Das flüssige Land - Raphaela Edelbauer - E-Book

Das flüssige Land E-Book

Raphaela Edelbauer

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Unheimlich, spannend, aberwitzig und kaum zu fassen – einfach fantastische Literatur« Jurybegründung Deutscher Buchpreis (Shortlist) Ein Ort, der nicht gefunden werden will. Eine österreichische Gräfin, die über die Erinnerungen einer ganzen Gemeinde regiert. Ein Loch im Erdreich, das die Bewohner in die Tiefe zu reißen droht. In ihrem schwindelerregenden Debütroman geht Raphaela Edelbauer der verdrängten Geschichte auf den Grund. Der Unfalltod ihrer Eltern stellt die Wiener Physikerin Ruth vor ein nahezu unlösbares Paradox. Ihre Eltern haben verfügt, im Ort ihrer Kindheit begraben zu werden, doch Groß-Einland verbirgt sich beharrlich vor den Blicken Fremder. Als Ruth endlich dort eintrifft, macht sie eine erstaunliche Entdeckung. Unter dem Ort erstreckt sich ein riesiger Hohlraum, der das Leben der Bewohner von Groß-Einland auf merkwürdige Weise zu bestimmen scheint. Überall finden sich versteckte Hinweise auf das Loch und seine wechselhafte Historie, doch keiner will darüber sprechen. Nicht einmal, als klar ist, dass die Statik des gesamten Ortes bedroht ist. Wird das Schweigen von der einflussreichen Gräfin der Gemeinde gesteuert? Und welche Rolle spielt eigentlich Ruths eigene Familiengeschichte? Je stärker sie in die Verwicklungen Groß-Einlands zur Zeit des Nationalsozialismus dringt, desto vehementer bekommt Ruth den Widerstand der Bewohner zu spüren. Doch sie gräbt tiefer und ahnt bald, dass die geheimnisvollen Strukturen im Ort ohne die Geschichte des Loches nicht zu entschlüsseln sind. »Raphaela Edelbauer überschreitet Grenzen und rückt in unerforschte Gebiete der Literatur vor.« Jurybegründung Rauriser Literaturpreis

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 411

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Raphaela Edelbauer

Das flüssige Land

Roman

Klett-Cotta

Impressum

Die Arbeit am vorliegenden Roman wurde durch ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds gefördert.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung eines Fotos von gettyimages / oxygen

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96436-3

E-Book: ISBN 978-3-608-19196-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

1

In den frühen Morgenstunden des 21. September 2007 verschüttete ich rund 200 ml Kaffee über meinem penetrant klingelnden Handy, das mich, von einer unterdrückten Nummer zutiefst erschüttert, so plötzlich zum Abheben aufforderte, dass ich keine Zeit hatte, die Tasse abzustellen. Irritiert über die Unterbrechung der Arbeit, verstand ich erst nach einigen Sekunden, wer da mit mir sprach. Am Apparat war ein Polizist: Und ohne die Umschweife einer ausführlichen Begrüßung hatte er mir mitgeteilt, dass meine Eltern vergangene Nacht bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. »Ums Leben?«, fragte ich, obwohl ich es sofort begriffen hatte. Während ich weiter auf meinen Artikel über Vektorenräume starrte und die komplexen Skalarprodukte vor mir tanzen sah, teilte mir die Exekutive mit, was geschehen war: Der rote Audi, mit dessen Kennzeichen man meine Eltern identifiziert hatte, musste gestern Nacht von der Straße abgekommen und murenartig über eine Schotterhalde nahe Syhrntal abgegangen sein. Das Seltsame, erklärte mir der Beamte, war, dass beide keinerlei Wunden oder Quetschspuren aufwiesen. Zwar gebe es eine zertrümmerte Stelle am Auto, die von der Konfrontation mit einer Leitplanke herrührte, doch spreche vieles dafür, dass das nicht der Anlass des Todes gewesen sei.

Das Fahrzeug musste sich nach dem Aufprall in unendlicher Langsamkeit auf den Abhang zugeschoben haben, sich behäbig wie ein sterbendes Insekt in die Rückenlage drehend, um schließlich sanft schmirgelig über den Bergrücken in die Tiefe zu gleiten. Der von der Semmeringschnellstraße aus wegen starken Hochnebels für die anderen Fahrer vollkommen unsichtbare Rutsch hatte in einer Stieleiche sein wahrscheinlich lautloses Ende gefunden, so der Polizist.

Ich saß in Pyjamahose und BH im Bett, den Laptop mit dem aufgeschlagenen Skriptum meiner Antrittsvorlesung auf den Knien, und befand mich auf einmal inmitten eines perspektivisch fehlerhaften Gemäldes: Knirschend setzten sich die Winkel meiner Wohnung, des Parks vor meinem Fenster, jedes Stuhls, jedes Regals in Bewegung, um sich gegeneinander zu verkeilen. Der Mann am Telefon fuhr ungerührt fort, um seinen Botschafterauftrag zu Ende zu bringen: Somit stehe fest, dass nicht der Aufprall zum Tod geführt habe oder gar (und das betonte er) die straßenbaulichen Maßnahmen an diesem tragischen Unfall Schuld gewesen seien. Endgültige Gewissheit über die Todesursache würde uns das pathologische Gutachten in einigen Tagen bringen, meinte der Mann, und ich hörte an seinem Tonfall, der zwischen dem Duktus eines Verkehrs- sowie eines Kriminalbeamten schwankte, dass auch er dieser Situation zum ersten Mal gegenüberstand. Aber da hatten wir beide uns schon mechanisch verabschiedet und aufgelegt.

Einen endlosen Vormittag lang blieb ich still im Schlafgewand liegen und wechselte zwischen Seit-, Bauch- und Rückenlage hin und her. Aus dem Bett heraus sah ich den metronomischen Ampelphasen vor meinem Fenster zu, bis ich immer mehr die Hoffnung aufgab, dass sich in mir eine Umwälzung ereignen würde. Stattdessen überfiel mich eine Ahnung, aus der sich nach und nach eine Gewissheit schälte: Ich war offenbar längst Teil eines Kalküls, eines schon vor meiner Geburt festgelegten Zeremoniells, das sich nun entfalten würde. Eine kosmische Drehorgel hatte sich in Gang gesetzt. Alle Rollen waren verteilt, die Zahnräder griffen ineinander, alle Zylinder in der Mechanik warteten darauf, zur Trauerpflicht aufgerufen zu werden: Ich würde natürlich eine Beerdigung organisieren.

Kaum hatte ich diesen Satz gedacht, konnte ich handeln. Ich kleidete mich an: Die neue Strumpfhose glänzte seiden, als ich sie aus der Verpackung löste. Ich kochte Kaffee und öffnete ein Excel-Dokument. In den nächsten Stunden fasste ich Erfordernisse in Listen, fügte die zu Verständigenden in einem Mailverteiler zusammen, sammelte Adressen von Bestattungsunternehmen und Gleichnisse für Trauerkarten. Ich brachte Dinge in Bewegung und vertagte meine beruflichen Pflichten. Das hieß, zuerst meine Lehrveranstaltung abzusagen und ein Treffen mit dem Betreuer meiner Habilitationsschrift aufzuschieben.

»Kein Problem, Ruth, ich schick dir gleich die Bestätigung über den Sonderurlaub raus«, sagte die Sekretärin des Instituts sachte. »Wir informieren die Studenten, dass deine Vorlesung eine Woche später beginnt.«

Mittlerweile war es zwölf Uhr, und weil es ein Freitag war, sprangen die Studenten aus dem gegenüberliegenden Neuen Institutsgebäude und drangen im Stechschritt in die Straßenbahnen; die Koffer mit der Schmutzwäsche schon zum Fortwerfen in der Hand, die ihre oberösterreichische oder steirische Mutter in wenigen Stunden in die Waschmaschine hineinräumen würde. Ich hingegen fühlte mich so beengt, als hätte sich meine stumme Wohnung um mich herum zusammengezurrt. Ich zwang meinen Atem in einen Rhythmus, schloss für ein paar Minuten meine Augen und wartete, bis mein Puls wieder in sein Gleichgewicht geriet. Dennoch entlud sich ein Druck: Ich weinte, laut aber kurz, dachte an meine Eltern, an die feste Umarmung meines Vaters, an das Parfum meiner Mutter, an das Zusammensitzen am Esstisch für all die Jahre, an das Adventsingen, an die Streitigkeiten – an tausend kleine Momente, die in vollkommener Unordnung über mich hereinstürzten, während ich mich am Bett abstützte. Das alles hielt nur für einen Augenblick an. Als könnte mein Körper den Schmerz noch nicht in sich halten, verflüchtigte er sich sofort wieder von selbst, und das Nichts verschaffte sich Platz. Erneut vollkommene Stille: Nur aus der Gastherme drang ein Ticken.

Es wurde unumgänglich, etwas gegen dieses Unwohlsein zu unternehmen. Ich suchte zwei Xanor aus dem Allibert heraus, dann legte ich mich auf die Couch und wickelte mich in eine Tagesdecke. Ich war durch die vergangenen Stunden so erschöpft, dass ich endlich wegdämmerte: Die Couch sickerte trüb in die Wohnzimmerwand und hinein in die gräuliche Wolkenstimmung des Frühnachmittags.

Als ich wieder zu mir kam, war mein Rücken beschwert von einer beweglichen Last. Hände gingen auf meine Schultern nieder und attestierten mir einen Schock. Tatsächlich eine Erinnerung: Ich hatte meiner Tante und zwei meiner Cousinen aufgesperrt, die die Nachricht kurz nach mir selbst erhalten hatten. Jede von ihnen hatte sich ihren Dutt fest an den Hinterkopf geklemmt und war schwarz angezogen, sodass alle drei in jeder Weise identisch aussahen. Meine Tante hatte den Arm um mich gelegt und mir mitgebrachtes Essen auf den Tisch gestellt, wohl ahnend, dass ich den ganzen Tag noch nichts zu mir genommen hatte.

»Ruth, du weißt, wir können dir Hilfe mit dem Haushalt und mit allem anderen anbieten. Das ist das Mindeste.« Die Tante war mir zugewandt, doch ihre Sätze kamen nur mit Verzögerung an. Wir waren bald in ein ernstes Gespräch über die Modalitäten der Beerdigung verwickelt, als ich ein Glas fallen ließ, in das jemand in meiner geistigen Abwesenheit Orangensaft gefüllt hatte. Ich sah die Flüssigkeit ungebremst unter mein Sofa laufen und hatte ihr nichts entgegenzusetzen. Der Tisch glitt unter meinen Händen davon, das Mobiliar mir fremd, obwohl es doch meines war. Die von den Cousinen gezogenen Taschentücher, die im Akkord vibrierenden Mobiltelefone, die übers Firmament wandernde Sonnenscheibe, die rhythmisch fallenden Tränen aus meinen eigenen und fremden Drüsen gaben den Takt, der Blasebalg meiner Lungen betätigte sich in den leeren Raum hinein. Die Abläufe waren aus ihren logischen Relationen gebrochen, dachte ich. Du hast einen Schock, wiederholte eine der Cousinen sinnlos und wischte mir die Haare gegen den Strich – ins Blickfeld hinein, statt aus diesem heraus.

Die Tante erklärte mir zwischen Trompetenstößen aus ihrer zum Bersten gefüllten Nase, dass es der stete und unhinterfragbare Wille meiner Eltern gewesen sei, in Groß-Einland beerdigt zu werden. »Groß-Einland«, sagte ich mehrmals, um mir diesen die längste Zeit entfallenen Namen ins Gedächtnis zu rufen: »Groß-Einland, Groß-Einland, Groß-Einland.« »Groß-Einland«, deklamierte die Tante als abschließendes Amen, dann sprang ich auf die Beine.

(Groß-Einland: Ich hatte diesen Namen zum letzten Mal vor fünfundzwanzig Jahren gehört und entdeckte ihn an diesem Abend in einem kribbelnden, die Sinne reizenden Déjà-vu wieder. Wie viele Menschen, die sich aus bescheidenen Verhältnissen emporgearbeitet hatten, waren meine Eltern ein Leben lang darauf bedacht gewesen, ihre ländliche Herkunft zu verbergen. Das ging bei ihnen freilich viel weiter als bei den meisten anderen: Sofern ich mich erinnern konnte, hatten wir die Heimatgemeinde meiner Eltern niemals besucht – und da die Tante, eine Halbschwester meiner Mutter, in Graz aufgewachsen war sowie die Verwandtschaft väterlicherseits von Anfang an weggebrochen war, kannte ich keinen Menschen, der überhaupt jemals in Groß-Einland gewesen war.)

Ich müsse jetzt sofort losfahren, erklärte ich, und alles Weitere in Groß-Einland besorgen. Ich würde alleine fahren und zwar sofort, worüber, so bat ich die Tante, jetzt keine Diskussion stattfinden solle. Ich wolle die Möglichkeit klären, ein Grab auf dem erwünschten Friedhof zu bekommen, sonst könne man schließlich nicht einmal den Leichentransport in die Wege leiten. Ein Gasthaus müsse organisiert werden, ebenerdige Pensionen für die ältere Generation, ohne Zweifel auch eine klein besetzte Blasmusik und Marmorputten, schloss ich und schob bestimmt die beiden Cousinenkörper zur Tür hin. Ich hatte das dringende Bedürfnis, allein zu sein. Man hielt mich an den Schultern fest, aber ich entwand mich den Griffen und stieß Beschwichtigungen aus, die sofort im Sande verliefen.

»Bitte meld dich morgen früh bei uns, sonst machen wir uns Sorgen«, hörte ich noch, dann sah ich die Tante samt Anhang im Stiegenhaus verschwinden. Auf der Stelle machte ich mich daran, für die Abfahrt zu packen, und ignorierte mein fast durchgehend klingelndes Handy. Lauter Verwandte, die kondolieren oder mir Informationen über die genauen Todesumstände abringen wollten, bis ich, in etwa nach dem fünften Anruf, beschloss, es auszuschalten. Die bereits hereinbrechende Nacht zog die Konturen aus den Latten des Parketts, auf das ich meine Kleidung türmte. Mein Gepäck bestand aus Folgendem: Fünf Shirts, zwei Blusen, zwei Kleider, vier Hosen (eine davon kurz), ein Mantel, sieben Paar Socken, fünf Unterhosen, vier BHs, zwei Handtücher, Sneakers, Sportschuhe, High-Heels und knöchelhohe Stiefel, ein Laptop, Xanor, Phenobarbital, Modafinil, Oxycodon, ein MP3-Player, zehn Bücher (Wittgenstein, Serner, Max Brod, Tristan Tzara, sechs physikalische Standardwerke) sowie ein Täschchen mit Toilettartikeln. Das war alles, was ich für die nächsten drei Jahre bei mir haben würde. In diesem Moment wollte ich meine Wohnung abstreifen wie ein altes Paar Schuhe. Ich nahm mehrere Stiegen auf einmal, stürzte vom fünften Stock ins Erdgeschoss und stieg in mein Auto. Es muss so sein, dachte ich fiebrig, als ich den Wagen anließ, es war meine Pflicht, auf der Stelle ein würdiges Begräbnis zu arrangieren.

Als ich Wien verließ, ergriff unendliche Erleichterung von mir Besitz: Meine Brust war erlöst von einem dumpfen Druck. Dass sich bei Alland ein Becken vor mir auftat, schien mir eine Fügung zu sein, und ich schraubte mich immer tiefer in die angeschwärzte Kulisse. Kurz überlegte ich, ob ich einem meiner Freunde von den Ereignissen erzählen sollte, aber die Idee war mir zuwider. Die Straßen waren leergefegt, und gegen zwei Uhr nachts hatte sich die Autobahn an die Landschaft geschmiegt, was ich in der rundum herrschenden Dunkelheit freilich nur erraten konnte. Erst als mächtig der steinerne Paravent des Semmerings vor mir auftauchte, vollzog sich ein Wechsel. Ein Abtauchen wie unter eine Decke: Nadelige Unergrünlichkeit dampfte mir ätherisch ins Hirn; ich hatte alle Fenster heruntergekurbelt und spürte, wie sich mein Wagen von innen mit der Herbstluft blähte. Es roch so gut und frisch, dass mich das Vanillearoma des Wunderbaumes auf einmal irritierte – ich riss ihn vom Spiegel und warf ihn nach draußen.

Ich nahm aufs Geratewohl eine Abfahrt nach links: Ich hatte ja keine Ahnung, wohin ich eigentlich unterwegs war. Doch, ich wusste es: Groß-Einland, nur war ich ohne jeden Begriff losgefahren, wo Groß-Einland eigentlich war. Wie zum Schutz drehte ich das Radio lauter, aus dem Janet Jackson plärrte, aber sie wurde bald von den Geräuschen des ins Auto dringenden Fahrtwinds verschluckt. Die feuchtigkeitsgesättigte Luft pfiff durchs Fenster; ich erkannte in der herabgestürzten Schwärze nur mehr schemenhaft, dass die Wipfel sich neigten. Ich war nie die beste Autofahrerin gewesen und hatte nun Probleme, den in die Jahre gekommenen Ford zu kontrollieren: Ich musste aus Versehen auf eine Forststraße geraten sein, denn zuweilen rutschten meine Reifen, als wäre ich auf dem blanken Erdreich unterwegs, aber es war nicht genug Platz zum Wenden. Und dann kam ich doch auf eine asphaltierte Straße, glaubte kurz, einen Wegweiser ausmachen zu können, der sich beim Näherkommen als großes Aststück entpuppte, und war schon wieder leicht abschüssig unterwegs. Ich fühlte mich erhitzt, getrieben von den Landmassen, die sich gegenseitig im Schwappen verdrängten. Dann ging es in Serpentinen einen Hügel hinauf. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, was das eigentlich bedeutete: Beide tot, beide gleichzeitig gestorben, und das auf irgendeiner gottverdammten Straße im Nirgendwo.

Je alpiner die Umgebung wurde, desto feingliedriger zogen sich die Wogen in die schroffen Gesteine, die abschüssigeren Wege, die nun noch raueren Wälder. Überall sah ich in der Wiese kleine Wellenrücken auftauchen, sich brechen und wieder verschwinden. Der Wind schien den Wald zu schieben, der Wald drückte auf den Nebel und der Nebel auf die Grasflächen, die sich nach oben in die Wolken stauten, um diese in Bedrängnis zu bringen. Und ich war nicht weniger davon ergriffen als die Natur: Etwas, das mich bisher in der Welt gehalten hatte, war aus den Angeln gedreht worden. Das ganze Land stieg unter mir auf; ich befuhr die Wellenzüge einer flüssigen Masse. Meine Hände zitterten in ihrem Griff um das Lenkrad, und die Kontraktionen meines angespannten Körpers machten das Auto gefährlich schlingern. Ich musste mich dem Zugriff des Landes entziehen, und dass in diesem Moment ein Rastplatz angekündigt wurde, war ein Wink des Himmels.

Sowie ich auf einen betonierten Platz fuhr, fanden die Eindrücklichkeiten ein Ende. Diese öffentliche Bedürfnisanstalt für Autofahrer – der banalste aller Orte – führte mich in die Realität zurück. Hinter der noch immer fast blickdichten Regenwand erkannte ich eine fest montierte Sitzgarnitur, die mit benützten Taschentüchern und Plastikgeschirr übersät war. Die menschgemachte Struktur, und sei sie noch so widerlich (es war zu erkennen, dass halbe Knackwürste, ausgelesene Pornohefte und Tampons auf den notdurfthalber niedergetrampelten Heckenpfaden weggeworfen worden waren), erlöste mich in diesem Moment. Die Erde hatte zu schwanken aufgehört.

Der Motor war keine Minute aus, da begann ich schon zu frieren, und weil ich annehmen konnte, dass das Klosett beheizt wäre, packte ich meinen Schlafsack und watete durch die aufgeweichte Wiese zum Häuschen. Kein Gefühl des Ekels, der Befremdung, der Deplatzierung: Alles, was mir blieb, war, mich auf der Muschel zu verkeilen und in den Schlaf zu sinken.

Als ich am darauffolgenden Morgen hochfuhr, schien nur ein Augenblick vergangen zu sein, doch jemand donnerte mit den Schuhen gegen die Trennwand, dass die ganze Konstruktion erzitterte. Es dauerte einige Minuten, ehe ich meine Beine wieder spürte, ein paar mehr, um mein festgenageltes Kreuz mobil zu machen, und ein paar dazu, um mich in Richtung Tür zu wagen, von woher mehrere Stimmen mich beschimpften. Schließlich sperrte ich doch auf. Ein korpulenter, in blaue Latzhosen gekleideter Mann drängte so heftig in die Kabine, dass ich ohne weiteres Zutun aus der Bahn flog und die Toilette auf der Stelle verließ. Die Schlange war gewaltig; überdies hatte ich auf der Herrentoilette genächtigt. Unter Pfeifen und Gebrüll erreichte ich mein Auto – den Nacken steif, den gestrigen Abend nur mehr wie eine fremde Erinnerung im Kopf.

Aber immerhin: Die Luft war milde, und während ich mich über diese plötzliche Anflutung von Wärme wunderte, die sich mit dem Duft frisch getränkter Wiesen mischte, bemerkte ich, dass ich mich in den Wäldern befand. Rund ums Toiletthäuschen, auf dem ich die Nacht verbracht hatte, waren, inmitten einer sonst heideartigen Landschaft, kleine Baumgruppen zu sehen, die sich am Horizont zu einem Ozean zusammenschlossen. Der Wechsel, schoss es mir ein; und tatsächlich, als ich endlich meine gestrige Irrfahrt auf der Karte nachvollzog, fand ich heraus, dass ich wohl in einer Klamm nahe Feistritz gelandet sein musste. Das Auto war dezent mitgenommen, das heißt, Auspuff und Stoßstange merklich abgenützt und nur mehr gehalten von zwei dünnen Drähten knapp über dem Boden. Ich nahm den in der Seitentüre versunkenen Straßenatlas zur Hand, um zu eruieren, wohin ich überhaupt musste. Groß-Einland – dieser Name war im Glossar nicht zu finden, und anscheinend war ich schon zu hoch, um noch Internetempfang zu haben. Ich ging in aufmerksamer Sorgfalt noch einmal jede der Teilkarten durch, die das Wechselgebiet umfasste, aber auch das blieb ohne Erfolg. Also ein Telefonat: Die Auskunft gab mir die Nummer der Niederösterreichischen Landesregierung, diese wiederum jene des Kommunalamtes: »Guten Tag«, sagte ich, »ich suche nach einer Gemeinde namens Groß-Einland im Wechselgebiet.«

»Groß-Einland?«, fragte die Dame und hämmerte die Buchstabenkette in den Apparat. »Nein, in Niederösterreich gibt es keine Gemeinde dieses Namens.«

»Das kann nicht sein.«

»Aber das Wechselgebiet grenzt auch an die Steiermark – vielleicht liegt die Gemeinde schon auf deren Gebiet. Ich geb’ Ihnen die Nummer«, schlug die Dame vor; ergo rief ich diesmal bei der Österreichischen Bundesverwaltung an, um dieselbe Frage zu stellen, aber nein, es gebe, sagte nun auch die Bundesdame, diesen Ort in ihrer Auflistung nicht. »Eine Zusammenlegung, eine Eingemeindung, vielleicht?«, fragte ich hoffnungsvoll. Pause. »Nein. In Österreich gab es nie ein Groß-Einland.«

Ich hatte aufgelegt, ohne etwas zu erwidern, und saß eine Weile stumm auf der Motorhaube. Erst jetzt, da ich es für die Beerdigung finden musste, wurde mir klar, wie wenig ich eigentlich über Groß-Einland wusste: Bloß, dass es sich wohl irgendwo im Wechselgebiet befinden müsste, denn das immerhin hatte ich meine Eltern auf die Nachfragen anderer hin sagen hören. Aber schließlich hatte ich sie etliche Jahre nicht darauf angesprochen. Nicht, weil es mir unangenehm gewesen wäre oder als Tabu gegolten hätte: Die Vergangenheit schien uns einfach ohne jede Relevanz zu sein. Die Ferien waren die Gelegenheit fortzustürzen, also möglichst mit geschlossenen Augen in einem Flugzeug den Kontinent zu fliehen – niemals aber tiefer in die sogenannte Herkunft zu tauchen oder gar Ski fahren zu gehen wie alle anderen, die wir dafür im Geheimen verachteten.

Es war das zwischen den Zeilen Geteilte, das mir am eindrücklichsten wieder zu Bewusstsein kam: Ich erinnerte mich, wie mir meine Mutter erzählt hatte, dass man in Groß-Einland mit einer Leiter in den Untergrund steigen konnte. »In einer feuchten Höhle, bestimmt zehn oder fünfzehn Meter hoch, gab es dort alte Flugzeugteile, aus denen wir Kinder uns Höhlen gebaut haben. Blechtüren, Panzerglasscheiben, und dann waren dazwischen Tragflächenteile, auf denen man auf und ab wippen konnte«, hatte sie gesagt.

Oder eine nicht weniger magische Geschichte meines Vaters: In Volksschultagen, gemeinsam eingerollt vor dem geheimnisvoll knisternden Feuer im Holzofen unseres Wohnzimmers, sprach er über einen Menschen namens Holzfäller-Hans, der einen Schuppen neben seinem Elternhaus gekauft hatte. Es war Winter, und mein Vater verschüttete, immer wenn er die Tasse mitten in der Erzählung zum Mund führte, ein wenig Schwarztee in seinen Bart, der mir, wie von einem Stalaktit herab, auf die Beine tropfte.

Holzfäller-Hans schloss sich jeden Abend schlag zehn Uhr in seinem Schuppen ein. In diesem sammelte er, hatte mein Vater mir ins Ohr geflüstert, die Herzen aller Säugetiere – eins neben das andere in Formaldehydgläser geschlichtet und zwischen all diesen: ein menschliches, von dem niemand genau wusste, woher er es hatte. »Und wir warfen«, sagte er, »als Buben Steine an die Fensterscheibe, in stillem Horror und drängender Erregung, dass Hans mit einem seiner Einrexgläser in der Hand dort erscheinen würde.«

Es war der erste jener seltenen Augenblicke, in denen ich ihn etwas über seine eigene Kindheit erzählen hörte, aber was sagt eine solche Schaudergeschichte schon aus: Ich war ohne Orientierung.

2

Die zweite Nacht verbrachte ich knieend auf dem Boden einer Pension in Kirchberg am Wechsel. Bett und Nachttisch standen unter schwerer, dunkler Holzvertäfelung, eine Bibel im Kasten und ein Eventkalender des Tourismusverbands aus dem Jahr 1998 an der Wand. Die Wirtin hatte mir Gulaschsuppe und eine Flasche Bier gebracht, ich war der einzige Gast. Es wurde langsam dunkel, und ich konnte das Werk der vergangenen Stunden, das vor mir auf dem Boden lag, kaum mehr erkennen: Ein aus unzähligen Papieren bestehender Teppich, von dem an allen Seiten beschriftete Zettelchen abzweigten. Eine Erinnerungskarte, hatte ich mir gesagt, und mit einer Skizze auf einem A4-Blatt begonnen. Sie sollte alles miteinander verbinden, was mir meine Eltern über Groß-Einland je erzählt hatten. Bald jedoch war die Zeichnung an den Rändern über das viel zu kleine Blatt hinausgewuchert, war zu voluminös geworden, sodass ich mit Klebeband ein weiteres daran befestigte, ohne noch zu ahnen, dass die maßlose Expansion meines Gedankenmaterials mich bald in die Dutzenden führen würde. Aber eine Erinnerung brachte mich eben zur nächsten, und ich konnte keine Situation niederschreiben, ohne dass sie drei weitere aufwarf. So hatte ich auf einmal festgestellt, dass sechs Stunden vergangen waren; eine durch die Gravitation meiner Gedanken gestauchte Raumzeit.

An diesem Nachmittag war auf einmal der Herbst zu spüren gewesen, die Luft war feucht und kühl. Im Hochgebiet hing schon der Raureif an den Zweigen und tropfte auf die noch warme Erde, während ich mich von der Toilette, auf der ich geschlafen hatte, in die erstbeste Richtung wieder aufgemacht hatte.

Vor einem Reisenden, der von Wien kommend den Bergpass zur Steiermark überqueren will, fächert sich das Wechselgebiet auf – eine von Untergipfeln zerfurchte Mondlandschaft. Schief hängende Gesteinsflächen ragen auf und fallen in Klammen zurück, in denen Alpenbäche sich im Laufe der Jahrmillionen tief in die Landschaft gefräst haben. Pyrithalden, eigentümlich glänzend, münden in weiche Almflächen. Das Wechselgebiet würde wie die Oberfläche eines abgeschieden liegenden Planeten scheinen, wäre nicht gleichzeitig auf jeden Vorsprung dieser Voralpenmassive ein Hotelkomplex gesetzt worden, aus dem winters wie sommers deutsche Touristen strömen: Pensionistengruppen, die ausgerüstet sind, als wollten sie den K2 besteigen, pendeln den ganzen Tag vom einen Eiscafé ins nächste. Neureiche und altreiche Polohemdenträger liegen auf den planierten Flächen, die ein auswärtiger Unternehmer erst in den Stein gestemmt, dann betoniert, dann mit »Naturhotel« überschrieben hat. In einer dieser Ortschaften hielt ich an, um Geld abzuheben, wie immer ängstlich davor, es würde in der letzten Woche des Monats nichts mehr aus dem Automaten kommen: Immerhin noch knapp zweihundert Euro.

Zur Mittagszeit hatte der Hunger mich in eines der Hotel-Cafés gezwungen: ein an Raststätten erinnernder Speisesaal, vollgestopft mit japanischen Touristen, die im Stundentakt aus den Bussen entladen wurden und zeitig wieder zurückgetrieben – dazwischen ein paar wenige Einheimische, die sich in dieser Schaukastenrealität bestens eingerichtet hatten. Steif von der hinter mir liegenden Nacht war mir das alles für einen Moment einerlei geworden: Ich hatte mich den Personenströmen willenlos ergeben und war mit ihnen ins Innere geschwappt. Wir waren in elendig langsam sich bewegenden Kolonnen an den Glasfronten der Konditorei vorbeigeleitet worden, um endlich auf einer der Sitzbänke zu stranden. Besonders hatte mich entsetzt, dass man Punschkrapfen mit dem Gesicht Ludwig Wittgensteins verkaufte.

»Was darfs sein, die Dame?«

Die Kellnerin trug das weiße, zweireihige K. u. K.-Hofzuckerbäckergewand, wie man es von alten Abbildungen kennt. Überrumpelt von der Geschwindigkeit, mit der ich registriert worden war, bestellte ich ein Wiener Frühstück sowie zusätzlich aus Verlegenheit einen der Wittgensteinkrapfen, den ich, als er gebracht wurde, unberührt wie eine Devotionalie vor mir stehen ließ.

Ich hing übernächtigt an meinem Großen Braunen und rekonstruierte im Straßenatlas meine gestrige Route. Im Grunde hatte ich mich parallel zur Semmeringstraße bewegt, dann darüber hinweg, dann wieder in die andere Richtung zurück und so weiter, sodass ich letztlich quer über Ramsattel, Steiersberg und Liesling einen Kreis beschrieben hatte. Unter den unablässig ausgestoßenen Schreien der Kinder am Nebentisch, die sich mit zusammengeknüllten Papierservietten abschossen, schmiss ich alle Dinge zurück in meine Handtasche und lief in Richtung meines Autos. Über die Gebirgskämme donnerte der Winddruck in kräftigen, unsteten Schüben – jeder Stamm wankte und gab sein Wanken an tausend Verzweigungen weiter, die in einer sonderbaren Choreographie ihre Interferenzen an die einzelnen Blattflächen vererbten, die doch von der ursprünglichen Erschütterung gar nichts wissen konnten. Es herrschte jene eigenartige Spannung in der Welt, wie sie kurz vor einem Bruch auftritt; sich aneinander reibende Wolkenfelder, aus denen jeden Augenblick etwas niederzugehen droht –

Die Beine bis an die Knie benässt, hatte ich beschlossen, dass ich mir eine richtige Unterkunft suchen musste. In der nächsten Ortschaft, Trattenbach, war ich fündig geworden: Ein Schild an der Landstraße hatte mich an eine wortkarge Wirtin verwiesen, die mir die Schlüssel für ein sogenanntes Fremdenzimmer ausgehändigt hatte. Allein in der tristen, klaustrophobisch engen Kammer, mitten im Nirgendwo, hatte ich nochmals reevaluiert, was mir brauchbare Hinweise auf Groß-Einland liefern konnte, doch irgendwann kam ich unweigerlich darauf zurück, dass alles, was mir blieb, die Erzählungen meiner Eltern waren. Von da an bis spät in die Nacht war ich damit beschäftigt, eine Art Mindmap anzufertigen, die bald den gesamten Zimmerboden bedeckte und alles offenlegte, was meine Eltern jemals zu ihrer Herkunft erwähnt hatten. Ich verknüpfte Erzählung mit Erzählung zu einem Gangliengeflecht, durch das in den späten Nachtstunden endlich Blut zu fließen begann. Dass beide, um ein Gymnasium zu besuchen, die Stadt nicht hatten verlassen müssen, gab Aufschluss über die Dimensionen des Ortes. Zudem erinnerte ich mich vage daran, wie meine Mutter mir erzählt hatte, sie sei im Kindergarten von Nonnen betreut worden, mein Vater aber nicht – weswegen es also wahrscheinlich war, dass es zwei Kindergärten gab. Dann, dass ich glaubte, meinen Vater erzählen gehört zu haben, wie er als Knabe dabei erwischt worden war, einen Feuerwerkskörper auf den Stufen der evangelischen Kirche gezündet zu haben. Der evangelischen Kirche – was das im ländlichen Österreich bedeutete, konnte man sich denken. Ich begann also, Groß-Einland auf 10 000 Einwohner zu schätzen. Dann aber begriff ich die Voreiligkeit dieses Schlusses, für den jederzeit leicht Gegenargumente angeführt hätten werden können. Es war zu wenig – zu wenig Beweis für alles.

Ich musste von anderen, persönlicheren Knoten aus zu arbeiten beginnen, dort, wo kaum mehr Interpretationsspielraum bestand: Es war Ostern 93 oder 94, und ich zwar auf dem Höhepunkt pubertärer Ablehnung, doch noch immer nach draußen gelockt von der niemals ihren Reiz verlierenden Eiersuche. Ich hatte Legend of Zelda: Links Awakening im Apfelbaum hängend vorgefunden, und mein Vater und ich saßen noch auf der Sitzgruppe unter der Eiche in unserem Garten, den wir, bloß um das Gras nicht jede Woche mähen zu müssen, als englisch bezeichneten.

Ich war stumm über mein Spiel gebeugt, Papa über molekularbiologische Fachliteratur; schweigende Eintracht im nach Frühling duftenden Garten. Irgendwann standen wir, da ein leichter Nieselregen einsetzte, zusammengedrängt unter dem Baum. Mein Vater hielt heldenhaft sein Buch über meinen Gameboy, während ich mich bemühte, meinen Spielstand noch zu speichern.

»Weißt du, warum ich den Baum damals gepflanzt habe?«

Ich schloss auf dem Boden der Pension die Augen und glaubte, mich noch an den genauen Wortlaut erinnern zu können. »Als ich ein Kind war, waren wir jeden zweiten Abend beim Heurigen zur tausendjährigen Eiche. Die hatten einen uralten Baum, mindestens zehn Mal so dick wie dieser, um den sie den Heurigen irgendwann herumbauen mussten, weil er jahrelang einfach weitergewachsen ist. Eine Eiche, die mitten durchs Haus verlaufen ist.«

»Eine Eiche kann doch gar nicht tausend werden«, hatte ich gesagt.

»Hinter dem Gasthaus gab es Silos, Weinberge, Betonrohre, die weiß der Himmel wohin führten. Und Haflinger. Die Eiche war eines der wenigen Dinge, die ich in Wien vermisst habe, deswegen habe ich diese da gepflanzt.«

Es gab also einen Heurigen, einen Heurigen, keinen Buschenschank, was hieß, dass Groß-Einland auf der niederösterreichischen Seite des Wechselgebietes lag. Allein die Tatsache, dass der Baum dort so gut gediehen war, schränkte meine Suche weiter ein, denn das Nachschlagen in einem Naturführer der Pension förderte zutage, dass sich Eichen in Seehöhen über siebenhundert Meter nicht wohlfühlten. Aber jene Weinberge – wie konnte es am Wechsel, wo es keine Winzer gab, wo die Hänge senkrecht in die Tiefe schossen, Weinberge geben? Oder hatte ich mich falsch erinnert? War es um Most gegangen?

Ich hatte so lange auf dem Boden gekniet, dass mir die Beine eingeschlafen waren, und ich nützte das als Vorwand, mir unten eine weitere Flasche Bier zu holen. Das Gulasch war längst auf dem Beistelltisch kalt geworden. Ich legte mich auf den Bauch und spann weiter an meinen Erinnerungsfäden.

Dutzende Male war mir zugetragen worden, wie die beiden sich kennengelernt hatten, und ich hatte geistesabwesend die Erzählungen vorbeirauschen gehört, an deren provinzieller Romantik die Geschichte haltmachte wie ein elendig langsamer Bummelzug. Mein Vater, Erich Schwarz, war ab seinem zweiten Lebensjahr im Elternhaus meiner Mutter, Elisabeth Schalla, aufgewachsen. Der genaue Grund dafür war leidenschaftlich beschwiegen worden, denn er hatte im weitesten Sinne damit zu tun, dass meine alleinerziehende Großmutter väterlicherseits nach einer Reihe sogenannter hysterischer Zusammenbrüche diesen nicht bei sich hatte behalten dürfen. Das musste in etwa 1944 oder 45 gewesen sein – in jedem Fall aber in einer Zeit, in der psychisch Kranken nicht von Medizinern zu helfen war und elternlosen Buben nicht die Geborgenheit einer staatlich vermittelten Pflegefamilie zuteil wurde. Um dem kleinen Erich zu ersparen, in einem Waisenhaus des soeben zerfallenden Deutschen Reiches aufzuwachsen, nahm die Familie meiner Mutter, die Nachbarn der Familie Schwarz, ihn auf. Das hatte mich immer am meisten befremdet: Aufgewachsen wie Geschwister; später die Adoption vor dem Familiengericht wieder aufgehoben, um das Inzestverbot zu umgehen. Es hatte etwas Schiefes an sich, obgleich freilich keine Blutsverwandtschaft bestand.

Der nunmehr zweifache Vater, der Holzfäller Joseph Schalla, hatte das Kind so vollkommen und fraglos in die Familie integriert, dass die Erziehung zum Stabhalter der Firma auf der Stelle begonnen hatte. Auch das stand mir noch klar vor Augen, weil es mein Vater bei jeder Wanderung aufs Neue wiederholt hatte, vor allem aber weil es für mich immer sehr besonders war, etwas aus seiner Kindheit zu hören: Joseph, hatte er gesagt, habe ihn schon als Kleinkind auf seinen Schultern in den Wald getragen, auf steile, feuchte Hänge, die im Frühling all das Modrige des Winters ausatmeten. Er habe den Blick für die Kraft eines Stammes und für die Schwäche eines anderen geübt. Der schwache musste ignoriert werden; sei ein Baum aber gerade gewesen, habe ihm das diebische Freude bereitet. Er habe sich dann mit dem Rücken an die Rinde gelehnt, den Kopf in den Nacken gelegt, dass der Skalp am Holz kratzte, in den Himmel geschaut und gesagt: Das ist ein guter Wuchs.

Während mein Vater mir das erzählte, hatte er mich oft auf seine eigenen Schultern gehoben und sich rücklings gegen einen Baum gelehnt, zumeist jedoch an einen schiefen, wie ich nun dachte. Ich zeichnete kleine, astartig von dieser Hauptgeschichte wegführende Gedankenlinien: Während mein Großvater versucht hatte, dem Knaben die Kriterien für den Wert des Holzes als Ware nahezubringen, interessierte sich dieser zusehends für die Taxonomie, Relation und innere Funktionsweise jener Pflanzen, deren internationale Verschiffung sein Hauptanliegen hätte werden sollen. Seit seiner Kindheit, hatte meine Mutter immer erklärt, habe man mit ihm keine Allee entlanggehen, keine Städtereise machen können, ohne für jeden Weg ein paar Stunden extra aufzuschlagen, weil er mit einem Bestimmungsbuch der lokalen Flora an sämtlichen Zweigen und Knospen hing. Dieses Detail strich ich wieder. Es tat nichts zur Sache.

Ich zog eine Linie davon weg und fügte vier weitere Zettel an: Meine Mutter indessen hatte den Unternehmergeist geerbt – hatte schon mit zehn oder zwölf jeden Flohmarkt bespielt, jede Gelegenheit ergriffen, irgendjemandes Rasen mähen zu dürfen. Meine polyglotte Mutter, die den ganzen Tag mit Sprachlehrbüchern im Bett gelegen war, hatte ihr perfektes Französisch herausgearbeitet, Norwegisch gelernt – alles, um sich auf den Export vorzubereiten.

Daraufhin fielen mir eine Unzahl an Situationen ein, in denen ich mir wünschte, besser zugehört zu haben. Eine Grillfeier zum Beispiel, ich fünfzehn und um uns herum im kleinen Wiener Garten all jene alten Freunde meiner Eltern, die an Sommerabenden immer vor der Tür standen: Irgendwie kam die Sprache auf die erste Liebe, und jeder begann reihum zu erzählen. Ich wusste noch deutlich, was für ein drängender Fluchtreflex mich erfasst hatte. Ich hatte Gespräche über alles, was mit diesem Thema zu tun hatte, stets vermieden, hatte versucht, die Konversation zu anderen Bereichen zu lenken oder mich unter einem fadenscheinigen Vorwand in mein Zimmer zurückgezogen, in der Hoffnung, man würde meine Nervosität nicht bemerken. Aber es war an diesem Tag unmöglich gewesen. Wir waren ja mitten im Essen und ich gefangen von der Vorstellung, jemand könne mich befragen. Dann waren meine Eltern an der Reihe zu erzählen; meine Hände schweißnass.

Es musste in etwa mit siebzehn oder achtzehn, jedenfalls ungefähr zu der Zeit gewesen sein, als die beiden beschlossen, nach Wien zu gehen, dass sie ihr Interesse aneinander entdeckten. Ich wusste, dass sie während ihres Studiums, meine Mutter Volkswirtschaft, mein Vater natürlich Biologie, gemeinsam in einer Maisonette von vielleicht fünfundzwanzig Quadratmetern gelebt hatten: Toilette und Bad am Gang, ein einziges Zimmer mit einem Bett, zwei Schreibtischen und einem sogenannten Fauteuil, von dem sich mein Vater auch Jahrzehnte später noch nicht getrennt hatte. Diese Wohnung, mit ihren herabhängenden Tapetenfetzen und fleckenübersäten Teppichböden, finanzierten meine Eltern mit Nachtschichten in einem Wurstgeschäft. Das musste in etwa 1965 bis 1970 gewesen sein, Jahre, in denen man sich mit allem Möglichen solidarisierte und bei sich zuhause Dissidenten versteckte, Atomkraft verteufelte und Abrissgefährdetes besetzte, alles in allem aber bloß Revolution spielte, während man insgeheim auf ein konventionell erfolgreiches Leben hinarbeitete, denn allerorts waren schon die Kinder auf dem Weg. So eben auch ich. Ich strich diesen Zweig wieder durch, er war eine Einbahnstraße: Alles handelte von Wien, nichts von Groß-Einland.

Ein dichtes Netz aus Linien, Querverweisen und Gedankenströmen hatte sich entfaltet. Jeder Knotenpunkt führte über einen Nervenstrang aus kleinen, anekdotenhaften Umwegen zu einer anderen Geschichte, sodass bald ein Gewebe aus Vergangenheitsfetzen entstand. Ich hatte nie wirklich darüber nachgedacht, aber jetzt, da ich alle Teile überblickte, begriff ich, dass ein Bruch stattgefunden haben musste, dass in all den Erzählungen von Exzess und Überschwang, Feierlaune und Multikulturalität zugleich etwas zutiefst Trauriges gelegen hatte. Überall dort, wo nichts von Groß-Einland war, war es eben doch gewesen, als Mangel, als fehlende Heimat. Aber warum?

Ich war benebelt von den Anstrengungen des Erinnerns, von all diesen Details: Dass hinter dem Elternhaus ein Hügel war, auf dem man im Winter Ski fahren konnte. Oder eine Narbe im Nacken meiner Mutter, die ich beim Schwimmenlernen ertastet hatte und die angeblich vom Tritt eines Pferdes herrührte, dem sie die Hufe ausgekratzt hatte. Wie meine Eltern das Deuten von Sternbildern in ihrem Kinderzimmer gelernt hatten, weil ein großes Fenster in die Dachschräge eingebaut war, durch das man den Nachthimmel sehen konnte.

Das Schlimmste war das Kleine, das Zarte, das Intime: flüchtige Berührungen und auf meinen Scheitel gelegte Hände. Ich erinnerte mich an exzentrische Charakterzüge, die mir an meinen Eltern peinlich gewesen waren, nach denen ich mich jetzt aber sehnte. Ereignisse, die so sehr zwischen den Zeilen stattgefunden hatten, dass ich sie niemals zur Genüge würde formulieren können, und die an jeder Erinnerung unauflösbar hingen. Offene Tage, die auf eine Zukunft abzielten, Lippenstiftabdrücke auf meinem Fahrradhelm, Lieblingsmüsliriegel, die den Weg in meinen Rucksack gefunden hatten. Und endlich, als sei ein Ventil gebrochen, konnte ich weinen.

Lange nach drei Uhr früh faltete ich meine Karte zusammen. Ich rekapitulierte, welche Hinweise ich hatte, um am nächsten Morgen nach dem Frühstück zu entscheiden, wo ich weitermachen musste. Da waren ein paar Landschaftsideen, eine ungefähre Ahnung, wie groß die Gemeinde sein könnte, sowie ein paar Anekdoten. Nichts, das hätte Aufschluss geben können.

Wenn es keine Zeit gibt, muss es ein anderes – vom selbsttätigen Fortlaufen der Dinge unabhängiges – Prinzip geben, das den Weltenlauf zusammennäht. Laut Barbour (Oxford, 2008) besteht dieses in sogenannten Zeitkapseln – inhaltlichen Wegweisern, die unserem Geist signalisieren, welchen Pfad durch die Landschaft alles gleichzeitig Seienden er nehmen soll. Diese Zeitkapseln sind Solitäre in unserer Welt – die einzigen Elemente, die auf eine Vergangenheit verweisen. Urkunden, Fotos, Geschichtsbücher gehören dazu – Gegenstände persönlicher Erinnerung, die etwas zu beweisen scheinen, das es in Wahrheit nicht gibt: kausale Vergangenheit. Daneben existieren die Zeitweiser, die in den Gehirnstrukturen organischer Wesen angeordnet sind; Miniaturversionen des Universums, die, gleichsam eingefroren, dem Menschen eine Herkunft suggerieren. Zeitweiser spiegeln Kontinuität vor, während sie in Wahrheit bloß logische Verknüpfungen sind, keine kausalen. Denn unsere Welt besteht aus nichts als der Gegenwart – und während sich der Verstand noch an den Zeitkapseln entlanghangelt, steht alles still.

Es war der vierte Tag meiner Fahrt in den Voralpen, und ich setzte mich an die akkurat gespaltenen Semmeln, um meine heutige Fahrt zu planen. Als würde dieser belanglose Rhythmus von Einkehr, Abendessen, Schlaf und Frühstücksbuffets mich in einen Zustand vollkommener Indolenz führen, beschloss ich jeden Morgen aufs Neue, ihn aufrechtzuerhalten. Ich konnte mich von der Hoffnung, Groß-Einland zu finden, noch nicht lösen. Ich liebte die Einfachheit der Verhältnisse: Ein Gasthaus mit Gästezimmer war ja wie das andere Gasthaus mit Gästezimmer; gleich bemessene Kammern mit denselben geblümten Bettüberzügen und Bibeln in der Schreibtischschublade; mit Leberknödelsuppe und ähnlich zerkochten Petersilstängeln, in Tellern, die eine bäuerliche Szene in Blau zeigten. Man saß neben denselben rotgesichtigen Trunkenbolden, die ihre wurstfingrigen Fäuste donnernd auf Holzplatten niedergehen ließen, während man aus den immer in der nämlichen Art geschwungenen Weingläsern den vollständig kongruenten Wein, also Zweigelt und Veltliner, trank, wonach sich in einem staatlichen Synchronballett die Schnapsflaschen tief in die Gläser neigten. Zuletzt legte man sich endlich in sein holzgetäfeltes Dachschrägenzimmer, aufs Doppelbett mit dem immergleichen Spalt in der Mitte und absolvierte den immergleichen Landschlaf, ehe die Wirtin, stets um die vierzig, stets feist, um sieben mit dem Geschirr zum Frühstück klapperte. Und immer derselbe Gasthof bis nach Salzburg und über die Grenze nach Bayern, wo der Strom der Wirtshäuslichkeit irgendwann verebbte.

Ich fuhr an diesem Tag weit hinaus, an Mariensee vorbei und hinunter ins Kamptal, zu einem Steinbruch, einer Nutstelle des Landes, wo sich die Kontinentalplatte erschrocken von sich selbst losgesagt hatte. Hier endlich schien mir der geeignete Ort zu sein. Der Herbst dampfte aus dem sacht modernden Untergrund, doch es war noch warm genug, dass ich die Autofenster offen lassen konnte. Der Boden war nassfeucht, ich musste das Tempo drosseln. Dass zu allen Zeiten mein Handy klingelte, quälte mich seit Tagen: als würden die Nachrichten wie lästige, unangekündigte Besucher vor meiner Türe warten. Ich müsste einen radikaleren Schritt unternehmen und hier stand ich also: An der Bruchstelle des Steins, der neben der Landstraße in die Tiefe führte.

In diesen Abgrund warf ich mein Handy. Ich sah es erregt hundert Meter ins Tal fallen, und mir war, als hätte ich einen aufdringlichen Verfolger abgehängt. Ich meinte zu hören, wie es platzte an den gezackten Steinwänden und endlich liegen blieb. Euphorisiert von diesem Geräusch, sah ich noch einen Augenblick in die Tiefe, bewegte mich dabei aber schon rückwärts wieder aufs Auto zu.

3

Obwohl mich fröstelte, fuhr ich die Strecke, die ich mir morgens vorgenommen hatte, eisern zu Ende. Ich bereute nun, nicht bedacht zu haben, dass mir ohne Handy auch das Navigationsgerät abging. Ich durchquerte eine Ortschaft namens Puchsberg, da stach mir ein Wegweiser ins Auge: Ich bremste reflexhaft, stellte den Wagen am Wegesrand ab und ging zu Fuß näher an das handgeschnitzte, an einem Baum aufgehängte Schild, um meinen ersten Eindruck zu bestätigen: GASTHOF ZUR TAUSENDJÄHRIGEN EICHE.

Das Gebäude lag auf einer Anhöhe, keine fünf Minuten von der Ortschaft entfernt. Ich musste vier Versuche starten, ehe ich es fertigbrachte, die Parklücke zu treffen, die letzte, die vor dem Gasthaus überhaupt noch frei war. Schon von draußen sah ich, dass die Eiche das Gebäude spaltete, als wäre es von einem hölzernen Blitz getroffen worden. Ich stand noch einen Augenblick im Regen und fragte mich, warum das Haus nicht vollständig mit Wasser vollgelaufen war, denn aus dem Dachstuhl ragte ja ungeschützt die Baumkrone. Es war genau, wie mein Vater es beschrieben hatte.

Vielleicht aufgrund des feuchten Wetters herrschte im Inneren des Gasthauses Überfülle, das sah man schon von der Rezeption aus: Jeder Tisch war besetzt, und selbst wenn alles voll war, standen noch zwei oder drei Klappstühle daneben. An robusten Holzgarnituren saßen ganze Großfamilien, die sich über die Bänke hinweg Dinge zuriefen und auf deren Schößen, wenn man endlich glaubte, dass jetzt wirklich niemand mehr Platz haben konnte, noch ein paar Säuglinge verteilt lagen. Im Eck knisterte ein Schwedenofen – ein schwirrender, hitzeerfüllter Raum sich bewegender Menschen.

Ich hatte kurz Sorge, ob überhaupt ein Zimmer frei wäre. Aber natürlich, sagte die Frau an der Rezeption, als ich meine Frage an sie herantrug, es werde in wenigen Stunden eines geräumt und ich solle inzwischen etwas zu essen bestellen. Ich wurde von einer Kellnerin geführt, die mich beim Betreten der Stube wie ein kleines Kind an der Hand ergriffen hatte und nun mit bemerkenswerter Behändigkeit zwischen den Gruppen durchwedelte. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie man auch nur einen einzigen Menschen mehr hier unterbringen sollte. Sie schlichtete mich schließlich an einen winzigen Tisch zu einem Mann, der in seinen Krautsalat vertieft war.

So wenig ich die Intimität einer willkürlichen Zusammenlegung sonst ertrug, so interessant sah doch mein Gegenüber aus: Er musste um die vierzig Jahre alt sein und war in ein äußerst merkwürdiges Gewand gekleidet; eine Art violette koptische Tunika, die sich so eklatant von der Kleidung der anderen Wirtshausbesucher unterschied, dass ich mich wunderte, warum ihn niemand anstarrte. Er schrieb an seinem Krautsalat vorbei in ein Notizbuch – und zwar in einer Schrift, die ich noch nie gesehen hatte. Wohl hatte sie Ähnlichkeit mit Koreanisch, dann aber wieder wuchsen Hütchen und Haken aus den Buchstaben, dass man sie für verwandt mit der slawischen Familie halten konnte. Ich bestellte einen Aufstrichteller, trank mein erstes Viertel Wein hinunter und fragte mich, wie ich meine indiskreten Blicke auf den Mann kaschieren könnte. Er ließ soeben die unappetitlichste aller Speisen – ein sogenanntes Gabelfrühstück – aus der Dose auf seinen Teller gleiten und begann, in der gelben Masse des Eischaums, wie ich annahm, nach dem Fisch zu suchen.

Unsere Augen trafen sich für eine schneidende Sekunde.

»Das Schicksal hat es nicht gut mit Ihnen gemeint«, sagte er auf einmal fast zu sich selbst, aber als ich wieder aufsah, hatte er den Finger wie zur Anklage gegen meine Brust gerichtet.

»Man hat Ihre Bestellung verwechselt«, sagte er, und ich bemerkte endlich, dass man eine Scheibe Kümmelbraten vor mich gestellt hatte.

»Sie sind zum ersten Mal hier«, begann er ein drittes Mal, und diesmal, fühlte ich, musste ich trotz starken Widerwillens darauf reagieren.

»Ja, das bin ich. Und auch nur durch Zufall und als Übergang. Im Grunde warte ich auf das Freiwerden eines Zimmers, ich bin ja sehr erschöpft von der langen Fahrt und würde mich am liebsten gleich hinlegen, aber das Gasthaus ist entsetzlich überbelegt.« Mir war meine Antwort entgleist, wie immer, wenn ich die Interaktion eigentlich abbrechen wollte. Der Mann hatte sich, während er mir zuhörte, die endlich entdeckte Sardine in den Mund geschoben, deren Schwanz ihm noch aus dem Mundwinkel hing.

»Sie wollen um diese Zeit schon auf Ihr Zimmer?«, fragte er verwundert und spuckte die Hinterflosse aus. Er hatte recht: Es war ja noch helllichter Tag.

»Durchreise«, sagte ich ausweichend, als böte das Wort eine Erklärung, und schob wie aus Verlegenheit nach: »Und Sie sind öfter hier? Es ist ein hübscher Gasthof.«

»Unendlich krustig«, sagte der Mann und zog ein fleckiges Stofftaschentuch aus seiner vom Körper abstehenden Glockenhose. »Der Fisch, meine ich.« Und er hustete scheußlich in den Lappen, dass der Tisch erzitterte.

Kaum hatte er sich wieder gefangen, legte er seine Ellenbogen gebieterisch auf die Tischplatte. »Und Sie sind auch in geschäftlichen Agenden unterwegs? Ich bin Handlungsreisender – haben Sie schon einmal vom Fliegenden Maskenhändler gehört?«

»Nein«, sagte ich, ohne zu wissen, auf welche Frage ich damit antwortete. »Ich bin Physikerin und privat hier.«

»Physikerin, wie schön. Und welchem Fachbereich widmen Sie sich? Theoretische, praktische? Mechanik, Thermodynamik, Relativitätstheorie?« Der Mann, der mir sein Gesicht noch immer reglos zugewandt hatte, bewegte sich verstörend wenig.

»Ich arbeite in der Forschung und zwar über die Blockuniversumstheorie. Schreibe momentan meine Habilitation, also – das war zumindest mein Plan vor ein paar Jahren. Ich wurde dabei aufgehalten, in letzter Zeit.«

Obwohl er keine weiteren Fragen stellte, sprach ich weiter.

»Ja, was heißt schon aufgehalten«, sagte ich nun schamesrot, als wäre ich um eine Rechtfertigung angebrüllt worden. »Ich habe mir gewissermaßen selbst ein Bein gestellt. Dabei dachte ich eigentlich, als ich vor Jahren mit der Arbeit am Eternalismus begann, es handle sich um einen Befreiuungsschlag. Sicherlich rebellierte ich gegen meine Professoren, die davon damals kaum etwas wussten. Aber je mehr ich mich hineinvertiefte, desto – wie soll ich sagen? Nun sagen wir, dass meine Habilitation in mein Leben hineinexpandierte, dass sie wie ein Tumor begann, die anderen Gewebe zu verdrängen.«

Immer wieder nickte er, während ich diese Worte sprach, und der schwere indische Schmuck, der auf seiner Brust lag, schepperte jedes Mal, als wollte er eine ängstliche Kuhherde antreiben.

»Es gab nichts anderes mehr, verstehen Sie? Zwölf Stunden Arbeit schienen mir zu wenig, vierzehn, sechzehn waren noch im Juli mein Durchschnitt. Selbstverständlich ohne Medikamente nicht zu bewerkstelligen. Kaum Kontakt zu irgendjemandem, vier Jahre lang, nicht einmal im Institut. Ich war auf keiner Weihnachtsfeier, nichts.« Und wie zur Erklärung fügte ich ungeschickt hinzu: »Ich war schon ewig nicht mehr in meinem Elternhaus. Ich wollte überhaupt niemanden sehen.«

Ich war schockiert über das Ausbluten dieses Monologs, der mir unhaltbar von den Lippen gelaufen war.

»Erlauben Sie mir eine Frage«, sagte der Mann nun höflich und begann, mit einem Zahnstocher zwischen seinen Schneidezähnen zu graben, »was genau ist die Blockuniversumstheorie?«

»Entschuldigen Sie, natürlich.« Ich räusperte mich, obwohl ich nicht heiser war. »Es handelt sich dabei um eine alternative Theorie über die Zeit. Stellen Sie sich Folgendes vor: Wenn die Zeit irreal ist, wie wir heute wissen, dann sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eigentlich gleichzeitig vorhanden. Ähnlich einem dreidimensionalen Block lassen sich die vermeintlich aufeinanderfolgenden Momente lesen als nahe aneinanderliegend. Das heißt, die Zeit wird eher zu einer Raumrichtung als zu etwas, das die Dinge je verändern würde. Es ist komplizert.«

Ich faltete eine Serviette zu einem improvisierten Würfel.

»Sehen Sie, in diesem Block sind alle Situationen, die sich jemals zugetragen haben oder es werden, enthalten. Die Wände hier«, ich zeigte auf die Serviettenflächen, »sind die Grenzen der physikalischen Möglichkeit. Nun wird Zeit als Entfernung gemessen – es findet aber alles gleichzeitig statt, verstehen Sie? Wir können also mit unserem Bewusstsein jeden Pfad durch den Block nehmen. Wir nennen sie Pfade, denn von oben betrachtet ergibt sich eine Art Landschaft, durch die unser Hirn sich Wege entlang der größtmöglichen Wahrscheinlichkeit sucht – es ist aber gar nicht so wesentlich, dass das jetzt für Sie verständlich ist«, sagte ich hastig, denn ich befürchtete, dass er längst ausgestiegen war. »Das Entscheidende ereignete sich abseits meiner Artikel. In jenen Momenten, in denen ich beispielsweise zum Institut ging oder mit den Kollegen in der Mensa saß, merkte ich, dass ein zuerst nicht ganz greifbarer Zustand psychischer Zerrüttung immer stärker wurde. Sehen Sie, es war diese eine Realisierung, die aus meinen Berechnungen unten im Büro mit unveränderter Strahlkraft heraufleuchtete: Es gibt keine Zeit.«

Mitten im Satz war mir das Besteck auf den Boden gefallen. Umständlich musste ich unter den Tisch tauchen, um es wieder aufzuheben.

»Es gibt keine Zeit«, wiederholte ich noch einmal und stach mit der staubigen Gabel in den Braten. »Anfangs war es nur ein leichtes Befremdungsgefühl, als wären diese Straßen, die ich doch so gut kannte, Fälschungen. Als wäre ich in Kulissen unterwegs, die ein Hollywoodproduzent gewieft angefertigt hatte, um mich zu täuschen. Denn ich wusste ja, es konnte keine Zeit geben. Aber warum handelten dann alle, als gäbe es sie doch?« Ich errötete bei diesen Worten erneut.

»Es war ein quälendes Gefühl, ein dauernder Derealisierungszustand. Und je länger ich in ihm verblieb, desto mehr verlor ich meinen Biorhythmus – Tag und Nacht waren ein und dasselbe, ich war niemals müde. Niemals. Dafür tagsüber unendlich nervös, wie vor einer ewig heranrückenden Prüfung. Verstehen Sie, mir war das Vergehen der Zeit vollkommen abhanden gekommen, ich hatte das untrügliche Gefühl eines stillstehenden Universums: Ein Tag ident mit dem anderen, eine Stunde gleich wie die nächste. Natürlich ging ich zuerst zu einem Psychiater, aber es gab keine Diagnose. Zumindest keine, die mir weitergeholfen hätte. Also griff ich zur Selbstmedikation. Unter der Hand gaben die Doktoratsstudenten damals Ritalin weiter, und ich merkte, dass es mir half, die kreisenden Gedanken loszuwerden. Also erweiterte ich mein Repertoire, wenn man das so sagen kann.« Ich stürzte ein Achtel Wein hinunter.

»Jedenfalls begann ich vor etwa fünf Jahren Modafinil zur Beruhigung zu nehmen, zwei Tabletten am Abend. Dennoch war ich um neun Uhr morgens oft so entrückt, dass ich mich in der Universitätstoilette schlafen legte. Oder ich kleidete mich an, lief aus der Türe und bemerkte erst dann, dass es draußen noch stockdunkel war. Und in all dem habe ich dennoch Haltung bewahrt, nahm die Sprechstunden wahr, absolvierte meine Vorlesungen. Man macht so seine Erfahrungen.«

Ich versuchte aus Leibeskräften, mich kurzzufassen, aber es gelang mir nicht. Vielleicht weil ich vier Tage mit niemandem gesprochen hatte, floss alles ungehemmt aus mir – wahrscheinlich aber hatte ich mich auf diese Art seit Jahren mit niemandem unterhalten. Für einen Augenblick herrschte ein abscheuliches Schweigen. Dann richtete er das Wort ebenso unverwandt an mich wie schon beim ersten Mal.

»Wissen Sie, ich war in meiner Tätigkeit als Maskenhändler für längere Zeit in Arnheimland.«

»Maskenhändler«, wiederholte ich unsinnig.

»Ich habe dort mit den Aborigines gelebt. Ich war natürlich wegen der Masken dort, aber man wollte mir der Ahnen wegen lange nichts verkaufen.« Er hüstelte in mehreren Anläufen. »Jedenfalls habe ich dort, obwohl ich natürlich nicht an Ritualen teilnehmen durfte, viel über die Traumzeit erfahren. Traumzeit sagt Ihnen ja etwas, nehme ich an? Gut, dann wissen Sie ja, was ich meine«, sagte er, obwohl ich auf seine Frage hin den Kopf geschüttelt hatte. Er hob die Hand, als würde er eine Deklamation beginnen.