Das Feuer (Autobiografischer Roman) - Gabriele D'Annunzio - E-Book
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Das Feuer (Autobiografischer Roman) E-Book

Gabriele D’annunzio

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Beschreibung

Gabriele D'Annunzio's 'Das Feuer' ist ein autobiografischer Roman, der die leidenschaftliche und exzessive Lebensweise des Protagonisten beschreibt. Das Buch ist in einem lebendigen und poetischen Stil geschrieben, der die emotionalen Höhen und Tiefen des Hauptcharakters authentisch widerspiegelt. D'Annunzio verwendet eine reiche Sprache und metaphorische Bilder, um die innere Welt seines Ich-Erzählers zu erkunden und dem Leser einen Einblick in seine intimsten Gedanken und Gefühle zu geben. In literarischer Hinsicht kann das Werk als Beispiel für die Dekadenzliteratur des Fin de Siècle betrachtet werden, die sich mit Themen wie Hedonismus, Erotik und Sinnlichkeit auseinandersetzt. Der Roman liefert somit einen faszinierenden Einblick in die psychologische Entwicklung des Protagonisten und legt dessen Streben nach Selbstverwirklichung offen.

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Gabriele D'Annunzio

Das Feuer

(Autobiografischer Roman)

Die Liebe ist wie der Krieg: ein Sieg macht zwei Besiegte!

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-7583-477-5

Inhaltsverzeichnis

Cover
Titelblatt
Text

Stelio, klopft Ihnen das Herz nicht zum erstenmal?« – fragte die Foscarina mit schwachem Lächeln, die Hand des schweigsamen Freundes, der an ihrer Seite saß, leicht berührend. – »Ich sehe Sie ein wenig bleich und nachdenklich. Welch schöner, sieghafter Abend für einen großen Dichter!«

Mit einem Blick ihrer empfänglichen Augen umfaßte sie die ganze göttliche Schönheit, die der letzte Dämmerschein des Septemberabends ausströmte. In diesem leuchtend dunkeln Himmel umkränzten Lichtgirlanden, vom Ruder im Wasser erzeugt, die aufragenden Engel, die in der Ferne auf den Glockentürmen von San Marco und San Giorgio Maggiore schimmerten.

»Wie immer« –- fuhr sie mit ihrer süßesten Stimme fort – »wie immer ist alles Ihnen günstig. Welche Seele könnte sich an einem Abend, wie heute, den Träumen verschließen, die Sie durch Ihre Worte heraufbeschwören werden? Fühlen Sie nicht schon, wie die Menge bereit ist, Ihre Offenbarung zu empfangen?«

So umschmeichelte sie den Freund in zarter Weise, liebkoste ihn mit Schmeichelworten, hob seine Stimmung durch unablässiges Lob.

«Man konnte kein prächtigeres und ungewöhnlicheres Fest ersinnen, einen so reizbaren Dichter, wie Sie, aus dem elfenbeinernen Turm zu locken. Ihnen allein war die Freude vorbehalten, zum erstenmal zu einer Menge zu sprechen an einem so erhabenen Ort, im Saal des Großen Rates, auf der Tribüne, von dereinst der Doge zu der Versammlung der Patrizier sprach, das ›Paradies‹ des Tintoretto als Hintergrund und über sich den ›Ruhm‹ des Veronese.«

Stelio Effrena blickte ihr in die Augen.

»Wollen Sie mich berauschen?« – sagte er mit plötzlicher Heiterkeit. – »Das ist der Becher, den man denen reicht, die zum Tode geführt werden. Nun wohl, meine Freundin, ich gestehe Ihnen, mein Herz klopft ein wenig.«

Der Lärm geräuschvoller Zurufe tönte von dem Traghetto San Gregorio herüber, hallte wider über den Canale Grande und wurde von den beiden kostbaren Disken aus Porphyr und Serpentinstein zurückgeworfen, die das Haus der Dario schmücken, das geneigt steht, wie eine gealterte Courtisane unter der Pracht ihres Geschmeides.

Die königliche Gondel fuhr vorüber.

»Sehen Sie hier die unter Ihren Hörerinnen, der beim Beginn zu huldigen die Etikette Ihnen vorschreibt« – sagte die schmeichelnde Frau, auf die Königin anspielend. – »In einem Ihrer ersten Bücher, dünkt mich, gestehen Sie Ihren Respekt und Ihre Vorliebe für alles Zeremonielle. Eine Ihrer seltsamsten Phantasien hat einen Tag Karls des Zweiten von Spanien zum Motiv.«

Da die königliche Barke dicht an ihrer Gondel vorbeifuhr, grüßten die beiden. Die Königin wandte sich, als sie den Dichter der ›Persephone‹ und die große Tragödin erkannte, in unwillkürlicher Neugier: blond und rosig, von ihrem schonen unermüdlichen Lächeln verklärt, das sich in dem lichten Gewoge der buranesischen Spitzen verlor. An ihrer Seite saß die Herrin von Burano, Andriana Duodo, die auf der kleinen betriebsamen Insel einen Garten von Spitzen zog, in dem antike Blumen in wunderbarer Weise neu erstanden.

»Scheint es Ihnen nicht, Stelio, als ob das Lächeln dieser beiden Frauen einander gleicht wie Zwillinge?« – sagte die Foscarina und blickte auf das Wasser, das in der Furche der enteilenden Barke aufflammte, auf der der Widerschein des zwiefachen Lichts sich zu verlängern schien.

»Die Gräfin hat eine reine und herrliche Seele, eine jener seltenen venetianischen Seelen, in denen die alten Bilder sich lebendig spiegeln« – sagte Stelio mit Dankbarkeit. »Ich hege eine tiefe Bewunderung für ihre sensitiven Hände. Es sind Hände, die vor Entzücken beben, wenn sie eine schöne Spitze oder schönen Samt berühren, und sie verweilen darauf mit einer Anmut, die fast sich schämt, allzu weich zu sein. Eines Tages als ich sie durch die Säle der Academia begleitete, blieb sie vor dem ›Bethlehemitischen Kindermord‹ des ersten Bonifazio stehen (– Sie erinnern sich gewiß des grünen Gewandes bei der zu Boden geworfenen Frau, die der Soldat des Herodes eben töten will: ein unvergeßlicher Ton! –); sie blieb lange davor stehen, auf ihrem Gesicht leuchtete die Freude über diesen vollkommenen Genuß, dann sagte sie zu mir: ›Führen Sie mich fort, Effrena. Ich muß meine Augen auf diesem Gewand lassen und kann nichts anderes mehr sehen.‹ Ach, teure Freundin, lächeln Sie nicht! Sie war offen und aufrichtig, da sie so sprach: sie hatte in Wirklichkeit ihre Augen auf jenem Stückchen Leinwand gelassen, das die Kunst durch ein bißchen Farbe zum Mittelpunkt eines unendlich erhabenen Mysteriums gemacht hat. Und in Wirklichkeit führte ich eine Blinde, von tiefer Ehrfurcht ergriffen für diese bevorzugte Menschenseele, über die die Macht der Farbe eine solche Gewalt hatte, daß sie für einige Zeit jede Spur des alltäglichen Lebens verwischte und jede andere Mitteilung verbot. Wie wollen Sie das nennen? Den Kelch bis zum Rande füllen, dünkt mich. Das ist es zum Beispiel, was ich heute abend tun wollte, wenn ich nicht entmutigt wäre.«

Neues Rufen, stärker und anhaltender, erhob sich zwischen den beiden schützenden Granitsäulen, als die Prunkgondel bei der belebten Piazetta anlegte. Die schwarze und dichte Menge wogte dazwischen hin und her, und die leeren Nischen der herzoglichen Loggien füllte ein wirres Geräusch, wie das Brausen, das die Höhlen der Seemuscheln zu beleben scheint. Dann plötzlich stieg erneutes Rufen in die leuchtend klare Luft auf, brach sich oben an dem schlanken Marmorwald, erhob sich über die Köpfe der hohen Statuen, erreichte die Zinnen und die Kreuze und verlor sich in der abenddämmernden Ferne. Unveränderlich, erhaben über die Bewegung unter ihr, verblieb in der neuen Pause die vielfältige Harmonie der heiligen und profanen Gebäude. Und darüber zogen sich, wie eine leichte, bewegliche Melodie, die jonischen Modulationen der Bibliotheca hin, und erhob sich die Spitze des kahlen Turmes wie ein mystischer Schrei. Und diese stumme Musik der unbeweglichen Linien war so mächtig, daß sie die fast sichtbare Vision eines schöneren und reicheren Lebens erzeugte, die erhabener war als das Schauspiel der unruhigen Menge. Die Menge fühlte die Göttlichkeit der Stunde; und in dem jauchzenden Zuruf, den sie dieser neuen Form von Königshoheit zollte, die an dem antiken Ufer landete, dieser schönen blonden Konigin, die von einem unversiegbaren Lächeln verklärt war, strömte sie vielleicht das dunkle Sehnen aus, die engen Schranken des Alltagslebens zu durchbrechen und die Gaben der ewigen Poesie zu empfangen, die über diesen Steinen und diesen Wassern verstreut sind. Die habgierige und starke Seele der Väter, die den heimkehrenden Triumphatoren auf dem Meere zujubelten, erwachte unklar in diesen durch die öde Langeweile und die Drangsal der langen Tage niedergedrückten Menschen; es war darin etwas von der Luft, die noch von dem Flattern der mächtigen Kriegsbanner bewegt war, wenn diese gleich den Fittichen der Siegesgöttin nach beendetem Flug eingezogen wurden, oder von dem Knirschen der Helden, das unversöhnlich blieb, auch wenn das Geschwader in die Flucht geschlagen war.

»Kennen Sie Perdita« – fragte Stelio plötzlich – »kennen Sie irgendeinen anderen Ort der Welt, der in gewissen Stunden imstande ist, die menschliche Lebenskraft anzuregen und alle Wünsche bis zum Fieber zu steigern, wie Venedig? Kennen Sie eine gewaltigere Verführerin?«

Die Frau, die er Perdita nannte, hielt ihr Haupt geneigt, wie um sich zu sammeln, sie antwortete nicht; aber in allen Nerven fühlte sie das unbeschreibliche Beben, das die Stimme des jungen Freundes ihr verursachte, wenn sie plötzlich zur Offenbarerin einer leidenschaftlichen und ungestümen Seele wurde, zu der sie eine grenzenlose Liebe und eine grenzenlose Furcht zog.

»Frieden! Vergessen! Finden Sie diese Dinge dort unten im Grunde Ihres einsamen Kanals, wenn Sie heimkehren, erschöpft und fiebernd von der Luft des Parketts, die eine Bewegung von Ihnen zu frenetischem Jubel hinreißt? Ich für meinen Teil fühle, wenn ich auf diesem toten Wasser bin, mein Leben sich vervielfältigen mit schwindelnder Schnelle; und zu manchen Stunden scheint es mir, als ob meine Gedanken sich entzündeten, wie beim Ausbruch des Deliriums.«

»Die Kraft und die Flamme sind in Ihnen, Stelio« – sagte die Frau fast demütig, ohne die Augen zu erheben.

Er schwieg absichtlich, denn in seinem Geiste erstanden Bilder und leidenschaftliche Melodien, wie durch plötzliche Befruchtung, und er freute sich an dem Reichtum, der ihm unerwartet zuströmte.

Noch dauerte die Stunde des Vesperläutens, die er in einem seiner Bücher die Tizianische Stunde genannt hatte, weil dann alle Dinge gleich den nackten Geschöpfen dieses Künstlers in ihrem eigenen reichen Licht zu strahlen und fast den Himmel zu erleuchten schienen, statt ihr Licht von ihm zu empfangen. Aus seinem eigenen grünlichen Schatten tauchte der achteckige Tempel auf, den Baldassare Longhena einem Traume des Polifilo nachbildete, mit seiner Kuppel, seinen Voluten, mit seinen Statuen, seinen Säulen, seinen Pilastern, seltsam und prächtig, wie ein Meerschloß, das den gewundenen Formen der Muschel nachgebildet weißlich wie Perlmutter schimmert, und auf dem sich in den Höhlungen der Steine durch den feuchten Salzgehalt etwas Frisches, Silbriges und Funkelndes abgesetzt hatte, das die Vorstellung weckte von perlmutterfarbenen Muscheln, die sich auf den heimischen Wassern öffnen.

»Perdita« – sagte der Dichter, der sein ganzes Sein wie von einem geistigen Glücksrausch ergriffen fühlte, als er sah, wie seine Phantasien alles um ihn her belebten – »scheint es Ihnen nicht, als folgten wir dem Trauerzug des gestorbenen Sommers? In einer Trauerbarke ruht die Göttin des Sommers, in Gold gekleidet wie eine Dogaressa, wie eine Loredana, oder eine Morosina oder eine Soranza des leuchtenden Jahrhunderts, und der Trauerzug geleitet sie nach der Insel Murano, wo ein gebietender Geist des Feuers sie in einen opalschillernden Glasschrein betten wird, auf daß sie, in die Lagune versenkt, wenigstens durch ihre durchsichtigen Lider dem weichen Spiel der Algen zuschauen und sich einbilden kann, um den Körper noch immer das wollüstige Wogen ihres Haares zu spüren, während sie der Stunde der Auferstehung entgegenharrt.«

Ein unwillkürliches Lächeln erschien auf dem Gesicht der Foscarina, das von den Augen ausging, die die schöne Erscheinung in Wahrheit gesehen zu haben schienen. Dieses improvisierte Gleichnis – das Bild, wie der Rhythmus – gab in der Tat die Stimmung wieder, die rings umher über allen Erscheinungen lag. Wie der bläuliche Milchton des Opal voller verborgener Feuer ist, so barg das gleichmäßig bleiche Wasser des großen Beckens einen versteckten Glanz, den die Ruderschläge enthüllten. Jenseits des starren Waldes von Schiffen, die vor Anker lagen, stand San Giorgio Maggiore wie eine große rosenfarbene Galeere, den Bug der Fortuna zugewendet, die sie von der Höhe ihrer goldigen Sphäre an sich zog. Dazwischen öffnete sich der Kanal der Giudecca, gleich einem friedlichen Hafen, in den die auf Flußstraßen hergereisten Lastschiffe mit der Ladung frischen, gespaltenen Holzes zugleich den Geist der Wälder zu tragen schienen, die sich über ferne Ströme neigten. Und von dem Molo, wo über dem Doppelwunder der der Volksgunst geöffneten Säulengänge das rot und weiße Mauerwerk aufragte, bestimmt, die Gesamtheit der herrschenden Gewalten einzuschließen, dehnte sich das Ufer in weicher Bogenlinie den schattigen Anlagen, den fruchtbaren Inseln zu, als wollte es den Gedanken, der durch die kühnen Symbole der Kunst erregt war, mittels der natürlichen Formen zur Ruhe geleiten. Und fast, als gelte es die Beschwörung des Herbstes zu begünstigen, glitt eine Reihe mit Früchten hochbeladener Barken vorüber, großen schwimmenden Körben vergleichbar, die den Duft der Obstgärten über die Wasser trugen, in denen sich das unveränderliche Blattwerk der Giebel und Kapitäle spiegelte.

»Ist Ihnen, Perdita« – begann Stelio von neuem, indem er mit heller Freude auf die gelben Trauben und die lila Feigen blickte, die nicht ohne eine gewisse Harmonie vom Bug bis zum Steuer des Schiffes aufgespeichert lagen – »ist Ihnen eine höchst anmutige Eigentümlichkeit aus der Chronik der Dogengeschichte bekannt? Zur Bestreitung der Kosten für ihre Prunkgewänder genoß die Dogaressa einige Privilegien von dem Zoll der Früchte. Ist es nicht ein hübscher Einfall, Perdita? Die Früchte der Inseln kleideten sie mit goldenen Gewändern und gürteten sie mit Perlen. Pomona, die Arachne den Lohn reicht: eine Allegorie, die Veronese in das Deckengewölbe des Vestiario malen könnte. Ich freue mich, wenn ich mir die Dame auf den hohen diamantengeschmückten Schuhen vorstelle und dabei denke, daß sie etwas Herbes, Frisches zwischen den Falten ihres schweren Gewandes trägt: den Zins der Früchte. Welch frischen Duft erhält dadurch ihr Prunk! Nun, meine Freundin, stellen Sie sich vor, daß diese Trauben und diese Feigen des neuen Herbstes den Preis des güldenen Kleides zahlen, in das die tote Sommergöttin eingehüllt ist.«

»Welch köstliche Phantasie, Stelio!« – sagte die Foscarina, die, sich in ihre Jugend zurückversetzend, verwundert lächelte, wie ein Kind, dem man ein Bilderbuch zeigt. – »Wer nannte Sie doch eines Tages den Bilderreichen?«

»Ah, die Bilder!« – rief der Dichter, ganz ergriffen von befruchtender Glut der Empfindungen. – »Wie man in Venedig nur Musik empfinden kann, so kann man nur Bilder denken. Von allen Seiten strömen sie uns zahllos und mannigfaltig zu, sie sind wirklicher und lebendiger als die Menschen, die uns in den engen Gassen mit dem Ellbogen streifen. Wir können uns zu ihnen neigen, um die Tiefe ihrer verfolgenden Blicke zu erforschen, wir können die Worte, die sie zu uns sprechen werden, aus dem Schwung ihrer beredten Lippen erraten. Einige sind tyrannisch gleich herrischen Liebhabern und halten uns lange im Joch ihrer Macht. Andere wieder erscheinen uns ganz in Schleier gehüllt, wie die Himmelsbräute, oder fest gewickelt, wie die Neugeborenen, und nur wer es versteht, die Hüllen zu zerreißen, kann sie zu vollkommenem Leben erheben. Heute morgen, beim Erwachen schon, war meine Seele ganz voll davon. Sie glich einem schönen mit Chrysaliden beladenen Baum.«

Er hielt inne und lachte.

»Wenn heute abend sich alle öffnen« – fügte er hinzu – »so bin ich gerettet. Bleiben sie geschlossen, dann bin ich verloren.«

»Verloren?« – sagte die Foscarina, ihm mit Augen so voller Vertrauen ins Gesicht blickend, daß unermeßliche Dankbarkeit ihn erfüllte. – »Sie können sich nicht selbst verlieren, Stelio. Sie sind Ihrer selbst immer sicher. Ihr Schicksal tragen Sie in Ihren Händen. Ich glaube, daß Ihre Mutter niemals für Sie gezittert haben kann, nicht einmal in den schlimmsten Zeiten. Nicht wahr? Nur in Stolz erzittert Ihr Herz ...«

»Ach, teure Freundin, wie liebe ich Sie, und wie dankbar bin ich Ihnen hierfür!« – gestand Stelio aufrichtig, ihre Hand ergreifend. – »Sie sind es, die meinen Stolz nährt und mir die Illusion gibt, als besäße ich schon alle jene Gaben, nach denen ich unablässig strebe. Zuweilen dünkt es mich, als hätten Sie die Macht, den Dingen, die meiner Seele entspringen, irgendeine göttliche Eigenschaft mitzuteilen, so daß sie meinen eigenen Augen fern und anbetungswert erscheinen. Sie erzeugen zuweilen in mir das religiöse Staunen jenes Bildhauers, der, nachdem er am Abend die Bildsäulen der Gotter, noch warm von seiner Arbeit, und fast möchte ich sagen, noch mit dem Abdruck seines plastischen Daumens, in den Tempel gebracht hatte, sie am Morgen darauf auf ihren Piedestalen erblickte, eingehüllt in eine Wolke von Wohlgerüchen und aus allen Poren des spröden Stoffes, in dem seine vergänglichen Hände sie geformt, ihre Gottheit ausströmend. Wenn Sie in meine Seele dringen, ist es nur, um solche Begeisterung zu entfachen. Und so kommt es, daß jedesmal, wenn mir ein gütiges Geschick gestattet, an Ihrer Seite zu weilen, Sie mir unentbehrlich scheinen zu meinem Leben. Und dennoch kann ich in den allzu langen Trennungszeiten leben, und Sie können leben, obwohl wir beide wissen, welcher Glanz von der vollkommenen Vereinigung unserer beiden Leben ausgehen könnte. Und trotzdem, obwohl ich weiß, was Sie mir geben und mehr noch, was Sie mir geben könnten, betrachte ich Sie als für mich verloren, und in dem Namen, mit dem ich Sie so gerne nenne, will ich diese meine bewußte Empfindung ausdrücken und mein unendliches Bedauern ...«

Er unterbrach sich, da er das Beben der Hand fühlte, die er noch in der seinen hielt.

»Wenn ich Sie Perdita nenne« – fuhr er nach einer Pause mit leiserer Stimme fort – »so scheint es mir, als müssen Sie sehen, wie mein Wunsch Ihnen naht, den tödlichen Stahl in der keuchenden Flanke. Und gelingt es ihm dennoch, Sie zu fassen, so ergreift der Tod schon mit eisigem Erstarren die Spitzen seiner beutegierigen Finger.«

Sie empfand einen ihr wohlbekannten Schmerz bei diesen schönen und vollendeten Worten, die von den Lippen des Freundes mit einer Natürlichkeit flossen, die bewies, daß sie aufrichtig waren. Sie hatte auch vorher schon eine Unruhe und eine Furcht empfunden, die sie sich selbst nicht zu deuten wußte. Es schien ihr, als verliere sie das Bewußtsein ihres eigenen Lebens und sei in eine Art intensiven, blendenden Scheinlebens versetzt, in dem sie nur schwer atmen konnte. Hineingezogen in diese Atmosphäre, die die Glut einer Schmiede ausströmte, fühlte sie sich fähig, alle die Verwandlungen zu erdulden, die der Beleber an ihr vollzog, um sein beständiges Bedürfnis nach Schönheit und Poesie zu sättigen. Sie fühlte, daß ihr eigenes Bild in dem dichterischen Geist der toten Sommergöttin glich, die in dem opalschimmernden Schrein verschlossen ruhte, und zwar so deutlich, daß es greifbar schien. Und eine fast kindische Lust ergriff sie, sich in seinen Augen wie in einem Spiegel zu erblicken, um den Reflex ihres wirklichen Seins zu sehen.

Was ihren Schmerz noch peinvoller machte, war die Erkenntnis einer unbestimmten Übereinstimmung zwischen dieser Erregung und der Sehnsucht, die sich ihrer bemächtigte, sich in das phantastische Bild hinein zu versetzen, um ein erhabenes Geschöpf der Kunst zu verkörpern. Lockte er sie nicht hinauf, um in dieser Sphäre eines erhabeneren Lebens zu leben? Und damit sie ihrer Alltagspersönlichkeit ledig in die Erscheinung treten könne, bedeckte er sie nicht mit glänzenden Larven? –

Aber während es ihr nicht gegeben war, auf so angespannter Höhe zu verharren, es sei denn mit einer äußersten Kraftanstrengung, sah sie den andern sich dort mit Leichtigkeit behaupten, wie in seiner natürlichen Daseinssphäre, und sich ohne Ende an einer Wunderwelt freuen, die er in beständiger Schöpferkraft erneute.

Ihm war es gelungen, in sich selbst die innige Verbindung der Kunst mit dem Leben zu vollenden und im Innern seiner Wesenheit eine unversiegbare Quelle von Harmonien zu finden. Es war ihm gelungen, in seinem Geiste ohne Unterbrechungen die geheimnisvolle Eigenschaft lebendig zu erhalten, der das Werk der Schönheit entspringt, und so mit einem Mal die flüchtigen Erscheinungen seines wechselreichen Lebens in ideale Gestalten umzuwandeln. Auf diese seine Fähigkeit wies er hin, als er einer seiner Gestalten die Worte in den Mund legte: »Ich beobachtete in meinem eigenen Innern die beständige Genesis eines höheren Lebens, in dem alle Erscheinungen sich verwandelten, wie durch die Kraft eines Zauberspiegels.« Er war mit einer ungewöhnlichen Gabe des Wortes ausgestattet, und ihm gelang es im Augenblick, selbst die kompliziertesten Arten seiner Sensibilität mit einer Exaktheit und lebendigen Plastik in seine Sprache zu übersetzen, daß sie zuweilen, kaum ausgesprochen, nicht mehr zu ihm zu gehören schienen, durch die isolierende Kraft des Stils gegenständlich wurden. Seine klare und durchdringende Stimme, die die musikalische Figur jedes Wortes mit einer scharfen Kontur zu umziehen schien, verstärkte noch den Eindruck dieser Besonderheit seiner Sprache. So daß in denen, die ihn zum erstenmal hörten, ein aus Bewunderung und Abneigung gemischtes Gefühl entstand für ihn, der sich selbst in so bestimmten Formen offenbarte, die sich aus einem Willen zu ergeben schienen, der beständig darauf bedacht war, zwischen sich und den Außerhalbstehenden eine tiefe, unübersteigliche Kluft festzustellen. Aber da seine Sensitivität seinem Intellekt gleichkam, so war es für die, die ihm nahe standen und ihn liebten, ein leichtes, durch den Kristall seiner Rede hindurch die Wärme seiner leidenschaftlichen und ungestümen Seele zu empfangen. Sie kannten die unendliche Mannigfaltigkeit seiner Empfindungs- und Einbildungskraft, sie wußten, aus welchem Feuer die schönen Bilder erstanden, in die er die Wesenheit seines inneren Lebens umzuwerten pflegte.

Wohl wußte sie es, die er Pierdita nannte. Und wie der fromme Mensch vom Herrn den überirdischen Beistand für seine Erlösung erwartet, so schien sie darauf zu warten, daß er sie endlich in den notwendigen Gnadenzustand versetze, damit sie sich zu jenem Feuer erheben und darin verharren könne, zu dem sie getrieben wurde von einem tollen Wunsch, in Flammen aufzugehen und sich aufzulösen, aus Verzweiflung, auch die letzte Spur ihrer Jugend verloren zu haben, und in der Furcht, sich allein in grauer Einsamkeit zu finden.

»Jetzt sind Sie es, Stelio« – sagte sie mit ihrem schwachen, lauschenden Lächeln, indem sie ihre Hand sanft aus des Freundes Hand löste – »jetzt sind Sie es, der mich berauschen will.«

»Sehen Sie« - rief sie, um den Zauber zu brechen, auf eine schwerbeladene Barke deutend, die ihnen langsam entgegenkam – »sehen Sie Ihre Granatäpfel.«

Aber ihre Stimme klang bewegt. Und sie sahen in dem traumhaften Dämmerlicht auf dem Wasser, dessen zartes Silbergrün an die neuen Blätter der Flußweide gemahnte, die Barke vorübergleiten, hoch beladen mit der symbolischen Frucht, die die Vorstellung von reichen und verborgenen Schätzen erweckte, fast wie scharlachrote Lederschreine, die die Krone des königlichen Gebers zierte, einige geschlossen, andere über den innen angehäuften Edelsteinen halb geöffnet.

Mit leiser Stimme sprach die Frau die Worte, die Hades in dem erhabenen Drama an Persephone richtet, während die Tochter des Demeter von der verhängnisvollen Frucht genießt:

»Wenn du die Herbstzeitlose in der Blüte wirst pflücken auf den weichen Wiesen der Oberwelt, zur Seite deiner Mutter in dem blauen Peplon – und wenn die schönen Okeaniden dann eines Tages mit dir spielen werden, mit dir auf weichem Rasen –, dann wird in deinen unsterblichen Augen Unmut sich plötzlich zeigen, Unmut, des Ursach' Licht: dein Herz wird schlagen, o Persephone, die große Seele, des tiefen Traumes eingedenk, Persephone, beraubt des unterirdschen Reichs. Du wirst die Mutter dann im blauen Peplon abseits im Schweigen Tränen weinen sehen. Und du wirst zu ihr sprechen: – O Mutter, mich rufet in des Reiches Tiefe Hades; mich rufet, fern vom Tag zu herrschen über Schatten, Hades; mich ruft allein in nimmersatter Liebe Hades...«

»Ah, Perdita, wie Sie verstehen, Ihre Stimme zu beschatten!« – unterbrach sie der Dichter, der das Gefühl hatte, als ob eine melodische Nacht die Silben seiner Verse verdunkelte. – »Wie Sie verstehen, nächtlich zu werden vor Einbruch der Nacht! Erinnern Sie sich der Szene, in der Persephone hinabsteigen will in die Unterwelt, während der Chor der Okeaniden wehklagt? Ihr Gesicht gleicht dem Ihren, wenn es sich verdüstert. Regungslos in ihrem safranfarbenen Peplon neigt sie das gekrönte Haupt nach hinten, und es ist, als ob durch ihre blutlos gewordenen Adern die Nacht rinne und sich unter dem Kinn, in den Augenhöhlen, um die Nasenflügel verdichte und sie in eine düstere tragische Maske verwandle. Es ist Ihre Maske, Perdita. Die Erinnerung an Sie half mir die göttliche Gestalt heraufbeschwören, als ich an meinem Mysterium arbeitete. Das Bändchen von safranfarbenem Samt, das Sie fast immer um den Hals tragen, brachte mich auf die richtige Farbe für Persephones Peplon. Und eines Abends, als ich mich in Ihrem Hause von Ihnen verabschiedete, auf der Schwelle eines Zimmers, in dem die Lampen noch nicht angezündet waren (an einem stürmischen Abend des verflossenen Herbstes, wenn Sie sich erinnern), gelang es Ihnen durch eine einzige Bewegung, in meiner Seele das Geschöpf lebendig zu machen, das bis dahin noch verborgen ruhte; und dann verschwanden Sie, ohne die plötzliche Geburt zu ahnen, die Sie herbeigeführt, im inneren Dunkel Ihrer Unterwelt. Ach, ich war sicher, Ihr Schluchzen zu hören, und dennoch durchströmte mich eine unbezähmbare Freude. Ich habe Ihnen das nie erzählt, nicht wahr? Ich hätte Ihnen mein Werk widmen müssen, wie einer idealen Lucina.«

Sie litt unter dem Blick des Belebers; sie litt unter der Maske, die er auf ihrem Gesicht bewunderte, und unter der Freude, die sie in seinem Innern unablässig sprudeln fühlte wie einen unversiegbaren Quell. Sie litt unter ihrem ganzen Selbst; unter der Veränderlichkeit ihrer eigenen Züge; unter der mimischen Fähigkeit ihrer Gesichtsmuskeln und unter jener unfreiwilligen Kunst, die ihren Gesten die Bedeutung verlieh, und unter jenem ausdrucksvollen Schatten, den sie so oft auf der Bühne in einer Minute bangen Schweigens über ihr Gesicht breiten konnte wie einen wunderbaren Schleier des Schmerzes; und unter dem Schatten, der jetzt die Furchen füllte, die die Zeit in ihr nicht mehr junges Fleisch gegraben hatte. Sie litt grausam durch diese Hand, die sie anbetete. Durch diese Hand, die so zart und so vornehm war und ihr dennoch so weh tun konnte mit einem Geschenk oder einer Liebkosung.

»Glauben Sie nicht, Perdita« – sagte nach einer Pause Stelio, indem er sich dem lichten und gewundenen Gang seiner Gedanken hingab, der wie die Windungen des Flusses, die Inseln im Tal bilden, sie umgürten und ernähren, in seinem Geist einsame, dunkle Flecken ließ, von denen er wohl wußte, daß er dort in gelegener Stunde neue Schätze entdecken würde – »glauben Sie nicht an die gute Vorbedeutung der Zeichen? Ich spreche nicht von der Wissenschaft der Sterndeutung, noch von horoskopischen Zeichen. Ich meine, daß gleich denen, die glauben, sich mit den magischen Kräften eines Sternbildes in Verbindung bringen zu können, wir eine ideale Wechselbeziehung herstellen können zwischen unserer Seele und irgendeinem Gegenstand, der im Erdreich wurzelt, in der Weise, daß dieser, indem er allmählich unsere Wesenheit in sich aufsaugt und sich in unserer Einbildungskraft zu großer Bedeutung entfaltet, uns fast als die Verkörperung unserer unbekannten Schicksale erscheint und fast eine geheimnisvolle Gestalt annimmt, die in gewissen Zeitverhältnissen unseres Lebens in die Erscheinung tritt. Das, Perdita, ist das Geheimnis, unserer ein wenig verdorrten Seele wieder einen Teil der ursprünglichen Frische zuzuführen. Ich weiß aus Erfahrung, welch wohltätigen Einfluß die innige Verbindung mit einem im Erdreich wurzelnden Gegenstand auf uns ausübt. Es ist notwendig, daß unsere Seele von Zeit zu Zeit der Hamadryade gleich wird, um die frische Lebenskraft des mitlebenden Baumes in sich kreisen zu fühlen. Sie haben schon verstanden, daß ich mit meinen Worten auf die Äußerung anspiele, die Sie vorher beim Vorübergleiten jener Barke taten. Sie haben mit dunkler Kürze diese Gedanken ausgedrückt, als Sie sagten: ›Sehen Sie Ihre Granatäpfel!‹ Für Sie und für alle, die mich lieben, können es nur meine sein. Für Sie und für diese andern ist der Gedanke meiner Person unauflöslich mit der Frucht verknüpft, die ich mir zum Sinnbild erkoren, und auf die ich mehr ideale, bedeutungsvolle Eigenschaften gehäuft habe, als ihr Inneres Kerne birgt. Wenn ich in jener Zeit gelebt hätte, in der die Menschen beim Ausgraben der griechischen Marmorgötter in der Erde auf die noch feuchten Wurzeln der antiken Sagen stießen, so hätte mich kein Künstler auf der Leinwand darstellen können ohne den Granatapfel in meiner Hand. Von diesem Symbol meine Person trennen, es wäre dem arglosen Künstler gewesen, als löse er einen lebendigen Teil von mir; denn seiner heidnischen Auffassung würde es erschienen sein, als sei die Frucht mit dem Menschenarm verwachsen, wie mit ihrem natürlichen Zweig; er hätte, wie gesagt, von meinem Wesen keine andere Anschauung gehabt, als er sie von Hyacinthos oder Narcissus oder Ciparissus haben mußte, die ihm bald als pflanzliche Erscheinungen, bald in Jünglingsgestalt vorschweben mußten. Aber es gibt auch in unserer Zeit manchen lebhaften und phantasiebegabten Geist, der den Sinn meiner Erfindung begreifen und seinen vollen Wert würdigen kann. Sie selbst, Perdita, ziehen Sie nicht in Ihrem Garten einen schönen Granatbaum, um mich in jedem Sommer blühen und Früchte tragen zu sehen? Einer Ihrer Briefe, beflügelt wie ein göttlicher Bote, schilderte mir die anmutige Feier, in der Sie den ›effrenischen‹ Strauch mit güldenen Ketten schmückten, an dem Tag, an dem das erste Exemplar der Persephone an Sie gelangte. So habe ich also für Sie und für jene, die mich lieben, einen alten Mythos erneuert, indem ich mich in idealer und symbolischer Weise in eine Form der ewigen Natur verwandle, so daß, wenn ich tot sein werde (und die Natur wolle mir vergönnen, daß ich mich ganz und gar in meinem Werke offenbare, bevor ich sterbe!), meine Schüler mich unter dem Zeichen des Granatapfels ehren werden; und in der spitzen Form des Blattes und in der flammenden Farbe der Blüte und in dem rubinartigen Fleisch der Frucht werden sie manche Eigenschaften meiner Kunst erkennen, und ihre Intellekte werden von diesem Blatt, von dieser Blüte und von dieser Frucht wie durch posthume Ermahnungen ihres Meisters in ihren Werken zu dieser Klarheit, zu dieser Flamme und zu diesem inneren Reichtum geführt werden. Jetzt, Perdita, entdecken Sie den tiefen Sinn. Ich selbst bin durch Wahlverwandtschaft dazu geführt, mich entsprechend dem herrlichen Genius der Pflanze zu entwickeln, in der ich so gerne mein Trachten nach einem reichen und glühenden Leben versinnbildliche. Mir scheint, daß dieses mein pflanzliches Abbild imstande ist, mich zu überzeugen, daß meine Kräfte sich immer naturgemäß entwickeln, um auf natürlichem Wege das Ziel zu erreichen, für das sie bestimmt sind. ›Natur hat mich dazu bestimmt‹, war das Lionardische Motto, das ich auf das erste Blatt meines ersten Buches setzte. Nun wohl, der blühende und fruchttragende Granatbaum wiederholt mir unaufhörlich dieses einfache Wort. Und wir gehorchen nur den Gesetzen, die eingeschrieben sind in unsere Wesenheit. Und deshalb bleiben wir, trotz aller Zersetzung, unversehrt in einer Einheitlichkeit und Fülle, die unsere Freude sind. Es ist kein Mißklang zwischen meiner Kunst und meinem Leben.«

Er sprach voller Hingabe, fließend, fast, als sähe er den Geist der gespannt lauschenden Frau sich öffnen wie einen Kelch, um diesen Strom der Beredsamkeit in sich aufzunehmen und sich bis zum Rande zu füllen. Ein immer klareres intellektuelles Glücksgefühl ergriff ihn, gleichzeitig mit einem vagen Bewußtsein des geheimnisvollen Vorgangs, durch den sein Geist sich für den nächsten Ansturm bereitete. Dann und wann, während er sich zu der einsamen Freundin neigte und dem Ruderschlag lauschte, der das aus den unendlichen Lagunen aufsteigende Schweigen durchmaß, sah er, wie in einem Blitz, das Bild der vielköpfigen Menge, die sich in dem tiefen Saal zusammendrängte; und ein flüchtiger Schauder beschleunigte die Schläge seines Herzens.

»Es ist recht sonderbar, Perdita« – begann er wieder, seine Augen über die ferne, farblose Wasserfläche gleiten lassend, wo bei der niedrigen Flut der Meerschlamm schwärzlich zu schimmern begann, – »wie leicht der Zufall unsere Phantasie unterstützt, dem Zusammenströmen gewisser Erscheinungen bei einem uns vorschwebenden Ziel einen geheimnisvollen Charakter zu verleihen. Ich begreife nicht, warum die heutigen Dichter so voller Unwillen gegen die Vulgarität unserer gegenwärtigen Zeit sind und bedauern, zu früh oder zu spät geboren zu sein. Ich denke, daß jeder Mann von Intellekt, heute wie immer, seine eigene schöne Fabel im Leben schaffen kann. Man muß in das wilde Gewühl des Lebens mit demselben phantastischen Geist blicken, mit dem den Schülern Lionardos von ihrem Meister geraten wurde, die Flecke auf den Wänden, die Asche im Feuer, den Straßenkot und andere ähnliche Sachen zu betrachten, um darin ›Wunderbare Ersinnungen‹ und ›unendliche Dinge‹ zu finden. In derselben Weise, fügte Lionardo hinzu, werdet Ihr in dem Ton der Glocken jedes beliebige Wort und jeden Vokal hören. Dieser Meister wußte wohl, daß der Zufall – wie schon der Schwamm des Apelles beweist – immer Freund des genialen Künstlers ist. Für mich zum Beispiel sind die Leichtigkeit und die Anmut, mit der der Zufall die harmonische Entwicklung meiner Erfindung unterstützt, eine beständige Quelle des Erstaunens. Glauben Sie nicht, daß der finstere Hades seine Gemahlin die sieben Kerne essen ließ, um mir den Stoff zu einem Meisterwerk zu liefern?«

Er brach in sein jugendlich-frisches Lachen aus, daß die angeborene Lebensfreude, die ihm im Grunde eigen war, so deutlich offenbarte.

»Sehen Sie selbst, Perdita« – fuhr er lachend fort – »sehen Sie selbst, ob ich die Wahrheit sage. An einem der ersten Oktobertage des vergangenen Jahres war ich bei Donna Andriana Duodo in Burano eingeladen. Den Vormittag verbrachten wir in dem Spitzen-Park, am Nachmittag besuchten wir Torcello. Da ich damals schon angefangen hatte, mich mit dem Mythus der Persephone zu tragen, und das Werk schon im geheimen in mir Gestalt gewann, so hatte ich das Gefühl, auf stygischen Wassern zu schwimmen und in das ›jenseitige‹ Land zu gleiten. Nie habe ich reinere und süßere Todesfreuden empfunden, und dieses Gefühl verlieh mir eine Leichtigkeit, daß ich über die mit Asphodelos bewachsenen Wiesengründe hätte wandeln können, ohne eine Spur zu hinterlassen. Es war eine graue, feuchte und weiche Luft. Die Kanäle schlängelten sich zwischen den mit farblosen Gräsern bedeckten Sandbänken hindurch. (Sie kennen Torcello vielleicht bei Sonnenschein.) Aber inzwischen sprach, disputierte, deklamierte irgend jemand in dem Nachen des Charon! Ein klingendes Lob weckte mich. Mit einer Anspielung auf mich bedauerte Francesco de Lizo, daß ein vornehmer Künstler von so köstlicher Sinnlichkeit – das waren seine Worte – gezwungen sei, abseits zu leben, fern von der stumpfsinnigen und feindlichen Menge, und die Feste ›der Töne, der Farben und der Formen‹ im Palaste seines einsamen Traumes zu feiern. Und mit lyrischem Schwung erinnerte er an das glänzende gefeierte Leben der venetianischen Künstler, an die Zustimmung des Volks, die sie wie ein Wirbelwind zu den Gipfeln des Ruhmes emportrug, an die Schönheit, die Kraft und die Freude, die sie um sich her vervielfältigten, und die sich in zahllosen Bildern an den gewölbten Decken und an den hohen Wänden widerspiegelten. Da sagte Donna Andriana: ›Nun wohl, ich verspreche feierlich, daß Stelio Effrena sein Triumphfest in Venedig haben soll.‹ Die Dogaressa hatte gesprochen. In diesem Augenblick sah ich auf dem niedrigen, grünlich schimmernden Ufer, wie eine Halluzination, einen früchtebeladenen Granatbaum die endlose Eintönigkeit unterbrechen. Donna Orsetta Contarini, die neben mir saß, stieß einen Jubelschrei aus und streckte beide Hände ungeduldig danach aus. Es gibt nichts, was mich so entzückt, wie der reine und starke Ausdruck des Begehrens. ›Ich liebe die Granatäpfel über alles!‹ rief sie, als spürte sie schon den herb-lieblichen Geschmack auf der Zunge. Und sie war ebenso kindlich, wie ihr Name archaistisch! Ich war gerührt; aber Andrea Contarini schien die Lebhaftigkeit der Gattin ernsthaft zu mißbilligen. Er ist ein Hades, der, wie es scheint, kein Vertrauen hat in die von dem legitimen Gatten erprobte mnemonische Kraft der sieben Kerne. Aber auch die Bootführer waren gerührt und stießen die Barke ans Land, so daß ich als erster herausspringen konnte auf das Gras, und ich machte mich daran, den blutsverwandten Baum zu plündern. Man konnte hier mit heidnischem Mund die Worte des heiligen Abendmahls anwenden: ›Nehmet hin und esset; das ist mein Leib, der für euch gegeben ist; tut solches zu meiner Erinnerung.‹ Was meinen Sie dazu, Perdita? Glauben Sie nicht, daß ich erfinde. Ich spreche die Wahrheit.«

Sie ließ sich verführen von diesem freien und feinen Spiel, in dem er die Beweglichkeit seines Geistes und die Leichtigkeit seiner Redegabe zu erproben schien. Es war in ihm etwas Wogendes, Flackerndes und Mächtiges, etwas, das in ihr die zwiefache und verschiedenartige Vorstellung von Flamme und Wasser weckte.

»Nun« – fuhr er fort – »hat Donna Andriana ihr Versprechen gelöst. Geleitet von dem Geschmack antiker Prachtliebe, der sich in ihr so lebendig erhalten hat, hat sie in dem Dogenpalast eines jener wahrhaft fürstlichen Feste vorbereitet, wie man sie am Ausgang des Cinquecento feierte. Sie hat daran gedacht, die Ariadne des Benedetto Marcello der Vergessenheit zu entreißen, und läßt sie an demselben Ort klagen, wo Tintoretto die Tochter des Minos gemalt hat, in dem Augenblick, da sie von Aphrodite die Sternenkrone empfängt. Erkennen Sie nicht in der Schönheit dieses Gedankens die Frau wieder, die ihre lieben Augen zurückließ auf dem unvergleichlichen grünen Gewand? Und nun nehmen Sie dazu, daß diese Musikaufführung in dem Saal des Großen Rates ein antikes Seitenstück besitzt. In demselben Saale wurde im Jahre 1573 eine mythologische Schöpfung von Cornelio Frangipani mit Musik von Claudio Merulo zu Ehren des allerchristlichsten Heinrich III. aufgeführt. Gestehen Sie, Perdita, daß meine Gelehrsamkeit Sie verblüfft. Ach, wenn Sie wüßten, wieviel ich über diesen Gegenstand gesammelt habe. Wenn Sie einmal eine schwere Strafe verdient haben, werde ich Ihnen meine Rede vorlesen.«

»Aber diese Rede, werden Sie sie nicht heute abend halten auf dem Fest?« – fragte die Foscarina erstaunt und beunruhigt, in der Furcht, er möchte bei seiner bekannten Pflichtvergessenheit den Entschluß gefaßt haben, die allgemeine Erwartung zu enttäuschen.

Er verstand die Unruhe der Freundin und wollte sie nicht beschwichtigen.

»Heute abend« – antwortete er mit ruhiger Bestimmtheit – »werde ich bei Ihnen im Garten einen Sorbet nehmen und mich an dem Anblick des unter dem Firmament im Juwelenschmuck strahlenden Granatbaumes erfreuen.«

»Oh, Stelio! Was wollen Sie tun?« – rief sie aus und stand auf.

In ihrem Wort wie in ihrer Bewegung lag ein so lebhaftes Bedauern, und gleichzeitig rief sie eine so seltsame Vorstellung der wartenden Menge hervor, daß er davon betroffen war. Das Bild des schreckhaften Ungeheuers mit den zahllosen menschlichen Gesichtern tauchte wieder vor ihm auf zwischen dem Gold und dem dunkeln Purpur des gewaltigen Saales, und er fühlte im voraus den festen Blick und den heißen Atem auf seiner Person und bemaß plötzlich die Gefahr, der zu trotzen er beschlossen hatte, indem er sich einer einzigen momentanen Eingebung überließ, und er empfand Entsetzen über diese plötzliche Geistesverdunklung, diesen plötzlichen Schwindel.

»Beruhigen Sie sich,« – sagte er – »ich habe gescherzt. Ich werde ad bestias gehen; und ich gehe unbewaffnet. Haben Sie vorher das Zeichen nicht gesehen? Glauben Sie, daß es umsonst war, nach dem Wunder von Torcello? Auch als Warnung ist es mir einst erschienen, daß ich keine andern Pflichten auf mich nehme, als wozu Natur mich bestimmt. Sie wissen nun recht gut, liebe Freundin, daß ich nur von mir selbst sprechen kann. Ich muß also von dem Throne der Dogen herab zu der Versammlung von meiner teuren Seele sprechen, unter dem Schleier irgendeiner verführerischen Allegorie und mit dem Zauber einer schönen harmonischen Kadenz. Das werde ich ex tempore tun, wenn der Feuergeist des Tintoretto mir von seinem Paradies die Leidenschaft und den kühnen Mut mitteilt. Das Wagnis reizt mich. Aber auf welch sonderbaren Irrtum war ich verfallen, Perdita. Als die Dogaresse mir das Fest ankündigte und mich einlud, ihr die Ehre zu erweisen, machte ich mich daran, eine pomphafte Rede auszuarbeiten, weitschweifig und feierlich, wie einer der violetten Talare, die in den Glasschränken des Museo Civico eingeschlossen sind; nicht ohne einen tiefen Kniefall vor der Königin in der Einleitung und einen dichten Blätterkranz für das Haupt von Serenissima Andriana Duodo. Und für einige Tage gefiel es mir ganz besonders, in dem Geiste eines venetianischen Edelmannes aus dem 16. Jahrhundert zu leben, einer Zierde aller Wissenschaften, wie der Kardinal Bembo war, der der Schule der Uranici oder der Adorni angehörte, ein treuer Besucher der muranesischen Gärten und der asolanischen Hügel. Gewiß, ich fühlte eine Ähnlichkeit zwischen dem Bau meiner Perioden und den massiven Goldrahmen, die die Bilder in dem Saale des Rates einfassen. Aber ach, als ich gestern in der Frühe in Venedig eintraf und, über den Canale Grande gleitend, meine Müdigkeit in dem feuchten und durchsichtigen Schatten badete, und der Marmor noch seine nächtlichen heiligen Schauer ausströmte, fühlte ich, daß meine Aufzeichnungen wertloser waren als die toten Algen, die die Flut hereinspült, und sie schienen mir ebenso fremd wie die darin erwähnten und besprochenen Triumphe des Celio Magno und die Seegeschichten des Anton Maria Consalvi. Was also tun?«

Er forschte mit den Blicken umher am Himmel und auf dem Wasser, wie um eine unsichtbare Gegenwart zu entdecken, irgendeine plötzliche Erscheinung wahrzunehmen. Ein gelblicher Schimmer breitete sich dem Lido zu aus, der sich am Horizont in feinen Linien, wie die undurchsichtigen Adern im Achat, abzeichnete; weiter zurück nach Maria Della Salute war der Himmel mit leichten rosigen und violetten Dunstwölkchen bestreut, einem grünlichen, von Medusen bevölkerten Meere gleichend. Von den nahen Gärten sanken die Düfte des mit Licht und Wärme gesättigten Laubwerks so schwer nieder, daß sie fast aromatischen Ölen gleich auf dem bronzefarbenen Wasser zu schwimmen schienen.

»Fühlen Sie den Herbst, Perdita?« – fragte er die in Gedanken versunkene Freundin mit der Stimme des Weckers.

Die Vision der verblichenen Sommergöttin, in dem opalschillernden gläsernen Schrein verschlossen und in die Tiefe der algenreichen Lagune versenkt, tauchte wieder vor ihr auf.

»Er lastet auf mir,« erwiderte sie mit melancholischem Lächeln.

»Haben Sie ihn nicht gestern gesehen, als er sich über die Stadt senkte? Wo waren Sie gestern bei Sonnenuntergang?«

»In einem Garten der Giudecca.«

»Ich hier, auf der Riva. Scheint es Ihnen nicht so? Wenn menschliche Augen ein solches Schauspiel von Schönheit und Freude genießen durften, müssen die Lider sich für immer senken und fest versiegelt bleiben. Ich möchte heute abend von diesen intimen Stimmungen sprechen, Perdita. Ich möchte in meinem Innern die Hochzeit Venezias mit dem Herbste feiern, und mit einer Farbenharmonie, die nicht zurückstehen sollte hinter Tintorettos Farbenglanz auf seinem Bilde, die Hochzeit der Ariadne und des Bacchus, in dem Saale des Anticollegio: – himmelblau, purpur und gold. Gestern ganz plötzlich öffnete sich in meiner Seele der alte Keim eines Gedichts. Ich erinnerte mich des Bruchstückes eines vergessenen Poems, in neunzeiligen Strophen, das ich vor einigen Jahren begonnen hatte, als ich zum erstenmal im Anfang des Septembers zu Schiff nach Venedig kam. Die Allegorie des Herbstes war der Titel, nicht mehr mit Weinlaub bekränzt nahte der Gott, sondern mit Edelsteinen gekrönt, wie ein Fürst des Veronese, und flammende Leidenschaft in den wollüstigen Adern, in die meerentstiegene Stadt mit den marmornen Armen und den tausend grünen Gürteln einzuziehen. Damals hatte der Gedanke noch nicht die innere Reifekraft erreicht, die zu der künstlerischen Entfaltung notwendig ist, und instinktiv verzichtete ich auf die Anspannung des Geistes, die die Ausführung erfordert hätte. Aber da im lebendigen Geist wie in fruchtbarem Erdreich kein Samenkorn verloren geht, so ersteht er mir jetzt im gelegenen Augenblick von Neuem und verlangt mit einer Art Dringlichkeit nach Ausdruck. Welch geheimnisvolle und gerechte Mächte regieren die Sinnenwelt! Es war notwenig, daß ich diesen ersten Keim schonend behandelte, damit er heute in mir seine vervielfältigte Kraft ausbreiten konnte. Dieser Vinci, der mit seinem Blick jede Tiefe ergründet hat, hat zweifellos eine solche Wahrheit mit seiner Fabel von dem Hirsekorn ausdrücken wollen, das zur Ameise sagt: ›Wenn du so freundlich sein willst und meine Keimlust mich genießen lassen, so will ich mich dir hundertfältig wiedergeben.‹ Bewundern Sie diesen anmutigen Griff der Finger, die das Eisen zersplitterten! Ah, er ist immer der unvergleichliche Meister. Wie kann ich ihn vergessen, um mich den Venetianern hinzugeben?«

Plötzlich verließ ihn die heitere Selbstironie, die in seinen letzten Worten lag, und er schien ganz in seine Gedanken zu versinken. Mit geneigtem Haupt, in der ganzen Haltung etwas krampfhaftes, das der äußersten Anspannung seines Geistes entsprach, suchte er jetzt eine der geheimen Analogien zu entdecken, die die mannigfaltigen und verschiedenartigen Bilder mit einander verbinden sollte, die ihm wie in kurzen Zwischenpausen schnell aufeinander folgende Blitze erschienen. Er versuchte jetzt einige der Hauptlinien festzustellen, innerhalb deren die neue Gestaltung sich entwickeln sollte. So groß war seine Erregung, daß man die Muskeln seines Gesichts unter der Haut zittern sah; und das Weib, dessen Augen auf ihm ruhten, empfand den Widerhall dieses Schmerzes, wie sie ihn empfunden haben würde, wenn er vor ihren Augen mit übermäßiger Anstrengung hätte versuchen wollen, die Sehne eines Riesenbogens zu spannen.

»Es ist schon spät, die Stunde naht« – sagte er, von einem plötzlichen Schauder geschüttelt, wie von Angst gefoltert, denn von neuem war ihm das furchtbare Ungeheuer mit den zahllosen Menschengesichtern erschienen, das den gewaltigen Raum des akustischen Saales füllte.– »Ich muß beizeiten im Hotel sein, um mich umzukleiden.«

Und bei dem Neuerwachen seiner jugendlichen Eitelkeit dachte er an die Augen der unbekannten Frauen, die ihn heute abend zum ersten Male sehen würden.

»Nach dem Hotel Daniele« – befahl die Foscarina dem Ruderer.

Und während das gezahnte Eisen des Buges sich auf dem Wasser mit langsamem Schwanken, das den Anschein von etwas lebendig Tierischem hatte, wandte, empfanden beide, sie und Stelio, eine verschiedenartige, aber große Bangigkeit bei dem Gedanken, das unendliche Schweigen der Lagune, die schon unter der Herrschaft des Schattens und des Todes stand, hinter sich zu lassen, um sich zu der prächtigen und verführerischen Stadt zu wenden, in deren Kanälen sich wie in den Adern eines wollüstigen Weibes das nächtliche Fieber zu entzünden begann.

Sie schwiegen eine Weile, verzehrt von dem Aufruhr, der in ihrem Innern tobte und sie bis an die Wurzeln ihres Seins erschütterte, als gälte es, sie auszureißen. Aus den Gärten stiegen die Düfte und schwammen wie Öle auf dem Wasser, das hie und da in seinen Furchen einen Glanz wie alte Bronze zeigte. In der Luft lag es wie eine Vision von alter Pracht, die die Augen ebenso empfanden, wie sie beim Betrachten der durch die Jahrhunderte düster gewordenen Paläste in der Harmonie des unverwüstlichen Marmors den verblichenen Goldton empfunden hatten. Es schien, als ob an diesem zauberhaften Abend sich der Hauch und der Widerschein des fernen Orients erneute, den mit geblähten Segeln und gewölbten Flanken einst die mit schwerer Beute beladene Galeere herüberbrachte. Und alle diese Dinge erhöhten die Lebenskraft in ihm, der das ganze Weltall an sich ziehen wollte, um nicht mehr zu sterben, und in ihr, die ihre verdüsterte Seele auf den Scheiterhaufen werfen wollte, um rein zu sterben. Und beider Herzen klopften in steigender Bangigkeit, sie lauschten auf die Flucht der Zeit, als eilte das Wasser, auf dem sie dahinglitten, in eine furchtbare Klepsydra.

Beide fuhren zusammen bei dem plötzlichen Krachen einer Salve, die die Flagge grüßte, die auf dem Heck eines bei den Gärten vor Anker liegenden Kriegsschiffes eingezogen wurde. Sie sahen von der Höhe des schwarzen Molo die dreifarbige Fahne sinken und sich zusammenfalten wie ein Heldentraum, der sich verflüchtigt. Für einige Sekunden erschien das Schweigen noch tiefer, während die Gondel im düsteren Schatten hinglitt, die Flanke des gepanzerten Kolosses streifend.

Perdita, kennen Sie« – fragte unerwartet Stelio Effrena « »jene Donatella Arvale, die in der Ariadne singen wird?«

Seine Stimme, die in dem dunklen Schatten von dem Panzer zurückgeworfen wurde, hatte einen seltsamen Klang.

»Sie ist die Tochter des großen Bildhauers Lorenzo Ardale« – antwortete die Foscarina nach einem Augenblick des Zögerns. – »Sie ist eine meiner liebsten Freundinnen, und sie ist auch mein Gast. Sie treffen sie also bei mir nach dem Fest.«

»Donna Andriana sprach mir gestern abend von ihr mit sehr viel Wärme, wie von einem Wunder. Sie sagte mir, daß ihr der Gedanke, die Ariadne auszugraben, gekommen sei, gerade als sie von Donatella Arvale die Arie ›Come mai puoi – Vedermi piangere‹ so göttlich schön habe singen hören. Wir werden also in Ihrem Hause, Perdita, eine göttliche Musik haben. Wie ich danach lechze! Dort unten in meiner Einsamkeit höre ich während langer Monate keine andere Musik als das Meer in seiner ganzen Furchtbarkeit.«

Die Glocken von San Marco gaben das Zeichen des englischen Grußes; und das mächtige Dröhnen breitete sich in langen Wellen über den Spiegel des Wasserbeckens aus, zitterte in den Segelstangen der Schiffe, pflanzte sich weit, weit fort, der unendlichen Lagune zu. Von San Giorgio Maggiore, von San Giorgio dei Greci, von San Giorgio degli Schiavoni, von San Giovanni in Bragora, von San Moisé, von der Salute, von der Erlöserkirche, und nach und nach aus dem ganzen Bereich des Evangelisten, von den äußersten Türmen der Madonna Dell'Orto, von San Giobbe, von Sant'Andrea antworteten die ehernen Stimmen, vermischten sich zu einem einzigen gewaltigen Chor, breiteten über die stumme Vereinigung von Stein und Wasser eine einzige mächtige Kuppel aus unsichtbarem Metall, die in ihren Schwingungen das Funkeln der ersten Sterne zu zeugen schien. Eine unbegrenzte ideale Größe verliehen die heiligen Stimmen der Stadt des Schweigens in der Abendreinheit. Ausgehend von den Zinnen der Tempel, von den schroffen, dem Seewind geöffneten Zellen sprachen sie zu den bangenden Menschen die Sprache der unsterblichen Menge, die die Dunkelheit der tiefen Kirchenschiffe jetzt barg oder das flackernde Licht der Votivlampen geheimnisvoll bewegte; sie brachten den vom Tagewerk erschöpften Geistern die Botschaft der überirdischen Wesen, die ein Wunder verkündeten oder eine auf den Wänden geheimer Kapellen, in den Nischen der inneren Altäre dargestellte Welt versprachen. Und alle die Erscheinungen der trostspendenden Schönheit, von dem einstimmigen Gebet heraufbeschworen, erhoben sich auf diesem gewaltigen, klingenden Brausen, sprachen in diesem schwebenden Chor, bestrahlten das Angesicht der Zaubernacht.

»Können Sie noch beten?« – fragte leise Stelio und blickte auf die gesenkten und unbeweglichen Lider der Frau, die, die Hände auf den Knien gefaltet, ihr ganzes Wesen nach innen gewandt, dasaß.

Sie antwortete nicht, ja, ihre Lippen preßten sich noch fester aufeinander. Und beide hörten auf den Klangwirbel, sie fühlten die Bangigkeit und die Gefahr von neuem einsetzen, wie der nicht mehr vom Katarakt unterbrochene Fluß seinen eiligen Lauf wieder aufnimmt. Beide hatten ein unklares und dennoch fast bedrückendes Bewußtsein von der seltsamen Unterbrechung, in der unerwartet zwischen ihnen ein neues Bild aufgetaucht und ein neuer Name ausgesprochen worden war. Das Gespenstige der plötzlichen Empfindung, als sie in den Schatten des befestigten Kriegsschiffes getreten waren, schien in ihnen etwas wie ein abgesondertes Hemmnis hinterlassen zu haben, wie ein unbestimmter und dennoch beharrlicher Punkt inmitten einer Art undurchdringlicher Leere. Die Bangigkeit und die Hochflut ihrer Gefühle ergriff sie plötzlich mit erneuter Heftigkeit; und sie zog sie zu einander und umstrickte sie mit solcher Gewalt, daß sie nicht wagten, einander in die Augen zu blicken, aus Furcht, einer allzu brutalen Begehrlichkeit zu begegnen.

»Werden wir uns heute abend nach dem Fest nicht wiedersehen?« – fragte die Foscarina mit einem Beben in der erloschenen Stimme. – »Sind Sie nicht frei?«

Es trieb sie jetzt, ihn festzuhalten, ihn gefangen zu nehmen, als wollte er ihr entfliehen, als hoffte sie in dieser Nacht einen Liebestrank zu finden, der ihn auf immer an sie fesseln sollte! Und während sie fühlte, daß die Hingabe ihres Leibes jetzt zur Notwendigkeit geworden war, erkannte sie mit abscheulicher Klarheit, durch die Flamme hindurch, die sie ergriffen hatte, die Armseligkeit dieser so lange verweigerten Gabe. Und schmerzhafte Scham, gemischt aus Furcht und Stolz, schien die verblühten Glieder krampfhaft zusammenzuziehen.

»Ich bin frei; ich gehöre Ihnen« – antwortete der junge Mann mit leiser Stimme, ohne sie anzusehen. – »Sie wissen, daß für mich nichts dem gleichkommt, was Sie mir geben können.«

Auch er erbebte im Innersten seines Herzens, da er die beiden Ziele vor sich sah, nach denen an diesem Abend seine Kraft sich spannte wie ein Bogen: die Stadt und das Weib, beide verführerisch und unergründlich, müde vom zuviel leben, niedergedrückt vom zuviel lieben, und von ihm im Traum allzu sehr verherrlicht, und bestimmt, seine Erwartungen zu enttäuschen.

Für einige Augenblicke blieb seine Seele überwältigt von einer anstürmenden Flut von Bekümmernissen und Wünschen. Der Stolz und der Widerwille gegen seine harte und ausdauernde Arbeit, sein zügelloser und maßloser, in ein zu enges Feld gezwungener Ehrgeiz, seine bittere Unduldsamkeit gegen die Mittelmäßigkeit im Leben, sein Anspruch auf die Privilegien der Fürsten, die in ihm schlummernde Neigung zur Tat, die ihn der Menge als der besseren Beute zutrieb, der Traum einer größeren und gebieterischen Kunst, die einst in seinen Händen zum Signal des Lichts und zum Werkzeug der Unterjochung werden sollte, alle seine hochfliegenden und purpurnen Träume, alle seine unersättlichen Begierden nach Herrschaft, nach Ruhm und nach Genuß, stiegen in ihm auf, wirbelten wild durcheinander, blendeten und erstickten ihn. Und eine lastende Traurigkeit zog ihn zu der Liebe dieser einsamen und unsteten Frau, die für ihn in den Falten ihrer Kleider, stumm und gefaßt, die Raserei der fernen Menge zu tragen schien, aus deren kompakter Vertiertheit sie durch einen Schrei der Leidenschaft oder eine herzzerreißende Wehklage oder ein tödliches Schweigen den blendenden und göttlichen Schauer der Kunst geweckt hatte, ein unreines Verlangen trieb ihn zu dieser wissenden und verzweifelten Frau, in der er die Spuren aller Wollust und aller Seelenschmerzen zu entdecken glaubte, und zu diesem nicht mehr jungen Körper, der, erschlafft von all den Liebkosungen, ihm bisher unbekannt geblieben war.

»Ein Versprechen?« – sagte er, gesenkten Hauptes, ganz in sich zurückgezogen, um seine Bewegung zu bemeistern. – »Endlich!«

Sie antwortete nicht; aber sie heftete einen Blick auf ihn, aus dem eine fast wilde Glut brannte. Er sah ihn nicht.

Sie blieben im Schweigen, während das Dröhnen des Erzes mit solcher Stärke über ihre Häupter zog, daß sie meinten, es an den Wurzeln ihrer Haare zu fühlen wie einen körperlichen Schmerz.

»Leben Sie wohl« – sagte sie bei der Landungsstelle. – »Wir treffen uns beim Hinausgehen im Hof, beim zweiten Brunnen nach der Seite des Molo.«

»Leben Sie wohl« – sagte er – »und richten Sie es so ein, daß ich Sie unter der Menge herausfinde, wenn ich das erste Wort spreche.«

Ein wirrer Lärm drang von San Marco mit dem Läuten der Glocken herüber, breitete sich aus nach der Piazetta und verschwebte der Fortuna zu.

»Alles Licht auf Ihre Stirn, Stelio!« – wünschte ihm die Frau und reichte ihm mit leidenschaftlicher Gebärde ihre mageren Hände.

 

Als Stelio Effrena durch die südliche Tür in den Hof eintrat und die Scala dei Giganti besetzt fand von einer schwarz-weißen Menge, die sich auf und ab bewegte bei dem rötlichen Licht der in den eisernen Kandelabern befestigten Fackeln, empfand er einen plötzlichen Widerwillen und blieb im Torgang stehen. Er fühlte aufs schärfste den schreienden Gegensatz dieser mesquinen Eindringlinge zu diesen durch die ungewohnte Beleuchtung noch erhabener wirkenden Architekturen, in denen sich in so verschiedenartigen Harmonien die Kraft und die Schönheit der vergangenen Zeit offenbarten.

»O Jammer!« – rief er aus, sich zu den Freunden wendend, die ihn begleiteten – »Im Saale des Großen Rates, von der Loge des Dogen herab, ein paar Gleichnisse zu finden, um tausend gestreifte Vorhemden zu rühren! Laßt uns umkehren: wir wollen den Atem der andern Menge, der wahren Menge spüren. Die Königin hat den Palast noch nicht verlassen. Wir haben Zeit.«

»Bis ich dich nicht auf dem Podium sehe« – sagte lachend Francesco de Lizo- »bin ich nicht sicher, daß du sprechen wirst.«

»Ich glaube, Stelio würde die Loggia dem Throne vorziehen und lieber zwischen den beiden roten Säulen zu dem aufrührerischen Volke reden, das drohte, Feuer an die neuen prokurazien und die alte Bibliothek zu legen« –sagte Piero Martello, der der Vorliebe des Meisters für Meuterei und seinem aufwieglerischen Geist schmeicheln wollte, den er selbst affektierte, um ihm nachzuahmen.

»Ja, sicher« – sagte Stelio – »wenn die Rede dazu diente, eine unwiderrufliche Tat zu verhindern oder zu beschleunigen. Ich meine, das geschriebene Wort soll gebraucht werden, um eine reine Form der Schönheit zu schaffen, die das unbeschnittene Buch enthält und einschließt, wie ein Tabernakel, dem man sich nur naht aus freiem Willen, mit derselben festen Entschlossenheit, deren es bedarf, um ein Siegel zu brechen. Aber mir scheint, das gesprochene Wort, das zu einer Menge gesprochene Wort darf zum Endziel nur die Tat haben, und sei es selbst eine Gewalttat. Nur unter dieser einzigen Bedingung kann ein kühner Geist, ohne sich selbst herabzusetzen, durch die sinnliche Kraft der Stimme und der Gebärde mit der Menge in Verbindung treten. In jedem andern Fall ist sein Spiel Komödie. Darum reut es mich bitter, dieses Amt eines Schmuck- und Unterhaltungsredners angenommen zu haben. Ihr alle solltet bedenken, wieviel Demütigendes für mich in der Ehrung liegt, mit der man mich ausgezeichnet hat, und wie unnütz die Anstrengung ist, die mir bevorsteht. Alle diese fremden Leute, die sich für einen Abend ihren untergeordneten Beschäftigungen oder ihren liebsten Ruhestunden entzogen, kommen hierher, um mich zu hören, in derselben nichtigen und dummen Neugier, mit der sie kommen würden, um irgendeinen ›Virtuosen‹ zu hören. Für die Hörerinnen wird die Kunst, mit der meine Krawatte geschlungen ist, zweifellos weit wertvoller sein, als die Kunst meiner Satzbildung. Und schließlich wird die einzige Wirkung meiner Rede in einem durch die Sordine der Handschuhe gedämpften Händeklatschen oder in einem kurzen und sanften Beifallsgemurmel bestehen, wofür ich mit einer anmutigen Verbeugung danken werde. Scheint es euch nicht, als sei ich im Begriff, den Gipfel meines Ehrgeizes zu erreichen?«

»Du käst unrecht« - sagte Francesco de Lizo - »du sollst dir Glück wünschen, daß es dir gelungen ist, dem Leben einer unvergeßlichen Stadt für einige Stunden den Rhythmus der Kunst aufzuprägen und uns die Erkenntnis zu bringen, zu welcher Herrlichkeit die neuerstandene Vereinigung der Kunst mit dem Leben unser Dasein verschönern könnte. Der Mann, der das Festtheater errichtete, wäre er gegenwärtig, würde dich dieser Harmonie wegen loben, die er verkündigt hat. Aber das Wunderbare ist, daß – obwohl du abwesend warst und von nichts wußtest – das Fest in deinem Geist gedacht zu sein scheint, m deinem Sinne angeordnet, nach einer Zeichnung von dir. Das ist der beste Beweis für die Möglichkeit, den Geschmack wiederherzustellen und zu verallgemeinern, selbst bei den gegenwärtigen barbarischen Zustanden. Dein Einfluß ist heute viel größer, als du glaubst. Die Dame, die dich heute feiern wollte – dieselbe, die du die Dogaressa nennst – fragte sich bei jedem neuen Einfall: ›Wird es Stelio Effrena gefallen?‹ Wenn du müßtest, wie viele heute unter den jungen Leuten dieselbe Frage an sich richten bei der Prüfung ihres inneren Lebens!«

»Für wen, wenn nicht für diese, wirst du sprechen?« –sagte Daniele Glauro, der inbrünstige und unfruchtbare Asket der Schönheit, mit seiner vergeistigten Stimme, in der sich die weiße und unauslöschliche Glut seiner Seele widerzuspiegeln schien, die der Meister als die treuste bevorzugte. - »Wenn du auf dem Podium stehen und um dich blicken wirst, erkennst du sie leicht an dem Ausdruck ihrer Augen. Und es sind ihrer sehr viele, viele auch aus der Ferne hergekommen, und sie warten mit einer bangen Sehnsucht, die du vielleicht nicht begreifen kannst. Es sind die, die deine Poesie getrunken haben, die. die von deinem Traum entstammte Luft geatmet, die die Klaue deiner Chimäre gespürt haben. Es sind alle, denen du ein schöneres und stärkeres Leben versprochen, denen du die Umgestaltung der Welt verkündigt hast durch das Wunder einer neuen Kunst. Es sind ihrer viele, es sind viele, die du verführt hast mit deiner Hoffnung und mit deiner Freude. Nun haben sie sagen hören, daß du in Venedig sprechen wirst, im Dogenpalast, an einem der glorreichsten und herrlichsten Orte der Erde! Sie werden dich sehen und hören können zum erstenmal, umgeben von einer unerhörten Pracht, die ihnen als der für deine Natur geeignete Rahmen erscheint. Der alte Palast der Dogen, der Nächte und Nächte im Finstern blieb, erhellt sich nun plötzlich und wird lebendig. Du allein hast für sie die Macht gehabt, die Fackeln wieder zu entzünden. Begreifst du also ihre bange Erwartung? Und scheint es dir nicht, das; du nur für sie sprechen müßtest? Die Bedingung, die du selbst für den aufstelltest, der zu vielen spricht, kann erfüllt werden. Du kannst in ihren Seelen eine Bewegung erwecken, die sie auf immer den Idealen zuwendet und entgegenführt. Für wie viele von ihnen, Stelio, wird diese venetianische Nacht unvergeßlich bleiben!«

Stelio legte die Hand auf die vor der Zelt gekrümmten Schultern des mystischen Gelehrten und wiederholte lächelnd die Worte petrarkas: » Non ego loquar omnibus, sed tibi sed mihi et his ...«

Er sah innerlich die Augen seiner unbekannten Jünger erglänzen; und nun hörte er in seinem Innern mit vollkommener Klarheit, wie eine tonische Formel, den Ausdruck, mit dem er seine Nede einleiten würde.

»Einen Sturm in diesem Meere erregen« – fügte er, sich an piero Martello wendend, heiter hinzu – »wäre immerhin eine angenehmere Beschäftigung.«

Sie waren bei dem Eckpfeiler des Säulenganges angelangt, in enger Berührung mit der gleichgestimmten und geräuschvollen Menge, die sich auf der piazetta zusammendrängte, sich nach der Münze zu fortbewegte, vor den prokuratien verdichtete, den Uhrturm versperrte und alles überflutete wie eine formlose Woge, ihre Wärme dem Marmor der Säulen und der Wände mitteilend, gegen die sie in ihrem immerwährenden Fluten mit Macht andrängte. Von Zeit zu Zeit erhob sich in der Ferne am äußersten Ende des Platzes ein stärkeres Geräusch, das sich weiter fortpflanzte; und dann wieder fing es leise an, kam immer näher und stärker, bis es ganz in der Nähe wie ein Donner losbrach, und ein anderes Mal wurde es schwächer und schwächer, bis es ganz in der Nähe in einem Gemurmel verhallte. Die Bogen, die Loggien, die Spitzpfeiler, die goldenen Kuppeln der Basilika, die Attika der Logetta, die Architrave der Bibliothek erglänzten in zahllosen Flämmchen, und die Pyramide des ragenden Glockenturms, die mit den schweigsamen Gestirnen im Schöße der Nacht funkelte, wirkte auf die vom Geräusch trunkene Menge wie die Unendlichkeit des himmlischen Schweigens, beschwor das Bild eines Schiffers herauf, dem an der äußersten Lagune dieses Licht wie ein neuer Leuchtturm erschien, den Rhythmus eines einsamen Ruders, das auf dem schlafenden Wasser den Widerschein der Sterne bewegte, den heiligen Frieden, den dle Mauern eines Inselklosters umschlossen.

»Heute abend möchte ich mich mit der Frau, die ich begehre, zum erstenmal zusammenfinden, dort jenseits der Gärten, dem Lido zu, in einem schwimmenden Bett« – sagte der erotische Dichter Paris Eglano, ein blonder, bartloser Jüngling mit schönem purpurrotem lüsternem Munde, der einen Kontrast zu der fast ätherischen Zartheit seiner Züge bildete. – In einer Stunde wird Venedig irgendeinem unter dem Gondeldach verborgenen neronischen Liebhaber das dionysische Schauspiel einer Stadt gewähren, die sich im Delirium in Flammen setzt.«