Das Familienkind - Lise Gast - E-Book

Das Familienkind E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Terry ist ein lustiges, schlaksiges Mädchen, das wegen ihren vielen Sommersprossen und roten Haaren auffällt. Genauso viel Aufmerksamkeit erhält ihre Mutter Teresa: Beachtung von den Männern wegen ihrer Schönheit und Kopfschütteln von den Verwandten wegen ihrer Eigenwilligkeit. Terrys junge und verwitwete Mutter gelingt es immer wieder sich Hals über Kopf zu verlieben, ihre Tochter bei ihren Geschwistern abzuladen und von heute auf morgen zu vereisen... – wie auch jetzt. Im Gegensatz zur Verwandtschaft hat Terry jedoch Verständnis für ihre Mutter und auch das Herumziehen macht ihr nichts aus. In Frankfurt lernt sie nette Spielgefährten kennen, womit das Abenteuer beginnt. Und als dann plötzlich ihre Mutter Teresa wieder auftaucht, freut sich Terry natürlich auch... Eine wunderschöne und mit viel Humor erzählte Alltagsgeschichte über eine aussergewöhnliche Tochter-Mutterbeziehung. Lesenswert!-

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Lise Gast

Das Familienkind

Roman

Saga

Das Familienkind

German

© 1977 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711508664

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

»... und da es unter einer Glückshaube zur Welt kam, wurde ihm geweissagt, daß ihm alle Dinge im Leben zum Guten ausschlagen würden.«

Gebrüder Grimm,

Der Teufel mit den drei goldenen Haaren

»Natürlich helfen wir dir, Teresa«, sagte Birgit. Sie waren am Haus in der Leopoldstraße in München angelangt und standen, sich verabschiedend, voreinander. Hier war kein Parkplatz zu bekommen, und so hatten sie die letzten fünfhundert Meter zu Fuß zurückgelegt, eng untergehakt, einander sehr nahe. »Ich helfe dir, ich nehme Terry erst mal zu uns. Nur behalten kann ich sie nicht, du weißt, warum. Aber alles wird sich finden. Zunächst fährt sie mit mir nach Frankfurt, zur Buchmesse, das macht ihr sicherlich Spaß, und wir wohnen bei Ernst, wie immer. Dort beraten wir und finden bestimmt eine Lösung für länger.«

»Gut, danke«, sagte Teresa. »Ich komm nicht erst mit zu euch hinauf, Klaus soll nicht gestört werden.«

»Und ich muß noch Roses Aufsatz durchsehen, ehe sie ihn ins reine schreibt. Sie meint, als Buchhändlerin sei ich dafür zuständig. Ach ja, solange sie noch mit ihren Sorgen und Schwierigkeiten zu uns kommen, muß man froh sein. Wenn erst die Zeit der Partys kommt ...«

Sie sahen einander an und lachten kläglich. Birgits Tochter war vierzehn, vier Jahre älter als Terry. Heutzutage geht das Erwachsenwerden schnell.

»Dann stehen wir es auch durch«, vollendete Birgit tapfer. »Und es braucht ja nicht – ich meine, es gibt doch Familien, in denen es nicht schiefgeht.«

Teresa sah die Schwester zärtlich an.

»Bei euch geht es nicht schief. Rose ist so nett, und sie hat wirklich einen verständnisvollen Vater. Mach’s gut, Birgit, und tausend Dank. Rose holt Terry also morgen!«

Sie verabschiedeten sich. Teresa wand sich durch den Strom der Fußgänger auf der abendlichen Leopoldstraße hindurch, abwesend, in Gedanken versunken. Sie beachtete nicht, was rings um sie zu sehen war: Straßenmaler und Schmuckhändler, langhaarige und ungewaschene Gestalten beiderlei Geschlechts und dann wieder propper und nett angezogene junge Leute, eng umschlungene Liebespaare, verrückt geschminkte Mädchen und gefährlich ausschauende Männer. Dazwischen Touristen, die hierher kamen, um dies alles zu sehen und Schwabing zu erleben – Teresa sah nichts davon. Sie strebte ihrem Wagen zu, um nach Hause, nach Feldafing zurückzufahren, und das bedeutete um diese Zeit vollste Konzentration. Gut so, dann konnte sie nicht mehr nachdenken. Es fiel ihr nicht leicht, sich von Terry zu trennen. Sie hatten ein gutes Verhältnis zueinander, ihre zehnjährige Tochter und sie, aber gerade deshalb. Und es war ja auch nicht für ewig. Gerade weil sie Terry ein richtiges Zuhause schaffen wollte, gerade weil ...

Da stand ihr Wagen. Teresa schloß ihn auf, setzte sich, zog die Tür mit einem energischen Ruck zu. ›Wollen doch mal sehen, daß ich durchkomme, hier durch den Stoßverkehr, und sonst, durch diesen Engpaß. Wollen doch mal sehen, daß ich es schaffe! Sie haben es ja alle geschafft, meine vier Geschwister, oder sind noch dabei, es zu schaffen, Ernst, der sich anfangs so schwer tat in seiner Anwaltspraxis, Birgit mit Mann und Tochter und Halbtagsarbeit im Beruf, Corona – ja, die hat es wohl am schwierigsten zur Zeit, vier Kinder in dieser Enge –, und Sybille. Sybille sollte sich endlich entschließen, zu heiraten; Beruf allein ist auf die Dauer nicht das Wahre für sie. Ebensowenig wie für mich.‹

Da war sie also wieder beim Thema angelangt. Aber sie drängte die Gedanken entschlossen zurück, jetzt hieß das Thema: Auf Ampeln aufpassen, auf die Vorfahrt achten, und das nimmt den ganzen Menschen in Anspruch an einem Abend im Münchner Verkehr.

›Es ist doch merkwürdig‹, dachte sie, als sie aus der Stadt heraus und im sozusagen gemäßigteren Autoklima angelangt war, ›überall hört man, daß sich Geschwister nicht vertragen. Daß sie sich in die eigene Familie zurückziehen, nur weg von Schwestern und Brüdern. Wir sind sehr unmodern – oder aber von morgen, denn vielleicht wird es wieder modern, gern Brüder und Schwestern zu haben.‹

Es lag wahrscheinlich mit daran, daß sie, die fünf Geschwister, ein Bruder und vier Schwestern, ihre Eltern recht früh verloren hatten. Den Vater sogar sehr früh, Ernst war elf gewesen damals, und die Mutter auch zu früh, jedenfalls, als sie alle noch in der Ausbildung standen. Darum hatten sie sich wohl so eng aneinandergeschlossen, unwillkürlich, aber auch vorher schon vertrugen sie sich gut.

Ernst hatte, als Mutter starb, ohne ein Wort die Stelle des Vaters übernommen, vielleicht auch, weil er Jurist war und in vielem helfen konnte. Birgit heiratete zeitig, Klaus Andres, den alle sehr gern hatten. Dann Corona, die auch, wie Birgit und Sybille, Buchhändlerin war. Nur Sybille, die Jüngste, war noch ledig. Teresas Ehe, die sehr glücklich gewesen war, leidenschaftlich glücklich, hatte nur zwei Jahre gedauert. Freilich war sie damals sehr jung gewesen, als sie heiratete, achtzehn. Ob es weiterhin gut gegangen wäre mit ihr und ihrem Mann – nun, müßig, darüber zu grübeln. Sie hatte ihn sehr betrauert, als er ihr so plötzlich und auf eine so schreckliche Art genommen wurde, und dann entschlossen einen Beruf ergriffen, den sie auch mit Kind, mit Terry, ausüben konnte: Krankengymnastik. Das lag ihr, sie hatte gute Hände, war gesund und widerstandsfähig, half gern – aber jetzt wollte sie wieder heiraten. Und das, fand sie, konnte ihr kein vernünftiger Mensch verdenken. Teresa Eckener zweifelte nicht einen Moment daran, daß sie einen Mann finden würde, das war es nicht. Auch ihre zehnjährige Tochter Terry war gewiß kein Hindernis, meinte sie. Sie überschätzte sich nicht, glaubte aber beurteilen zu können, daß ihre Chancen nicht schlecht waren. Groß, aber nicht zu groß, sehr schön gewachsen – lange Beine hatten sie alle, und dick war keine von ihnen –, wirkte sie von den vier Schwestern auf Männer zweifellos am meisten. Sie besaß eine ausgesprochen glatte Haut, sie bräunte schnell und behielt die Bräune bis tief in den Herbst hinein, diskret nachgeholfen durch Höhensonne, die ja zu ihrem Beruf gehörte. Sie zog sich geschickt an und hatte als einzige der Geschwister, die alle blauäugig und hellhäutig waren, grüne Augen, schilfgrüne. »Sowas wurde im Mittelalter verbrannt«, sagte Ernst manchmal, wenn er Teresa nachdenklich betrachtete. Und sie lächelte und fühlte sich in der Rolle der Beinah-Hexe gar nicht so schlecht.

Sie mußte sich darüber klar werden, wen sie heiratete. Dazu aber brauchte sie Ruhe. Deshalb hatte sie diese Reise gebucht, deshalb gab sie Terry für eine Weile weg. Birgit würde das Kukkucksei schon unterbringen, Birgit war die geborene Mutter, und sie hätte Terry liebend gern selbst behalten, aber das ging nicht, Teresa sah das ein. Birgits Mann, Klaus, arbeitete für die zweite Dienstprüfung, er war Lehrer, und da mußte sogar Rose tagsüber so viel wie möglich aus dem Haus. Es gibt eben Menschen, die vieles stört, was andere überhaupt nicht merken, und auf die muß man zeitweise Rücksicht nehmen.

Ähnliches dachte Birgit, während sie zur gleichen Zeit die Treppe des düsteren Altbaus, in dem sie wohnten, hinauflief, schnell, schnell, sehnsüchtig wie eine Braut, die zu ihrem Liebsten eilt. Sie kam so gern nach Hause, so liebend gern. Immer, jedes einzige Mal, das sie von ihrem an sich sehr gern ausgeübten Halbtagsberuf heimkam zu Mann und Tochter, empfand sie das wie ein Fest. Sie, die am liebsten sechs Kinder gehabt hätte, war mit dem einen und dem Mann ihres Herzens so glücklich, wie manche andere Frau mit tausend erfüllten Wünschen es nicht ist. Atemlos erreichte sie die Etagentür und wollte läuten, Sturm läuten – Rose lauerte ja, das wußte sie –, bremste aber im letzten Augenblick ab. Den Schlüssel heraussuchen, nicht läuten, Klaus nicht stören, in der Einkaufstasche graben, suchen, fischen – da war er, und leise, leise ins Schloß hinein und umdrehen ...

Rose hatte tatsächlich gelauert.

»Grüß dich, Miem –« Dies war der derzeitige Ausdruck für Mutter, Rose erdachte immer neue. Sie stand, den Wellensittich auf der Schulter, der gerade dabei war, ihr Ohrläppchen zu beknabbern, und streckte der Mutter die Wange hin. Birgit tat nur so, als gebe sie ihr einen Kuß, sie wußte, mit vierzehn läßt man sich nicht mehr so gern von der Mutter zärtlich behandeln. Rose war größer als sie, hellblauäugig zu glattem, halblangem Haar. Sehr hübsch zur Zeit, fast schön, fand Birgit. Sie lachte. Es gab ein Sprichwort: »Mit Fünfzehn ist jeder Besen hübsch.«

»Vater da? Arbeitet? Komm –« sie zog die Tochter in die Küche. »Ich war bei Teresa, du weißt ja. Ach Rose, sei so gut und pack den Kram aus. Wir müssen uns beeilen, heute kommen die Philosophen, und die sind leider immer pünktlich. Kant war so pünktlich, daß die Leute die Uhr nach ihm stellten, nach ihm und seinem täglichen Spaziergang.«

»Er hatte immer Pudel, weil er fand, daß das die klügsten Hunde seien. Ach, wenn wir doch einen Hund hätten!« seufzte Rose. »Ja, ich pack aus, wo ist die Butter? Oder kriegen sie Margarine wie wir?«

»Natürlich Butter, für die Gäste das Beste. Das meiste hab ich schon heute früh gerichtet, aber einiges eben doch noch nicht ...«

Klaus und Birgit hatten sehr oft Besuch, es war eigentlich der einzige Luxus, den sie sich gönnten. Freunde und Kollegen von Klaus, Kolleginnen von Birgit, die Philosophen, wie sie einen Kreis Freunde nannten, die mit ihnen einmal eine Folge von Vorträgen über Philosophie gehört hatten, ein Professorenehepaar, das im selben Haus wohnte, Boxerkameraden von Klaus – Klaus war ein leidenschaftlicher Sportboxer –, Studenten. Heute also die Philosophen.

»Sperr den Vogel ein, wir müssen drüben nochmal lüften, Klaus hat bestimmt geraucht«, sagte Birgit und wickelte Butter und Käse aus, »morgen holst du Terry aus Feldafing, Teresa ist das auch am liebsten. Terry darf bei uns bleiben, und mit nach Frankfurt fahren. Freust du dich? Nur Radau machen dürft ihr nicht.«

»Ich weiß, Vater ist geräuschempfindlich –« Rose stand, den Vogel auf dem Zeigefinger, den sie einladend vor die offene Käfigtür hielt. »Hopp, mein Kleiner, rin ins Vergnügen!«

Der Wellensittich gehorchte. Rose hatte sehr viel Geschick mit Tieren, hatte dies wohl vom Vater geerbt, der ein großer Tierfreund war.

»Terry darf mit nach Frankfurt? Die hat’s gut! Zu Ernst.« Ernst, noch unverheiratet, war der Abgott aller Nichten und Neffen. Er verstand sich ausgezeichnet auf Kinder aller Altersstufen, ein Jammer, daß er keine eigenen hatte. Birgit streifte diesen Gedanken wieder mit zärtlichem Bedauern, versuchte aber sofort, sich zu trösten. ›Vielleicht heiratet er ja noch.‹

»Dich hab ich früher auch immer mitgenommen. Damals hatte Ernst seine schöne Wohnung noch nicht. Weißt du noch, die kleine unterm Dach? Und wir schliefen alle auf der Erde, alle, weil jeder fand, es wäre gemein, als einziger ein Bett zu haben.«

»Ich weiß noch alles.« Rose lachte. »Er konnte so schön einen Affen nachmachen, einen Riesenaffen. Sich kratzen und Gesichter schneiden, und dabei trommelte er mit den Fäusten auf die Brust. Ich graulte mich furchtbar und wollte es trotzdem immer wieder sehen.«

»Ja. So was macht er mit Vorliebe. Was haben wir immer gelacht mit ihm! Und ein Gastgeber, alle Achtung! Kocht selbst, und wie! Ich denke immer, wenn er doch noch heiratet, die Frau hat es mal nicht leicht.«

»Ich würde ihn aber trotzdem wollen.« Rose erwischte eine Rosine aus dem Kuchen, den die Mutter gerade aufschnitt. »Aber er mich nicht. Wieviel ist er älter als ich? Zwanzig Jahre? Solche Ehen gibt es aber.«

»Du und Ernsts Frau! Nun los, wir müssen den Tisch dekken. Ja, daß du nicht mitfahren kannst, ist schade! Wäre auch für Terry hübscher, wenn du mitkämst nach Frankfurt. Wenn du besser in Latein wärst, würde ich dich rausbitten aus der Schule. Aber so –«

»Ach, das blöde Latein!« Rose schob ihre Unterlippe vor.

»Wozu bloß, ich seh das nicht ein. Studieren kann man doch nicht, überall Numerus clausus, und wer in die Medizin will, eins Komma zwei. Das erreichte ich auch mit der größten Strebsamkeit nicht. Wozu dann überhaupt Abitur!«

»Damit du deinen eigenen Kindern später bei den Schularbeiten helfen kannst«, sagte Birgit und nahm das Tablett. »Mach mir die Tür auf, bitte.«

»Und die dann später wieder ihren eigenen? Hat das Sinn?« fragte Rose unbeirrt. Die Mutter blieb stehen, sah sie an.

»Du hast eigentlich recht. Es ist beinah wirklich so –« Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Deshalb wird aber doch übersetzt, da hilft dir kein Gott. Hast du heute schon?«

»Nein, ich war schwimmen. Aber wenn heute die Philosophen kommen –«

»Dann, spekulierst du, hilft dir einer dabei? Der Blaschke vielleicht? Und diktiert es dir gleich ins reine?«

»Oder der Müller«, sagte Rose unerschüttert. »Der kann es auch. Wozu sind sie denn alle Humanisten?«

Und nun waren sie also alle in Frankfurt bei Ernst. Das heißt, sie waren nicht alle da, die fünf Geschwister. Corona, die Vielbeschäftigte, die mit ihrer Familie auf dem Lande wohnte, konnte Mann und vier Kinder nicht allein lassen. Teresa, Terrys Mutter, war verreist. Aber Sybille wurde noch erwartet.

»Aha – es handelt sich um Terry«, sagte Ernst. »Teresa verreist?« Er stellte die Gläser auf den Tisch. »Und das Kuckucksei hat sie dagelassen, damit wir es in einem unserer Nester unterbringen? Komm, Kuckucksei, für dich hab ich Orangensaft. Oder trinkst du schon Bier, als Münchner Kindl?«

»Wir wohnen in Feldafing und nicht in München«, korrigierte Terry.

»Entschuldige, du hast recht. Ja, also Teresa –«, er sah Birgit an, und diese erwiderte seinen Blick. ›Später‹, verstand er.

Terry setzte ihr Glas ab. »Weil Mami wieder heiraten will«, verkündete sie. Die Erwachsenen mußten lachen. »Na denn – außerdem, warum soll sie nicht?« fragte Ernst.

»Sie soll ruhig. Ich hab nichts dagegen. Darf ich den Fernseher anmachen?« bat Terry. »Ist heute was Lustiges? Du hast doch bunt.«

»Eigentlich solltest du ja im Bett sein«, mahnte Birgit freundlich. »Wann gehst du denn zu Hause schlafen?« »Wann ich will. Mami sieht nicht auf die Uhr«, sagte Terry fröhlich.

»Aber wir. Wir sehen wohl auf die Uhr«, grollte Ernst und rollte die Augen, »ich zähle jetzt bis drei. Eins – zwei –«

»Ich kann ja gar nicht. Ich hab ja keins!« triumphierte Terry. »Wo ist bitte ein Bett für mich?« Sie kannte bereits die Wohnung, besaß ein blitzschnelles Orientierungsvermögen.

»Ja, wo?«

Ernsts Junggesellenwohnung bestand aus einem einzigen, lang gestreckten Raum, an den sich seitlich die Küche, zwei Badezimmer und ein Schlafgemach anschlossen. Besuch wurde auf Couchen untergebracht oder auf dem sogenannten Schneewittchen-Sarg, einer langen Truhe mit Schaumgummiauflage. Im großen Raum aber hielt man sich auf, jetzt und voraussichtlich noch lange. Wohin also mit Terry?

»Kann sie in dein Bett? Dann schlaf ich daneben, und für Sybille ist auch noch Platz«, sagte Birgit. »Und du wirst hier in die Sporthalle verstoßen. Geht das?«

»Klar. Gute Nacht, Terry.« Er winkte. Terry gehorchte wie ein gutdressiertes Hündchen. Birgit wunderte sich. Ernst hatte wirklich eine erstaunlich geschickte Art mit Kindern.

»Wollen wir auf Sybille warten?« fragte Birgit. »Sie muß bald da sein. Ach, Ernst, wieder mal Buchmesse! Wunderbar! Ich freue mich jedes Jahr wieder. Erstens sowieso, Fachsimpelei, alte Gesichter, neue Gesichter, lauter Leute, denen das Buch wichtig ist – und dann, weil wir uns da wiedersehen. Zu schade, daß Corona dies Jahr nicht kann. Auf alle Fälle rufen wir sie aber an, ja?«

»Natürlich, sobald Sybille da ist. Übrigens –« Da läutete es, und Birgit sprang auf.

»Das ist Klaus! Laß – ich geh schon –«

Es kam zu keinem zweiten Läuten, so schnell war sie am Apparat. »O Klaus –« Ernst beobachtete, wie ihr Gesicht sich verklärte. So lange schon verheiratet, und noch so verliebt! Nachsichtig lächelnd begab er sich in die Küche.

Gleich darauf erschien Sybille, die Jüngste der Geschwister. Sie brachte einen Holländer mit, einen Verleger namens Rinse, und so kam es zu keiner Familienberatung mehr. Ernst tischte ein köstliches Essen auf, er war ein Meisterkoch, nur deshalb hätte er nicht geheiratet, behauptete er. Der Holländer sprach wie die meisten seiner Landsleute gut Deutsch, vielmehr, er hätte gut Deutsch sprechen können, wenn er es nicht aus purer Koketterie vorgezogen hätte, reizend zu radebrechen. Er machte den Damen übertriebene Komplimente, alles per Du, und versprach ihnen herrliche Tage in Amsterdam, wenn sie ihn dort einmal besuchen würden, wozu er sie herzlich und ernsthaft einlud.

»Ich zeige euch Holland und noch was dazu«, versprach er, und sie wiederum versprachen, es mit dem Besuch wahrzumachen. Dafür wollte Ernst mit seinen Schwestern ihn ein Stück durch den Odenwald fahren, damit er etwas von Deutschland sehe. »– und noch was dazu!« wiederholte er des Holländers Redewendung. Der neue Gesprächspartner gefiel ihm.

»Was denn?« fragte Rinse begierig.

»Den deutschen Wald par excellence«, verhieß Birgit. »Den Wald, durch den Siegfried ritt. Kennen Sie die Sage von Siegfried?«

»Nein, aber wir werden übersetzen«, sagte Rinse sofort. »In welchem Verlag reitet dieser Mann?«

Ernst erzählte die Geschichte von jenem Aufsatz, in dem ein Kind geschrieben hatte: »Siegfried hatte eine wunderbare Stelle an seinem Körper, die nur seine Frau kannte.« Wunderbar statt verwundbar – Rinse verstand genug Deutsch, um das Wortspiel zu begreifen. Sie lachten.

»Wie würde man es auf holländisch nennen?« fragte Sybille.

»Ein prachtiges Platzje«, antwortete Rinse prompt, und das klang so komisch, daß Birgit und Sybille lachten, als wären sie siebzehn. Kurz, es war wieder einmal ein richtiger Buchmessen-Abend.

»Terry? Die geht mit mir. Ich nehme sie mit zu den Kinderbüchern«, sagte Birgit am anderen Morgen. Sie war schon fertig zum Ausgehen, nur der Hut fehlte noch. Es war ein kleiner blauer Lederhut, und da in der Familie sonst kaum Hüte getragen wurden, unterlag er dem mehr oder weniger milden Spott der anderen. »Ihr braucht gar nicht zu lachen, heute kommt mein Chef, und mit dem ziehe ich über die Messe. Ich esse auch mit ihm, euch kenne ich nicht, verstanden? Abends treffen wir uns wieder. Terry kann inzwischen lesen.« »Aber keine Kinderbücher«, erklärte Terry. »Ich weiß schon, was da drin ist. Banden oder so was, und sie finden einen Schatz oder decken ein Verbrechen auf, wozu die Erwachsenen zu dumm sind, und die Polizei erst recht.«

»Dann lies Thomas Mann, wenn du schon so erwachsen bist.«

»Hab ich schon versucht, das meiste ist aber langweilig«, sagte Terry, »und manchmal ist es auch ulkig.«

»Thomas Mann und ulkig. Nun ja«, sagte Ernst kopfschüttelnd, »ich weiß, du bist mein Patenkind, da muß man Nachsicht haben. In deinem Alter las ich Karl May.« »Auch immer dasselbe. Immer findet er die richtige Fährte, immer trifft er zwischen die Augen, immer ist sein Pferd das schnellste. Da ist bei Asterix mehr los. Der hat wenigstens Einfälle.«

»Findest du?«

Ernst, der ebenfalls eine bisher nie eingestandene Schwäche für Zeichengeschichten hatte und sie sammelte, ohne daß es jemand ahnte, sah Terry nachdenklich an. Sie war groß für ihr Alter, besser ausgedrückt: lang, aber dünn. Ihr Gesicht konnte man nicht eigentlich hübsch nennen, es war hellwach, mit ein wenig hohen Backenknochen, Sommersprossen darauf, und nicht rotem, aber rötlichem Haar. Das war jetzt, da Birgit für sie verantwortlich war, ordentlich zurückgekämmt und im Nacken zusammengebunden, so daß die breite, helle Kinderstirn freilag. Die Augen nicht grün wie die ihrer Mutter Teresa, aber auch nicht blau, eher grau mit braunen und grünen Sprenkeln darin, meist aufgerissen, so daß ihrem Blick nichts entging. Wie würde sie in sieben, acht Jahren aussehen? Wie würden die Männer, die ihr begegneten, sie finden? Es war etwas Gefährliches um sie, etwas, was an Zündstoff denken ließ, aber doch auch an etwas sehr Reizvolles. ›Ob die Liebe ein Glück ist, sei dahingestellt, jedenfalls ist sie das charmanteste Unglück, das uns begegnen kann‹, hatte er einmal bei Curt Goetz gelesen. Jetzt fiel es ihm wieder ein, als er Terry ansah. »Was guckst du denn? Hab ich was an der Nase?« fragte sie.

»Nein. Aber wenn du jetzt nicht auf der Stelle fertig bist, fahre ich ohne dich«, drohte er. »Ich muß aufs Gericht –«

Wie der Blitz fuhr Terry in ihren Anorak.

»Verteidigst du da Verbrecher auf dem Gericht? Darf man da mal zuhören?« fragte sie und drängte sich zwischen Sybille und Birgit durch zur Ausgangstür. »Ich möchte mal!«

»Wir auch. Immer möchten wir mal dabei sein, wenn es auch nicht Verbrecher sind, die er verteidigt«, sagte Birgit. »Aber er läßt uns nicht. Nie läßt er uns. Mein Hut sitzt heute gar nicht.« Sie stand vor dem Spiegel und kontrollierte ihr Aussehen. »Ich weiß nicht, warum. Und ich muß doch heute anständig aussehen. Außerdem finde ich meine Handschuhe nicht.«

»Nimm meine.« Sybille steckte ihr ein zusammengerolltes Paar zu. »Ich brauch keine. Himmel, wir müssen uns beeilen, Ernst wartet nicht gern.«

Sybille brauchte nie lange Zeit vor dem Spiegel. Sie trug ihr Haar kurz, so kurz, wie es eigentlich nicht mehr oder sogar nie Mode war, wie ein dunkelblondes, kaum gewelltes Fell. Es brauchte eigentlich weder gekämmt noch gebürstet zu werden, so weich lag es um Schläfen, Stirn und Nacken. Die dunkelgerandete Brille sah gut dazu aus, sie gab ihrem Gesicht etwas Eigenständiges, Unverwechselbares. Birgit stellte das wieder einmal flüchtig verwundert fest, während sie die Schwester im Spiegel betrachtete. »Wirst du aber auch nicht frieren?«

»Aber wo. Zur Buchmesse ist immer schönes Wetter. Hach, ich freu mich!«

Sie liefen die Treppe hinunter und aus dem Haus. Scharfe, kalte, herrliche Herbstluft, Reif auf der Hecke des Vorgartens, aber Sonne. Ernst fuhr seinen niedrigen Wagen gerade aus dem Hof.

»Nach hinten, Kiekindiewelt, Kinder haben vorn nichts zu suchen«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung nach rückwärts. Terry, die sich neben ihn gesetzt hatte, war im Nu auf dem Rücksitz, Sybille schob sich neben sie, Birgit stieg vorn ein.

»Heut bring ich keinen Rinse mit. Aber amüsant ist er«, sagte Sybille. »Er hat in Amsterdam einen großen Verlag. Ob er hält, was er verspricht, weiß ich nicht. Aber durch den Odenwald fahren wir mit ihm, ja, Ernst?«

»Irgendwann ja. Und in den Zoo geh ich mit Terry, die Zeit muß rausspringen«, verhieß Ernst. »Zu den Menschenaffen, die studiere ich doch.«

»Ach ja. Du hast noch gar nicht ›Affe‹ gemacht. Rose hat davon erzählt«, sagte Terry verklärt. »Machst du das, wenn wir zurückkommen?«

»Das mach ich auf dem Gericht. So, hier müßt ihr aussteigen. Die Linie«, er hatte an einer Straßenbahnhaltestelle gestoppt, »fährt direkt hin. Also – bis abends!« – Sie schoben sich aus dem Wagen und winkten ihm nach. Überall sah man die dies Jahr lilafarbigen Schilder: »Zur Buchmesse«. Terry hüpfte an Birgits Hand.

»Am liebsten möchte ich auch hüpfen«, sagte Birgit ein bißchen verwundert zu Sybille, während sie auf die Straßenbahn warteten. »Immer wieder freu ich mich auf die Messe. Wie viele Male waren wir schon da, und immer erwartet einen etwas Neues. Neue Gesichter – und alte, die man lange nicht gesehen hat – und Gespräche. Nirgends gibt es so gute Zufallsgespräche wie hier. Manchmal mit wildfremden Leuten –«

Sie lösten ihre Dauerkarten und liefen zu der kleinen Bahn, die die Messebesucher von Halle zu Halle fuhr. Terry fand es wunderbar, umsonst fahren zu dürfen.

Birgit brachte sie in Halle fünf.

»Hier kannst du bleiben, am Stand, oder wenigstens in der Nähe, und lesen«, sagte sie. »Hier hast du wenigstens die Möglichkeit, zu sitzen.« Dieses Glück war einem auf der Buchmesse sonst nur dort vergönnt, wo man aß oder Kaffee trank. Dieser Stand eines Jugendbuch-Verlages aber hatte außer dem eigentlichen noch einen zweiten, der wie ein Eisenbahnabteil eingerichtet war, mit zwei gepolsterten Bänken einander gegenüber und Gepäcknetzen. Dort saß man und verhandelte, oder Besucher ruhten sich kurz aus. »Du bist ja schmal und brauchst wenig Platz. Hier finden wir dich wieder. Wenn du mal verschwinden mußt: dort drüben, hier hast du Geld. Du kannst ruhig ein bißchen rumlaufen, aber jede volle Stunde bist du hier, gelt? Immer, wenn der große Zeiger auf der Zwölf ist. Damit wir dich sicher treffen, wenn wir dich etwa mal suchen. Sybille holt dich zum Essen.«

Birgit winkte und lief davon. Sybille stand noch einen Augenblick unentschlossen neben Terry.

»Bist du auch nicht bange?«

»Wovor denn bitte!«

»Hast recht. Also holen tun wir dich bestimmt. Wann, kann ich noch nicht sagen. Zeiger auf der Zwölf, volle Stunde. Viel Spaß!« Sie ging. Terry kuschelte sich in die Ecke des Eisenbahnabteils, ein Buch in der Hand, nicht hinein –, sondern umherguckend. Trubel gefiel ihr, und Trubel herrschte am Stand, wahrhaftig. Das war ein Kommen und Gehen, man hörte neben Deutsch, Englisch und Holländisch, einmal entdeckte sie Rinse und winkte ihm zu. Er kam sofort heran, küßte ihr gravitätisch die Hand und verschwand wieder, aber nur, um ihr eine übertrieben große Packung Pralinen zu überreichen, die er an einem fliegenden Stand gekauft hatte. Pralinen – Terry mochte längst keine mehr, Verehrer ihrer Mutter hatten ihr allzu viele geschenkt. Trotzdem nahm sie sie und tat, als sei sie sehr entzückt. Das gehörte zu den Spielregeln, und nach den Spielregeln muß man sich richten, wenn man gewinnen will, soviel hatte sie vom Leben schon begriffen, Terry, die fast nur mit Erwachsenen zusammen lebte. Rinse brachte ihr dann noch ein Eis. Das schleckte sie mit Vergnügen, und mit Vergnügen horchte sie auf die Unterhaltung der Erwachsenen, die am Stand kamen und gingen.

Die meisten nahmen keine Notiz von ihr. Sie machte sich auch so wenig bemerkbar wie möglich. Zuhören ist auch ein Talent, gleichzeitig ein Vergnügen, wenigstens zuweilen, manchmal war es langweilig. Als Einzelkind einer alleinstehenden Mutter hatte sie manches erfaßt, was Geschwister in Familien selten oder nie begreifen, zum Beispiel, sich zu merken, was dieser oder jener Erwachsene erzählte.

So heute. Da saß ihr eine Zeitlang ein junger Mann gegenüber, der sie freundlich ins Gespräch zog. Er wartete auf jemanden, fragte sie, ob ein Herr mit Spitzbart hier gewesen sei und sich nach ihm erkundigt habe. Er beschrieb diesen Herrn näher, und Terry sagte, Bärte hätten ja heute viele, und sie könnte mit Bestimmtheit sagen, daß so einer noch nicht dagewesen sei.

Gerade kam er. »Gott sei Dank, ich habe Sie nicht verpaßt. Man sagte mir soeben, Sie seien noch nicht dagewesen und womöglich wieder gegangen. Ich habe mich verspätet, bitte um Entschuldigung. Wir hatten aber eine reizende Unterhaltung inzwischen, diese junge Dame und ich.«

»Wie gut. Verspätet bin ich –« sie kamen ins Gespräch. Dabei erzählte der junge Mann nach einer Weile ein bißchen verlegen, er sei zu Hause heimlich davongefahren, ohne die »Genehmigung« seines Vaters, der, so merkte man, noch ein wenig »von früher«, sprich: despotisch sein mußte. »Er wollte mich nicht nach Frankfurt lassen. Und ich komm so gern auf die Messe ...« Er lachte. Der Ältere lachte auch.

»Also wieder mal durchgebrannt? Diesmal nach Frankfurt und nicht nach Paris?«

»Ach, Sie meinen, wie damals? Ja, da waren Sie gerade bei uns, als Vater den ungeratenen Sohn zurückbrachte. Na, das ist eine Weile her, da stand ich gerade vor dem Abitur.«

»O, ich weiß noch genau. Ich wartete mit Ihrer Mutter, die aber schon wußte, daß Ihr Vater Sie erwischt hatte. Nun stand ein Familienkrach bevor ... Dann aber war Ihr Vater erstaunlich sanftmütig ...«

»Mit Grund. Das Glück lächelte mir. Wir hatten eine junge Dame mitgenommen, die am Straßenrand winkte, von kurz hinter Paris bis – fast Stuttgart. Eine entzückende – ich muß komischerweise heute die ganze Zeit an sie denken.«

»Richtig, er erzählte davon. Bis Böblingen fuhr sie mit, wenn ich mich recht erinnere, und unterhielt Ihren Vater so gut, daß er darüber das Ausreißen des Sohnes ganz vergaß.«

»Die Dame war meine Mutter«, sagte Terry in diesem Augenblick. Es klang halblaut, aber klar und hoch in die Gesprächspause hinein. Die beiden starrten sie an. »Ja. Die Dame, die anhalterte. Wollen wir wetten, daß sie es war? Ich kenne die Geschichte, Mutti hat sie mir ein paarmal erzählt. Sie heißen mit Vornamen Ingo, stimmt’s?«

»Stimmt. Ingo heiße ich«, sagte der Jüngere verblüfft. »Wahrscheinlich muß ich dauernd an damals denken, weil du deiner Mutter ähnlich siehst.«

»Tu ich das? Mami ist aber viel hübscher«, sagte Terry sachlich. Unwillkürlich nickte der junge Mann.

»Aber was nicht ist, kann ja noch werden«, sagte er tröstend. Vielleicht war sein Nicken unzart gewesen. Terry brauchte keinen Trost.

»Das sagen sie alle. – Mami fährt aber nicht mehr Anhalter, schon lange nicht mehr. Sie hat jetzt einen Wagen. Schön ist er nicht, aber sie hat hinten drangeschrieben: ›Ihr Auto gefällt mir auch nicht‹.«

»Das sieht ihr ähnlich. Hör mal, gib mir doch ihre Adresse, tust du das? Ich hab mich schon immer geärgert, daß ich ihr damals nicht danken konnte. Für die Ablenkung des väterlichen Gewitters, weißt du, sie war sozusagen mein Blitzableiter. Aber ich konnte mich doch nicht im Beisein meines alten Herrn bedanken. Das möchte ich jetzt nachholen. Ich finde, es ist ein Wink des Schicksals, daß ich dich hier traf.«

»Gern. Wir wohnen in Feldafing – aber Mutter ist jetzt nicht da, im Augenblick jedenfalls«, fügte Terry hinzu. Der junge Mann gefiel ihr. Er hatte so schöne dunkle Augen unter geschwungenen Augenbrauen und eine nette Art, mit ihr zu sprechen. Er sollte Mami ruhig schreiben. Einmal kam sie ja wieder, und dann lag da unter der anderen Post, die sie haßte – Amtliches, Rechnungen, Mahnungen – doch auch etwas Nettes. »Soll ich mit unterschreiben? Ich weiß eine Karte –« Sie war vorhin ein wenig umherspaziert und hatte sich umgesehen. »Soll ich sie holen?« Ihre Augen blitzten.

»Ja, fein! – Hier hast du Geld –« Er gab ihr ein Fünfmarkstück. »Für den Rest kannst du dir Eis kaufen.« Terry rannte. Der junge Mann sah ihr lächelnd nach. Dann wandte er sich dem älteren zu.

»So muß ihre Mutter als Kind gewesen sein. Blitzend, keck. Ich habe selten jemanden kennengelernt, der eine solche – wie soll ich sagen? – eine solche weibliche Ausstrahlung hatte. Da gibt es Gesichter, die sieht man fünfzigmal und kann sie sich nicht merken, und dann eins, das man ein einziges Mal gesehen hat und immer wieder erkennen würde. Aber – ja, Sie sind Faust-Experte. Ich meine jetzt nicht Gretchen, beileibe nicht. Sondern die schöne Helena. Die soll gar nicht so schön gewesen sein, nur so – so – eben ungeheuer anziehend. Ungeheuer – nun, heute würde man vielleicht sagen: faszinierend. Unvergeßlich. Atemberaubend. Es gibt keinen Ausdruck, der es wirklich trifft.«

»Und Sie meinen –« da war Terry wieder. Sie hatte eine Postkarte in der Hand, Glanzpapier, bunt, Glitzersteine. Frankfurter Sehenswürdigkeiten. In der Mitte ein Vers: Die beiden letzten Zeilen lauteten:

›Es will mer halt net inne Kopp herei,

wie kann nor e Mänsch net aus Frankfort sei –‹

»Wunderschön«, lobte der Herr mit dem Vornamen Ingo. »Die schreiben wir jetzt gemeinsam, und weil drauf ein so schönes Gedicht steht, brauchen wir nicht mal zu dichten. Wir schreiben – wie heißt deine Mutter mit Vornamen? Teresa? Also: Hochverehrte Frau Teresa ...«