf eine waren größer als sie, auch wenn sie nicht ihre runde, sinnliche Figur besaßen.
Die Spannung in dem heißen, überfüllten Raum war fast greifbar. Tennison war sicher nicht entspannt, und sie waren es auch nicht. Ein neuer Detective Chief Inspector an der Spitze der Sittenpolizei könnte jede Menge Ärger bedeuten, und sie hatte bereits zwei Punkte zu ihren Ungunsten. Zum einen ihr Ruf als hartnäckige, rund um die Uhr arbeitende Besessene, die ihr Team bis an die Grenzen auslastete, und zum zweiten die Tatsache, dass sie eine Frau war. Selbst die WPCs waren da misstrauisch.
Die Finger in der Taille verschränkt, die Füße gespreizt, ließ Tennison die Stille einen Moment lang auf sich wirken. Sie wollte von Anfang an die Kontrolle, und sie war fest entschlossen, sie auch zu bekommen.
»Ich bitte um Entschuldigung. Mein erster Tag war kein guter Start.« Ein kleines Lächeln. Lass sie wissen, dass du es dir leisten kannst. »Ich brauche natürlich die Unterstützung aller, und ich wäre auch dankbar, wenn …« Sie bemerkte eine Bewegung, als Hall hereinschlüpfte. Er schenkte ihr ein schwaches, entschuldigendes Lächeln, und sie erwiderte ein knappes Nicken.
Er schnappte sich ein Sandwich vom Tablett der Cafeteria und hatte es schon halb im Mund, als Tennison sagte: »Sie sind Inspector Lawrence Hall, richtig?«
Er nickte, den Mund offen, das Sandwich nicht angebissen.
»Gut, dann lassen Sie uns auf der richtigen Grundlage beginnen, ja? Wenn ich alle bitte, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sein, und nur falls Sie keine gute Entschuldigung haben –«
»Es tut mir leid«, unterbrach Hall, »aber ich musste dafür sorgen, dass Reynolds zur Feuerwehr gebracht wurde. Ich habe gewartet –«
»Ist Sergeant Otley bei Reynolds?«, fragte Tennison scharf.
Hall zögerte. »Ja«, log er. »Sie wissen von dem Feuer, oder?«
Tennison nickte und verschränkte langsam die Arme. »Warum sind dieses Feuer und der Junge von solchem Interesse für Sie oder diese Abteilung? Ich kenne Vernon Reynolds. Ich weiß, was er ist, aber das verstößt nicht gegen das Gesetz.«
»Nun, erstens lag es in unserem Zuständigkeitsbereich. Und zweitens in dem Gebiet, das wir im Rahmen der Operation Contract ins Visier genommen haben, Euston und St. Pancras. Der tote Junge war möglicherweise ein Callboy.« Hall blickte zur Tür und wünschte, Otley würde auftauchen. »Vernon hat wahrscheinlich ein paar Pfund dafür kassiert, dass er denen seine Wohnung überlassen hat.«
»Hat er das zugegeben?«
Hall wurde unter ihrem Blick unruhig. Wo zum Teufel blieb Otley? »Nein, Ma'am … aber das wird er wohl auch nicht. Er sagt, er wisse nicht einmal, wer das in seiner Wohnung war.«
Tennison ahnte, dass die Dinge außer Kontrolle gerieten. Das sollte sie im Keim ersticken. Sie wollte keine Eigenbrötler in ihrem Team. Zügig entgegnete sie: »Ich möchte einen vollständigen Bericht über diese Feuersache, und dann werde ich Ihnen sagen, ob diese Abteilung die Untersuchung fortsetzen möchte oder nicht. Unsere Priorität gilt der Operation Contract.«
Hall starrte auf seine Füße. Die anderen Beamten, die Sandwiches mampften und Kaffee schlürften, tauschten Blicke aus. Der erste Morgen, an dem sie hier war, und sie warf all ihr Gewicht in die Waagschale. Vermutlich bezweifelten sie, dass der Dienst unter ihr spaßig werden würde.
Mit einem knappen Kopfnicken signalisierte Tennison, die Arbeit fortzusetzen. Die Beamten kehrten zu ihren Schreibtischen zurück, zu ihren Papierbergen, und griffen nach ihren Telefonen. Sie alle waren sich ihrer strengen Kontrolle bewusst: ein neues Regime, eine neue Chefin und sie mussten sich bewähren. Tennison winkte einer der WPCs zu, die in einer kleinen Gruppe neben der wandlangen Aktenablage stand. Sie kam herüber, ein hochgewachsenes, auffälliges Mädchen mit offenen, ehrlichen Gesichtszügen und freundlichen blauen Augen.
»Wie heißen Sie?«
»Kathy.«
»Können Sie mir einen kurzen Überblick über die Operation geben?«
WPC Kathy Trent führte sie zu der großen Tafel hinüber. »Ich habe versucht, so viele der Kinder wie möglich zu befragen.«
Sie lächelte zaghaft und hilfsbereit.
Tennison hörte genau zu, während Kathy sie einführte. Nach wie vor hatte sie die Operation Contract nicht zur Gänze verinnerlicht. Die Tafel war mit Informationen vollgekritzelt. Unter dem Begriff ›TOMS‹ – was im Polizeijargon für weibliche und männliche Prostituierte stand – fand sich eine lange Liste von Namen und Orten: Waterloo Street, Golden Fleece, Earls Court, Euston Station, Stars & Stripes. Weiter hinten, unter der Überschrift ›OPERATION CONTRACT‹ gab es Fotos von Jungen, einige von ihnen nicht älter als elf oder zwölf Jahre, darunter Videostandbilder von Überwachungskameras an Supermarktkassen, Bahnsteigen von U-Stationen und Bahnhofshallen. Außerdem getippte Listen von Zielorten – Cafés, Coffeeshops, Straßenmärkte, Suppenküchen, Behausungen für Obdachlose – in verschiedenen Farben markiert. Von diesen wiesen Klebebänder zu einer übergroßen Karte des Londoner Zentrums mit Stecknadeln in den entsprechenden Farben. Mit schwarzem Filzstift war ein Dienstplan der überwachenden Officers erstellt worden, auf dem Datum, Uhrzeit und Häufigkeit vermerkt waren, allesamt mit Querverweisen auf die Aktennummer soundso. Auf den ersten Blick schien es sich um eine effiziente und umfassende Operation zu handeln, sorgfältig geplant und vorschriftsmäßig ausgeführt.
»Die meisten der älteren Callboys tragen Pager und mobile Telefone bei sich, also konzentriert sich unser Team – wir sind zu viert, Ma'am – auf die jüngeren, die sich in Soho herumtreiben.«
Kathy zeigte auf ein mit farbigem Filzstift beschriebenes Blatt, das ein Wirrwarr aus Sternchen, Pfeilen und Codenummern darstellte. »Wir haben das Golden Fleece, die Euston Station und Earls Court abgesteckt …«
Tennison nickte, froh darum, erst einmal zuzuhören und genügend Hintergrundwissen über die ganze Sache zu erhalten, um sie irgendwie in den Griff zu bekommen.
»Unser Problem ist, dass diese Kinder, sobald sie tatsächlich auf der Straße landen, diese Lebensweise längst akzeptiert haben.« Kathy klang nicht betrübt, sondern von der Realität ernüchtert.
Drüben an der Tür, hinter Tennisons Rücken, schlich Sergeant Otley herein und machte eine schnelle Geste zu Hall. Der Inspector huschte zu ihm hin.
»Sie waren bei Reynolds und dem Feuerwehrteam«, sagte Hall und tippte sich an die Nase.
»War ich nicht.« Otley grinste. »Ich war oben im Archiv, und wir haben …«
Er zog Hall hinter die halb geöffnete Tür, als Tennison in ihre Richtung blickte.
»Der Junge heißt Colin Jenkins, auch bekannt als Connie.«
Otley tätschelte Halls Arm. Dann gab er vor, zum ersten Mal hier einzutreffen, völlig ahnungslos, um Tennison, die elegant herübergeschritten war, von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.
»Entschuldigen Sie die Verspätung, Ma'am«, sagte Otley mit ernster Miene. »Aber ich habe nachgeschaut, ob ich die Schubfächer an Ihrem Schreibtisch in Gang kriege.«
Alle hatten es gehört, aber niemand lachte.
Tennison stand mit dem Rücken zum Fenster. Auf der anderen Seite des Schreibtischs stapelten sich drei Zentimeter dicke Akten. Otley wartete, das hämische Grinsen hielt er für den Moment zurück. Er hatte schon einmal mit dieser schlitzohrigen Schlampe zu tun gehabt und wusste, was auf ihn zukam.
Ihr Zimmer war immer noch ein einziges Chaos, obwohl es WPC Hastings gelungen war, eine funktionierende Schreibtischlampe und zwei weitere Stühle mit gerader Rückenlehne aufzutreiben, deren Lack derart abgenutzt war, dass das blanke Holz zum Vorschein kam. Im Moment hatte Tennison allerdings Wichtigeres zu tun.
»Hören Sie, Sergeant, ich bin nicht gewillt, mir von Ihnen irgendeinen Mist gefallen zu lassen oder dabei zuzuschauen, wie Sie welchen provozieren. Also lassen Sie uns reinen Tisch machen.« Tennison ruckte mit dem Kopf, die Augen hart wie Feuerstein. »Setzen Sie sich.«
»Nach dem Zustand Ihres restlichen Büros zu urteilen, sollte ich das nicht riskieren!« Otley zog einen Stuhl heran und nahm Platz, ein unsicheres halbes Lächeln schwebte auf seinem Gesicht. »Das war ein Scherz!«
»Wenn Sie nicht mit mir arbeiten wollen, kann ich Sie versetzen lassen.«
Otley studierte seinen Daumennagel. »Ich habe mich in Southampton Row danebenbenommen, aber trotzdem«, er zuckte mit den Schultern, »weiß ich, dass Sie gute Arbeit geleistet haben.«
»Danke«, sagte Tennison, ihr Sarkasmus war so scharf wie eine Säge. Ihr letzter Fall bei der Mordkommission war in rassistischer und politischer Hinsicht ein einziges Minenfeld gewesen. Ein halbwüchsiges Mädchen, das im Garten eines karibisch geprägten Viertels ausgegraben worden war, in dem es vor Abneigung gegen die Polizei nur so triefte. Trotzdem hatte sich Tennison an ihrem Job festgebissen wie ein Terrier an seinem Knochen. Sie hatte einen jungen Weißen aufgespürt und verhaftet, eine ekelhafte, sadistische Schlange, die gerne fotografierte, wie sie Schulmädchen fickte.
Otley schaute überall hin, nur nicht zu Tennison, als sie einen Stapel Akten von ihrem Stuhl nahm und sich setzte. Sie starrte ihn einen langen Moment an, ließ ihn ein wenig schwitzen und klappte dann den grünen Umschlag einer Akte auf. Sie tippte auf den Bericht.
»Ich habe eine Menge aufzuholen, also kommen Sie … Helfen Sie mir nun oder nicht?«
»Ich habe die Identität des Jungen festgestellt, der bei dem Brand in Reynolds' Wohnung ums Leben kam«, bot Otley ihr an. Er holte ein gefaltetes Blatt aus der Tasche seines zerknitterten Anzugs. »Er war ein Ausreißer, fünfzehn Jahre alt. Colin, genannt Connie, Jenkins. In allen staatlichen Heimen werden die Zähne der Kinder regelmäßig untersucht und in den Akten vermerkt …«
»Was hat dieser Junge mit der Operation Contract zu tun?«, fragte Tennison unverblümt.
Hier gab es Verbindungen, die sie nicht herstellen konnte. Otley und Hall schienen ihre eigenen Cowboy-Ermittlungen zu führen. Außerdem gab es eine Unterströmung in dieser Abteilung; sie hatte es sofort gespürt, nicht unbedingt Unbehagen, eher eine Art Lethargie, mangelnde Motivation. Sie musste dem auf den Grund gehen, bevor dieses ganze verdammte Chaos sie überrollte.
Sie ging mit Otley in die Einsatzzentrale und dort hinüber zur Tafel.
»Es sollte ein langsamer Start zu einer großangelegten Säuberungsaktion sein.« Er streckte seine Hand aus. »In allen Bereichen, auf die es ankam, halten sich für gewöhnlich die Callboys auf.« Unter seinen Augenbrauen blickte er sie an. »Das ist Hallidays Leidenschaft.«
»Ja … Und?«
»Genau das ist es – eine Säuberungsaktion.«
»Und warum ist das so eine große Sache? Warum dauert das so lange?«
»Weil es einen großen Pfusch gegeben hat – wenn Sie das Wortspiel entschuldigen!«, sagte Otley mit einiger Schärfe. »Ihr Vorgänger wurde abserviert. Jemand musste die Schuld auf sich nehmen.«
Tennison sah einen Lichtschimmer. Der gesamte Raum, in dem scheinbar gearbeitet wurde, verfolgte jedes Wort. Kathy und Norma starrten auf ihre grünen Bildschirme. Otley wollte gerade etwas hinzufügen, überlegte es sich anders und schaute hinüber zu Inspector Hall. Der kam auf sie zu, und die beiden Männer tauschten eine Art verschlüsselte Botschaft aus.
Hall wandte sich mit leiser Stimme an Tennison. »Ma'am, ein paar von uns denken genauso. Es gab ein Leck, das hat sich herumgesprochen. Da waren keine Akteure, keine Jungs auf der Straße.« Sein Ton wurde bitter. »Wir haben Wochen damit verbracht, uns auf eine große Aktion vorzubereiten, und standen mit leeren Händen da. Überwachungswagen, Beamte in Uniform und in Zivil – es war ein Fiasko. Es muss eine undichte Stelle gegeben haben, aber Chiswick und Halliday haben die Aktion immer weiter vorangetrieben.«
