Das Fehlerchen - Tube Tobias Herre - E-Book

Das Fehlerchen E-Book

Tube Tobias Herre

4,9

Beschreibung

Anselm Hagen ist Paketkurier. Aus Bequemlichkeit nimmt er eines Tages anstelle des Autos den gerade in Betrieb genommenen Teletransporter von Berlin nach Hamburg. Dank eines kleinen Fehlers im System beginnt er sich jedoch an beiden Orten zu vervielfachen. Daraufhin jagen die Erfinder der Teletransportation ihn und alle seine Reproduktionen, während er versucht zu verstehen, was passiert ist, eine Frau zu erobern und sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Neue philosophische, moralische und technologische Fragen verlangen nach neuen Antworten, zum Beispiel: Funktioniert Auftrieb auch, wenn man gerade wegschaut? Wer ist eigentlich schuld an Flugzeugabstürzen? Kann man die eine lieben, aber mit der anderen schlafen? Können Menschen in ihre Einzelteile zerlegt und an anderer Stelle wieder zusammengebaut werden? Und wie kopiert man überhaupt eine Seele? "Das Fehlerchen" ist ein Roman über den Sinn und den Wert eines einzelnen Lebens.

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Gestatten Sie? Festus mein Name. Doktor Festus. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Es ist nicht meine Geschichte, es ist eine Geschichte, eine frei erfundene Geschichte, die dennoch, obwohl sie meiner Fantasie entstammt, eine wahre Geschichte ist und sich genauso zugetragen hat, wie ich sie Ihnen präsentieren werde. Ich habe nicht einmal die Namen der Protagonisten verfremdet, geschweige denn mir die Mühe gemacht, ihnen selbst erdachte Namen zu geben. Die Personen leben, sie existieren, und ich werde nichts verfälschen, nichts der Handlung hinzudichten oder auslassen. Es ist eine reale Geschichte, die, ich will es noch einmal betonen, frei erfunden ist.

Sie glauben, ich widerspreche mir selbst? Urteilen Sie nicht zu früh! Folgen Sie mir doch und schauen Sie sich in meinem Zimmer um. Gefällt Ihnen der dunkel gebeizte Holzschreibtisch? Er wirkt vielleicht etwas zu wuchtig in dem kleinen Raum, neben den randvoll mit Büchern gefüllten Regalen. Große Werke habe ich hier versammelt, Romane aus mehreren Jahrhunderten, wertvolle gebundene Ausgaben, sie erzählen Geschichten, Geschichten, die ebenso wahr sind wie meine Geschichte. Oder betrachten Sie das kleine Ölgemälde an der Wand, dort in der Ecke neben dem Globus. Es zeigt ein hölzernes Ruderboot, das über einem Steingebirge schwebt. In dem Boot sitzt ein Wesen, das einer orangefarbenen Bockwurst gleicht. Der Betrachter fragt sich: Wie kann ein Ruderboot schweben? Aus welch merkwürdiger Welt stammt diese Szene? Und ich gebe die Antwort: Sie stammt aus einer fremden Welt, nicht unserer Welt. Das Bild eröffnet uns einen Blick in diese Welt. Wir können das Wesen in dem Boot betrachten, das Wesen uns aber nicht.

Doch lassen wir das vorerst. Sie kennen mein Zimmer oder zumindest einen Ausschnitt davon, und ich bitte Sie zu entschuldigen, dass sich ungeordnete Dokumente auf dem Schreibtisch und auch auf dem Boden stapeln. Durch den Raum führt nur ein schmaler Pfad. Doch haben Sie mich schon entdeckt? Wo bin ich? Sitze ich auf dem schwarzen Ledersessel hinter dem Schreibtisch und drehe einen Federhalter in der Hand? Oder hänge ich an dem fünfarmigen Kronleuchter unter der stuckverzierten Decke und blicke auf Sie herab? Weder … noch! Sie sind allein. Und nun erschrecken Sie bitte nicht! Ich stehe hinter Ihnen und lege meine kühle Hand auf Ihre Schulter. Drehen Sie sich nicht um! Ich bin schon wieder weg und zeige mich Ihnen jetzt am Strand einer Karibikinsel in strahlendem Sonnenschein unter einem wolkenlosen Himmel. Lichtreflexe tanzen auf dem blauen Ozean. Immerfort schwappen Wellen ans Ufer und lecken am weißen Sand.

Haben Sie es bemerkt? Es bedarf nur weniger Worte, schon wechseln wir auf wundersame Weise den Ort. Gerade waren wir in meinem Zimmer, nun sind wir am Meer. Ein paar Worte dazu, und ich sitze Ihnen gegenüber in einem schmutzigen Restaurant und drehe Spaghetti auf die Gabel, oder Sie sehen meine Silhouette in den Sanddünen der Sahara vor einem glutroten Sonnenball. Ich blicke Sie an aus dem Bullauge eines Unterseebootes, das in den Tiefen des Pazifiks durch einen Schwarm Kalmare gleitet, oder ich wandere im Schwarzwald auf einem verwurzelten Weg unter Bäumen, deren Blätter ein grünes Dach über mir bilden.

Wo immer ich behaupte zu sein, dort bin ich auch, und in Ihrem Kopf entsteht das Bild dazu. Allerdings will ich Sie nicht allzu sehr strapazieren. Kehren wir zurück in mein Zimmer, wo ich auf dem schwarzen Ledersessel hinter dem Schreibtisch sitze und keinen Federhalter, sondern einen Dartpfeil in der Hand drehe. Und nun passen Sie auf! Ich ziele nur vage, ich werfe den Dartpfeil dem Globus entgegen. Zack, steckt der Pfeil in Europa und dort in der Stadt, wo meine Geschichte beginnt, eine verrückte Geschichte, eine unglaubliche Geschichte, eine Geschichte, die, obgleich Sie jetzt denken, sie sei allein durch meinen Pfeilwurf bereits vom Zufall beeinflusst, eine, verzeihen Sie, dass ich mich wiederhole, wahre Geschichte ist. Sogar mich werden Sie in der Geschichte erkennen, nur werde ich es nicht sein. Doch sehen Sie selbst! Es ist die Geschichte von Anselm und Marie, vielen anderen und einem Menschheitstraum.

Marie in der Nacht

Unsere Geschichte beginnt zu nächtlicher Stunde, als in einer kleinen Einzimmerwohnung im Zentrum Berlins das Telefon klingelte. Marie erwachte, schaltete die Stehlampe ein, schwang sich aus dem Bett und taumelte benommen in den Flur, wo sie den Hörer abnahm und »Hallo?« murmelte.

»Hallo Marie! Anselm hier«, erwiderte der Anrufer. »Wir sind doch am Wochenende zum Tanzen verabredet. Ich wollte dir sagen, dass das leider nichts wird, weil …«

»Spinnst du?«, unterbrach Marie. »Das hättest du mir auch morgen noch sagen können. Es ist mitten in der Nacht. Warum rufst du mich jetzt an?« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie auf und schlurfte verärgert zurück ins Bett.

Die Bettdecke bis an den Hals gezogen drehte sie sich auf die eine, dann auf die andere Seite, legte sich auf den Rücken, dann hörte sie eine Mücke. Das Fiepen näherte sich ihrem linken Ohr, die Lautstärke schwoll an, bis es mit einem Male ganz still wurde. Marie schüttelte sich und richtete sich auf, sie suchte einen geeigneten Gegenstand, mit dem sie das lästige Tier erlegen konnte, fand neben dem Bett ein Feuerzeug, das sie in die voraussichtliche Flugbahn der nun um sie kreisenden Mücke hielt, und zündete im richtigen Moment die Flamme. Glimmend fiel das sterbende Insekt herab und landete als Aschekrümel auf dem Boden. Marie schnippte die Asche zu Staub und wünschte sich, dass Anselm, der sie mit seinem Anruf aus dem Schlaf geholt hatte, ein ähnliches Schicksal ereilen möge. Da klingelte das Telefon erneut.

»Verdammt«, zischte Marie und begab sich in den Flur ans Telefon.

»Hallo Marie! Anselm hier«, vernahm sie Anselms Stimme. »Wir sind doch am Wochenende zum Tanzen verabredet. Ich wollte dir sagen …«

»Nein, wir sind nicht verabredet. Du hast mich eben angerufen und abgesagt.«

»Was hab ich?«

»Du hast mich angerufen und abgesagt. Ich hab’s kapiert. Wir sind am Wochenende nicht verabredet. Und jetzt lass mich in Ruhe, verdammt noch mal, ich muss morgen früh raus!«

Marie legte auf und kroch wütend ins Bett zurück. Sie schaltete das Licht aus und dachte, man solle ihm die Finger abhacken, dann könne er kein Telefon mehr bedienen, und sie stellte sich vor, wie sie eine Axt auf Anselms Finger niederschwang. Doch bevor die Klinge einschlug, glitt Marie in den Halbschlaf, jenen Zustand, in dem sie nicht schlief und nicht wachte, sondern wirr träumte, jene Phase, in der ihr Gehirn Dinge erdenken konnte, die real niemals geschehen würden, die sich aber mit solcher Echtheit ihrem Gedächtnis einprägten, dass sie die Wahrhaftigkeit der Erlebnisse später nur anhand ihrer Absurdität widerlegen konnte. Auch breitete sich in dieser Zeit meist ein unschöner Geschmack in ihrem Mund aus.

Während Marie also Mundgeruch bekam, sah sie eine U-Bahn in den Bahnhof fliegen. Die Türen öffneten sich, es hüpften lustige Kängurus heraus, die Kängurus holten Taschentelefone aus ihren Bauchbeuteln und wählten.

Das Telefon klingelte, Marie schreckte hoch, schaltete die Stehlampe ein, ging in den Flur und nahm den Hörer ab.

Als sie Anselms Stimme erkannte, schrie sie: »Du hast doch echt nicht mehr alle Tassen im Schrank. Hab ich dir nicht gesagt, dass du mich in Ruhe lassen sollst? Warum rufst du schon wieder an? Was soll der Scheiß? Weißt du, wie spät es ist?«

»Ähm …«, brachte Anselm lediglich hervor.

»Nein? Ich auch nicht. Auf jeden Fall viel zu spät! Ich kann mir schon denken, was du wirklich willst. Und dass du keinen Bock hast, mit mir am Wochenende tanzen zu gehen, habe ich auch mitbekommen. Ja? Hast du verstanden? Wir gehen am Wochenende nicht tanzen, ich weiß es, verdammt noch mal!«

»Ähm, aber …«

»Du hast abgesagt, fertig. Jetzt lass mich in Ruhe!«

Sie legte auf, und zog das Telefonkabel aus der Dose. Marie war verärgert, sie war aufgewühlt, sie fühlte sich wach wie nach zwölf Stunden Schlaf und zwei Kannen Kaffee, obgleich ihre Glieder matt waren und sie in sich die Müdigkeit spürte. Sie begab sich in die Küche, goss sich ein Glas Leitungswasser ein und setze sich an den wackeligen Küchentisch. Durch das halboffene Fenster wehte warme Sommernachtsluft herein und brachte von der Straße das Grölen einiger Betrunkener mit. Marie blickte nachdenklich über den Tisch auf den leeren Stuhl ihr gegenüber, auf dem vor ein paar Tagen noch Anselm für einen kurzen Moment gesessen hatte. Sie hatte Anselm am vergangenen Wochenende auf der Geburtstagsfeier einer Freundin kennengelernt, als er in der Küche stand und sich ein Glas Bowle einschenkte. Es war eine gewöhnliche Geburtstagsfeier in einer gewöhnlichen Dreizimmerwohnung, bei der unterschiedliche Bekanntenkreise aufeinanderstießen und sich die Leute je nach Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gruppe entweder im Wohnzimmer oder im Arbeitszimmer aufhielten. Allein die Gastgeberin pendelte zwischen den Räumen hin und her und versuchte, die ungleichen Lager zu vereinen und in Stimmung zu bringen. Doch der einzige Berührungspunkt blieb die Küche, dort, wo Bier, Wein und Bowle lagerten, konnte jeder auf jeden treffen. Und dort war Marie zum ersten Mal auf Anselm gestoßen, dort hatte sie ihn angesprochen, dort waren sie ins Gespräch gekommen.

Später hatten sie die Geburtstagsfeier verlassen und nach einem langen Fußmarsch zu Maries Wohnung den Rest der Nacht miteinander verbracht, nach dem Kaffee am Morgen darauf die Telefonnummern ausgetauscht, ein paar Tage später miteinander telefoniert und sich für das folgende Wochenende zum Tanzen verabredet. Und jetzt hatte er abgesagt, mitten in der Nacht.

Marie blickte zur weißen Küchenuhr, deren Zeiger sich dem Morgengrauen entgegendrehten. Der rote Sekundenzeiger klackte mahnend. Es war drei Uhr. Sie ärgerte sich. Sie ärgerte sich nicht oder nur wenig darüber, dass Anselm die Verabredung zum Tanzen abgesagt hatte, sondern darüber, dass er es jetzt getan und sie damit aus dem Schlaf geholt hatte, ja, sie war regelrecht wütend, weil seine Anrufe zum falschen Zeitpunkt gekommen waren, so falsch, als riefe Marie jetzt, jetzt sofort, ihre Mutter an, um ihr mitzuteilen, dass sie demnächst einen Kuchen backen wolle. Er muss völlig betrunken sein, vielleicht hat er noch jemanden fürs Bett gesucht, dachte Marie, warf den Kopf in den Nacken und stürzte das Wasser in einem Zug hinunter.

Zurück im Bett blätterte sie in einer Illustrierten, die neben der Stehlampe auf dem Boden gelegen hatte. Ihre Blicke klebten mehrere Minuten lang an einer farbig gestalteten Werbeanzeige, die eine Geldkarte und einen stark vergrößerten Fingerabdruck zeigte. Es sei die Karte für schwache Köpfe und starke Finger, las sie, bevor sie endlich weiterblätterte und auf einen längeren Artikel stieß:

Revolution durch Teleportation

Ein Menschheitstraum soll sich erfüllen – jener Traum, in dem der Mensch sich in nur wenigen Sekunden über Strecken von mehreren hundert Kilometern Länge bewegen kann. Durch eine patentierte Technologie der Schliemanz-Koch AG können Menschen in elektrische Impulse umgewandelt und in dieser Form beinahe mit Lichtgeschwindigkeit über Telefonkabel transportiert werden. Diese Art der Personenbeförderung bezeichnen ihre Erfinder als Teletransport oder auch Teleportation. Sie soll nun in einem Pilotprojekt zum ersten Mal im Linienverkehr zum Einsatz kommen. In enger Zusammenarbeit mit der Regierung hat die Schliemanz-Koch AG in einer Bauzeit von sechs Jahren leistungsstarke Kupferkabel zwischen Berlin und Hamburg verlegt und in beiden Städten Telestationen errichtet. Am kommenden Sonntag soll die erste Teletransportlinie der Welt eröffnet werden.

Marie brach ab, ließ die Zeitschrift zu Boden gleiten und schaltete das Licht aus. Die Zeitschrift war alt, den Artikel kannte sie schon, das angekündigte Ereignis lag mehrere Tage zurück. Eine Freundin von ihr hatte bereits einen Blitzausflug nach Hamburg unternommen.

Die Augen halb geschlossen fragte sie sich, ob Anselm sich entschuldigen werde, ob er verliebt in sie sei, ob sie in ihn, doch sie konnte nicht lange nach Antworten suchen, da sie alsbald in Tiefschlaf sank.

Anselm im Flugzeug

Tief unter den Tragflächen erstreckte sich mächtig und blau der Atlantische Ozean, über dem einzelne Wölkchen schwebten, golden umrandet vom Schein der am Horizont glühenden Sonne.

Was ist das nur für ein verrückter Tag, dachte Anselm, als er sich vom Flugzeugfenster abwandte und zurücklehnte. Er drückte den Sitz nach hinten, warf den Kopf in die Polster und bemerkte nichts vom Knistern der Cola, die hinter ihm umkippte und sich dort in einen Schoß ergoss. Abwesend starrte er nach oben in die Klimadüse, die ihm süßliche, nach Gummi und Kerosin riechende Luft ins Gesicht blies. Ihn beschäftigte nur eine einzige Frage, nämlich die, wie er von New York zurück nach Berlin gelangen könne, denn er saß völlig unbeabsichtigt in diesem Flugzeug, das vor sechs Stunden in Hamburg gestartet war, und er hatte kein Geld für den Rückflug. Eigentlich hatte er sich abends, nach erledigter Arbeit, über die Teletransportlinie von Hamburg zurück nach Berlin begeben wollen, doch war er vor der Telestation von zwei Herren aufgehalten worden, zwei Herren, die er nicht kannte, die behaupteten, sein Körper sei Eigentum der Schliemanz-Koch AG, sein Körper sei Material, das er zurückerstatten müsse. Sie bezeichneten seinen Körper ungehemmt als Material, aber er war doch ein Mensch und kein Material, und sein Körper konnte niemand anderem gehören als ihm selbst. Nur er, Anselm Hagen, hatte sich jeden seiner Muskeln, jeden Knochen, seine Haare, seine Fingernägel und seine Haut im Laufe seines Lebens selbst geschaffen, indem er fleißig gegessen und die aufgenommenen Nährstoffe zu Körperteilen verarbeitet hatte. Nie hatte man ihm fremde Organe transplantiert oder konserviertes Blut infundiert. Er war sein eigenes Produkt, er gehörte sich selbst, und kein Mensch durfte auf ihn zeigen und sagen: »Dieser Körper gehört mir.« Und dennoch gab es diese zwei Herren, die genau das erklärt und ihm damit den Tag verdorben hatten.

Anselm schloss die Augen und lauschte dem Rauschen der Triebwerke, die unermüdlich die Luft über dem Atlantik verpesteten und damit sein Leben und das der anderen dreihundert Passagiere aufrechterhielten. Er öffnete die Augen in der Hoffnung, daheim in Berlin zu sein und aus einem Alptraum zu erwachen. Am liebsten hätte er sich betrunken in einer Kneipe gesehen. Doch das Flugzeug umgab ihn noch, und alles fühlte sich echt an, so echt wie ungefälschtes Geld.

Seine Arbeit hatte an diesem Tag darin bestanden, ein Paket für den DPS, einen Kurierdienst, der seine Angestellten recht gut bezahlte, von Berlin nach Hamburg zu bringen, und er hatte bereits gegen Mittag die Arbeit erledigt, da er, anstatt die dreihundert Kilometer lange Strecke mit dem Auto zu fahren, sie mittels Teletransport bewältigt hatte. Die gewonnene Zeit hatte er genutzt, sich bei schönem Wetter in der Stadt herumzutreiben. Er war umherspaziert, durch Einkaufsstraßen gebummelt, hatte in Parks herumgelungert und den Mädchen nachgeschaut, Zeitung gelesen oder auf einer Bank gesessen und ein tropfendes Eis geschlürft. Erst am späten Nachmittag, als die Schatten der Häuser länger geworden waren, hatte er sich zurück ins Stadtzentrum begeben, um die schnelle Heimreise anzutreten, doch vor der Telestation warteten jene Herren auf ihn, stellten sich ihm in den Weg und sagten: »Guten Tag. Sie sind Herr Anselm Hagen?«

»Ja, der bin ich. Kann ich Ihnen helfen? Kennen wir uns? Ich kaufe aber nichts.«

»Also, die Sache verhält sich so«, erklärte der eine, »Sie haben sich heute Vormittag durch Teletransport von Berlin nach Hamburg bewegt?«

»Ja, und?«

»Wunderbar, wir arbeiten im Auftrag der Schliemanz-Koch AG, und Sie sind erwählt.«

»Erwählt zu was?«

»Es ist wie ein Hauptgewinn, aber das erklären wir Ihnen gleich. Wenn Sie bitte mitkommen und in unserem Auto Platz nehmen würden?« Sie deuteten auf einen blauen BMW, der auf der anderen Straßenseite parkte.

»Wenn es nicht allzu lange dauert. Ich kaufe aber wirklich nichts«, sagte Anselm, und sie begaben sich gemeinsam in das Auto. Einer der Männer setzte sich mit Anselm auf die Rückbank, der andere schlug die Tür neben Anselm zu, warf sich hinter das Steuerrad, zog die Fahrertür zu und fuhr los.

»Was soll denn das jetzt?«, rief Anselm.

»Also, die Sache verhält sich so«, sagte der Mann neben Anselm und bohrte ihm eine Pistole in die Rippen.

»Ist das eine Pistole?«, fragte Anselm.

»Ja, aber keine Angst, sie ist nicht geladen. Also, die Sache verhält sich so. Ihr Körper ist nicht Ihrer. Der ist Eigentum der Schliemanz-Koch AG, und wir bringen das Material jetzt zurück.«

»Hä?«

»Wir bringen Ihren Körper zurück, und dann wird er eingestampft«, präzisierte der Fahrer, riss das Lenkrad herum und fuhr eine scharfe Rechtskurve. Anselms Kopf bumste gegen die Scheibe.

»Aua! Hä? Eingestampft?«

»Ja, Sie werden eingestampft. Ihr Körper kommt in eine große Moulinette, in der er zerstampft, zerhackt, zerkleinert und zu Brei gerieben wird.«

»Heißt das, Sie wollen mich umbringen?«

»Nein, natürlich nicht. Wobei, aus Ihrer Sicht betrachtet, doch. Das ist aber nicht schlimm. Glauben Sie mir.«

»Das soll nicht schlimm sein?«

»Nein.«

Tausend Wespen schienen in Anselms Bauch zu summen, sein Herz tanzte Polka, und Schweiß trat auf seine Hände. Der Wagen fuhr eine Linkskurve. Anselm stieß gegen den Lauf der Waffe.

Vor wenigen Minuten hatte er noch geglaubt, gleich in Berlin zu sein, vielleicht später am Abend noch ein Bier zu trinken, und jetzt saß er in einem Auto mit zwei Verrückten. Sie fuhren über eine Kopfsteinpflasterstraße, die Räder dröhnten, und Anselm nahm den Dialog wieder auf: »Sie wollen mich wirklich umbringen?«

»Ja.«

»Töten?«

»Jupp.«

»Ermorden?«

»Wie man’s eben nimmt.«

»Schlachten?«

»Richtig.«

»Umbringen?«

»Ja doch.«

»Einfach umbringen?«

»Ja, verdammt noch mal, wir wollen Sie umbringen. He! Pass doch auf! Du hättest sie fast umgebracht«, schimpfte der Mann, der die Pistole hielt, als der Fahrer scharf bremsen musste, weil er eine Radfahrerin, die von rechts aus einer Seitenstraße rollte, zu spät gesehen hatte. Das Auto kam mitten auf der Kreuzung zum Stehen. Die Radfahrerin machte einen Schwenker und zeigte den Insassen einen Vogel.

»Ich steig jetzt aus«, sagte Anselm, öffnete die Tür und stieg aus.

»Halt! Stehen bleiben! Sonst schieße ich.«

»Die ist doch gar nicht geladen«, erwiderte Anselm und rannte fort.

»Doch! Die ist geladen. Das war vorhin nur ein Scherz. Glauben Sie etwa, ich würde mit einer ungeladenen Pistole auf Sie zielen?«

Anselm hörte nicht hin. Er rannte hinein in die Querstraße, aus der die Radfahrerin gekommen war. Die Männer sprangen aus dem Wagen und spurteten ihm nach.

»Ein Scherz war das, ein Scherz! Stehen bleiben! Halt! Ein Scherz! Verstehen Sie nicht die Komik des Ganzen? Ich bedrohe Sie mit einer Pistole und sage, dass sie nicht geladen ist. Das ist doch Blödsinn, das ist doch komisch, hihi. Ein Scherz! Stehen bleiben, sonst schieße ich!«

Anselm war nicht zum Lachen zumute, und ihm war es egal, ob er im nächsten Augenblick erschossen oder später in einer Moulinette zerstampft und zu Brei gerieben würde. Ohne sich umzuschauen, raste er weiter und erblickte als rettende Oase am Ende der kurzen Straße einen Taxistand.

»Na? Wo soll’s denn hingehen?«, fragte der Taxifahrer und legte die Zeitung beiseite, als Anselm auf den Beifahrersitz hechtete.

»Fahren Sie bitte die Männer dort um!«, sagte Anselm und zeigte auf die beiden, die auf das Taxi zurannten. Der Fahrer gab Gas, und die Männer hüpften fort wie Laubfrösche im Feuer.

»So, Scherz beiseite. Wo soll’s denn nun hingehen?«

»Ähm … Am besten …«

»So ein Mist. Wie soll ich denn hier vorbeikommen? Welcher Blödmann parkt denn seinen BMW mitten auf der Kreuzung?« Der Taxifahrer hielt an und hämmerte auf die Hupe.

»Fahren Sie am besten mit Vollgas im Rückwärtsgang!«, riet Anselm, der nach hinten blickte und seine Verfolger herannahen sah, aber der Taxifahrer umkurvte entschlossen das Hindernis, indem er sein Auto halb über den Gehsteig steuerte. Wieder in Fahrt, musste sich Anselm erneut der Frage stellen, wo er hinwolle.

»Bringen Sie mich bitte zur Telestation!«, sagte er.

»Wollen sie mich veräppeln?«, antwortete der Taxifahrer und drehte seinen Kopf verärgert zu Anselm. »Da hätten Sie auch zu Fuß gehen können. Das ist drei Schritte von hier um die Ecke. Deswegen habe ich jetzt nicht vom Taxistand abgelegt, oder?« Er bremste.

»Nein. Fahren Sie mich bitte zum Flughafen! ›Flughafen‹, wollte ich sagen, na klar, ›Flughafen‹.«

Der Taxifahrer gab Gas.

»Und wenn Sie den BMW hinter uns abhängen«, ergänzte Anselm, »zahle ich das Doppelte.«

Das Doppelte?, hallte es in Anselms Kopf nach, denn er hatte nur noch ein paar Münzen, die wohl nicht einmal gereicht hätten, die wenigen bisher zurückgelegten Meter zu bezahlen. Wie sollte er dann das Doppelte geben? Anselm verdrängte die Frage und schnallte sich an, da der Taxifahrer, ein beleibter Mann in Lederjacke, der blondes, halblanges Haar und einen vollen Oberlippenbart trug, Anselms Wunsch augenscheinlich sehr ernst nahm. Er raste verboten schnell durch die Straßen, blinkte links und fuhr rechts, blinkte rechts und fuhr links, fuhr bei Rot und manchmal knapp gegen andere Autos oder Radfahrer. Anselm krallte sich am Türgriff fest, bremste und lenkte sowohl gedanklich als auch pantomimisch jedes Manöver mit. Er fürchtete um sein Leben und versuchte sich damit zu trösten, dass er soeben noch mit zwei Verrückten, die ihn umbringen wollten, in einem Auto gesessen hatte und es jetzt wenigstens nur noch einer war.

Eine halbe Stunde dauerte die aberwitzige Tour, dann erreichten sie das Flughafengelände, wo sie auf grauen Betonstraßen an fußballfeldgroßen Parkplätzen vorbei zum Haupteingang der Empfangshalle rasten. Hinter dem zweistöckigen Glasgebäude lag das weitflächige, von Stacheldrahtzaun umsäumte Rollfeld, auf dem die Maschinen ohrenbetäubenden Lärm ausstießen, wenn sie zum Start die Triebwerke auf Höchstleistung brachten. Etwas weiter entfernt drehte sich gemächlich ein mächtiger Radarschirm im Kreis, und der Tower blitzte sekündlich mit weißem Licht. Der Sicherheitsgurt zerrte an Anselms Schultern, als der Wagen scharf bremste und am Ende einer Reihe wartender Taxis vor dem Haupteingang stoppte. Hinter ihnen rollte ein blauer BMW heran.

»So, und jetzt möchte ich bitte, dass Sie mich zur Telestation bringen. Das ist doch weit genug entfernt, das kann ich doch nicht mehr zu Fuß laufen, oder?«, sagte Anselm, der den BMW bereits bemerkt hatte.

»Wollen Sie mich veräppeln? Da kommen wir doch gerade her«, entgegnete der Fahrer. »Aber gut, ich fahr Sie auch wieder zurück. Mir egal. Wie Sie wollen. Zuerst bezahlen Sie aber bitte die Tour bis hierher!« Er drückte einen Knopf am Armaturenbrett, es piepste kurz, und der Preis erschien in rot leuchtender Schrift auf dem Display daneben.

»Ich steig jetzt aus«, sagte Anselm und ließ den Sicherheitsgurt aufschnappen, da ließ der Fahrer die Zentralverriegelung zuschnappen. Anselm entriegelte die Tür von Hand und stieg aus.

»Halt! Stehen bleiben!«, rief der Taxifahrer, stieg ebenfalls aus und rannte Anselm, der in das Gebäude geflüchtet war, hinterher.

Anselm hüpfte im Zickzack über die Marmorplatten, in denen sich die Koffer, die Menschen und die Lampen spiegelten. Fast blind stolperte er voran, rempelte hier jemanden an oder entschuldigte sich dort für einen auf den Boden klatschenden Koffer, den er wie ein Hürdenläufer übersprungen und mit dem nachziehenden Bein mitgerissen hatte – hinter ihm zwei Männer, die ihn umbringen wollten, und ein Taxifahrer.

Schnell gelangte Anselm zu den Check-in-Schaltern, die mit Drehkreuzen den Weg versperrten. Geradeaus konnte er ohne Flugticket nicht weiter. Ihm blieb bestenfalls die Flucht zur Seite, doch auch dort würde er nicht weit kommen. Anselm flehte innerlich, es möge ein Wunder geschehen. Er blieb stehen und drehte sich um. Und siehe da! Wie durch ein Wunder war ein Wunder geschehen. In der Halle wimmelte es plötzlich von Flughafenbeamten, die in blauen Filzuniformen wie fleißige Ameisen umherliefen und irgendetwas zu ordnen versuchten. Einige von ihnen hatten sich, einen großzügigen Halbkreis bildend, aufgereiht und versperrten sämtlichen Menschen den Weg. Der Taxifahrer versuchte, durch die Barriere zu schlüpfen, doch die Beamten drückten ihn zum Ausgang, obwohl der Taxifahrer wild gestikulierend auf Anselm zeigte. Auch die beiden Herren, die Anselm umbringen wollten, mussten vor der Sperre kapitulieren. Immer mehr Uniformierte kamen hinzu. Einige von ihnen trugen Aluminiumpfähle bei sich, die sie, den Halbkreis nachbildend, in kurzen Abständen zueinander aufstellten, andere begannen, die Pfähle mittels rotweißem Absperrband zu verbinden, und weitere Männer geleiteten die in der Halle gebliebenen Personen zum Ausgang. Das Gebäude war beinahe geräumt und niemand mehr in dem markierten Gebiet. Nur noch ein schwarzer Aktenkoffer stand einsam in der Mitte des Feldes. Zwei Personen in gepanzerten Anzügen, sie wirkten wie Tiefseetaucher, kamen hinzu und musterten den Aktenkoffer, als wäre er ein außerirdisches Wesen.

»Wenn Sie bitte schnellstmöglich das Gebäude verlassen würden«, wurde Anselm von einem Beamten aufgefordert.

»Was?«

»Bitte verlassen Sie das Gebäude! Hier gibt es nichts zu sehen.«

»Ich seh aber was«, sagte Anselm.

»Bitte verlassen Sie schnell das Gebäude!«

»Ich kann nicht raus. Draußen sind zwei Verrückte, die wollen mich umbringen.«

»Ich glaube, Sie sind verrückt. Da in dem Koffer ist vermutlich eine Bombe. Die wird jetzt entschärft.«

»Vermutlich?«

»Ja, vermutlich. ›Vermutlich‹ deshalb, weil der Koffer seit einer halben Stunde ohne Besitzer dort steht.«

»Ja?«

»Ja! Und jetzt verlassen Sie bitte das Gebäude, sonst muss ich Gewalt anwenden!« Der Beamte griff Anselm am Arm.

»Aua! Aber, Moment, bitte! Darf ich meinen Koffer noch mitnehmen?« Anselm entriss sich dem Beamten und erklärte, dass der Koffer ihm gehöre. Er hatte schon oft in der Zeitung gelesen, dass ein Flughafen oder ein Bahnhof wegen eines vermeintlichen Bombenfundes gesperrt worden sei, wegen eines Gepäckstückes, das sich dann als eine mit Socken, Schlüpfern und Hemden gefüllte Tasche herausgestellt hatte. Noch nie hatte er gehört, es habe sich tatsächlich ein herrenloser Koffer als Sprengsatz entpuppt.

»Ja, sind Sie denn verrückt, Ihr Gepäck allein zu lassen? Wissen Sie nicht, dass herrenlose Koffer und Taschen sofort von Experten entschärft werden?«, schimpfte der Beamte.

»Entschuldigung.«

»Das haben Sie gut hingekriegt.« Der Beamte wandte sich seinen Kollegen zu und rief: »Okay, Leute! Aktion abgeblasen. Wir haben den Eigentümer gefunden. War eine schöne Übung. Alles erledigt.«

Die Männer in den Schutzanzügen nahmen ihre gepanzerten Helme ab und stapften schwerfällig davon. Andere begannen, das Absperrband einzurollen und die Aluminiumpfähle einzusammeln.

»Entschuldigung«, sagte Anselm noch einmal, ging etwas zögerlich zu dem Aktenkoffer, nahm ihn auf, räusperte sich und lief, so gelassen es ihm gelang, fort. Sein Weg führte direkt zu den Toiletten am Rande der Halle, wo er sich in die erste freie Zelle einriegelte, auf den geschlossenen Deckel setzte und seufzend ausatmete.

Anselm nahm den Koffer, der auf beiden Seiten durch ein dreistelliges Zahlenschloss gesichert war, auf den Schoß, und während draußen wieder der normale Betrieb aufgenommen wurde, begann Anselm die Ziffernrädchen zu drehen. Er probierte bei null beginnend die möglichen Kombinationen durch. Ziffer um Ziffer drehte er weiter und zog bei jedem eingestellten Code an dem quadratischen Knopf. Nach einer halben Stunde war das linke, eine halbe Stunde darauf das rechte Schloss geöffnet.

Anselm fand in dem Koffer ein Flugticket und einen Knetklumpen, in dem zwei Drähte steckten. Beide Drähte, ein grüner und ein roter, schlängelten sich verdrillt zu einem am Koffer mit Klebeband befestigten Quarzwecker.

Mehr war nicht in dem Koffer, weder Geld noch andere Wertgegenstände wie Goldbarren, teure Uhren oder Diamanten, nichts von dem, was Anselm sich anfangs erhofft hatte. Er riss die Drähte aus dem Quarzwecker, warf den Knetklumpen in die Toilette und spülte ihn herunter.

Kurz darauf verließ Anselm die Zelle, und als er sich im weiß gekachelten Raum dem Ausgang zuwandte, hörte er hinter sich eine Stimme: »Da ist er ja! Ich wusste, dass er sich hier noch irgendwo rumtreibt. Stehen bleiben!«

Anselm fuhr erschrocken herum und erkannte den Mann, der behauptet hatte, seine Pistole sei nicht geladen. Der Mann benutzte eines der Keramikbecken an der Wand.

»Stehen bleiben!«, sagte der Mann und beugte sich weit nach hinten, als Anselm zum Ausgang floh.

»Stehen bleiben!«, hörte Anselm ihn noch einmal rufen.

Wieder flitzte Anselm durch die Halle über die Marmorplatten, bis er an einen Check-in-Schalter gelangte und einer Dame in blauer Uniform das im Koffer gefundene Ticket zeigte.

Was ist das nur für ein verrückter Tag, dachte Anselm immer wieder. Sechs Stunden war es nun her, seit er in das Flugzeug gestiegen war. Anselm blickte aus dem Fenster und erkannte bereits den amerikanischen Kontinent.

Es klapperte. Die Stewardess schob ein Wägelchen durch den Gang und teilte Essenspäckchen an die Fluggäste aus. Anselm nahm eines entgegen.

»In einer Dreiviertelstunde landen wir. Dann haben wir es geschafft«, sagte die Frau auf seinem Nachbarsitz. »Jetzt gibt es noch mal was zu essen, und dann, dann ist es geschafft.«

»Ja, ja«, murmelte Anselm, öffnete die Cellophantüte und holte zwei Scheiben Schwarzbrot, eine Scheibe Salami, eine Scheibe Käse und ein in Aluminiumfolie verpacktes Stück Butter heraus. Mit dem beigelegten Plastemesser schmierte er gedankenverloren die Butter auf einer Brotscheibe breit.

»Wissen Sie«, fuhr die Frau neben ihm fort, »ich bin froh, wenn wir endlich gelandet sind. Ich habe jedes Mal fürchterliche Angst vor dem Fliegen. Manchmal wird mir sogar schlecht davon. Und dann bin ich froh, wenn alles vorbei ist. Ich fliege nämlich einmal die Woche von Hamburg nach New York.« Auch sie quetschte jetzt die Butter auf einer Brotscheibe platt.

»Und zurück auch?«, fragte Anselm uninteressiert.

»Zurück?«

»Einmal die Woche von Hamburg nach New York und auch zurück, einmal die Woche?«

»Ja, ja natürlich, auch zurück. Das ist furchtbar anstrengend. Aber vielleicht gibt es ja bald eine Teletransportlinie zwischen den Städten. Das soll demnächst auch über Satellit funktionieren. Dann dauert die Reise nur noch ein paar Sekunden, und das spart Zeit und schont meine Nerven, weil ich mich immer so vor dem Fliegen fürchte. Aber heute bin ich irgendwie völlig ruhig. Ist das nicht komisch? Ich habe überhaupt keine Angst, sonst ist das viel schlimmer. Glauben Sie mir! Normalerweise zittern meine Hände so stark, dass ich nicht einmal Brote schmieren kann.« Die Frau führte ihr mit Salami belegtes Brot zum Mund und biss hinein.

»Ja, ja, manchmal ist das eben so. Ich fliege eher selten nach New York«, sagte Anselm und sah am Fenster sechs Schatten vorbeihuschen. »Huch? Waren da nicht gerade sechs Schatten?«, wollte er sagen, sagte jedoch nur »Huch?«, da im nächsten Moment das Flugzeug explodierte. Gewaltige Vibrationen gingen durch die Maschine, das Cockpit wurde abgetrennt, und der Druck im Innern des Rumpfes sank rapide ab. Für einen Moment wurde es glühend heiß, danach riss ein eisiger Sturm alles Unbefestigte heraus.

Anselm fand sich im freien Fall über dem Atlantischen Ozean wieder. Neben ihm Menschen, Koffer und Flugzeugteile, hier ein Arm, dort ein Bein und da eine halb mit Butter beschmierte Schwarzbrotscheibe. Einige der Gegenstände hatten Feuer gefangen und zogen dunkle Rauchschwaden hinter sich her, so auch die Gummisohle des Schuhs an dem abgerissenen Bein, das neben ihm schwebte und mit ihm nach unten raste.

Langsam wurde ihm klar, was geschehen war. Das Flugzeug war explodiert, es hatte ihn ins Freie gerissen, und er würde in wenigen Minuten in den Fluten des Ozeans verschwinden. Den Aufprall aufs Wasser mit etwa zweihundert Kilometern pro Stunde könnte er kaum überleben. Bei einer solchen Geschwindigkeit war die Flüssigkeit hart wie Granit, und falls er doch überleben sollte, würde er spätestens nach zwanzig Minuten im bitterkalten Meer erfroren sein oder von Haien gefressen werden.

Er blickte hinab auf den Ozean, dem die sinkende Sonne einen goldenen Streifen auf die Oberfläche legte. Nur noch wenige Minuten blieben bis zum Aufprall. Er sah sich im rauschenden Wind um, er betrachtete seinen Körper, und was entdeckte er da? Ihm fehlte ein Bein! Die Wucht der Explosion musste es abgerissen haben.

Jetzt war alles aus! Selbst wenn er überleben sollte, den Aufprall ins Wasser, die Kälte und die Haie, wenn er gar von einem Schiff gerettet und nach Berlin zurückgebracht würde, er könnte nicht am Wochenende mit Marie tanzen gehen. Anselm holte sein Taschentelefon aus der Tasche, rief Marie an und sagte, dass er am Wochenende nicht wie verabredet mit ihr tanzen gehen könne. Marie antwortete nur: »Spinnst du? Das hättest du mir auch morgen noch sagen können. Es ist mitten in der Nacht. Warum rufst du mich jetzt an?«

Kurz darauf klatschte er ins Wasser und brach sich dabei, wie durch ein Wunder, lediglich das Bein. Wenige Sekunden später wurde er von einem herabfallenden Koffer erschlagen.

Eröffnung

Unter dem fast wolkenlosen Himmel spiegelten sich die umliegenden Hochhaustürme in der Glasfassade des kreisrunden Bauwerks, auf dessen Dach in grünen Lettern der Schriftzug Telestation Berlin prangte. Auf dem Vorplatz hatten sich einige Menschen versammelt, um der Eröffnung beizuwohnen. Mikrofon und Lautsprecher waren aufgebaut. Eine Blaskapelle, deren Musiker goldgelbe Blechinstrumente bereithielten, erwartete ihren Einsatz. Der Bürgermeister trat ans Mikrofon, nestelte einen Zettel aus der Innentasche seines grauen Jacketts und sprach: »Meine sehr verehrten Damen und Herren.« Aus den Lautsprechern schrillte jedoch nur ein grässlicher Pfeifton. Die Zuschauer zuckten gemeinschaftlich zusammen, und die Musiker wackelten mit ihren Instrumenten. Einem entglitt die Tuba. Sie krachte scheppernd zu Boden. Vom Vordach des Eingangs erhob sich ein Taubenschwarm, der über den Köpfen der Menschen umherflatterte, bis sich die Rückkopplungsgeräusche gelegt hatten.

Vorsichtig pochte der Redner gegen das Mikrofon und sagte: »Test, Test, eins, zwo, eins, zwo. Meine sehr verehrten Damen und Herren!«

Jedes Wort ging mit dreifachem Echo über den Platz, bevor es verhallte.

»Mit dem Bau der ersten Teleportationslinie der Welt hat unser Land wieder einmal mehr seine führende Position in der Wirtschaft und bei der Umsetzung von Spitzentechnologien unter Beweis gestellt. Ich bin davon überzeugt, dass sich vom heutigen Tage an …«

Blech knirschte auf Stein, da der Musiker seine Tuba aufhob.

»Ich … ich bin davon überzeugt, dass sich vom heutigen Tage an vieles verändern wird. Teleportationslinien, die in Zukunft alle Städte unseres Landes und auch die Städte überall in der Welt miteinander verbinden werden, helfen uns dabei, die Menschen einander näher…«

Brop! Der Musiker hatte in sein Instrument geblasen, um die Funktionstüchtigkeit zu prüfen. Alle Blicke richteten sich auf ihn.

»Entschuldigung!«, rief er und zuckte verlegen mit den Schultern.

»Äh …«, nahm der Bürgermeister seine Rede wieder auf, »Ich bin stolz darauf … Nein … Ich bin davon überzeugt … Nein … Moment … hier … die in Zukunft alle Städte unseres Landes und auch die Städte überall in der Welt miteinander verbinden werden, helfen uns dabei, die Menschen einander näherzubringen und wirtschaftliches Wachstum zu fördern. Ich bin stolz darauf, nun die erste Teleportationslinie der Welt eröffnen zu dürfen.«

Unter verhaltenem Applaus knüllte er den Zettel zusammen und steckte ihn weg. Mit einer beinlangen Schere, die man ihm gereicht hatte, zerteilte er das rote Samtband, das zwischen zwei Messingpfähle gespannt den Eingang des Gebäudes versperrte, und er erklärte, dass die Teleportationslinie nun eröffnet sei. Er gab den Musikern ein Zeichen, woraufhin sie eine fröhliche Melodie mit stampfendem Rhythmus zu spielen begannen.

Die Menschen strömten in das Gebäude.

Anselm am Morgen

Anselm taumelte benommen zum klingelnden Wecker, schaltete ihn aus und legte sich zurück ins Bett. Eine Stunde später träumte er, sein Telefon klingele, und er öffnete die Augen. Verdammt, verschlafen, war sein erster Gedanke, als er die Staubpartikel im Licht der hereinscheinenden Sonne sah.

»Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Hagen!«, hörte er jemanden auf seinen Anrufbeantworter sprechen. »Mein Name ist Thomas Kopp. Ich bin vom DPS. Vielleicht erinnern Sie sich an mich. Wir haben gestern miteinander gesprochen. Wenn ich mich nicht irre, wollten Sie heute um neun Uhr bei uns erscheinen und für uns arbeiten, Pakete ausfahren. Ich hoffe doch, Sie haben nicht verschlafen, sondern Ihnen ist auf dem Weg zu uns etwas schwer Vorhersehbares passiert, etwa ein Verkehrsunfall. So ein verdammter Mist! Klick, piep, piep, piep.«

Anselm stürmte hinaus in den Flur, hinein ins Badezimmer, drehte den Hahn über dem Waschbecken auf, steckte den Kopf unter den kalten Strahl, zog den Kopf zurück, drehte den Wasserhahn zu, rubbelte seinen Kopf mit einem gelben Frotteehandtuch trocken, feuerte das Handtuch in die Ecke, rannte zurück ins Zimmer, schnappte sich eine Hose vom Boden, zog sie an, las eines der T-Shirts auf und streifte es über, zog die Hose aus, zog einen Schlüpfer an, zog die Hose wieder an, suchte zwischen anderen Kleidungsstücken am Boden nach Socken, fand keine Socken, wühlte die Kleidungsstücke noch einmal durch, fand immer noch keine Socken, nicht einmal die vom Vortag, ging zum Kleiderschrank an der Wand, öffnete ihn, zog eine Schublade heraus, wühlte in ihr herum, fand keine Socken, kippte den Inhalt der Schublade aus und suchte in dem Haufen, fand ein Paar, schlüpfte hinein, suchte das Taschentelefon, fand es nicht, rief es mit dem anderen Telefon an, es klingelte in der Küche, er eilte in die Küche, fand das Taschentelefon neben dem Abwaschbecken, in dem sich ein Berg dreckigen Geschirrs auftürmte, steckte das Taschentelefon ein, suchte die Geldkarte, fand sie im Zimmer unter dem Bett, steckte sie ein, hastete in den Flur, suchte seine Schuhe, fand sie nicht, rannte ins Zimmer, fand sie unter dem Schreibtisch, zog sie an, suchte den Wohnungsschlüssel, fand ihn auf dem Schreibtisch neben einer leeren Bierflasche, rannte in den Hausflur, schlug die Wohnungstür zu, polterte vier Treppen hinunter auf die Straße.

Die Haustür fiel hinter ihm ins Schloss.

Nun hatte er noch einen zehnminütigen Fußmarsch bis zur Zentrale des DPS.

DPS

»Sie haben sich verspätet, Herr Hagen«, lispelte Thomas Kopp hinter seinem Schreibtisch, über einen biblisch großen Terminplaner gebeugt. Er blickte auf, zog die obere seiner wulstigen Lippen hoch und blinzelte fragend durch seine Hornbrille. Durch die Jalousie zeichnete die Sonne helle Streifen auf Kopps Gesicht, was ihm Ähnlichkeit mit einem Zebra verlieh.

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