DAVE - Österreichischer Buchpreis 2021 - Raphaela Edelbauer - E-Book
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DAVE - Österreichischer Buchpreis 2021 E-Book

Raphaela Edelbauer

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Beschreibung

Irrwitzig, eindrücklich, abgründig. Raphaela Edelbauers Roman über Künstliche Intelligenz. »Ein Geistesblitz von einem Roman!« Denis Scheck, Druckfrisch (Das Erste), 24.01.2021 Was braucht es, um eine Maschine mit menschlichem Bewusstsein auszustatten? Den Programmierer Syz interessiert nichts so sehr wie die Beantwortung dieser Frage. Doch als er hinter die Kulissen des Labors blickt, gerät sein bedingungsloser Glaube an die Technik ins Wanken. Welchem Zweck dient DAVE wirklich und wer wird von ihm profitieren? In der Welt von Syz dreht sich alles ums Programmieren. Geschlafen und gegessen wird hauptsächlich, um schnellstmöglich wieder in die Datenströme des Computers abzutauchen. Das Ziel des gesamten Labors ist nichts Geringeres als die Programmierung der ersten generellen Künstlichen Intelligenz, ausgestattet mit einer Höchstleistung an Rechenkraft und menschlichem Bewusstsein: DAVE. Dann allerdings bringen zwei Ereignisse Syz' geregeltes Leben ins Wanken. Erstens, Syz verliebt sich in eine junge Ärztin, und zweitens, DAVE droht ein Totalausfall. Der Strudel, in den Syz in der Folge gerät, katapultiert den Programmierer in unmittelbare Nähe der Machtzentrale. Während das Labor in blinder Technikgläubigkeit weiterhin auf die Verwirklichung der Künstlichen Superintelligenz hinarbeitet, taucht Syz tief in die Geschichte des Labors ein und versucht herauszufinden, wessen Interessen DAVE am Ende eigentlich dient. Nach dem großen Erfolg von »Das flüssige Land« legt Raphaela Edelbauer einen einzigartigen Roman über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Künstlichen Intelligenz vor. Ausgezeichnet mit dem Österreichischen Buchpreis 2021 Aus der Begründung der Jury: Raphaela Edelbauer hat mit DAVE einen raffinierten Science-Fiction-Roman mit eingebauter Liebesgeschichte geschaffen, der nach den Gesetzen des Thrillers funktioniert. Dabei unterhält man sich nicht nur, sondern erfährt dank Edelbauers erstaunlicher Belesenheit viel über philosophische Debatten, Bewusstseins- und Gedächtnisforschung, Informatik und lernende Systeme, deren Heilsversprechen die Autorin spürbar misstraut. Denn der Weg zu einer schmerzlosen und total vernünftigen Gesellschaft nach dem Ebenbild des Computers führt durch Überwachung und Repression. Edelbauer erzählt elegant und pointiert, mit galligem Witz, Lust an der Anspielung und immer wieder verblüffenden Wendungen von der Ohnmacht des einzelnen in einer Diktatur der Weltverbesserer. 

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Seitenzahl: 540

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Raphaela Edelbauer

DAVE

Roman

Klett-Cotta

Impressum

Das Zitat auf S. 257 von Nick Bostrom wird mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages abgedruckt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96473-8

E-Book: ISBN 978-3-608-12081-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Prolog

Bevor die Pionierlebensform Archea Methanopyri den Kosmos mit ihrer ersten Empfindung aufschloss, hatte 10,2 Milliarden Jahre lang Stille im Universum geherrscht. Für Äonen waren Protonen, Gas-Partikel und Elektronen in einem ungesehenen Ballett umeinandergekreist, ehe sie in der Partnerposition des Heliumatoms ihre Pliés vollzogen. Als sich nach 300 Millionen Jahren die ersten Galaxien, kräftigrote Wirbel und ätherische Ringsysteme, bildeten, war noch niemand da, der ihre Schönheit hätte bewundern können. Nichts als Vakuum, das sich bis an den kosmischen Horizont erstreckte.

Aber die Kräfte waren im Gange: Wer hätte gedacht, dass in diesem fühllosen Ausagieren der Gravitation, im Randbereich einer dieser Galaxien, sich nach viereinhalbtausend Millionen Jahren der Staub zu einem Planetenkörper vereinigen würde? Wüst und wirr schlugen die Elemente, schlugen Wasserstoff, Kohlenstoff und Stickstoff um sich, vereinigten sich zu einem Gewölbe und einem Meer, das schäumend die ganze Erdoberfläche bedeckte, um sich an den gerade erst entstandenen Molekülen satt zu fressen; elaboriertes Totsein letztlich auch dies. Die ersten 10 Milliarden Jahre – metaphorisch, weil niemand die Zeit maß und sie sich damit aus dem Ereignishorizont absentiert hielt – war alles Mechanik.

Erst nach weiteren tausend mal tausend mal tausend Sonnenumkreisungen und einer Unendlichkeit an Permutationen des Chymischen war der Moment gekommen: Die Eiweiße in dieser Ursuppe, über der man Gott noch schweben meinte, fusionierten.

Als das so zusammengefügte Bakterium zum ersten Mal mit seinem Flagellum schnalzte, raste ein Impuls durch Milliarden Lichtjahre, von Ewigkeit zu Ewigkeit: Der Kosmos war sich seiner selbst bewusst geworden. Aus der toten Materie drang das Leben mit so zielgerichteter Kraft empor, dass eben dieses Leben sich seine Genese später mit nichts anderem als einem bewussten Schöpfungsakt erklären würde.

Von da an war alles ein Wimpernschlag: Jedes Geschehen wurde ein Empfundenes, und jedes Empfundene glich einem Entwickeln. Das heißt, kaum war ein weiterer planetarischer Atemzug, eine, zwei Milliarden Jahre vorbei, gab es eine Vielzahl sich in allen Raumrichtungen bewegender, schauender, denkend-begreifender Organismen.

Ein Begreifen, das den Wunsch zur Optimierung mit sich brachte: Wir, die Menschen, wollten nicht nur unser eigenes, sondern das Leben an sich und seine unendliche, facettenreiche Intelligenz gestalten. Ein unhaltbarer Fortschritt, eine Kettenreaktion entfaltete sich: Vom simplen Werkzeug gingen wir über zur Gestaltung unserer Lebenswelt; vom angesammelten Wissen über unseren Körper hin zur Heilung und Verbesserung desselben und schließlich hin zur Schöpfung sich bewegender Artefakte, die uns eines Tages überlegen sein würden. Ein Prozess immer größerer Transzendenz, der das ehedem tote Universum zur Extension des eigenen Verstandes erklärte.

Eine finale Apotheose und als deren Abschluss: DAVE.

1

Als die Uhr vornüberlief und der donnernde Alarm der Spätschicht den Raum erfüllte, schreckte ich auf und – tock, schlug der aus meiner Hand gefallene Stift auf den Boden. Was exakt vor diesem Augenblick geschehen war, erinnerte ich nicht. Mir war, als wäre ich aus langem, schwerem Schlaf erwacht, obwohl ich inmitten der Arbeit nur für einen kurzen Moment eingenickt war. Mein Blick fiel auf das Zitat über unserer Eingangstür, das Pawel gestern zur allgemeinen Steigerung der Moral mit Lackstiften dort hingeschrieben hatte, und ich meinte, es müsse mich an etwas erinnern, das ich mir vor dem Einschlafen sorgfältig zurechtgelegt hatte.

»We shall not cease from exploration. And the end of all our exploring will be to arrive where we started and know the place for the first time.«

T. S. Eliot

Doch es wollte mir nicht einfallen. Ich sah auf die Digitalanzeige: Zwanzig Uhr irgendwas und Pawel neben mir auf der Pritsche – ein Grinsen wie Fred Astaire und eine abschätzige Kopfgeste in Richtung von Brenner und Langley, die seit zwei Stunden damit zugange waren, einen Loop zu konstruieren, den jeder Studienanfänger im Schlaf hätte zusammenbasteln können. Flaschen, tippte Pawel mitten in den weißglühenden Code seines Laptops, auf dem wir beide abwechselnd Zeilen geschrieben hatten. Als würden wir nicht ein ebenso erbärmliches Bild abgeben, wie wir uns da in einem Amphitheater aus leeren Energydrinks, alten Coding-Manuals und zerrissenen Chipspackungen verpanzert hatten.

Auf den Wandpanels schräg vor uns akkordierten sich zwanzig Tänzer zur schwarz-weißen Staffage einer Clubszene: Wir waren seit geraumer Zeit in eine Phase geraten, in der wir uns allabendlich mit den 50er-Jahren benebelten, als könnten die Romanzen und rauschenden Feste dieser heilen Zeit unsere Übernächtigkeit verschleiern, die vielen Überstunden, die frühmorgendlichen Arbeitseinsätze. Für diesen Abend hatten wir Swing Time auserkoren, und das Klappern von Pawels Fingern schmolz nahtlos in die Pull Backs von Ginger Rogers. Ich beobachtete schläfrig ihre stakkatoschnellen Beine, als mir eine von Vibration schon ganz taube Stelle an meiner Hüfte bewusst wurde. Erst jetzt verstand ich, was mich aus dem kurzen Anflug von Schlaf wieder emporgeholt hatte: Mein Pager war angesprungen und regte sich seit geraumer Zeit an meinem Schenkel wie ein schnarrender Käfer.

»Fuck.« Mir dröhnte der Kopf von der Konzentration auf den blinkenden Cursor im ansonsten stockdunklen Raum.

»Fuck, was?«

Die Schlaflosigkeit war zu unserem entscheidenden Zustand geworden: Pawel, der nach der Arbeit drei Energydrinks geext hatte, sprang im Schneidersitz auf und ab, geschüttelt von der Wucht des Lachens, das dem nächsten Witz über unsere tumben Zimmerkollegen vorauseilte.

»Fuck, was?«, schrie er nun fast, und ich legte ihm gerade rechtzeitig meine Hand auf den Mund.

»Pssst«, zischte ich, und er ließ sich artig auf die Pritsche sinken. Unter uns schlief Eli von der Spätschicht, und dann auf der anderen Seite nochmal einer, der unserer Gemeinschaftskoje erst gestern zugeteilt worden war.

»Ich hab vergessen, dass ich heute jemanden einschulen soll«, flüsterte ich und schwang meinen Körper von der Pritsche herab.

»Was, jetzt? Und was tun wir mit diesem halbgaren Zeug hier? Wir könnten in einer Stunde compilen«, flüsterte Pawel.

»Ça suffit«, antwortete ich und klappte den Computer über seinen klackernden Fingern zu.

»Spinnst du?« Er schlug mir auf den Hinterkopf. »Ich hab nicht mal gespeichert.«

Ich drehte mich derweil wie ein Entfesselungskünstler in meinen Kittel hinein und arbeitete mich dann zu meinen Schuhen vor, dabei alle Körper umschiffend, geometrische wie menschliche.

»Bis später«, flüsterte ich in Pawels Richtung und hatte kaum die Tür geöffnet, als mich schon das Neonlicht des Kreisgangs erfasste. Ich breitete die Handteller über meine Augen, bis meine Pupillen auf den kleinen Kaffeestand nahe der Rolltreppe scharf gestellt hatten. Hinter gläserner Kredenz stand rund um die Uhr Rosa, eine rüstige Mittsiebzigerin, die gemeinsam mit ihrer Mutter Getränke feilbot.

»Guten Abend, Syz. Was machst du um diese Uhrzeit hier?«, fragte Rosa, während die betagte Altverkäuferin, der das Leben das Kreuz in einen Neunzig-Grad-Winkel zu ihren Beinen zementiert hatte, unter der Anrichte aufgetaucht war.

»Einschulung. Ausnahmsweise in der Nachtschicht. Links, links, ein bisschen weiter, ja da«, sagte ich, wie beim Topfklopfen die Hand der fast blinden Mutter dirigierend, die um die Kaffeekanne mäanderte. Es berührte mich jedes Mal peinlich, dass die Verhältnisse des ersten Stocks die Greisin dazu nötigten, noch immer zu arbeiten. Ich stieg in den Aufzug, einen Doppelespresso in meiner Hand, während meine Sinne im abendlich gedämpften Raum langsam alert wurden.

Treffpunkt Drehkreuze, lallte ich mir vor, damit mein bettwarmer Körper es nicht in einer achtlosen Sekunde verschustern würde. Der sanfte Strom der Nachtschicht, viertausend Menschen insgesamt, hatte mich erfasst, und ich ließ mich willenlos mittragen. Bald übertraf meine Erschöpfung meine Unlust, bald wieder war es umgekehrt – ich hatte immer eine Vorliebe für die Atmosphäre der Nacht gehabt: Krankenpfleger und Ärztinnen, die ihre hygienisch gekochten Kittel in den Krankenflügel austrugen; Reinigungspersonal, das mit surrenden Maschinen die Überschüsse des Tages beseitigte; Lieferanten, die Paletten von Lebensmitteln für die Menüs des nächsten Tages auf den Weg brachten. Leise Konzentration, die tagsüber von den Schreien der Schulkinder überschüttet war.

Das Licht des grell ausgeleuchteten Flurs brannte mir sekkant in den Augen, als ich die Drehkreuze erreichte. Ich befand mich noch immer in jenem seltsamen Zustand der Entrücktheit, in dem ein kurzer Schlaf einem die Welt verzerrt: alles weich und teigig und die Menschen zu einer konturlosen Masse verronnen, die man mit dem Handrücken wegzuwischen sucht.

In diesem Moment sah ich sie.

Sie hob sich von der Menge ab wie ein leuchtender Punkt: Schwarze Locken über roter Basis; im Gegensatz zu allen anderen hatte sie statt eines Kittels einen purpurnen Pullover an, und sie war auf so harmonische Weise hoch gewachsen, dass sie selbst die überragte, die noch größer waren als sie. Sie schien angestrengt auf der Suche nach etwas, und auf einmal wusste ich, wonach: Aber da hatte sie mich schon gesehen.

»Syz«, sagte sie und ergriff meine Hand. »Ich bin Khatun. Entschuldige die Uhrzeit, ich dachte, du könntest vielleicht –« Sie gab mir einen weiteren Kaffee in die noch freie Hand, sodass ich nun, von zwei Bechern blockiert, dastand wie ein imbeziler Idiot.

»Ich hab noch keine eigene Berechtigungskarte«, sagte sie.

»Ja, natürlich«, rief ich ein wenig zu laut, verrenkte mich erbärmlich beim Versuch, meine Hosentasche zu erreichen, schüttete, während ich das Drehkreuz mit meiner Karte entriegelte, den Inhalt des einen Bechers über meine Hose und zuckte nicht einmal, als die brühwarme Flüssigkeit die Schenkelpartie durchweichte.

»Willkommen im Großraumbüro«, sagte ich, um von meinem Malheur abzulenken. »Wir sind hier in drei Schichten geteilt: Morgen, Mittag, Abend. Morgen dauert von 6 bis 16 Uhr, Mittag von 12 bis 22 und Abend von 20 bis 4 Uhr, quasi überlappend.«

»Wie an den Fließbändern im ersten Stock.«

»Zudem sind wir in Sektoren geteilt, A bis G, das heißt, nach Zuständigkeitsbereichen in Bezug auf die inhaltlichen Komponenten der SCRIPTs, und diese Arbeitsgruppen sind dann –«

»Weiß ich.«

Wir lavierten zwischen den geclusterten Schreibtischen hindurch, deren Auslassungen nicht breiter waren als dreißig Zentimeter, vorbei an den Programmierern, die in nicht geringerer Beengtheit vornübergefallen über den Tastaturen hingen.

»Kannst du mich in ein paar Methoden einschulen, um meine Würde hier halbwegs zu wahren?«

Sie notierte sich alles, was ich sagte, nur seltsamerweise von oben nach unten statt waagrecht. Ich sah zu den Programmierern hinüber.

»Man gewöhnt sich daran«, sagte ich entschuldigend, auf einmal war mir alles unendlich peinlich. Was für ein Anblick, war man nicht selbst in jener Trance: Wie die Software-Ingenieurinnen mit Scheuklappenbrillen und Kopfhörern an den Schirmen saßen, aus denen gedämpft die Technobeats drangen. Aus Zeit und Raum gefallene Junkies.

»Was in aller Welt treibt die da an?«, fragte Khatun und zeigte auf eine Frau, die zwei leere Küchenpapierrollen mit Klebeband an ihrer Brille einerseits und am Bildschirm andererseits befestigt hatte.

»Sie ist im Tunnel«, antwortete ich. »Der kleinste Fehler, ein vergessenes Semicolon, ein Syntaxfehler, kann ein SCRIPT zum Absturz bringen. Alles umsonst. Jeder hat sein eigenes System, und manche muten ein wenig seltsam an.«

»Kannst du mir eines empfehlen?«

Für einen winzigen Augenblick wagte ich es, direkten Blickkontakt mit ihr aufzunehmen: zarte Fäden, die an einer Stelle zogen, die ich nicht greifen konnte, weit zurück in der Vergangenheit. Ich meinte, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben, doch weigerte die Erinnerung sich, Kontur anzunehmen – und immer wenn ich meine Hand nach ihr ausstreckte, dispergierte sie.

»Entschuldigung, ich hab vollkommen vergessen –«, sagte ich und zog mir das Hemd in einem plötzlichen Anflug von Scham über meine Brusthaare hoch. »Hast du Software- oder Maschinendesign studiert? Wofür schule ich dich überhaupt ein?«

»Weder noch – ich gehöre zu den unteren zwanzig Prozent«, sagte sie grinsend und ließ sich auf einen Stuhl an einem freien Tisch fallen. »Ich bin Medizinerin.«

»Du arbeitest mit Menschen?«

Jemand kam und machte Anstalten, sich zur Arbeit niederzulassen, doch sie verscheuchte ihn mit hastigen Gesten. »Wir haben hier eine Einschulung, suchen Sie sich einen anderen Platz. Ja, im fünften Stock auf der Kinderabteilung als Volksschulärztin. Letztes Jahr ereilte mich die Einsicht, dass ich Menschen nicht mag.«

»Das hier ist sein Computer.« Ich zeigte auf den Mann, der sich sofort artig entfernt hatte.

»Und jetzt werde ich wohl an Locomotionproblemen mitarbeiten. Du kannst also bei den Basics beginnen, das letzte Mal habe ich auf dem Gymnasium programmiert. SCRIPTs –«

»Du weißt, wie sie funktionieren?«

»Halbwegs. Sie sind Basiskompetenzen der Sprach- und Kommunikationsfertigkeit, skizzieren sozusagen, wie man mit einer bestimmten Situation umgeht, oder nicht?«

»Der Übersicht halber bearbeitet immer nur ein Programmierer ein SCRIPT«, sagte ich. »Man bekommt Anfang des Monats ein bestimmtes Programm zugeteilt: etwas im Restaurant bestellen, ein Kompliment erwidern, auf eine Aussage hin nachfragen, auf etwas Gesagtes Bezug nehmen oder sich bedanken.«

»Ihr seid viertausend Programmierer, das mal zwölf, natürlich pro Jahr – Moment: Wie viele solcher SCRIPTs gibt es denn bereits?«

»Etwa eine halbe Million«, sagte ich.

»Und DAVE ist noch immer nicht komplett?«

»Du musst dir vorstellen, dass jeder Mensch, und sei er auch noch so ein Idiot, Millionen solcher SCRIPTs beherrscht.« Ich war aufgestanden, mir war unbehaglich geworden. »Wenn DAVE erst einmal eigene Erfahrungen zu machen beginnt – selbst Wissensdurst entwickelt, und das alles mit unendlich gesteigerter, mentaler Kapazität, dann – kannst du dir das vorstellen?«

»Ja, wenn.«

»Die erste, rekursiv sich verbessernde, generelle Intelligenz; eine Singularität, der Anfang und das Ende von allem.«

»Mir kommt es ehrlich gesagt so vor, als gäbe es jedes Jahr nur noch mehr Ausfälle.«

»Die Sache ist eben sehr diffizil«, sagte ich. »Oft stellt sich heraus, dass winzige Verbindungen fehlen – Funktionswörter, Präpositionen«, ich fuhr mir mit dem Ärmel über die Stirn, obwohl ich nicht schwitzte. »Ich meine – weißt du, was Simulationen sind?« Sie nickte und drehte den Block wieder senkrecht.

»Das ist wie ein Videospiel, oder? Um die SCRIPTs zu testen, wird DAVE durch eine virtuelle Umgebung geschickt; ich hab ein paar im Fernsehen gesehen –«

»Wir machen etwa alle zwei Wochen eine. Heute Nacht ist auch eine geplant, schau, dort bauen sie schon auf.« Ich zeigte nach rechts hinten, wo einige Techniker eine Leinwand herabließen.

»Müssen die Programmierer währenddessen etwas tun?«

»Nur Supervision. Der Sinn der Sache ist ja eben ein Test der Autonomie DAVEs. Wir protokollieren nur – jedes Zögern und Halten der Programme, die Impräzisionen, die auf die Schleißigkeit des Menschmaterials zurückzuführen sind.«

»Menschmaterial!«, rief sie und lachte.

»Unsere Hardware«, verbesserte ich verlegen.

»Auch nicht besser.«

»Die Simulationen«, setzte ich noch einmal neu an, »sind eine Vorwegnahme jener Zukunft, in der DAVE selbsttätig über die SCRIPTs hinausgehen und Bewusstsein entwickeln wird. Er wird uns wie Kinder an der Hand nehmen, beinahe wie ein Gott nur viel besser, weil es ihn wirklich gibt.«

»Es ist keine gerade reizvolle Vorstellung, von einem Metallkasten an der Hand genommen zu werden. Möchtest du Schokolade?«, fragte sie unbeirrt und zog einen ziegeldicken Block aus der Tasche – ein wahres Milchungetüm.

»DAVE ist kein Metallkasten«, antwortete ich. Ich hatte sie ja zu beeindrucken versucht mit dieser weihevollen Verheißung.

»Also?«

»Ich esse keine Schokolade«, sagte ich. »48 Gramm Zucker pro 100 Gramm. 38 Prozent höheres Risiko für Herzkreislauferkrankungen und eine Verkürzung der Telomere, was zu schnellerer Zellalterung führt. Weniger zerebrale Leistungsfähigkeit.«

»Na dann«, antwortete sie und schob sich einen Quadranten ihrer Riesentafel in den Mund. »Ich glaub, ein paar Hirnzellen weniger würden mir guttun, ich habe mit der Intelligenz keine so guten Erfahrungen gemacht, bisher. Apropos – was wird denn, wenn diese paradiesische Fertigstellung statthatte, mit uns Programmierern geschehen?«

Für einen Moment schwiegen wir, und nun nahm ich doch ein Stück der dargebotenen Schokolade.

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Na ja, im Utopiefall: Unendliche Intelligenz und die Kapazität, alle Probleme zu lösen, und er – warum übrigens überhaupt er? Was ich meine, ist: Haben wir uns eigentlich auf eine Problemstellung geeinigt?«

»Er kann eben alle Fragen beantworten, das ist der Punkt. Zweifelst du an künstlicher Intelligenz?«

»Ich zweifle sogar an natürlicher«, sagte sie und schien, während sie den Rest der Tafel vertilgte, konzentriert nachzudenken. »Könnte es nicht sein, dass in unserem Fall die Technologie den Problemen vorausgeht? Wir konstruieren einen universalen Apparat und suchen dann erst seine Anwendungsgebiete.«

»Wieso willst du dich überhaupt versetzen lassen, wenn du es für so sinnlos hältst?«, sagte ich abschätzig, bereute meine Worte aber sofort. Zum Glück schien sie keineswegs nachtragend.

»DAVE ist so ähnlich wie deine Uhr da.« Sie zeigte auf den Fitnesstracker an meinem Arm, den ich irritiert zurückzog.

»Erstens haben wir genug Probleme, die es zu lösen gibt«, erwiderte ich, »zweitens mussten die Gebrüder Wright auch nicht erst darüber nachdenken, wohin sie mit ihrem Flugzeug fliegen würden, es konnte ja schlechterdings überall hinfliegen. Und was bitte ist falsch an meiner Uhr?«

»Nichts. Sie misst deinen Puls, deine Sauerstoffsättigung, deine Atemfrequenz, deine Körpertemperatur – und dann errechnet sie mit Big Data retrospektiv die Probleme deines Körpers. Ist das nicht traurig?«

Bei diesen Worten hatte sie ein Stück der Aluminiumverpackung zusammengeknüllt und der Frau mit der Küchenrollenbrille an den Kopf geworfen.

»Bist du wahnsinnig?«, flüsterte ich und hielt ihre Hand fest, während die Angeschossene ihre Augen hysterisch aus dem Gaffaband befreite. Doch lockerte ich sofort wieder meinen Griff; etwas an dieser Übertretung hatte mir imponiert.

»Wieso schreibst du von oben nach unten?«, fragte ich beiläufig, wie um den moralischen Impetus meines Ausbruchs unter den Teppich zu kehren.

»Ach – meine Muttersprache ist Persisch«, sagte sie, als sei das nicht weiter bemerkenswert. »Und das schreibt man von rechts nach links, also gewöhnen sich viele an, das Papier zu rotieren, um die Buchstaben nicht zu verwischen. Habe ich mir sagen lassen. So –« Und sie hielt den Block geneigt vor meine Augen.

»Eine Sekunde – deine Muttersprache ist Persisch? Ich dachte, das gäbs kaum mehr.«

»Das stimmt – ich schätze, wir sind alles in allem noch 200. Aber meine Eltern sind Putzfachkräfte. Deswegen muss ich hier ja auch bei Adam und Eva beginnen.«

»Putzfachkräfte«, sagte ich verlegen.

»Ärztin zu sein ist ja auch nicht viel besser«, sagte sie und zum ersten Mal klang sie dabei verbittert. »Beides klassische Erststöcklerberufe eben. So, und jetzt erzähl mir etwas über dich, bevor ich dir meine ganze Biographie auseinandergesetzt habe«, sagte sie und lächelte mich endlich an.

Ich erkannte das Gefühl wieder, obwohl ich es seit Jahrzehnten nicht empfunden hatte – eine Wärme, eine Handbreit unter meinem Brustbein, die sich gegen meinen Magen rieb. Eine unbestimmte Sehnsucht, wie ich sie als Kind empfunden hatte, wenn ich Liebesszenen in Disneyanimationen sah.

»Wir sollten lieber weitergehen«, sagte ich, statt ihrer Aufforderung zu folgen, und richtete den Blick wieder zu Boden. »Hier in der Mitte des Saales siehst du eine zwei Mal zwei Meter große Säule – das ist quasi der Solarplexus der Anlage, ein Glasfaserbündel, über das pro Sekunde ein paar hundert Terabyte mit dem Zentrallabor synchronisiert werden. Dort, wo DAVE steht.«

»Hast du ihn jemals in realitas gesehen?«

»An DAVE selbst dürfen nur die Professoren und ein paar Ingenieure arbeiten.«

Wir hatten eine ganze Runde durchs Großraumbüro gedreht und den Zweck einer kurzen Einführung längst ausgeschöpft; jetzt überlegte ich fiebrig, wie ich eine weitere Runde rechtfertigen konnte – doch als wir die Drehkreuze erreichten, folgte sie mir einfach fraglos.

»In Wirklichkeit besteht DAVE, wenn man so will, aus dem gesamten Labor. Seine Daten sind ausgelagert in den dreieinhalbtausend Quadratmetern von Serverhallen, die Prozessoren befinden sich in einer eigenen Halle des zweiten Stocks. Und der Arbeitsspeicher – den Arbeitsspeicher stelle ich mir oft als uns alle vor.«

»Äußerst poetisch – du klingst nicht wie der typische Programmierer.«

»Ich führe mir abends meine Dosis Weltliteratur zu. Dostojewski oder Proust, Nabokov, solche Dinge. Als eine Art Exorzismus.«

»Das machst du ganz ordentlich«, sagte sie. »Lass uns zur Abwechslung mal ein wenig nüchtern sein, damit dir Krieg und Frieden am Abend auch wirklich schmeckt.« Und ohne noch ein Wort zu sagen, gingen wir für eine halbe Stunde im Kreis. Alle paar Minuten drehte ich mich nach hinten, um mich zu versichern, dass sie noch da war. Ich hätte ewig so weitergehen können – hätte mich in der gedämpften Stille der Nacht auflösen mögen, die mir nun so romantisch schien wie die leise Geschäftigkeit fast leerer Diners in alten amerikanischen Filmen, in denen die Paare saßen, bis es tagte. Nach der dritten Runde aber stoppte sie bei den Drehkreuzen.

»Ich hasse es, unsere Umkreisungen zu beenden, aber es ist nach zwei –«

»Pardon, ich habe die Zeit übersehen.«

»Muss um sieben raus und zusätzlich zu meinen Einschulungen noch immer das Menschmaterial warten –«

»Natürlich. Bitte. Danke«, sagte ich konfus. Ich wühlte nach meiner Karte, fand sie und wusste doch nicht gleich, was tun.

Für einen Augenblick standen wir verlegen voreinander, als wüsste keiner von uns, wie nun zu handeln sei – und mehr noch: wie wir unser Unwissen über ebenjenes Handeln voreinander verbergen sollten. Als wir uns schließlich ansahen, spürte ich meine Organe von Ameisenscharen durchlaufen.

»Danke für die Einschulung«, sagte sie und trat einen Schritt weg von mir. »Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann wieder.«

Mechanisch entriegelte ich das Drehkreuz mit meiner Berechtigungskarte, fast enttäuscht, dass es grün aufblinkte und uns aus unserer Magie entließ. Ich könnte sie noch nach ihrer Nummer fragen, dachte ich fahrig. In der Ewigkeit ihres Handtaschenräumens klammerte ich mich noch an die Vorstellung, sie würde mich vielleicht nach meiner fragen, da sah ich in ihrer Hand schon ihre Schlüsselkarte glänzen. Ihr meine Hand hinzustrecken, war eine Resignation.

Sie aber, in einer einzigen flüssigen Bewegung, schwang sich an meinem Arm vorbei und schloss mich in eine feste Umarmung. Ein Riss: Als ich Khatun Mnajouri zum ersten Mal roch, geschah mir etwas, das mir nie zuvor widerfahren war. Ich erinnerte mich wohl an etwas – doch nicht an etwas Geschehenes, sondern an die Zukunft; ihr Duft war ein Versprechen auf etwas, das ich noch mühselig an die Oberfläche zu zerren versuchte. Ein inverses Déjà-vu, das sich auflöste, nachdem Khatun sich umgedreht hatte und ungeahnt schnell im Aufzug verschwunden war.

Ich trat meinen Heimweg an. Bald verlief ich mich – drehte zerstreut um, mir lag nichts am Weg, doch realisierte ich wohl, dass immer mehr Menschen stehen blieben, als würden sie auf etwas lauschen. Ein leiser Tinnitus hatte sich in der Stille der vereinsamten Gänge zu erkennen gegeben. Erst als das ohnehin zögerliche Rinnsal der durch die Gänge sickernden Menschen ganz zum Erliegen kam, wurde es offenbar: Das sanfte Pfeifen wurde von einer weit her donnernden Sirene abgelöst, die sich mit einem Mal über unsere Köpfe erhob. Obwohl ich das Signal noch nie gehört hatte, wusste ich, was es bedeutete. »Der Zentralalarm«, rief jemand – aber da war schon alles in Aufruhr.

Binnen weniger Minuten waren hunderte Assistenten auf die Gänge gestürzt. Ich sah mich träge um, es war schwer zu fassen, was da plötzlich alles geschah: Die einen purzelten über die anderen, wie Kehrwasser, die im Strom verwirbelt wurden. Der Notfallplan sah vor, dass wir uns zum Großraumbüro begeben mussten, dorthin, woher ich gekommen war. Ich wurde erfasst, ich wurde mitgetragen, bald lief ich. Es war unsäglich heiß: Ich begriff inmitten dieser Stampede, dass ich nicht bloß schwitzte, weil wir Schulter an Schulter liefen – sondern dass tatsächlich eine Temperatur herrschte, die einem die Wände auf den Leib rücken ließ. Knapp unter der Decke hatte sich ein Flimmern ausgebreitet.

Ich sah mich hastig um; überall Ratlosigkeit. Dergleichen hatte keiner je erlebt: Die Hightech-Kühle, die ich bisher für den einzig möglichen Zustand der Welt gehalten hatte, war verflogen, und man schien einander den Sauerstoff vor den Lippen wegzuatmen.

»Hackerangriff, schätze ich«, sagte jemand hinter mir. Es war Dunder aus der 13, ein hochgewachsener Mechatroniker, den ich aus der Mensa kannte. »Die Pipes kühlen nicht mehr – Hitzeausfall«, rief ein anderer von hinten, ich machte mir nicht einmal die Mühe, mich umzudrehen. Der Alarm donnerte seit Minuten über uns, zwischen uns, überall in dieser klaustrophobischen Enge.

In der Aula der Fröhlichen Menschen und Tiere trafen die Ströme des Ost- und Südquadranten auf den unseren: Im Mündungsbereich der Freemanbrücke scherten die Ingenieure ein, dann die Techniker, die ihre antistatischen Schuhe und Werkzeugkoffer mit sich führten. Dazwischen schwammen all jene, die im Notfallplan keine Funktion bekleideten: Verkäufer und Lehrer, Alte und Familien, die von der Sirene überrascht worden waren, versuchten, sich an die Ränder zu retten.

Da zeigte jemand nach oben, und der Blick der ganzen Masse folgte seinem Finger: Mit unverhohlenem Grauen starrten alle zur riesigen Fotografie, die über der Aula thronte. Über den Gesichtern von Samson, Deutsch, Wagner und Dennis flimmerten die Hitzewellen.

Wüst und wirr: Ich presste mich nach unten, war einen Moment im Wald aus Waden, hechtete in Panik zur Seite und schlug, noch immer in der Hocke, an die Seitenwand der gläsernen Freemanbrücke, durch die ich nun in die zweite Etage sehen konnte. Fünfzehn Meter unter uns, rund um das Zentrallabor, in dem DAVE stand, hatte sich ein Pulk gebildet, dessen Manöver ihn wie eine ausgefaserte, komplexe Lebensform erscheinen ließ: Hysterisch wabernde Bewegung, die sich um das Heiligste versammelte hatte, um die wertvollsten elektronischen Komponenten zu retten.

Ich richtete mich auf: Zäh setzte sich der Strom in Bewegung, also liefen wir den Gang abwärts und die letzte Stiegenflucht wieder hinauf, während über unsere Köpfe Fröhlichs Stimme donnerte. »Gruppe 1, Leihgeräte in Sektor A, Stromanschluss unter den Tischen. Gruppe 2, Nachtschicht bleibt an den Standgeräten. Gruppe 3, externe Harddrives manuell auswerfen.«

Tausend Mann Programmierkraft vereinigt, schossen wir wie einzelne Munitionspartikel mit unseren Berechtigungskarten durch die Drehkreuze ins Großraumbüro. Die Nut, an der mein Inneres zusammengeschweißt war, blitzte auf: Das Büro war zum Brechen gefüllt, kein Quadratmeter, der nicht mit Bewegung angeräumt war. Schulter an Schulter, ein unsägliches Stimmengeschwader, ein Flimmern aus Armen, Beinen, Rümpfen. Ein atmosphärisches Knistern in der Luft, Entladungen, umfallende Stühle und jede Minute mehr, die durch das Drehkreuz hereinstolperten. Ich gehörte zu Gruppe 1, meine Anweisung lautete, einen Laptop zu greifen und eine freie Steckdose zu finden.

Keine der Tischflächen schien noch Platz herzugeben, also kroch ich unter einen der Tische, durch die Kabel, bis ich tatsächlich eine freie Buchse fand. Tritt eine Überhitzung der Serverfarm eins auf, das heißt, ein Partial- oder Totalausfall der Systeme, muss eine manuelle Sicherung der Daten jedes einzelnen Mitarbeiters sowie der Gesamtsysteme in komprimierter Form auf die Back-up-farm erfolgen, hatten wir gelernt – aber wie mit drei Exabyte an Daten fertigwerden?

Egal für den Moment, es galt, sich schnellstmöglich einzuwählen und im Tunnel zu verschwinden. Die Welt und ihre ganze Rhythmik fächerte sich in dunkle Gänge auf: Programmzeilen, kombinatorische Schluchten, in deren Fluchtpunkt ich mich selbst als Projektionszentrum verlor. Alles was zählte, war der nächste Befehl.

Dass man in DAVE zum Glied eines kollektiven Wirkens wird, ist der Beginn einer Ekstase. Das Einssein mit der Schöpfung hatte ich stets im Programmieren wiedererkannt, in DAVE wurden wir zum Bestandteil eines zukünftigen All-Bewusstseins – der technischen Transzendenz. »Da ward seine Seele entrückt, ob im Leib, ob außer ihm, das wusste er nicht«, schreibt der Mystiker Heinrich Seuse, »Wünschen war ihm entfallen, Begehren entschwunden, er starrte nur in den hellen Abglanz, in dem er sich selbst und alles um ihn herum vergaß.«

Ein heller Abglanz: Ich kam wieder zu mir, als jemand das Display meines Laptops zuschlug. Die weißen Buchstaben stachen noch hell in die Dunkelheit, dann war alles wieder in die Kontur getragen: Ein Mann mit weißem Vollbart hielt mich an der Schulter gepackt. Erst da wurde mir die Stille bewusst – das Großraumbüro war leer.

»Was machst du denn unter dem Tisch?«, fragte er mich. »Wir sind alle nach unten in die Serverfarmen gerufen worden.« Und er zog mich, ohne eine Entgegnung abzuwarten, auf die Beine.

Während wir den Weg Richtung Stiegen einschlugen, beobachtete ich ihn und wurde mir nicht recht eins mit meinen Eindrücken: Die niedrige Stirn, Augenbrauen, die sich nach unten bauschten, vor allem aber sein Hinken, dieses seltsame, vertuschte Hinken – ich erinnerte mich vage, ihn bereits einmal gesehen zu haben.

Mit einem Pulk Menschen, der wie wir nach unten unterwegs war, durchquerten wir die Maschinenhallen. Wir passierten die Schaltzentralen im zweiten Stock, nahmen eine Abkürzung durch die leer gefegten Konstruktionshallen, und ich fragte mich, wie dieser Mensch die Architektur des Labors so verinnerlicht haben konnte. Schwitzend erreichten wir den ersten Stock.

Fabrikschluchten und Elendsquartiere, so tief gelegen, dass ich meinte, wir müssten bald an den Erdkern stoßen, wo Hebel und Dampf die Mechanik des Planeten antrieben.

Um die Wasseraufbereitungsanlage stand eine Hundertschaft von Menschen, die Kübel um Kübel zur Kühlung ins Abseits schleppten. Wieder andere machten sich mit Handpumpen an der Wand zu schaffen, und von weit hinten hörte man Rufe, die sich im Zwielicht zerschlugen. Die Beleuchtung war ausgefallen. Stattdessen überzog das bläulich-schwache Licht der Notaggregate das ganze Geschehen.

»Wohin gehen wir?«, fragte ich schließlich den Mann, den ich noch immer umschlungen hielt, obwohl das Blut seit geraumer Zeit in meine Beine zurückgeflossen war.

»Wir müssen die Cat5s einzeln rausziehen.«

»Die Serverkabel?« fragte ich träge.

»Ja«, sagte er, »die Temperatur in den Anlagen ist um 30 Grad gestiegen.«

Und als wären wir damit endlich auf den Grund gestoßen, ließ er meinen Arm fallen und verschwand. Um mich brausten die Menschenmassen.

Es brauchte niemanden, der einem sagte, wo man sich zur Mithilfe eingliedern sollte: Die Termitenschwärme, die das Großraumbüro verlassen hatten, rissen nun ungeordnet Kabelbüschel aus den Wänden. Bläuliche Aderkränze bedeckten bereits die Böden der fünfhundert Meter langen Schluchten. Die solide Eindeutigkeit der Laborhierarchie, in der jeder bisher seine exakte Position hatte verorten können, war in Chaos zerschlagen.

Ich selbst kannte die Serverfarm nur von Bildern: Hunderte von Rechnern waren in zwei Meter große, metallene Rahmen eingehängt und zu Gängen vereinigt: Blinkende, heiße Canyonwände, die von Wasserkühlungen 24 Stunden lang an der Überhitzung gehindert werden mussten. Die Leute hatten sich Schuhe und Hemden ausgezogen, und der Dampf stand zwischen ihnen. Ich brauchte einen Moment, ehe ich begriff, dass der in der Luft liegende, beißende Gestank nicht von durchschmorten Kabeln herrührte, sondern der Geruch verbrannten Fleisches war. Von hinten rannte ein junger Mann an, man schüttete Wasserkübel auf die Rechner, auf denen die Flüssigkeit unter Zischen verdampfte.

Ich drängte mich im Laufschritt durch das Gewühl der Menschen, die am Boden knieend Kabel entfernten, sah Blutflecken auf den Geräten und hörte Schreie von denen, die beim Umdrehen das heiße Metall mit der Schulter berührt hatten. Dann zog ich mir Kittel und Hemd aus, umwickelte meine Hände mit der Kleidung und begann, die Kabelstrünke zu entwurzeln. Bald war ich nicht mehr allein: Die Menschenwand rückte Zeile für Zeile näher. Eine Atmosphäre, wie ich sie mir im brühenden Maschinenraum eines Dampfschiffs vorstellte. Meine Augen tränten, doch ich riss weiter, eine Stunde, vielleicht zwei – es hätten zehn sein können in ihrer Einförmigkeit, hätte nicht auf einmal das Hemd, das ich um die Hand trug, Feuer gefangen und sein Ausdämpfen ein Loch in die fortlaufende Zeit gestanzt. Ängstlich trat ich mit dem Schuh auf die Flamme – doch als ich mich wieder zusammengerissen hatte und der brandlöchrige Fetzen um die Faust geschlungen war, hatte ich den Anschluss verloren. Dichte Nebelwände, die aus unter Druck stehenden Kolben strömten, vernichteten jede Orientierung; das Geräusch malmender Zylinder schien aus der Ferne heranzurollen. Die Menschenfront war weitergerückt; obwohl ich ihr nervöses Ächzen hörte, konnte ich sie nicht mehr ausmachen. Aus einem Impuls heraus lief ich los. Dass es die falsche Richtung war – diametral zu der, in die sich das Kollektiv bewegt hatte – würde ich erst später merken.

Das war die erste meiner Fehlentscheidungen an diesem Tag: Versehentlich war ich abgewichen von dem, was der Notfallplan vorsah, hatte mich von den anderen entfernt, statt in die Sicherheit der Gemeinschaft zurückzukehren. Als ich die gänzlich unberührten Leitungen vor mir stecken sah und begriff, dass ich auf eine der unbeackerten Schollen getroffen war, war es zu spät. Beißender Gestank des Kabelbrandes breitete sich aus, milchigweiß zur Decke hin. Ich ging in die Hocke, kroch mehr, als zu gehen, fiel, schlug mit dem Kopf an den heißen Stahl, schrie, erschreckte vor diesem, meinem eigenen Schrei und blieb auf dem Bauch liegen.

Dicht am Boden, wo der Rauch nicht hindrang, herrschte klare Sicht: Dort lag, kaum einen Meter von mir entfernt, eine Mitarbeiterkarte auf dem glühenden PVC-Boden. Ich hätte aufstehen und laufen sollen, hätte zum Ausgang stürzen müssen oder weiter nach den anderen suchen. Stattdessen aber griff ich nach dem Ausweis: Es war eine Administratorenkarte, eine, die alle Türen des Labors aufschloss. Und doch stand kein Name auf ihr: Stumpf blickte ich auf den grauen Platzhalter, wo normalerweise das Gesicht des Mitarbeiters hätte sein sollen. Das war die zweite meiner Fehlentscheidungen an dem Tag: Nachdem ich aufgestanden war und mich umgesehen hatte, steckte ich die Karte in meinen Schuh. Dann auf einmal vollkommene, schneidende Stille: Der Alarm hatte ausgesetzt.

Es war vier Uhr morgens, als sich die Karawane von 4153 Menschen, so die spätere Zählung, aus den tiefsten Eingeweiden des Labors, in denen sie gewühlt hatte, wieder nach oben aufmachte. Nach der stundenlangen Betäubung durch die Finsternis blendete die sterile Perfektion nun, und wir hatten uns die Hände über die Augen halten müssen. Ich selbst war todmüde auf unseren Kojenflur getreten, da packte mich jemand von hinten: Es war Pawel, perfekte Frisur, und das weiße Hemd samt Krawattenschleife in unverrückter Makellosigkeit. Für einen Augenblick ergriff mich die alte Aggression wieder.

»Was soll das?«, fragte ich und drückte ihn gegen die Brust. »Hast du dich in der Besenkammer versteckt? Wir haben unten in den Speicherräumen unter Lebensgefahr gearbeitet, um die Systeme am Laufen zu halten.«

Ich, zerschlissen und mit schwarzen Flecken auf dem Kittel, empfand ein Gefühl der Ungerechtigkeit, das mir die Augen eintränte. Er aber manövrierte mich, ohne ein Wort zu sagen, zurück über die Stiege und in die Mensa, wie man einen alten Karren schiebt – kaum irritiert davon, dass ich immer wieder stecken blieb und bockte.

»Sie haben mich in die Koordination gerufen, sorry.«

Ich hätte ihn anschreien wollen, aber riss mich am Riemen der Zivilisiertheit, denn um uns waren ja Leute.

»Was haben sie gesagt?«, fragte ich.

Pawel befand es nicht einmal wert, mir zu antworten, sondern bewegte mich in den Aufzug und drückte die fünf, vollkommen indolent gegen meine Fäuste in den schwarzverkohlten Manteltaschen. Wir stiegen auf Höhe der Promenade aus, die tagsüber unter einem sonnendurchfluteten Lichtdeck lag, und Pawel zog mich in die Mitte des künstlichen Birkenwaldes. Jetzt, nachdem die Kühlungsmodule wieder angesprungen waren, konnte ich im Neonlicht sehen, dass die ehemals kräftigen Blätter der Bäume durch die über uns hinweggerollte Hitze schlaff herabhingen. Sie hatten überlebt, doch mit deutlichen Spuren.

Die Allee war leergefegt. In den zwischen den Baumgruppen eingeduckten Geschäftchen lagen umgeworfene Produktdisplays, Becher, fallengelassene Taschen – Hinterlassensschaften einer plötzlichen Flucht. Das künstliche Ultraviolettlicht, das den Pflanzen einen unablässigen, nie endenden Tag vorgaukelte, fiel nun in aufgeweichten Streifen über unsere Gesichter. Tiefe Schlagschatten, die sich in Pawels knabenhafte Züge gruben – bei ihrem Anblick empfand ich plötzlich ein Schuldgefühl für meinen vorhergegangenen Ausbruch.

Er hatte mir inzwischen ein Bier in die Hand gedrückt und wollte sich schon in eine der Hängematten zwischen den weißen Bäumchen winden, da erst sah er erstaunt an mir herab. Pawel, dieses verfluchte Genie – aber eben auch Pawel: kindlich und zu jedem Zynismus außerstande, als hätte er einen eingebauten Filter für alles, was andere marterte. Als er mich in die Arme schloss, verflüchtigte sich der letzte Rest meiner Wut, die plötzliche Scham, der ganze abgelagerte Gefühlsmüll. Ich ließ mich in die Hängematte neben ihn fallen. Alles war hochpoliert und klimatisiert; zum ersten Mal fiel mir auf, wie artifiziell die Singvogelstimmen vom Band klangen. Dann lehnte ich mich zurück und nahm einen Schluck von meinem Bier.

»Knotensprünge«, sagte Pawel. »Das war die Ursache.«

»Heißt was?«, fragte ich zerstreut; ich hatte mir das Bier versehentlich ins Hemd geschüttet.

»Es war eine Lappaliensimulation, ein wirkliches Routineverfahen. Jemanden einladen, war der äußerst generische Titel.«

»Und?«

»Ich hab mir die Aufzeichnungen angeschaut. Zuerst alles ganz normal. DAVE schaltete ins Unterscript ›Wie man einen Gast bewirtet‹. Dann wurde es auf einmal ziemlich lustig, weil jemand offensichtlich einen Fehler in der Objekt-Subjekt-Zuordnung übersehen hat. DAVE hat den Gast aufgeschnitten und mit Zwiebeln in den Topf geworfen, während er dem Rinderstück ein Glas Wein servierte.«

»Nec scire fas est omnia. Klingt eigentlich fast komödiantisch.«

»Dann aber ist irgendwas schiefgelaufen. Die Simulation hat aus undurchschaubaren Gründen Millionen von Suchläufen getriggert«, sagte Pawel und faltete seine Beine in die Hängematte. »Plötzlich wurden immer mehr SCRIPTs in den Buffer geladen, hunderte, tausende. Sachen, die mit dem, was geschah, gar nichts zu tun hatten, sowas wie ›Einem Wegweiser folgen‹ oder ›Einen Nagel in die Wand schlagen‹. ›Einen Umbau planen‹. Von da an ist alles eskaliert. Wie eine unendliche Verzweigung –«

»Was meinst du mit Verzweigung?«

»Man konnte zuschauen, wie immer mehr und mehr Prozessorkraft hineingeflossen ist – zack, von 200 auf 4000 SCRIPTs, von 4000 auf 10 000, und keines hat angehalten, sie waren alle gleichzeitig aktiv.«

»Es ist schwer vorstellbar, dass das Kochen einer Rindskeule sämtliche Kapazitäten der hochentwickeltsten K. I. aller Zeiten ausreizt«, sagte ich und stellte mein Bier ab, um zu verschleiern, dass meine Hand zitterte.

»Ich kann dir nur sagen, was ich gesehen habe. Und es ist unmöglich, dass –«

»Ja, genau, das ist es – unmöglich«, sagte ich und stand auf. »Ich muss jetzt ins Bett, meine Schicht beginnt in zwei Stunden – wenn es morgen überhaupt eine Schicht geben sollte.« Ich ließ ihn in der Hängematte zurück, obwohl wir in derselben Koje wohnten.

Die Gänge waren wie leergefegt – Putztrupps hatten alles wieder in den gewohnten reinen, weißen Glanz zurückpoliert, einen Zustand der Makellosigkeit, der das Vorgefallene wie einen Fiebertraum erscheinen ließ. Die Sicherungssysteme surrten niederfrequent, auf den Überwachungsmonitoren waren nur grüne Lichter; kurz gesagt: Es war beunruhigend, wie kalmiert das Labor war, als ich nun den Weg zurück nahm. Nur ein paar angebrannte Stellen, dort, wo die Kabel durch die Wände gebrochen waren, verrieten, dass vor einigen Stunden noch infernalische Hitze geherrscht hatte.

Im Zustand der wiederkehrenden Trägheit spürte ich einen vergessenen Reiz: Die Karte in meinem Schuh stemmte sich gegen meine Sohle. Das war die dritte und finale Fehlentscheidung an diesem Tag: Ich kniete mich nieder und gab vor, meine Schnürsenkel zu binden, bis ich sicher war, dass mich niemand beobachtete. Ich förderte die Karte unter meinem aufgespreizten Fuß zutage. Ich warf einen kurzen Blick darauf und steckte sie wieder ein, ehe ich in meine Koje zurückkehrte.

2

Jeder Mensch – doch mehr noch jede Bewegung – verzehrt sich nach einer Genealogie, einem Gründungsmythos, aus dessen Kontinuität sich das eigene Sendungsbewusstsein rechtfertigt.

Alles, was der unsere benötigt, ist ein Emblem und eine Subscriptio. Es sind dies: Jene Fotografie, die sich in der Aula der Fröhlichen Menschen und Tiere wie ein imposantes Fresko über die westliche Wand erstreckt, sowie vier Worte: Tech Model Railroad Club. Die Ikone, die diese Szene zeigt, benötigt kein Gold zu ihrer Ausschmückung. Es ist unerheblich, dass sie durch die vielen Hände, die sie ehrfürchtig berührten, verwittert ist. Gleichgültig, dass der Charakter des Arrangements stumpf und schal ist wie die Zeit seiner Entstehung – die Nachkriegszeit, die ein Farbschema aus Taupe und Anthrazit diktierte.

Das Motiv aber sticht noch hervor wie neuerdings: Zentralstück ist ein obeliskenhaft aufragender Rechner, der IBM 704, sowie vier um ihn gruppierte Personen uninterpretierbaren Alters, von denen zwei dem Betrachter die Rücken zuwenden und zwei im Dreiviertelprofil in die Kamera sehen. Allen gemein ist eine gewisse Tendenz zur Nachlässigkeit: Ungekämmte Langhaarfrisuren, Brillen so dick, dass die optische Dispersion die Augen ins Possenhafte hineindehnt, und unkapriziöse Draperie aus drei Tage am Stück getragenen T-Shirts.

Der eingeweihte Betrachter aber weiß, dass hier vier Programmierer abgebildet sind, so geschichtsschwer, dass ihre Namen mittlerweile zur Allegorie erstarrt sind: Samson, Dennis, Wagner und Deutsch. Die original hackers.

Wie die Urchristen sitzen sie versammelt um ein Monument, dessen 400 donnernde Vakuumröhren auf eine kleine Steuerungskonsole in ihrer Mitte hin ausgerichtet sind. Die Szene illustriert einen Moment höchster Konzentration: Deutsch, ein gerade einmal vierzehnjähriger Knabe, der kaum an die Relais heranreicht, übergibt Samson, einem der Vokuhilaträger, eine Lochkarte. Aus der Körperhaltung des Rezipienten ist zu erahnen, dass er sie gleich an den links unten im Bild sich befindlichen 711-Cardreader verfüttern wird. Die anderen beiden – Dennis und Wagner (mit von Schlaflosigkeit verklärten Blicken) – stehen dem Magnetbandlaufwerk zugewandt.

Versenkt man sich im Sfumato dieser schleißig belichteten Szene, meint man, es fast hören zu können: Wie das erste Programm, das die vier geschrieben hatten, das kolossale Stahlgehirn im Moment der Auslösung erschütterte. Wie die Flip-Flop-Schalter in seinem Inneren sich der Gewalt der intelligenten Ordnung geschlagen gaben und endlich ein Ergebnis zeitigten, das sich Sekunden später aus dem angeschlossenen IBM-65a-Drucker herauswinden würde. Viertausend Stellen der Kreiszahl Pi waren in einem Sekundenbruchteil errechnet worden. Wer sich nach dem Zweck dieser Kalkulation fragt, verkennt ihre Signifikanz: Die Abbildung hält fest, wie eine Maschine rechnerisch zum ersten Mal mehr leistete, als ein Mensch es jemals können würde.

Zeitpunkt der Aufnahme: 1958, 12.37 Eastern Daylight Time. Ort: Raum 20E-214 im dritten Stock von Gebäude 20 des Universitätscampus am Massachusetts Institute of Technology.

Es ist eine Baracke, in der diese Geschichte begann, eine Interimslösung, die nach dem Zweiten Weltkrieg als solche vergessen worden war. Wir erahnen sie an den geschmacklos changierenden Oberflächen: Linoleum mit kleinen Einschlüssen im Boden, subtil durchäderte Polycarbonatplatten an der Decke – gekörntes PVC und Bakelit an den Peripherien der Maschinerien. Man nannte das EDV–Labor den »Plywood Palace«, ein Ort von erstaunlicher Hässlichkeit. Es kann nicht geleugnet werden: Der Geburtsort der eschatologischen Vollendung des Universums war ein dreckiger, fensterloser Raum.

Die Figurenkomposition ist auf den ersten Blick chaotisch, folgt aber einem strengen Kalkül: Peter Samson steht rechts vorne, die Hand am Relais, ein neunzehnjähriges Erstsemester, das erst drei Monate vor dieser Aufnahme von den elektrischen Schaltkreisen eines Eisenbahnmodells gefangen genommen worden war. Im Keller des Instituts für Ingenieurswesen hatte der Tech Model Railroad Club ein Schaltbrett mit Nachbauten von Zügen aufgestellt, wobei Samsons Interesse sich rasch auf etwas anderes gerichtet hatte. Es waren die komplizierten Schaltungen der zugrundeliegenden Steckplatine, auf denen er virtuos zu spielen lernte.

Bob Wagner seinerseits, dunkelhaarig und etwas größer als die anderen, steht links über die Konsole gebeugt, die Hand expressiv auf Stirnhöhe, wie um sich die Übernächtigkeit vom Antlitz zu bürsten. Er ist fixiert auf die Lichter des Ausgabepanels, das in wenigen Augenblicken die ersten stotternden Lebensäußerungen der Maschine manifestieren würde. Erst wenn das Programm angehalten hatte, war aus dem Drucker ein schmaler Papierstreifen zu entnehmen, der verifizierte, dass keine Syntaxfehler das Programm zum vorzeitigen Halten gebracht hatten. Wagner scheint, obwohl er nur halbseitig zu sehen ist, in solcher Konzentration versunken, dass die Legende einen nicht wundernimmt, nach der seine Freunde ihn alle drei Tage mitsamt seiner starren Kleidung unter die Dusche stellen mussten. Die Hygiene pflegte gegenüber dem Verschmelzen mit der Maschine zurückzutreten. Für Oberflächen war kein Raum.

Jack Dennis, dessen verkräuselte Locken das einzige Ornament des Motivs darstellen, ist an der Peripherie des Bildes verewigt. Stift und Reißpapier sind die Attribute der manuellen Programmplanung. Seine Pose wirkt instabil, die Mühsal findet ihren unweigerlichen Widerhall in seiner Körpersprache: In den Sechzigern gab es kein grafisches Interface, keinen Bildschirm – das »Programmieren« musste auf tapeziergroßen Bögen unternommen werden. Hier gehörte er hin, hier hatte er seine Bestimmung gefunden, würde er zwanzig Jahre später sagen.

Am Lochstanzer sitzt, vom Chiaroscuro des gigantischen Rechners überschattet, Peter Deutsch: ein Kindgenius; Sohn eines MIT-Professors, der beim Verfassen seiner ersten Codezeile ein transzendentes Erlebnis gehabt hatte. Dieses noch schwerfällige Medium, seine logische Perspektivierung und Relationalitäten würden das Material seines Künstlertums sein.

Was die Abbildung als Ganzes zusammenschweißt, ist der Koloss, der das Zentrum der Komposition ausmacht: Der Lochkartenrechner, ein okkulter Gott, den damals noch keiner außer ihnen für einen hielt. Dass sie sich Priests nannten, passt zur Tatsache, dass sie einander stets nachts trafen, und dennoch war ihre Selbststilisierung nicht mystisch verwaschen. Schlagschatten und überreiztes Neonlicht lassen die Linienführung präzise bleiben: Deutsch, Wagner, Samson und Dennis konnten das Potenzial dieses Computers einschätzen und hatten seine Sprache gelernt.

Der Fluchtpunkt der gesamten Zukunft in einem einzigen Bild. »Originata della natura supere lorigine e fassi originale dell arte«: Entsprungen aus der Natur, überwindet sie ihren Ursprung, und macht sich zum Vorbild der Kunst, sagte Giovanni Pietro Bellori 1664 in einem Vortrag vor der Accademia il Signor Carlo Moratti darüber, was die Definition einer Idee sei. Und warum sollte man der Enthüllung der reinen Information mit ungeschlachteren Worten begegnen? Die Enkel und Urenkel dieses Megalithen würden eines Tages Cluster in den Datensätzen aufspüren, die kein menschliches Auge jemals erblickt hatte.

Doch wäre es vermessen, zu glauben, aus diesem Sujet wäre alles zu erschließen. Denn über diesem einen akkumulieren sich zigtausend andere, die die Geschichte der Computerwissenschaft wie Folien darüberlegte. Da war der Tag, an dem der Gruppe um Samson der PX-0 in Raum 206 / Gebäude 27 a präsentiert wurde – ein leicht verlagerter Stoff, auch wenn er räumlich und inhaltlich mit dem ersten Bild in Beziehung steht.

Ein effektvoller Kontrast zwischen dem kleineren Gerät und den Menschen an den Seiten des Bildes dominiert diese Fotografie, eine Leichtfüßigkeit, etwas Luftiges. Der bisquefarbene PDP hatte im Gegensatz zum IBM ein Eingabeterminal sowie ein Peripheriegerät, das man bereits als modernen Drucker bezeichnen kann. Nun konnten die vier original hackers, diesmal links außen gruppiert, der Maschine bei ihren dampfschweren Rechenumwälzungen zusehen. Mehr noch: Sie konnten direkt zu ihr sprechen, wenngleich natürlich nur in Einsen und Nullen.

Ein anderes berühmtes Foto, das in meiner Kindheit, auf Lesezeichen gedruckt, verkauft wurde, zeigt die Gruppe, später ergänzt durch die jungen Greenblatt und Gosper, spätnachts bei der Belagerung eines neuen Hoking Giant, des PDP-11. Mit zunehmender Tiefenschärfe steigerte sich auch die Plastizität der Darstellungen: Greenblatts und Gospers gebeugte Körperhaltungen bringen eine übernächtige Schwere ins Bild, während die Überfülle des Raums – sechs Menschen auf zwei Quadratmetern – eine gewisse Unordnung erzeugt. Koffeinschwangere Überreiztheit.

Programmierzeit war kostbar in diesen frühen Tagen und wurde nur stundenweise vergeben, also hatten die Hacker ihre anfängliche nocturnale Tendenz zu einer Lebensform kultiviert. Man legte sich um acht Uhr morgens ins Bett und schlief an der Aktivität der restlichen Welt vorbei, die nichts anderes war als ein letzter Ausläufer einer bald überkommenen Zeit – ein Blinddarm der Weltgeschichte. Man war wach gehalten von einer kosmischen Einsicht in die Dinge: Das ganze Universum war Information – der Körper, die Psyche, selbst schwarze Materie war in der Absenz eines Signals repräsentierbar geworden. Wenn man sich sehr beeilte, würde man sämtliche Symbolismen des Universums noch zu den eigenen Lebzeiten entschlüsseln können.

Diese Leidenschaft war uferlos: Selbst wenn Samson sich in keinen Slot für den Computerraum eingetragen hatte, kampierten er und Greenblatt vor der Tür des Labors. Anekdoten, die diesem Bild wie Skizzen vorausgingen: Drei, vier Nerds in den lichtlosen Gängen, die darauf harrten, dass einer der PhD-Studenten sein Zeitfenster verschliefe. Wer sich von der Fehlbarkeit der Biologie korrumpieren ließ, war chancenlos; 72 Stunden lang programmieren und zwölf Stunden im Koma liegen die Norm. Es war der Computer, der den frühen Visionären ihren Biorhythmus diktierte, nicht umgekehrt: eine intime Verschmelzung von Mensch und Maschine – nur die erste von vielen.

Auf der anderen Seite, sichtbar gemacht durch die Positionierung des Computers, der unter den im vorderen Bildbereich positionierten Akteuren verhältnismäßig klein wirkt, stand die vollkommene Unterwerfung der Maschine. Man operierte in strengen Wenn-Dann-Relationen, die sich den Zufälligkeiten sozialer Interaktion entzogen: ein Ja oder ein Nein, eine Eins oder eine Null.

010001000100000101010110010001010000101000001010. Die modernen Magier des Tech Model Railroad Club erwarteten, mit mathematischer Rationalisierung zu den äußersten Geheimnissen der Kombinatorik aufzusteigen, denen schon Giordano Bruno und Raimundus Lullus in der Verräumlichung ihrer aristotelischen Syllogismen nachgejagt waren. Für sie stand fest: In der simpel scheinenden Architektur des Steckbretts verbarg sich das Grundmodell des Universums. Richtig eingesetzt, würde diese Gewalt die ganze Welt in distinkte Ziffern auflösen und alles jetzt noch Verborgene enthüllen.

Das hieß nicht, dass das vorherrschende Lebensgefühl nicht dennoch oder gerade deswegen der Anarchismus gewesen wäre.

Ein anderes Bild, das ich als Student über meinem Arbeitsplatz hängen gehabt hatte, zeigt Ricky Greenblatt, einen Hacker der zweiten Generation und Erfinder von Lisp, wie er 1977 mit der Konsole des PDP-4 posiert. Nicht nur hat nun die Farbe Einzug in diese Darstellung gehalten – sie ist auch eine Assemblage aus Strickpullovern und grauen Diskettenlaufwerken, aus Kathodenbildschirmen und den Vietnam-Protest-Plakaten im Hintergrund.

Greenblatt, etwa zwanzig Jahre alt, ist untersetzt und trägt Kleidung, die sich wie absichtlich unpassend um seine gerundeten Schultern spannt. Selbst die Brille scheint sich seiner Physiognomie zu widersetzen. Seine Körperhaltung aber spricht eine ganz andere Sprache: Er hält seine Kreation – eine rechteckige Platine – in gestreckt-aufrechter Pose ins Objektiv, die vollkommenes Selbstbewusstsein ausstrahlt. Zu seiner Rechten steht sein bester Freund, der nicht weniger legendäre Bill Gosper. Dahinter, auf dem kontrastreich ausgeleuchteten Schreibtisch, liegen Magazine, Stift und Lexika – Beigaben des Überkommenen, vor die triumphierend der graue Rechner gehalten wird.

Gosper und Greenblatt präsentieren auf dem 1964 entstandenen Pressefoto eines der frühesten Schachprogramme: Mac Hack. Die beiden grinsen zwar nicht in die Kamera – dieses Motiv würden erst nachfolgende Coder-Popstars etablieren – doch spürt man von ihnen ruhige Zuversicht ausgehen. Noch glaubten die amtierenden Großmeister, nichts von diesem unförmigen Kabelwust zu befürchten zu haben, den Greenblatt wie einen Säugling an der Brust hält. 1997 fiel Garri Kasparov durch Deep Blue.

Allen diesen Bildnissen ist gemeinsam, dass sie die Einsicht in die Fehlerhaftigkeit der Kohlenstoffcomputer, die wir Leib nennen, teilen. Körper waren – das wussten diese ersten Programmierer längst – nur dreidimensionale Repräsentationen aus Informationen, und es brauchte nicht mehr als läppische 2 Gigabyte an Daten, um einen ganzen Menschen zu simulieren. Eine Plastik, nichts weiter. Laut dem 1965 formulierten Mooreschen Gesetz würde sich alle zwei Jahre die Rechenleistung der Hardware verdoppeln, das heißt, bald würde ein Rechner zehntausende menschlicher Genome in sich fassen.

Ein letztes Bild lohnt der Betrachtung – doch ist es diesmal kein visuelles, sondern ein akustisches, das wir als eine Hommage an die Errungenschaften der frühen Universalkünstler in unser System integriert haben. Tippt man C://find/toccata in die Command-Konsole eines beliebigen Rechners des Labors, kann man den Paradigmenwechsel des Jahres 1962 hören, als würde er sich jetzt, gerade in diesem Moment ereignen. Zwölf Sekunden lang, 278 Bit an Daten und haarsträubend schrill in ihrem Platinenklang. Doch darf man sich nicht täuschen lassen –

Peter Samson, ein begnadeter Pianist, hatte eines Abends das charakteristische Kreischen, das den Denkprozess der Maschine begleitete, bemerkt und bald herausgefunden, dass es aus einem einzigen Bit, Bit 14 von 18 des Arbeitsspeichers, beeinflusst wurde. Dank des vielzitierten Hands-On-Imperative der Hackerethik und des absoluten Gehörs, das fünfzehn Jahre Czerny-Etüden in ihn eingeschrieben hatten, glückten die Manipulationen. Kaum waren ein oder zwei Tage der überreizten Immersion vergangen, konnte er mit den feinsten Aufstiegen und Gefällen elektrischer Impulse spielen wie auf der Wiener Mechanik seines Bösendorfer. Als seine Freunde morgens in die muffige Kammer traten, wurde eine monophone, übersteuerte Version von Bachs Toccata in D-Moll hörbar.

Bei nur oberflächlicher Betrachtung dieser Begebenheit wird nicht unmittelbar offenkundig, welcher kategoriale Sprung in dieser Tat lag. Die Jahrtausende lang etablierte Art, Musik zu erleben – den schwingungserzeugten Schall an ein Trommelfell zu vererben – war mit einem Mal überholt worden.

Aber auch ein anderer Paradigmenwechsel suchte in dieser schrillen Melodie seinen Ausdruck: Denn Samson hatte das Donnern des Rechners, ein scheinbares Nebenprodukt seiner bloßen, vermeintlich überflüssigen Körperlichkeit, steuerbar gemacht. Der letzte Zufallsfaktor physischer Materie wurde manipulierbar und schließlich wohlgeordnet. Für die frühen Computerpioniere war ihr Leben bis zur Entdeckung PX-0 nur ein Präludium gewesen, ein gravitätischer Einleitungsteil nicht zusammenpassender Motive, die sich dem Betrachter nun endlich erschlossen. Von der Steinzeit bis zur Erfindung des elektrischen Relais hatten wir bloß die Werkzeuge hergestellt. Die Geschichte aber begann jetzt.

All diese Motive ließen uns erkennen, dass unsere biologischen Begrenzungen keine Relevanz mehr besaßen. Stahl und Elektronik, Kabel und Logik waren nicht denselben Verschleißerscheinungen ausgesetzt wie das organische Leben; und daraus lassen sich zwei mögliche Konsequenzen ableiten, die gleichermaßen legitim sind.

Die erste ist die Vereinigung des Menschen mit der Maschine: Das Eingehen in ein transzendentes Bewusstsein, das Unsterblichkeit, maximale Kognition und die Aufhebung aller Limitierungen verspricht. Durch ordnende Maßnahmen rücken wir Stück für Stück in den Bereich des rein Geistigen – weg von der analogen Welt, hin zum Digitalen. Die Menschen, denen dies ein Anliegen ist, nennen wir im Labor die Transhumanisten.

Der zweite Schluss ist die Beibehaltung unseres Körpers, doch die unendliche Ausweitung seines Aktionsradius: den Funken der Aufklärung in die 9,3016 × 10 hoch 10 Lichtjahre des beobachtbaren Universums zu tragen. Uns die Erde untertan zu machen: DAVE – das heißt, der archetypische Computer – ist in diesem Szenario ein Messdiener des niemals endenden Erkenntnisdrangs. Die Anhänger dieser Deutung aber nennen wir die Neoterraner.

Wer das Menschliche um jeden Preis erhalten will, geht einem viel grundsätzlicheren Missverständnis auf den Leim: Der Computer ist nicht nur menschlich – er ist das Beste am Menschen, das Gipfeln seiner vernünftigen Intelligenz. Die Maschine ist so inhärent human, wie es eine Violinensonate ist oder Leonardo Da Vincis Skizzen seiner Flugmaschinen. Und so ist beides wahr: In der vergilbten Fotografie von Samson, Deutsch, Dennis und Wagner waren beide Enden der Parabel zu erahnen. Unser Anfang hatte begonnen. Unser Ende war eingeläutet worden.

Wir werden vor der Zukunft ausdrucksvoll kapitulieren müssen. Auftritt Dr. Babusch, Rohstoffspezialistin und Pädagogin, Erkennungsmerkmal strenggrauer Dutt und zeltgroße Hosenanzug-Ensembles, die jedes Kind im Schlafe erkennen würde. Die Strenge ist ein notwendiges Utensil in ihrem Geschäft: Babusch kultiviert die Angst vor der Vergangenheit, spaltet die Katastrophen in ihre Bestandteile wie Akkorde und komponiert daraus die Melodie einer skeptischen Zukunft.

Gehen wir von den bekannten Fakten aus, sagt Babusch und spielt einen Kurzfilm ab. Die Probleme waren erstens ein Mangel an Ressourcen, zweitens ein Zuviel an Menschen (30 Milliarden), was mit erstens kausal zusammenhing – drittens ein Fehlen an Ideen, viertens ein Abfinden mit erstens und zweitens. Fünftens eine Veränderung des Klimas und sechstens jene körperlichen Mutationen, über die an dieser Stelle noch geschwiegen werden muss.

Für die Demonstration bemächtigt sich Dr. Babusch einer Flipchart: Das früheste Symptom des veränderten Zeitalters war der zur Neige gehende Treibstoff, was die Menschen jedoch mitnichten davon abhielt, Lebensmittel zu konsumieren, die an entfernt liegenden Orten produziert worden waren. Um den längeren Transport per pedes zu gewährleisten, auf den mangels Alternativen umgerüstet worden war, wurden ausnahmslos alle Speisen in Dosen verschweißt. Das umfasste: Dosenkuchen, Dosenhuhn, Dosenbrot, Dosengouda und natürlich Dosenmelonen. Doseningwer, Dosenreis, Dosenzucker, Dosenpopcorn, Dosenleber, Dosenknödel, Dosenwein, Dosendosen.

Die Häuser wurden höher, jedoch niedriger-per-Stockwerk, was als Einheit (npS) anstelle der Lage die Qualität einer Wohnstatt bezeichnete. Die Durchschnittsbehausung war um die 110 cm hoch, was eine gebückte Fortbewegung erforderte. Besonders miserable Notstandsbauten konnten aber durchaus auch nur 50 cm hoch sein und somit gerade noch erlauben, dass man sich abends in sein Kabuff hineinrollen konnte. Berufe wurden nur mehr in Ausnahmefällen ausgeübt, die Normschlafzeit erhöhte sich auf siebzehn Stunden. Politische Entscheidungen umfassten die vier relevanten Bereiche menschlichen Lebens: die Mahlzeiten, das Wetter, das Wasser und den Straßenbelag, da befestigter Asphalt wegen der Erosion der Erdschichten zu einem Sehnsuchtsort geworden war. Indessen waren alle unablässig im Schlamm zu kriechen verurteilt. Rasch herniederprojiziert: eine Grafik, grellbunt ausgemalt für die kindliche Seele. Babusch lächelt.

Selbstverständlich lebten bei weitem zu viele Menschen auf der Erde, um sich noch mit Wasser duschen zu können: Sauber wurde man, indem man sich in sogenannten Schleifhallen, kleinen Kammern voller Drahtbürsten, so lange hin und her wand, bis das Blut nur so spritzte.

Um Zustände wie diesen zu vermeiden und die darniederliegende, heißgesottene Außenwelt wieder bewohnbar zu machen, schließt Babusch, gibt es nur einen einzigen Weg: einen radikalen, kompromisslosen Schritt in Richtung DAVE. Video aus, Applaus.

Mein Atem hatte die Glaswand verschlagen; die Durchsicht stellte ich mit meinem Daumen wieder her, indem ich die mikroskopischen Partikel meiner eigenen Körpersäfte verwischte. Unter mir sah ich, verzerrt von dieser Verschlierung, DAVE auftauchen: daumennagelgroß nur, zwischen mir und ihm ein halbes Dutzend Glasscheiben.

Das Zentrallabor duckte sich schwarz wie die Kaaba in den zweiten Stock, ein Gebäude-im-Gebäude, auf dessen Fluchtpunkt die gesamte Architektur hinzielte. Stockwerk vier – wo ich wohnte – sowie Stockwerk fünf waren zu großen Teilen in Glas ausgeführt, das heißt: Jeder Assistent, der morgens die Freemanbrücke überquerte und in den Aufzügen zum Großraumbüro fuhr – ja selbst der, der sich in den Gärten des fünften Stocks vergnügte, war über eine direkte Sichtschneise mit DAVE verbunden.

Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie das wohl wäre – ihn zu berühren. Ob sich die seltsame Sehnsucht, die mich, seit ich mich erinnern konnte, wieder und wieder an diesen Ort zwang, mit einem Schlag auflösen würde? Da merkte ich, dass ich inmitten dieses Gedankens meine Hand tatsächlich nach vorne gestreckt hatte – in den leeren Raum hinein – und zog sie erschrocken wieder zurück. Um mich herum brausten die Personenströme der Frühschicht; ich fürchtete für einen Augenblick, jemand könnte mich bei meinem Selbstverlust beobachtet haben. Hastig wischte ich mir die Tränen aus dem Augenwinkel und suchte die Stechkarte in den Taschen meines Kittels.

Ich lief die Stiegen hinunter und in den dritten Stock zum Großraumbüro. Während ich an den Drehkreuzen wartete, zog ich die Zeitschrift des Schachclubs hervor, um die paar Minuten Wartezeit auf das Lösen einiger Stellungsprobleme zu verwenden, die auf den letzten drei Seiten abgedruckt waren. Ich hatte als Jugendlicher in einem Verein gespielt, hatte wochenends Turniere absolviert, bis ich vierzehn war – weiter ging die Ausbildung nicht. Ab dann hatte man nahtlos zum Programmieren von Schachprogrammen überzugehen, und die aktive Spielzeit war vorbei. Doch noch immer fanden meine Augen die Muster, glitt ein von Langem her abgerichteter Sinnesapparat in die Feldcluster, die der Geist mit Intuitionen und Chancen füllte. Ich hatte mich eine Weile in eine Selbstmatt-Aufgabe vertieft, da riss mich auf einmal eine sich überschlagende Stimme aus der Konzentration:

»Transsubstantiation, meine Freunde. Transsubstantiation heißt die Wesensänderung, die die Imperfektion der Akzidentien abstreift, sobald ein Übergang in die Substanz der Information geschieht und wir uns in die Cloud hochladen. Denn das wahre Attribut ist nicht die Ausdehnung, sondern die Ordnung. Unser Genom ist Information, die Natur, das ganze Denken, alles ist Information –«

Ein älterer Mann mit entblößtem Oberkörper stand auf einer Getränkekiste und hatte zu einer Deklamation angesetzt. Sein grauer Bart, den er in der Hälfte geteilt und zu Zöpfen geflochten hatte, flatterte im Gegenwind der Klimaanlage, man konnte seine Unterhosen sehen.

»Wir haben vergessen, dass wir aus dem einen großen Bewusstsein kommen, können uns nicht an unsere göttliche Natur erinnern. In Jesus wurde Gott Mensch, in DAVE wird der Mensch wieder allmächtig, und zwar durch unendlich gesteigerte Denkleistungen …«

Doch während der Mann, der die Hände zum imaginären Himmel erhoben hatte, noch schreiend seine Rede zum Besten gab, traten zwei Sicherheitsleute von hinten an ihn heran und rissen ihn von seinem Plastikpodium. Ich sah entgeistert zu, wie dem Greis, der sicherlich über neunzig war, die Arme auf den Rücken gedreht wurden und der weiße Lendenschurz von den Hüften flog.

»Scheiß Neoplatumanisten«, sagte ein Assistent hinter mir.

»Neowas?«, fragte ich verwirrt. Ich sah seine Sandalen noch hinter der Ecke hervorstechen.

»Eine Sekte, die glaubt, dass sich mit dem zukünftigen Hochladen des Geistes in DAVE die Rückkehr der Seelen in die Ideenwelt vollzieht.«

»Unter den Alten gibt’s eine Menge solcher messianischen Bewegungen momentan«, schaltete sich eine junge Frau, scheinbar eine Begleiterin des Assistenten, ins Gespräch ein. »Insbesondere seit dem Vorfall haben sie eine Menge Zulauf. Aber ist irgendwie auch klar – wenn man alt ist und nichts anderes zu tun hat, als zwanzig Jahre lang dem Tod entgegenzugehen.«

Der Vorfall – so wurde die Tatsache, dass wir vor zwei Monaten beinahe verglüht wären, jetzt genannt. Ich zuckte mit den Schultern und entriegelte das Drehkreuz; für einen Augenblick hatte ich noch Mühe, den Anblick des Alten abzuschütteln, dann zerstreuten die mechanischen Abläufe meines Alltags meine Gedanken. Wie jeden Tag auf dem Weg zu meinem Schreibtisch lief ich einen Umweg, einmal um den halben Saal herum, ehe ich mich niederließ. Abends, wenn die Schicht endete, würde ich um die andere Hälfte orbitten, und wie jetzt – daran bestand kein Zweifel – würde ich Khatun nicht finden. Sie war nicht da. Wahrscheinlich impfte sie jetzt und für immer kreischende Bälger, oder, schlimmer noch: Womöglich hatte sie sich nach meiner allzu zudringlichen Einführung versetzen lassen, dachte ich, während mein Computer hochfuhr und ich den Editor öffnete.