Das Flüstern der Südsee - oder: Der Klang der blauen Muschel - Beatrix Mannel - E-Book

Das Flüstern der Südsee - oder: Der Klang der blauen Muschel E-Book

Beatrix Mannel

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Beschreibung

Ein folgenschwerer Verrat im fernen Paradies Samoa 1905: Nachdem ihr Vater eine Plantage gekauft hat, wandert die junge Henriette zusammen mit ihren Eltern in die deutsche Südsee-Kolonie aus. Doch statt das tropische Klima und die weißen Sandstrände zu genießen, lassen sie das Heimweh und die Sorge um ihre tuberkulosekranke Zwillingsschwester, die in München zurückbleiben musste, vereinsamen. Erst zusammen mit dem samoanischen Prinzen Tamatao entdeckt sie die Schönheit und die Geheimnisse der sagenumwobenen Insel. Ihre Verbindung steht jedoch unter keinem guten Stern, denn ihr herrischer Vater will Henriette mit dem reichen Deutschen Ernst-Otto Hofmann verheiraten. Doch ein folgenschweres Unglück ändert alles ... Wird Henriette es schaffen, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen? »Ausgestattet mit Dauerspannung, Südseeromantik und Mystik – ein genussvolles Leseerlebnis.« – literturschock.de Voller Atmosphäre, Abenteuer und Emotionen– der bewegende Schicksalsroman für Fans von Tara Haigh Begeisterte LeserInnen: »Ein spannender historischer Roman voller Liebe, Emotion und Tiefgang. Henriette und Sophie sind zwei wunderbare Protagonistinnen, deren Schicksale den Leser tief berühren.« – Amazon-Rezensentin »Beatrix Mannel hat alles wirklich sehr gut recherchiert und bringt dem Leser Samoa und San Francisco im frühen 20. Jahrhundert näher.« –Amazon-Rezensentin

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Seitenzahl: 620

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Samoa 1905: Nachdem ihr Vater eine Plantage gekauft hat, wandert die junge Henriette zusammen mit ihren Eltern in die deutsche Südsee-Kolonie aus. Doch statt das tropische Klima und die weißen Sandstrände zu genießen, lassen sie das Heimweh und die Sorge um ihre tuberkulosekranke Zwillingsschwester, die in München zurückbleiben musste, vereinsamen. Erst zusammen mit dem samoanischen Prinzen Tamatao entdeckt sie die Schönheit und die Geheimnisse der sagenumwobenen Insel. Ihre Verbindung steht jedoch unter keinem guten Stern, denn ihr herrischer Vater will Henriette mit dem reichen Deutschen Ernst-Otto Hofmann verheiraten. Doch ein folgenschweres Unglück ändert alles ... Wird Henriette es schaffen, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen?

eBook-Neuausgabe Juli 2025

Dieses Buch erschien bereits 2014 unter dem Titel »Der Klang der blauen Muschel« bei Diana Verlag, München.

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von drewdrew / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock / shutterstock AI

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (fe)

 

ISBN 978-3-98952-873-4

 

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected] .

 

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Beatrix Mannel

Das Flüstern der Südsee

Roman

 

Widmung

 

Meinen Roman Das Flüstern der Südsee widme ich allen Schwestern und ganz besonders der besten Schwester der Welt: Ulrike Mannel

Prolog

 

München, 1905

 

Henriette fühlte ein merkwürdiges Kribbeln in ihrer rechten Hand. Gleichzeitig bemerkte sie, dass eine Welle von Energie durch ihren Körper strömte, die ihr Herz schneller schlagen ließ, obwohl sie völlig ruhig auf ihrer Ottomane saß, wo sie gerade den Roman »Ruf der Wildnis« zu Ende gelesen hatte. Das Kribbeln in der Hand wurde stärker, sodass sie unwillkürlich hinschauen musste, doch alles sah aus wie immer.

Einbildung, alles nur Einbildung! Das war nur ihre blühende Fantasie. Vielleicht fing sie auch noch an zu bellen, wie die Hauptfigur in dem Buch. Also hör jetzt auf, befahl sie ihrer Hand. Aber das Kribbeln wurde mächtiger.

Sie räusperte sich und sah zu ihrer missgelaunten Schwester hinüber, der sie eigentlich von dem berührenden Ende des Romans erzählen wollte. Nachdem Sophie auf ihr Räuspern nicht reagierte, schlug sie mit einem Knall das Buch von Jack London zu.

Sophie saß mit grimmig zusammengepressten Lippen in einem tiefen Sessel vor dem Fenster, wo sie ein Taschentuch mit Rosenmustern besticken musste. Sie verabscheute Handarbeiten, doch ihre Großmutter verabscheute es noch mehr, wenn man ihr widersprach. Leider betrachtete Christiane-Auguste jeden eigenständigen Gedanken der Zwillinge als Affront

Wer ihr nicht zustimmte, war ihr Feind und musste bestraft werden.

Henriette betrachtete wieder ihre rechte Hand, die sich abwechselnd taub und kribbelig anfühlte, und schüttelte sie, damit die unsichtbaren Ameisen endlich verschwanden.

Sophie, bald sind wir sie los, und dann müssen wir nie wieder tun, was Großmama will, wollte Henriette sagen, aber es kam kein Wort aus ihrem Mund. Sie versuchte es noch einmal, schließlich wollte sie Sophie vom Schluss des Romans erzählen, wo sich der Hund Buck endlich dem Wolfsrudel anschloss und in Freiheit leben konnte, aber sie brachte kein Wort hervor. Gleichzeitig spürte sie in ihrer rechten Hand, wie das Kribbeln in ein Zucken überging.

Wie unter Trance stand sie von der Ottomane auf und ging zu dem kleinen Damensekretär hinüber, wo ihre Hand sofort nach dem Füllfederhalter griff, Tinte in den Kolben pumpte und anfing, fremde Worte aufzuschreiben.

Sophie, die glaubte, Henriette wolle einen Scherz machen, um sie aufzuheitern, ließ das verhasste Stickzeug sinken und grinste Henriette an. »Ja, Schwesterchen, du hast recht. Großmutter verwandelt uns, wir sind für sie nichts anderes als automatische Püppchen«, sagte sie, stand auf und drehte übertrieben monotone Pirouetten wie die Ballerina auf einer Spieldose. Aber dann bemerkte sie, dass mit Henriette etwas nicht in Ordnung war, hielt inne und eilte zu ihr zum Sekretär.

»Henriette, mein Maischwesterherzchen, was ist denn los?«

Henriette bemühte sich, den Mund aufzumachen, doch sie konnte nichts sagen, nur schreiben, ihr ganzer Körper benahm sich, als würde er einem Geist gehören, der von Henriette Besitz ergriffen hatte, jedoch am meisten Macht über ihre Hand besaß.

Sophie legte sanft die Hände auf die Schultern ihrer Zwillingsschwester. »Mai«, flüsterte sie, »um Himmels willen, was machst du da?«

Henriette zuckte mit den Schultern, sie konnte nicht sprechen, alles, was sie sagen wollte, verebbte irgendwo in ihrer Kehle. Alle Kraft strömte in ihre Hand, in den Füllfederhalter, ihre Finger glitten über das Papier, wo sie Buchstaben zu völlig fremden Worten aneinanderreihte.

»Tut das weh?«, fragte Sophie. Henriette schüttelte den Kopf.

»Dann mach es, du willst doch schreiben! Lass es einfach geschehen, sperre dich nicht dagegen. Ich kann fühlen, dass du dich sträubst, es ist bestimmt gleich vorbei.«

Henriette versuchte es, und Sophie hatte recht, wenn sie keinen Widerstand leistete, war es leichter. Aber ihr Herz hämmerte, und ihre Füße zuckten unter dem Sekretär, als würde etwas durch sie hindurchströmen.

Atemlos sahen die Schwestern zu, wie Henriettes Hand schrieb, die Worte flogen nur so über das Papier.

 

Ole Tala ia Tapuitea

O le planeta o Tapuitea a tu mai i le afiaft, ua taua o le matamemea; a tu mai le vaveao, ua taua lao le fetuao. O le ulugalii sa nonofo i Falealupo ...

 

Henriette war unendlich dankbar, dass Sophie hinter ihr stehen blieb und ihre Schultern liebevoll drückte, denn sie fühlte sich, als ob man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hätte.

Wie konnte sich ein Teil ihres Körpers selbstständig machen, und wie konnte sie etwas schreiben, das sie nicht verstand, wie war das möglich?

Während ihre Hand Zeile um Zeile füllte, fielen ihr auf einmal die Augen zu, und Bilder stiegen empor, wie in einem Traum, aber auch wieder nicht wie in einem Traum. Sie sah einen glitzernden Nachthimmel über einem schwarzen Meer, in dem alle Sterne golden schillerten. Nur einer von ihnen pulsierte plötzlich rot, stärker und stärker, und schließlich fiel ein einziger Tropfen Blut aus dem Stern in das Meer unter dem Nachthimmel und verwandelte die Dunkelheit in eine flammende Dämmerung, aus der die Sonne emporstieg.

Plötzlich wurde ihre Hand ruhiger, der Füllfederhalter rutschte aus ihren Fingern und fiel auf das Papier. Sie öffnete die Augen und sah, dass alles mit Tintenflecken verunziert war.

Dann drehte sie sich zu ihrer Schwester um, der Tränen in den Augen standen, die sie. aber schnell wegblinzelte.

Gemeinsam betrachteten sie das Geschriebene.

»Es sieht nicht mal aus wie meine Schrift.« Henriettes Kehle fühlte sich wie ausgetrocknet an, sie hatte plötzlich großen Durst.

»Diese Sprache kenne ich nicht, das ist nicht europäisch«, stellte sie fest und stand auf, um sich ein Glas Wasser aus der Karaffe einzuschenken, die auf dem Tisch vor der Ottomane stand. Sie taumelte, aber Sophie war sofort bei ihr und stützte sie.

»Es geht schon.« Henriette trank einen großen Schluck und merkte, wie sie langsam wieder ruhiger wurde. Nachdem alles vorbei war, spürte sie nun eher Neugier als Angst.

»Was das wohl zu bedeuten hat?«

»Ganz einfach, du bist verrückt«, sagte Sophie grinsend, »du bist eine wahnsinnige Hexe!« Sie nahm das Blatt in eine Hand und raffte mit der anderen ihre Röcke und begann, die Worte laut zu singen. Dabei lief sie im Kreis herum und stampfte bei jedem »O« lautstark mit den Füßen auf.

Obwohl sich Henriette immer noch sehr flau fühlte, musste sie bei dem wilden Anblick ihrer Schwester lachen. Mit ihr zusammen war wirklich alles zu ertragen, sogar so mysteriöse Vorgänge wie der gerade eben.

Urplötzlich kamen ihr Bedenken, sich über diese fremden Worte so lustig zu machen.

»Sophie, tu das nicht!«

»Was ist denn?« Sophie ließ sich schwer atmend auf die Ottomane fallen.

»Was, wenn das eine Verfluchung ist oder so etwas wie das Vaterunser in Zulusprache oder in dieser eigenartigen Schnalz- und Klicksprache der Nama, über die ich neulich erst gelesen habe?«

»Ja, natürlich«, Sophie schlug sich an die Stirn, »Gott, dass mir das nicht gleich klar war! Du bist Moses, und dein Füller war der brennende Dornbusch!«

»Sophie!«

»O nein, besser, du bist Mohammed, und die Engel der Offenbarung sind in den Füller gefahren!« Sophie zog ein Spitzentaschentuch aus ihrem Ärmel und fächelte sich Luft zu, dann legte sie ihren Arm um Henriette und streichelte versöhnlich die Hand, die sich gerade so sonderbar benommen hatte. Es beruhigte Henriette, dass ihre Schwester neben ihr saß und wie immer nach Honig und frisch gemähtem Gras duftete.

»Es tut mir leid«, sagte Sophie. »Entschuldige, ich musste das irgendwie loswerden, du hast mir ganz schön Angst gemacht. Ich bin sicher, wir können herausfinden, welche Sprache das ist.«

»Aber selbst wenn, wie können wir erfahren, was es zu bedeuten hat?«, fragte Henriette.

Sophie zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, das alles kommt nur von deinem ständigen Lesen. Du bist überspannt. Vielleicht hat es damit zu tun, dass du dich insgeheim als Reiseschriftstellerin siehst. Möglicherweise hast du irgendwo etwas aufgeschnappt, was zu diesem unbeabsichtigten Schreibfluss geführt hat. Warst du nicht neulich erst in dieser Völkerschau, wo man Menschen aus den Kolonien anstarren darf, das könnte doch ...« Sophie hielt mitten im Satz inne. Ein Leuchten ging plötzlich über ihr Gesicht. »Ich hätte eine Idee, was wir da tun könnten!«

Neugierig ließ Henriette sich von Sophie erklären, was sie vorhatte, und nach anfänglichem Zögern fand sie es sogar sehr vernünftig, der Sache auf den Grund zu gehen. Auch wenn es ihr eine sehr ungewöhnliche Methode zu sein schien.

Doch wenn Henriette auch nur geahnt hätte, welchen Preis sie beide dafür zahlen würden, hätte sie sich niemals darauf eingelassen.

Teil I Samoa

Zitate

 

»O le upega e tautau, ae fagota.«

 

»Wenn du beim ersten Mal nicht erfolgreich bist, versuch es, versuch es noch einmal.«

Samoanisches Sprichwort

 

»A thing of beauty is a joy for ever:

Its loveliness increases; it will never

Pass into nothingness; but still will keep

A bower quiet for us, and a sleep

Full of sweet dreams, and health, and quiet breathing.«

 

»Ein Ding von Schönheit ist ein Glück für immer:

Es nimmt noch zu an Liebreiz; es wird nimmer

Ins Nichts vergehen, doch hält’s uns alle Zeit

Ein ruhiges Plätzchen süßen Schlafs bereit,

Voll Träumen und gesundem, ruhigem Atem.«

John Keats, Endymion

Kapitel 1

 

Henriette wachte in der Hitze der Nacht von seltsamen Vogelgeräuschen auf und blickte sich schlaftrunken in dem fremden Zimmer um. Durch die Gaze des feinmaschigen Moskitonetzes erschien alles wie traumverschleiert. Die hell lackierten Holzpaneele, die einfache Waschkommode mit dem Krug, der kleine englische Damensekretär, der wehende Leinenvorhang vor dem Fenster. Doch als ihr Blick das leere Bett ihrer Zwillingsschwester streifte, wurde sie sofort hellwach, schlug augenblicklich das Moskitonetz zurück und erinnerte sich vollständig an das, was geschehen war.

Wenn sie früher nachts aufgewacht war, konnte sie sicher sein, dass es ihrer Schwester Sophie genauso ging. Dann war eine zur anderen ins Bett geklettert, und sie hatten sich ihre Träume erzählt. Ihre glücklichen Träume waren sehr verschieden, während sie beide genau den gleichen Albtraum hatten. Den Traum vom Murmelmann. Ein Mann griff sich in seine Augenhöhle, wo Murmeln wuchsen, nahm eine Glasmurmel nach der anderen heraus und legte damit eine Spur auf der Erde, die so unwiderstehlich war, dass Henriette und Sophie ihr einfach folgen mussten, auch wenn sie genau wussten, dass diese Murmeln sie in den sicheren Tod führen würden. Immer erwachten sie schweißgebadet im Moment ihres Todes.

Zum Glück hatte Henriette heute Nacht nicht davon geträumt, denn Sophie war nicht da, um sie zu trösten. Und sie hoffte, dass ihre Schwester sich auch nicht mit diesem Traum herumquälen musste.

Sie vermisste Sophie nicht nur nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, sondern jede einzelne Minute. Niemand brachte sie zum Lachen, niemand debattierte mit ihr bis zum Wahnsinnigwerden darüber, ob es besser wäre, eine Heldin wie Jane Eyre oder Emma zu sein, oder welches Tier interessanter zu erforschen wäre: Pinguin oder Elefant, Spinne oder Schlange. Henriette seufzte voller Bedauern. Sie wusste, sie sollte lernen, sich damit zu arrangieren. Aber es fühlte sich an, als hätte man sie zweigeteilt.

Nur eine Hälfte ihres Herzens war hier auf der Insel, die andere war bei Sophie in München. Das war nun schon seit einhundertzweiundzwanzig Tagen und Nächten so.

Henriette gab sich einen Ruck, ging hinüber zum Fenster, vor dem sich der leichte Leinenvorhang im Nachtwind bauschte, schob ihn beiseite und blickte hinaus. Das also war ihre erste Nacht auf Samoa.

Am mondlosen Himmel funkelten die Sterne, ein unruhiges Blinken, das sich im zitternden Meer unterhalb des dunklen Gartens widerspiegelte. Verführerisch süßer Duft stieg ihr in die Nase und lockte sie nach draußen. Sophie hätte schon längst das stickige Zimmer verlassen, um ihr neues Zuhause zu erkunden. Obwohl ihre Schwester jünger war, allerdings nur ganze sieben Minuten, hatte sie sich immer schon mehr getraut als Henriette.

Sie schlich barfuß durch den Flur und stieg die Treppe in den großen Raum im Erdgeschoss hinab, dabei bemühte sie sich, keinen Lärm zu machen. Noch wusste sie nicht, welche Stufen knarzten und welche nicht, und zuckte einige Male überrascht zusammen. Schließlich hatte sie es geschafft und stand auf der weiß lackierten Veranda, die sich um das Haus zog.

Eine leichte Brise wehte durch ihr dünnes roséfarbenes Batistnachthemd und trocknete ihre verschwitzte Haut. Hier roch es nach Vanille und exotischen Blumen, deren Namen Henriette nicht kannte. Sie wünschte sich wieder, Sophie wäre bei ihr, denn die interessierte sich für Blumen. Angefangen hatte es damit, dass sich Sophie überlegte, ob man an der Wahl eines Blumenbouquets erkennen konnte, wer der richtige Verehrer war. Ihre Schwester hatte nie daran gezweifelt, dass die Verehrer bei ihr Schlange stehen würden. Aber – so ihre Theorie – nur der Richtige würde ihr genau das Blumenbouquet überreichen, bei dem sie nicht anders konnte, als sich zu verlieben. Deshalb hatte sie sich mit der Sprache der Blumen befasst und schließlich mit den Blumen an sich. Und als es dann beschlossene Sache war, dass sie ihren Eltern nach Samoa folgen sollten, hatte Sophie alles über die Flora der Südsee gelesen, was sie nur auftreiben konnte. Schließlich erwartete sie, auch dort von Anbetern umringt zu sein. Henriette musste bei dem Gedanken daran lächeln, denn damit hatte Sophie vollkommen recht. Obwohl sie nahezu gleich aussahen, zog ihre temperamentvolle Schwester immer zuerst alle Blicke auf sich.

Hier unten auf der Veranda konnte Henriette das Meer nicht sehen, aber sie hörte das Rauschen, das sie unwiderstehlich anzog. Sie lief den abschüssigen Rasen hinunter, der sich unangenehm stachlig in ihre Fußsohlen bohrte, weiter hinab zu dem kleinen Palmenwald, der das Grundstück vom Strand trennte.

Kokospalmen und Hibiskussträucher raschelten im Wind, als sie immer weiter Richtung Meer rannte. Hier zwischen den Palmen und Sträuchern war der Boden weich von den abgefallenen Blättern, und der Geruch von Rinde und Blüten vermischte sich zunehmend mit dem von Tang und feuchtem Meeressand.

Endlich lag die kleine Bucht vor ihr. Eingerahmt von schwarzen Lavasteinen, leuchtete der helle Sand in der Dunkelheit wie ein Wegweiser hin zum Wasser, das sich weit zurückgezogen hatte, denn es war Ebbe.

Oh, sie musste einfach eintauchen in das Meer und das Salz auf ihrer Haut fühlen. Henriette holte tief Luft, schürzte ihr Nachthemd, damit es nicht nass wurde, und rannte voller Vorfreude los.

Doch schon nach wenigen Schritten schrie sie laut auf. Der so trügerisch weich aussehende Sand war durchsetzt mit scharfen Muschel- und Korallenstücken, und etwas davon steckte in der Sohle ihres linken Fußes fest.

Sie fiel auf die Knie, sofort bohrten sich weitere scharfe Muschelstücke in ihre Haut, deshalb setzte sie sich auf ihr Nachthemd und betrachtete dann außer Atem ihren Fuß. Solange kein Druck auf ihn ausgeübt wurde, tat er nicht weh. Das Blut, das in dicken Tropfen hervorquoll, wirkte im fahlen Licht der Nacht schwarz.

Was, fragte Henriette sich jetzt, was hätten die von ihr so bewunderten Reiseschriftstellerinnen getan? Ida Pfeiffer, die sogar die Schrecken Madagaskars überlebt hatte, würde sicher den Fuß ins Meer halten und warten, bis die Blutung von allein aufhört. Aber auf dem Weg hinaus zur Brandung hätte sie nur weitere Verletzungen riskiert. Außerdem, Henriette grinste selbstironisch, wäre Ida Pfeiffer nie so dumm gewesen, hier barfuß herumzuspazieren.

Hinter ihr raschelte es. Erschreckt drehte sie sich um. Keinen Moment lang hatte sie daran gedacht, dass außer ihr noch jemand hier sein könnte, sie war davon ausgegangen, dass das alles noch zum Grundstück ihres Vaters gehörte.

Vor dem Wäldchen, das ihr nun auf einmal bedrohlich düster erschien, entdeckte sie die Silhouetten von drei Menschen. Sie kniff die Augen zusammen, um besser zu erkennen, mit wem sie es zu tun hatte. Ihr Herz klopfte laut.

Der Größte der drei war ein breitschultriger junger Mann, die beiden anderen waren Mädchen. Zuerst zweifelte sie an ihrer Beobachtung, denn alle drei trugen Röcke, aber der Größere hatte so starke Schultern, dass es sich kaum um eine Frau handeln konnte.

Die Samoaner kamen näher, und Henriettes Herz schlug noch schneller, und sie erinnerte sich, worüber die Offiziere auf dem Schiff, mit dem sie von San Francisco hergefahren waren, am liebsten geredet hatten. Über die Kannibalen im nahen König-Wilhelms-Land und all die anderen Gräueltaten, die die Menschen in den neuen deutschen Kolonien einander, und vor allem den Weißen, antaten.

Aber du glaubst doch nicht im Ernst, Henriette, dass diese drei jungen Samoaner hierhergekommen sind, um dich zu einem Dämmerfrühstück zu verspeisen?

Die Samoaner waren stehen geblieben und flüsterten miteinander. Es klang kein bisschen angriffslustig, sondern eher, als wären sie belustigt.

Henriettes Angst löste sich auf wie Zucker in heißem Wasser. Sie schluckte und überlegte, was sie zu den ersten Samoanern, die sie in ihrem Leben kennenlernte, sagen konnte. Sie fühlte, dass es wichtig war, weil sie das niemals vergessen würde. Und sie wollte es richtig machen. Sophie, dachte sie, was würdest du tun?

Die drei kamen vorsichtig etwas näher, und Henriette konnte sie nun viel besser sehen. Der muskulöse Oberkörper des jungen Mannes war nackt und glänzte in der Dunkelheit. Die beiden Mädchen trugen helle Blusen zu ihren gemusterten Röcken, ihre glatten dunklen Haare waren ordentlich frisiert, und jede hatte eine weiße Blüte seitlich über die Ohren gesteckt.

Schlagartig wurde Henriette bewusst, dass sie nur ein durchsichtiges Nachthemd trug, während ihr langes Haar ungekämmt auf die nackten Schultern hing. Diese angeblichen Wilden wirkten sehr viel zivilisierter als sie selbst.

Der Gedanke entlockte ihr ein Lächeln. Und alle drei lächelten sofort zurück, als wären sie erleichtert. Sie näherten sich noch ein wenig, blieben etwa zwei Meter entfernt von ihr stehen und betrachteten sie genauso aufmerksam wie Henriette sie.

Eines der Mädchen deutete auf den Himmel und sagte etwas. Henriette folgte ihrem Finger mit den Augen. Dann sah sie es auch: Die Sonne machte sich bereit aufzugehen. Höchste Zeit! Sie musste unbedingt vor Sonnenaufgang wieder im Haus sein, aber sie wollte nicht einfach weglaufen, das wäre ihr unhöflich vorgekommen.

Henriette sagte das einzige Wort, das sie auf Samoanisch kannte und das, wenn sie sich recht erinnerte, eine Begrüßung war. »Talofa!«

Die drei wechselten Blicke, dann kicherten sie, als hätte Henriette etwas äußerst Komisches gesagt, und sie fragte sich, ob es eines dieser Worte war, das man durch eine falsche Betonung in etwas Peinliches verwandeln konnte. Obwohl die drei sehr viel Abstand voneinander hielten, wirkten sie vertraut, und Henriette schloss, dass sie Geschwister oder enge Verwandte waren.

»’O ai lou igoa?«, fragte dann das größere Mädchen. Sie schritt auf Henriette zu, deutete dann auf sich selbst und sagte: »Sina.« Dann stellte sie sich neben das kleinere Mädchen. »Ta-ufa«, sagte sie und zeigte mit der ganzen Hand auf den jungen Mann. »Ta-matoa.«

Danach nickte sie Henriette zu, verbeugte anmutig den Kopf und sah sie fragend an.

Was für höfliche Umgangsformen diese gefährlichen Kannibalen doch hatten, Henriette verbiss sich ein Lachen und beugte ebenfalls den Kopf, dabei fühlte sie deutlich, wie viel plumper ihre Bewegungen waren. Sie stellte sich vor: »Henriette-Viktoria Mayberg«, sagte sie und zeigte auf ihre Brust. Dann wiederholte sie, was sie gerade gelernt hatte, und deutete auf die entsprechende Person: »Ta-ufa, Ta-matoa und Sina.«

Die drei gaben sich Mühe, ihr erneutes Kichern zu unterdrücken, aber dann brach es aus Taufa so laut heraus, dass sich alle davon anstecken ließen, auch Henriette. Sophie, dachte sie, ich muss das für dich aufschreiben.

Sina räusperte sich und versuchte sich an Henriettes Namen, was für Henriette klang wie »Envi-ma-ii-ba«.

Das brachte sie auf eine Idee. Sophie nannte sie immer nur Mai, das war bestimmt sehr viel leichter als Henriette.

»Mai!«, stellte sie sich noch einmal vor.

»Ma-i«, wiederholten die beiden Mädchen und sahen dann Tamatoa auffordernd an.

Er konzentrierte sich, dann sagte er mit sehr viel tieferer Stimme, als Henriette erwartet hätte: »Mai!« Er lächelte ihr zu, dabei blitzte das Weiße in seinen Augen auf, und sein Mund gab den Blick auf schön geformte weiße Zähne frei.

Henriette mochte das Gefühl, das sein Lächeln in ihr auslöste, und gleichzeitig brachte es ihr zu Bewusstsein, dass sie sich wirklich dringend etwas anziehen sollte. Ihre Mutter bekäme bei ihrem Anblick eine Nervenkrise. Außerdem verfärbte sich der Himmel zusehends orange. Und so gern sie die Gesichter der Samoaner im hellen Tageslicht gesehen hätte, so klar war ihr auch, was sie zu erwarten hatte, wenn herauskäme, dass sie nur im Nachthemd zum Strand geschlichen war. Sie musste gehen, bevor es zu spät war.

Abrupt sprang sie auf, hatte durch die Ankunft der Samoaner völlig vergessen, was sie vorhin zum Hinsetzen gezwungen hatte. Durch den Druck auf ihren Fuß trat sich das scharfe Korallenstück noch tiefer in die Sohle, und der Schmerz flammte erneut durch ihren Körper. Sie stöhnte und sackte wieder in sich zusammen.

»Ma-i!«, riefen alle drei wie aus einem Mund. Sina und Taufa hockten sich vor sie in den Sand. Sina nahm den schmalen, sehr weiß wirkenden Fuß in ihre Hand, betrachtete ihn und sagte etwas zu den anderen, was diese wieder zum Kichern brachte. Henriette trieb es die Schamesröte ins Gesicht, weil sie nicht wusste, was an ihrem Fuß so lustig sein sollte. Wenn nur ihren Eltern nicht zu Ohren kam, dass sich die älteste Maybergtochter in der ersten Nacht auf der Insel den Wilden halb nackt präsentiert hatte, noch bevor sie überhaupt in die Gesellschaft der Kolonien eingeführt werden konnte.

Aber dann dachte sie daran, womit sie einmal ihr Geld verdienen wollte, und fand es ausgesprochen mutig, ihren Fuß in die Hand von Kannibalen zu legen.

Der Himmel verwandelte sich nun dicht über dem Meer in rote und gelbe Streifen, während er weiter oben grau wurde. Wolken tauchten am Horizont auf, zart wie Tupfen aus lila Puder.

Sina legte den Fuß sanft ab, erhob sich und rannte zu dem Palmenwäldchen, während die jüngere Schwester im heller werdenden Licht so behutsam das Korallenstück aus ihrem Fuß entfernte, dass Henriette es erst bemerkte, als Taufa das scharfe, blutverschmierte Korallenstück triumphierend durch die Luft schwenkte.

Tamatoa setzte sich mit gekreuzten Beinen in einiger Entfernung neben Henriette und richtete den Blick diskret auf das Meer, das jetzt die Farben des Himmels aufnahm und wie flüssiges Gold schimmerte.

»Ma-i!«, flüsterte er ein paarmal. Henriette betrachtete ihn verstohlen von der Seite. Sein Profil war ausgewogen, ein kräftiges Kinn ging einher mit einer breiten, aber wohlgeformten Nase. Sie versuchte, sich alles gut einzuprägen, damit sie es Sophie detailgetreu berichten konnte. Nur deshalb musste sie so gründlich hinschauen. Natürlich. Sie sah noch genauer hin, und ihr Blick glitt zu seinem Rock, wo sie ein interessantes Linienmuster auf seinem nackten Oberschenkel entdeckte, das er aber sofort mit seinem Rock verbarg, als er ihren Blick bemerkte. Ihre Wangen wurden heiß.

Was fiel ihr ein! Eine Dame benahm sich nicht so, selbst dieser Samoaner bewies mehr Schamgefühl als sie. Tamatoa, ermahnte sie sich, ich kenne seinen Namen, ich sollte nicht dieser Samoaner denken.

Besorgt betrachtete sie den Himmel, an dem die Sonne gerade wie ein gleißend silberroter Ball aufging. Sie hätte es wissen müssen, die Dämmerung in der Südsee dauerte nie länger als zwanzig Minuten. Sie versuchte aufzustehen, aber Taufa hinderte sie sanft daran und deutete auf Sina.

Sina kam zurück, in der einen Hand hielt sie mehrere sattgrün glänzende längliche Blätter, in der anderen schwang sie ein Büschel ovaler gerippter Blätter. Schon im Gehen fing sie an, die länglichen Blätter zu zerkauen, dabei rief sie den anderen beiden melodisch klingende Worte zu, woraufhin diese sich erhoben und etwas zu suchen anfingen.

Außer Atem gelangte Sina zu Henriette, schlug ihren Rock sorgfältig zwischen den Beinen zusammen, kniete sich dann neben sie in den Sand, prüfte, ob die Wunde an ihrem Fuß sauber war, und schmierte die zerkauten Blätter darauf. »Aloalo Tai«, erklärte sie, als müsste Henriette wissen, was das bedeutete.

Zuerst zuckte sie zurück, aber dann stellte sie überrascht fest, wie angenehm sich dieser Brei auf der Wunde anfühlte.

Sina beobachtete sie aufmerksam, und als Henriette ihr zunickte, legte sie die großen Blätter auf die Wunde. »Noni«, erklärte sie, und dann kamen auch schon Tamatoa und Taufa angerannt und brachten Halme, die sie flugs zu einer Schnur flochten, mit der sie die Blätter so fest umwanden, dass Henriette aufstehen und dann laufen konnte, ohne dass sich der natürliche Blattverband löste.

»Danke.« Sie ärgerte sich, dass sie das samoanische Wort dafür nicht kannte. Sie deutete eine Verbeugung an, und dann machte sie sich auf den Rückweg. Ein Teil von ihr wollte rennen, weil sie hoffte, unbeobachtet ins Haus zu kommen. Der andere, größere Teil wollte viel lieber am Meer bleiben und mit den Samoanern sprechen.

Sie drehte sich um und entdeckte, dass die drei immer noch am Strand standen und ihr nachsahen. Sina und Taufa winkten ihr, während Tamatoa sie nur betrachtete.

Der Weg über das stachelige Gras im Garten war zwar wieder reichlich unangenehm, doch als sie ihren Blick hoch zur Veranda richtete, wusste sie, dass das Stechen in ihrem Fuß nichts war im Vergleich zu dem Ärger, der sie dort oben erwartete.

Kapitel 2

 

Auf der geräumigen Veranda standen ihre bereits angekleideten und frisierten Eltern und straften sie schon von Weitem mit ihren Blicken.

Als Henriette die Veranda erreicht hatte, ohrfeigte ihre Mutter sie mehrmals, während ihr Vater mit entrüstetem Gesichtsausdruck danebenstand.

»Wie kann eine junge Dame sich nur so kindisch benehmen?« Ihre Mutter schüttelte so vehement ihren Kopf, dass sich eine Strähne aus ihrem sorgsam aufgesteckten Dutt löste.

»In diesem Aufzug draußen herumzugeistern! Genauso gut hättest du ganz und gar unbekleidet gehen können!« Sie wandte sich an ihren Mann. »Karl-Joseph, ich versichere dir, so habe ich deine Töchter nicht erzogen! So etwas ist noch niemals vorgekommen, es muss diese ungesunde schwüle Luft sein. Nach der langen Reise ist ihr die Hitze zu Kopf gestiegen!« Sie wedelte sich mit einem Taschentuch Luft zu, wie um ihre These von der unerträglichen Hitze zu untermalen.

»Was ist mit deinem Fuß?«, fragte ihr Vater und deutete auf Henriettes Blätterverband. Er wies sie an, sich hinzusetzen und den Fuß hochzulegen, dann betrachtete er Sinas Kunstwerk.

Dabei zwirbelte er seinen Kaiser-Wilhelm-Bart. Henriette fragte sich, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Nach seiner langen Abwesenheit war ihr der Vater fast ebenso fremd wie die Samoaner, und sie konnte nur hoffen, er wäre ihr genauso wohlgesinnt.

Doch in diesem Augenblick riss er wütend den Verband von ihrem Fuß und rief nach dem chinesischen Hausmädchen. »Nian!«

Dann blitzte er Henriettes Mutter wütend an. »Es kann nicht angehen, Apollonia, dass sich deine Tochter schon am Tag nach ihrer Ankunft gemein mit den Eingeborenen macht.« Er richtete sich auf, und seine Stimme wurde sehr leise und schließlich unangenehm kalt. »Das dulde ich nicht! Nicht in meinem Haus! Schließlich haben wir Pläne mit ihr.«

Pläne, was für Pläne?, fragte sich Henriette, während Nian lautlos herantrippelte und ihr Vater befahl, den Verband wegzuräumen, abgekochtes Wasser und deutsche Seife zu bringen, um seine Tochter von diesem schwarzen Schmutz zu befreien. Dann stürmte er vor sich hin fluchend davon.

»Warum tust du mir das an?« Ihre wohlbeleibte Mutter wedelte sich noch heftiger mit dem bestickten Taschentuch Luft zu und sank ermattet auf einen der weißen Korbstühle auf der Veranda, der unter ihrer Last laut knarzte.

»Wo bist du nur gewesen? Kannst du dich nicht einmal wie eine Dame benehmen? Und ich habe immer gedacht, Sophie wäre die Ungebärdige.«

Nian erschien wieder mit einer Schale Wasser und einem Schwamm, kniete neben Henriette und löste den Verband, den Sina angelegt hatte.

Das Wasser brannte auf der Wunde, die sie eben kaum gespürt hatte. Henriette zuckte zusammen, und Nian erschrak dadurch so, dass die Schale mit dem Wasser umkippte.

Henriettes Mutter erhob sich, und eine Flut von Beschimpfungen ergoss sich auf die zarte Chinesin, die sofort anfing zu zittern. Henriette griff nach ihrer Hand und drückte sie beruhigend, denn sie fühlte sich schuldig. In Wahrheit richtete sich der Zorn ihrer Mutter gegen sie und nicht gegen Nian, die so elfenhaft und fügsam war wie keine der Mayberg-Töchter.

Zum Glück für Nian und Henriette setzte die Hitze, die nach Sonnenaufgang von Minute zu Minute stärker wurde, ihrer Mutter so zu, dass sie nach ein paar Minuten verstummte und wieder auf den Stuhl zurücksank, wo sie dann matt nach einem Zitronentee verlangte.

Nian sah zwischen Henriette und ihrer Mutter hin und her, offensichtlich wusste sie nicht, ob sie sich nun um den Fuß kümmern oder Tee herbeischaffen sollte.

Henriette wiederholte im Flüsterton: »Tee.« Nian erhob sich mit einer anmutigen Drehung, legte den langen schwarzen Zopf wieder über ihre Schultern und trippelte davon.

Henriette stand auf und fragte ihre Mutter, was sie mit der Wunde tun sollte. Ihre Mutter besah sich ihren Fuß und fand dann, dass das die gerechte Strafe für ihren Ungehorsam sei und man ohnehin schon viel zu großes Aufhebens davon gemacht hätte, und ordnete an, die Wunde mit Jod zu desinfizieren und dann zu verbinden. Und vor allem sollte Henriette sich endlich ankleiden und frisieren, denn ganz sicher würden in Kürze Besucher herbeiströmen, um sie alle in Augenschein zu nehmen.

»Es passiert in dieser gottverlassenen Einöde nicht eben gerade viel! Da ist die Ankunft von jungen Frauen aus Europa interessanter als eine Kriegserklärung«, seufzte sie und wandte sich dann wieder an Nian, die gerade ein schwarzes Tischchen neben ihren Stuhl stellte, wieder weghuschte und mit einem Lacktablett voller Tassen und einer Teekanne aus chinesischem Porzellan zurückkam.

»Wo ist eigentlich die Küche und wo ist das Bad?«, fragte Henriette.

»Ein Badezimmer gibt es hier nicht.« Ihre Mutter schloss die Augen, als könnte sie diesen unerträglichen Umstand so besser ausblenden, dann seufzte sie tief und öffnete sie wieder.

»Das Jod befindet sich in meinem Schlafzimmer, und die Küche ist dort draußen.« Sie deutete durch das Fenster auf ein kleines Häuschen. »Und wo der Abort ist, weißt du hoffentlich noch von gestern Abend. Und nun geh mir aus den Augen, kleide dich endlich an. Und sieh nach, ob wenigstens Ella schon respektabel aussieht.«

Henriette humpelte hinauf in ihr Zimmer, das in der Zwischenzeit schon von Nian aufgeräumt worden war. Im Kalender stand zwar September, aber es war so heiß wie zu Hause in Deutschland höchstens einmal im Hochsommer und so feucht wie sonst nur in den Treibhäusern des Botanischen Gartens.

Nian hatte die Holzjalousien geschlossen, aber Henriette öffnete sie, neugierig darauf, wie der Ort ihres nächtlichen Abenteuers im Sonnenlicht aussehen würde.

Vor ihr lag das Meer, grau und schaumig, weit hinten am Horizont schwebten rosa angehauchte Wölkchen, aufgereiht wie die Perlen einer unsichtbaren Meeresgöttin. Etwa fünfhundert Meter vom Strand entfernt zog das Korallenriff einen Schutzring um Samoa, an dem sich die gewaltigen Wellen des Südpazifischen Ozeans krachend brachen. Hundert Meter entfernt lag die kleine Bucht und noch einmal zweihundert Meter weiter im Meer entdeckte sie eine kleine, mit Palmen bewachsene Insel, die sie in der Nacht nicht wahrgenommen hatte. Direkt unter ihrem Fenster verlief die weiß lackierte Holzveranda, auf der Kübel voll blühender Gardenien standen, deren Duft sich mit dem der salzgeschwängerten Meerluft vermischte.

Sie schloss die Läden wieder, um die Hitze auszusperren, und trat zu der kleinen Waschkommode, wo sie etwas Wasser aus der Kanne in die mit weiß-blauen Blumen bemalte Porzellanschüssel goss. Damit benetzte sie ihr Gesicht und wusch sich von Kopf bis Fuß, danach setzte sie sich auf ihr Bett, über das eine weiße Häkeldecke gebreitet war, und sah zu dem unberührten Eisenbett auf der anderen Seite.

Sie und Sophie hatten sich geschworen, alles füreinander aufzuschreiben. Das würde schwer werden, sehr schwer. Der Vormittag war noch nicht einmal angebrochen, und sie hatte schon mehr erlebt als in München in einer Woche. Ihr Schreibzeug war noch in der Reisetruhe, die sie noch nicht angerührt hatte. Wenn sie Sophie von unterwegs geschrieben hatte, dann nie mit dem Füllfederhalter. Sie wusste nicht, ob sie den überhaupt jemals wieder benutzen würde. Seit jenem Nachmittag war er ihr unheimlich.

Unbemerkt war Nian hereingekommen und reichte ihr ein dunkelbraunes Glasfläschchen mit dem Jod. Henriette setzte sich und bat die Chinesin, den Fuß damit zu beträufeln.

In dem Hotel ihrer Patentante in San Francisco, wo sie die Reise für einen Monat unterbrochen hatten, um sich auszuruhen und Einkäufe zu machen, hatte sie zum allerersten Mal überhaupt Chinesinnen gesehen. Es waren Wäscherinnen, die bei Tante Berta die frische Hotelwäsche ablieferten und die schmutzige mitnahmen. Henriette wäre ihnen gern in das nahe gelegene Chinatown gefolgt. Leider hatte Tante Berta sie für verrückt erklärt und ihr das strengstens verboten, obwohl sie sonst so wohltuend anders war als ihre Mutter und Großmutter. Berta liebte Debatten und Drama und hatte Henriette ermutigt, die Theater der Stadt zu besuchen, mit den Gästen zu reden und zu lesen. Ihre Schwester hätte sich im European Palace auch wie zu Hause gefühlt. Hier stiegen nicht nur Schauspieler und Schriftsteller ab, sondern auch Boxer und Politiker. Sogar Puritaner waren darunter, die die Sauberkeit und das Essen des Hotels schätzten. Und als Henriette sich zaghaft nach Reiseschriftstellern erkundigt hatte, stellte Berta sie kurzerhand ihrer besten Freundin Charmian Kittregde vor, die nicht nur zweimal im Monat bei Berta Lisztabende am Piano gab, sondern auch für einen der größten Verleger an der Ostküste arbeitete. Was aber Berta mehr als alles andere beeindruckte, war die Tatsache, dass ihre Freundin über hundert Worte in der Minute auf ihrer Schreibmaschine schreiben konnte.

Charmian fand Henriettes Wunsch zu schreiben völlig verständlich und versprach, sich für sie in der Branche umzuhören, wenn Henriette ihr eine kleine Kostprobe zum Lesen gäbe. Henriette war sich ziemlich dumm vorgekommen, denn sie hatte nichts, was gut genug für Charmian gewesen wäre. Diese Mitteilung hatte Miss Kittregde mit einem Lachen quittiert. Darüber solle Henriette sich nicht den Kopf zerbrechen, sondern lieber schreiben und die Bewertung ganz ihr überlassen. Schamrot im Gesicht hatte Henriette versprochen, ihr etwas über Samoa zu schicken.

Nian räusperte sich und holte Henriette wieder zurück in die Gegenwart. Sie hatte die Wunde nun vollständig mit Jod beträufelt und sah abwartend zu Henriette.

Was für ein schönes herzförmiges Gesicht Nian hatte, dachte Henriette, aber das Eindrucksvollste waren ihre mandelförmigen dunklen Augen, die Henriettes Blick jedoch beharrlich auswichen. Die Chinesin war viel zierlicher als sie selbst, ständig verbeugte sie sich, und immer lief sie in gebückter Haltung umher wie ein geprügelter Hund. Das alles fand Henriette schon unangenehm, doch was sie am meisten bekümmerte, war, dass Nian höchstens so alt war wie sie selbst.

Auch wenn ihr Vater ihnen beim Dinner gestern Abend erklärt hatte, dass Nian sich glücklich schätzen konnte, einen so sauberen und sicheren Arbeitsplatz zu haben, kam es ihr falsch vor. Selbst wenn ihr Vater es Nian so ermöglichte, Geld zu verdienen und ihre Familie zu unterstützen. Nian war die Cousine eines chinesischen Vorarbeiters auf der Kokosplantage. Henriette hätte sich gern mit ihr unterhalten, aber sie wusste nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte, ohne Nian Arger zu bereiten, denn ihre Mutter konnte Müßiggang bei ihren Hausangestellten nicht ertragen und scheuchte sie unentwegt hin und her.

Henriette nahm Nian das Jod ab und lächelte sie an, weil sie sehen wollte, ob die Chinesin es erwidern würde, aber sie reagierte nicht und verschwand lautlos.

Als ihre Mutter gestern nach ihrer Ankunft herausgefunden hatte, dass die einzigen Hausangestellten Nian und ein samoanischer Koch waren, hatte sie ihre sonst so gut geölte Beherrschung verloren und ihrem Mann eine Szene gemacht. Schließlich hatte er ihr das Paradies versprochen. Und für Apollonia Mayberg, geborene von Wagner gehörte zu einem Paradies ein Himmel voller Dienstboten und ein mit portugiesischen Fliesen gekacheltes Badezimmer mitsamt einem Water-Closet nach englischem Vorbild. Und fließendes Wasser. In ihrer tiefen Enttäuschung hatte sie gestern Abend sogar lautstarken Zweifel am Verstand ihres Mannes geäußert.

Mangels anderem Verbandszeug wickelte Henriette kurzerhand ein Taschentuch um den Fuß und zog sich endlich an.

Doch für das Korsett brauchte sie wieder die Hilfe von Nian, die sofort herbeieilte, als sie nach ihr rief. Und als Henriette ihre Haare selbst zu einem großen Knoten kämmen wollte, erwies sich Nian als sehr viel geschickter. Henriette konnte selbst kaum glauben, was ihr im Spiegel entgegensah, nachdem Nian fertig war. Ihr üppiges kastanienbraunes Haar war in ungewohnten Wellen an ihrem Hinterkopf aufgesteckt, und Nian hatte sie nach samoanischer Sitte mit einer weißen wohlriechenden Frangipani-Blüte über dem Ohr geschmückt. So wirkte Henriettes Kopf viel interessanter und schlanker. Henriette und Sophie hatten die füllige Figur ihrer Mutter geerbt, nur ihre jüngste Schwester Ella war so schmal und knochig gebaut wie ihr Vater.

Während Nian Henriettes Haare gekämmt und aufgesteckt hatte, war Ella hereingekommen, perfekt gekleidet in einem langen Rock und einer weißen hochgeschlossenen Spitzenbluse mit schmalen Keulenärmeln. Griesgrämig schweigend hatte sie Nian beäugt.

»Guten Morgen, liebe Schwester!«, hatte Henriette betont überschwänglich gesagt, weil sie dieses Mürrische an Ella nicht ausstehen konnte, dabei sah Ella aus wie ein bezauberndes kleines Püppchen. Sophie und sie hatten sich oft so lange über ihre miesepetrige kleine Schwester lustig gemacht, bis Ella weinend weggerannt war. Das war nicht sehr nett von ihnen, aber manchmal der einzige Weg, Ella zu ertragen. Henriette fand es äußerst schwierig, allein mit ihr auszukommen, und es verging kein Tag, an dem sie nicht mit ihrem Schicksal haderte. Warum war nicht Ella statt Sophie kurz vor der Abreise krank geworden? Aber das war natürlich unmöglich, denn Ella hätte nie das für Henriette getan, was Sophie getan hatte und woraufhin sie dann so krank geworden war. Ella hätte sie mit großer Genugtuung verpetzt.

»Mir gefällt es hier nicht«, war dann das Erste, was Ella an diesem Morgen von sich gab, und dabei verzog sich ihr großer dünner Mund, als hätte sie gerade in eine Zitrone gebissen.

»Wie meinst du das?«, widersprach Henriette. »Wir sind gestern Abend erst angekommen, und du hast doch noch nichts von dieser Insel gesehen und mit niemandem gesprochen.« Anders als ich, dachte sie. Plötzlich stand Tamatoas nackter Oberkörper vor ihrem inneren Auge, und sie merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

»Es ist heiß«, stöhnte Ella. »Viel zu heiß.«

Henriette hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihr recht zu geben, auch wenn ihr Korsett bereits jetzt völlig durchgeschwitzt war. Neidvoll betrachtete sie Nian, die genauso einen leichten Rock trug wie die Samoanerinnen, die sie heute Nacht am Strand getroffen hatte.

»Bestimmt gewöhnst du dich daran«, sagte Henriette, »wir sollten jetzt etwas frühstücken.«

Nian zeigte nach unten, als hätte sie verstanden, wovon die Rede war.

»Du sprichst Deutsch«, stellte Henriette erfreut fest.

Nian schüttelte den Kopf.

»Aber du verstehst mich?«, hakte sie nach.

Nian deutete ein Nicken an, dann war sie schon nach unten verschwunden.

Die beiden Schwestern sahen sich an. Henriette fragte sich, wie sie es allein mit dieser Schwester hier aushalten sollte. Ella interessierte sich für nichts, und welcher Mann würde sie erlösen und eine hübsche, aber derart langweilige, ständig schlecht gelaunte Frau heiraten? Ein Heiliger, beantwortete sie sich selbst die Frage. Nur ein Heiliger war dazu in der Lage.

Sie seufzte und setzte sich in Bewegung. Der Fuß zwang sie immer noch zum Humpeln.

Der Weg von den hellgelb und türkis gestrichenen oberen Zimmern nach unten war wie das Eintauchen in die Unterwelt, denn hier waren die Wände dunkel vertäfelt, was den Raum in düsteres Licht tauchte. Das ganze Erdgeschoss bestand nur aus einem großen Raum mit vielen Fenstern und Türen, und Henriette genoss jetzt schon die Vorteile, die diese Bauweise bot. Weil alle Fenster und Türen geöffnet waren, ging hier unten immer ein leichter Wind, was bei der feuchten Hitze sehr angenehm war. Der einzige abgetrennte Bereich war das Arbeitszimmer ihres Vaters, das genauso aussah wie früher in Deutschland. Ein großer viktorianischer Mahagonischreibtisch mit verschließbaren Schubläden, eine Glasvitrine mit Büchern und sogar das Eisbärenfell lag an der gleichen Stelle. Diese Entdeckung hatte Henriette gestern Abend zum Lachen gebracht. Ein Bärenfell passte so gut nach Samoa wie Sahne auf eine fränkische Rostbratwurst.

Leider gab es hier niemanden, der ihre Weise, die Dinge zu betrachten, teilte. Wenn doch nur Sophie hier wäre! Alles wäre anders. Wenn wenigstens endlich ein Brief von ihr käme. Aber seit ihrer Abreise hatte sie nichts von ihrer Schwester gehört, das Einzige, was sie wusste, war, dass sie nicht tot war, denn – da war sie ganz sicher – das würde sie im Herzen spüren.

Rechts von der Treppe befand sich das Piano, links davon der große breite Esstisch mit Stühlen für mindestens zwölf Personen, der jetzt für das Frühstück eingedeckt war. Und zwar mit dem aus Deutschland mitgebrachten Silber und dem Zwiebelmusterporzellan was ein wenig seltsam wirkte. Ähnlich wie das Bärenfell.

Ihre Eltern saßen schon am Tisch und tranken Kaffee, dessen Duft Henriettes Appetit noch verstärkte. Aber auf dem Tisch konnte sie nur eine Platte mit aufgeschnittenen Früchten entdecken, deren Fruchtfleisch ihr auf einem blauen Teller entgegenleuchtete wie ein Sonnenaufgang: hellorange Papaya, gelb rote Mangos, rosarote Litschis, goldgelbe Ananas sowie grüne Bananen und Limetten.

Sie vermisste einen Brotkorb, Butter, Wurst und Käse und Eier. Henriette hatte trotz der Hitze großen Hunger.

Nachdem sie sich hingesetzt hatte, räusperte sich ihr Vater.

»Henriette, es ist besonders hier in der Kolonie erforderlich, Anstand und Sitte zu wahren. Mangels anderer Neuigkeiten spricht sich hier alles sofort herum, und aus einem kleinen Fehltritt wird nur allzu schnell ein Skandal. Würdest du uns also bitte erklären, wie du zu diesem lächerlichen Wunderheilerverband an deinem Fuß gekommen bist?«

Nian brachte eine Platte mit kleinen dicken Pfannkuchen herein und reichte sie herum.

Henriette nahm von den Pfannkuchen und erzählte von den beiden Mädchen, die sie am Strand getroffen hatte. Ihr Verstand beschwor sie, Tamatoa lieber nicht zu erwähnen.

Ihre Mutter strafte ihre Erzählung mit verächtlichen Blicken, während ihr Vater die Lippen schürzte und dann mit einem Vortrag über die lieben Eingeborenen begann, dem Henriette beim besten Willen nicht folgen konnte. Während er betonte, wie wichtig es sei, durchaus freundlich mit den Samoanern zu verkehren, aber den Abstand zu wahren, schweiften Henriettes Gedanken zu Tamatoa und seinen Begleiterinnen.

Sie nahm sich noch einen Pfannkuchen, schnitt ihn in Stücke und genoss ihn mit großem Appetit und fragte sich, was die drei Samoaner wohl zum Frühstück aßen. Die Kannibalen fielen ihr wieder ein und entlockten ihr ein Lächeln, was sie zu spät unterdrückte und ihren Vater dazu brachte, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen.

»Das Fräulein Tochter amüsiert sich? Ist es der Gedanke, dass wir hier Kaiser Wilhelms Bastion am Ende der Welt sind und wir hier eine Mission zu erfüllen haben? Ich rede davon, dass wir Pflanzer auf Samoa den denkbar schlechtesten Stand überhaupt haben, und meine Tochter findet das zum Lachen!«

»Es tut mir wirklich leid, Papa, ich war in Gedanken. Kann ich noch einen Pfannkuchen haben?«, fragte Henriette und zeigte auf die leere Platte.

Ihre Mutter schüttelte sofort den Kopf. »Meine Tochter, du solltest dich nach dieser schändlichen Eskapade heute Morgen mit Wünschen etwas zurückhalten.« Sie zog eine Augenbraue hoch und fügte in ihrem allerstrengsten Ton hinzu: »Früchte stünden dir deutlich besser an, deine Taille ist in einem beklagenswerten Zustand. Wir wollen doch deinen zukünftigen Ehemann nicht abschrecken.«

Henriette untersagte sich jeglichen Kommentar darüber, welche Taille an diesem Tisch wirklich beklagenswert war. Und sie verkniff sich eine spitze Anmerkung zu Ella, die mit demonstrativ angewidertem Gesichtsausdruck den nur zu einem Viertel angeknabberten Pfannkuchen auf ihrem Teller hin und her schob, als wäre er ein unüberwindliches Ansinnen an ihren damenhaften Appetit.

Ausnahmsweise fiel es ihr leicht, sich zu beherrschen, denn sie war so schockiert darüber, dass das Wort Ehemann im Zusammenhang mit ihr gefallen war. Wo sie doch gerade dabei war, erste Schritte als Schriftstellerin zu machen. Also fast jedenfalls!

»Ein Ehemann?«, wiederholte sie, und dabei wurde ihr klar, dass sie nach den Maßstäben ihrer Mutter schon ein altes Mädchen war.

Ihre Eltern nickten sich in völliger Übereinstimmung zu. Das kam nur selten vor.

»Deshalb ist es auch von großer Wichtigkeit, dass dein Ruf untadelig ist und bleibt.« Ihr Vater musterte sie, als würde er sie jetzt erst richtig wahrnehmen. »Deine Frisur ist etwas ungewöhnlich, doch mir scheint, sie bringt deine Vorzüge aufs Beste zur Geltung.«

Henriette hatte es nun endgültig die Sprache verschlagen, was nicht allzu oft vorkam. Man hatte sie doch wohl nicht ans andere Ende der Welt verfrachtet, um sie hier zu verheiraten? Und mit wem denn um Gottes willen? Und was war mit Sophie? Nie hatten sie an eine Hochzeit gedacht, sie hatten sich immer nur vorgestellt, was sie alles tun würden, wenn sie alt genug dazu waren. Sophie wollte Schauspielerin werden, Eleonora Duse, Sarah Bernhardt, Tilla Durieux, das war ein Schicksal, von dem sie träumte.

Henriette hingegen wünschte sich ein Leben wie das von Ida Pfeiffer, Lady Mary Montagu oder Elizabeth Main, die die Engadiner Alpen mit ihrer Kamera erforscht hatte. Und schuld daran war allein ihre Patentante Berta, die Schwester ihres Vaters. Sie hatte Henriette zu ihrem neunten Geburtstag die Geschichten aus 1001 Nacht geschenkt. Danach hatte sie sich zum ersten Mal eine Weltkarte angesehen und war hingerissen von all den seltsam klingenden Orten wie Kisch, Dschalalabat, Macao, Montevideo, Guadalajara, Valparaiso, Timbuktu oder Barbados.

Ein Ehemann war weder bei der Bühnenkarriere ihrer Schwester noch bei all den Reisen, die Henriette im Kopf unternommen hatte, dabei gewesen. Und da ihr Vater sich wegen seiner Goldsuche am Klondike in Kanada vor allem durch jahrelange Abwesenheit empfohlen hatte, war ihnen beiden dieser Gesichtspunkt im Leben einer Frau als vernachlässigbar erschienen. Einen romantischen Verehrer ja, aber einen Gatten?

»Henriette wird heiraten?«, fragte Ella, und sie klang noch unglücklicher als sonst, was Henriette überraschte. So viel Anteilnahme hätte sie Ella gar nicht zugetraut.

»Warum Henriette, sie ist so mopsig und kann sich nicht benehmen. Wer würde denn die schon wollen? Ich hingegen möchte sehr gern heiraten und einen Mann glücklich machen.« Ella war ganz rot geworden bei ihren Ausführungen, die die anderen mit großem Staunen verfolgt hatten.

»Mein kleiner Liebling, du musst leider noch warten, bis du sechzehn bist«, erklärte ihr Vater mit einem beifälligen Nicken. »Und ich bin sicher, dass du eines Tages eine gute Partie machen wirst. Doch zunächst wird Henriette heiraten.«

Ihr Vater sah über sie hinweg und mied auch den Blick seiner Frau.

Henriette räusperte sich. »Aber es ist nicht so, dass ihr mich schon an jemanden versprochen habt?«

»Nun, wir leben nicht mehr im Mittelalter.« Ihr Vater nahm langsam einen Schluck Kaffee und erzwang so ihrer aller Aufmerksamkeit, weil jeder wissen wollte, wie der Satz weitergehen würde. »Doch ich würde meinen, eine junge Dame ohne Kenntnis der Welt und ihren Gepflogenheiten wird sich dem Rat ihrer Eltern unterordnen.«

Es gab also doch jemanden! Langsam fragte sich Henriette, ob ihren Eltern Sophies Krankheit nicht sehr zupassgekommen war. Nur allzu bereitwillig hatte sich ihre Mutter den Anordnungen des Schiffsarztes gebeugt. Eigentlich mussten sich nur die Auswanderer auf den Zwischendecks ärztlichen Untersuchungen unterziehen. Aber Sophie hatte so viel und stark gehustet, dass es dem Schiffspersonal aufgefallen war, und die hatten eiligst den Arzt gerufen, der dann Fieber und Tuberkulose diagnostiziert hatte.

Sophie war zwar sieben Minuten nach Henriette geboren worden, und also offiziell die Jüngere und etwas Schwächere, aber ihr Charakter war viel ungestümer, heftiger, und sie war mutiger als Henriette. Weshalb sie sich über Henriettes Visionen von einer Wüstendurchquerung auf dem Kamel oder der Besteigung eines Vulkans immer lustig gemacht hatte. Und jetzt war Henriette nach dieser langen und unbequemen Reise wirklich am anderen Ende der Welt, während Sophie immer noch in Deutschland ausharren musste. Hatten sie vielleicht auch geplant, Sophie zu verheiraten? Oder entsprangen ihre Verdächtigungen nur der Hitze und ihrem knurrenden Magen?

»Ich denke außerdem«, fügte ihr Vater hinzu, »dass eine liebende Tochter sich nicht den Anweisungen ihres fürsorglichen Vaters widersetzen wird, vor allem, wenn es zum Wohle aller ist.«

Henriettes Herz begann zu flattern. Wer auch immer es war, sie beschloss, es diesem Mann so schwer wie nur möglich zu machen.

»Apollonia, ich muss zur Plantage, aber vorher möchte ich noch allein mit meiner Tochter sprechen. Kommst du bitte mit in mein Arbeitszimmer, Henriette?«

Er stand auf. Henriette sah Hilfe suchend zu ihrer Mutter, doch die wirkte genauso überrascht, wie sie sich fühlte.

Beklommen folgte Henriette ihrem Vater ins Arbeitszimmer, wo er schon hinter seinem mächtigen Mahagonischreibtisch in seinem Ledersessel saß und sie bat, Platz zu nehmen. Ob es etwas mit Sophie zu tun hatte? Nein, beruhigte sie sich selbst, das würde ich spüren, ganz sicher. Aber was war es dann?

»Du bist nun neunzehn Jahre alt und möchtest doch sicher nicht länger wie ein Kind behandelt werden, oder?«

Sie nickte erstaunt.

»Nun, dann werde ich dir etwas anvertrauen, was nur für deine Ohren bestimmt ist und niemals die deiner Mutter oder Schwestern, auch nicht die von Sophie, erreichen darf. Je weniger sie alle davon wissen, desto besser.«

Henriettes Magen verkrampfte sich. Ein Geheimnis zu haben war aufregend, aber eines, das sie nicht einmal Sophie erzählen durfte, war eine Last.

Ihr Vater sah sie so durchdringend und missbilligend an, als ob er ihre Gedanken lesen könnte.

»Es geht nicht darum, einen Mann für dich zu finden. Denn ich habe bereits einen Gatten für dich ausgewählt.«

Henriette war nicht sicher, ob sie das richtig verstanden hatte. Gestern erst war sie auf Samoa, ihrem neuen Zuhause, angekommen, und heute sollte sie schon in das nächste hinein verheiratet werden? Sie nahm allen Mut zusammen. »Und wenn er mir nicht angenehm ist? Und wenn ich ihm nicht gefalle?«

»Angenehm, meine liebe Tochter, ist im Leben nicht allzu viel, wenn man der Kindheit erst einmal entwachsen ist, und du bist doch kein Kind mehr, oder?« Streng fixierte er ihren Blick, aber sie fasste sich ein Herz und wagte es, ihm zu widersprechen.

»Aber sollte ich ihn nicht erst einmal kennenlernen?«

»Freilich, dem soll nichts im Wege stehen.« Es hatte gönnerhaft geklungen.

»Und wenn es uns unmöglich ist, zu heiraten?«

Ihr Vater hob den Arm und sah aus, als würde er am liebsten mit der Faust auf den Tisch hauen, doch dann faltete er nur seine Hände und rang sie wie ein verzweifelter Pfarrer.

»Und um es kurz zu machen, wenn du dich weigern solltest, ihn zu heiraten, wird das diese Familie in den Ruin treiben.«

In Henriettes Kopf begann alles durcheinanderzuwirbeln, aber sie versuchte klar zu denken. »Soll das heißen, dass du Schulden bei diesem Mann hast und der Mann sehr reich ist?«

Ihr Vater löste seine Hände und zwirbelte seinen Bart, während er sich gleichzeitig auf die Lippen biss.

»Darüber«, sagte er nach einer geradezu endlos scheinenden Pause, »solltest du dir nicht dein hübsches Köpfchen zerbrechen.«

»Du erwartest, dass ich einen Mann heirate, weil du ihm etwas schuldig bist, aber ich darf nicht erfahren, warum.«

»Korrekt. Denn das alles übersteigt dein Vorstellungsvermögen, Nur so viel: Wenn du ihn nicht heiratest, verlieren wir alles, was ich hier für euch aufgebaut habe.«

Gut, dachte Henriette als Erstes, das wäre doch ausgezeichnet, dann fahren wir zurück nach Deutschland zu Sophie! Im nächsten Augenblick wurde ihr bewusst, wie selbstsüchtig das war. Der gesamte Besitz ihrer Familie bestand aus dem Haus hier und den Plantagen. Ihre Mutter und ihre Schwestern stünden vor dem Ruin.

»Warum ich?«

»Weil du hier bist.«

»Aber der Mann hat mich doch noch nie gesehen.«

»Deine Mutter hatte mir Lichtbilder von dir und deiner Schwester geschickt, und er war außerordentlich beeindruckt, was für uns alle ein Segen ist. Verstehst du nun, wie wichtig es ist, dass dein Ruf und dein Äußeres tadellos sind?«

Henriette fand diesen Mann bereits jetzt verabscheuungswürdig. Wie sollte man so jemanden lieben?

»Du opferst also deine Tochter für die Familie.«

Ihr Vater wurde plötzlich bleich. »Um Gottes willen, bitte rede nicht so, das hast du falsch verstanden. Dieser Mann ist ein guter Mann, er hat mir am Klondike das Leben gerettet. Ich schulde ihm in jeder Hinsicht etwas, und er wünscht sich eine Gattin und wäre entzückt, wenn sich unsere Familien so für immer miteinander verbänden. Ich werde dir die Hälfte der Plantage als Mitgift geben, denn auch er möchte in das Pflanzgeschäft einsteigen. Nach unseren Erlebnissen im eisigen Kanada wollen wir den Rest unseres Lebens nur noch im Warmen verbringen.« Er schüttelte sich so, als ob ihn ein kalter Schauer überlaufen hätte.

»Ist der Mann also ein Farmer?«

»Das nun nicht gerade, aber er wird einer werden. Außerdem ist er in jeder Hinsicht ein – Gentleman.«

Henriette hatte ihren Vater nicht mehr gesehen, seit sie ein Kind im Alter von Ella gewesen war, aber er war ihr stets wie ein übermächtiger Koloss erschienen. Jetzt saß er blass und sichtlich erregt vor ihr, und beinahe kam es ihr so vor, als wäre er vor ihren Augen geschrumpft. Was auch immer es war, was er vor ihr verbarg, es hatte eine große Macht über ihn, und das machte ihr Angst.

Aber was erwartete er von ihr? Dass sie niederkniete und seine Hand küsste und »Ja, Vater, so sei es« murmelte? Das konnte sie nicht. Schließlich stand ihr Leben auf dem Spiel. Sie räusperte sich, um ihm eine deutlich abschlägige Antwort zu geben, aber ein Blick auf sein Gesicht ließ sie alles herunterschlucken. Ganz offensichtlich stand nicht nur ihr Leben auf dem Spiel, sondern auch seines.

Kapitel 3

 

Julius von Sommerfeld

 

München, Mai 1905

Mein Vater hatte zu allen Aspekten des menschlichen Daseins stets unabänderlich feste Überzeugungen, und eine gern zitierte war die, dass ein Mann in seinem Leben alles ausprobieren sollte. Doch ich bin sicher, dass er mich heute Abend unter keinen Umständen begleitet hätte.

Nicht, weil er Angst gehabt hätte, seinen Ruf als tapferer Abenteurer zu gefährden, immerhin hatte er es bis zum Oberst in der kaiserlichen Armee gebracht.

Sondern vielmehr deshalb, weil er stets stolz darauf gewesen war, mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen. Eine Redewendung, die mich schon von frühester Kindheit dazu gereizt hatte, nachzufragen, wie man denn sonst dastehen sollte, außer natürlich, man war bedauerlicherweise nur im Besitz von einem Bein.

Ich bin jedoch sicher, so ein Abend wie heute hätte ihm genau diesen Boden unter den Füßen weggerissen, denn ich, sein einziger Sohn, war auf dem Weg zu einer spiritistischen Sitzung.

Merkwürdig war es schon, dass ich mich so plötzlich an ihn erinnerte, wo er doch nun schon seit sieben Jahren tot war. Und ich musste mich fragen, ob meine Gedanken ihm nur deshalb galten, weil ich heute Abend einer Séance beiwohnen sollte, oder suchte mich womöglich gerade schon sein Geist heim?

Ich war an meinem Ziel angekommen und setzte das schwere Stativ ab, während ich die Klingelschilder der Ainmillerstraße 20 studierte. Ich hatte eine Villa erwartet und war erstaunt, mich vor einem hochherrschaftlichen Mietshaus mit Erkern, Balkonen und einer reich mit weißem Stuck verzierten Fassade zu finden, die man sogar in der Dunkelheit gut erkennen konnte. Ich war noch nicht mit den Stadtvierteln in München vertraut, weil ich gerade erst aus Hessen kommend bei dem königlich-bayerischen Hofphotograph Hochstätter und Söhne unter Vertrag genommen worden war. Hochstätter selbst saß sicher gerade beim Abendessen mit seiner lüsternen Gattin Alfreda und rieb sich die Hände, weil es ihm gelungen war, diesen lästigen und höchst unseriösen Auftrag an seinen neuen Mitarbeiter abzuwälzen.

Zunächst hatte niemand auch nur angedeutet, was ich im Salon von Madame Blanche de la Beaufort denn eigentlich genau porträtieren sollte. Deshalb war ich von einer amourösen Aktstudie für den Liebhaber der Dame ausgegangen. Ein Auftrag, den der Chef wegen seiner reichlich eifersüchtigen Frau nicht übernehmen wollte. Schließlich war mein Ruf als Aktphotograph legendär, und nur deshalb hatte er mich, den, wie er mich gern gegenüber den Lehrlingen nannte, »etwas unterbelichteten Photographenneuling aus der Provinz«, in seinem Studio eingestellt.

Und wie ich erkennen musste, hatte er mit dem »unterbelichtet sein« so unrecht nicht, denn bevor ich nach München gekommen war, hatte ich noch nie von dergleichen Experimenten gehört. Ich musste meinen Freund Max, mit dem ich mir die Wohnung teilte, danach fragen. Und seine Reaktion auf meine Frage hatte meine Neugier erst so richtig angefacht.

Ich vergewisserte mich, dass ich wirklich an der richtigen Adresse war, und stellte mein Gepäck ab. Das massige Stativ, die alte Reisekamera von Ernemann aus Görlitz, die noch mit beschichteten Glasplatten einzeln beladen werden musste, meine Blitzlampe und der Beutel mit dem hochexplosiven Magnesiumpulver. Mein Chef hatte zwar neben den schweren Studiogeräten noch einige kleinere Detektivkameras, doch es wurde für unmöglich gehalten, mit diesen vergleichsweise winzigen Kameras Ektoplasma auf eine Platte zu bannen. Schließlich wusste niemand zu sagen, welche Form diese Substanz annehmen würde.

Bis vorgestern hatte ich noch nie von eben diesem Ektoplasma gehört, und da auch der Chef nicht recht sagen konnte, was es damit auf sich hatte, musste ich Max anzapfen, der ein Hansdampf in allen Gassen war. Er sah sich selbst als Maler, doch bis vor einiger Zeit hatte er auf Befehl seiner Familie eine Karriere beim Militär absolviert, und erst nachdem seine Gesundheit fast ganz ruiniert war, hatte er um seine Entlassung gebeten. Kennengelernt hatten wir uns auf einer meiner zahlreichen Reisen.

Wann immer es mir möglich war, schnürte ich meinen Ranzen und machte mich auf, die Welt mit meiner Kamera zu erobern. Um mir das nötige Geld zu verschaffen, hätte ich alles photographiert.

Wir beide trafen in Venedig aufeinander, wo er höchst pittoresk mit einem großen Strohhut inmitten einer Schar von Tauben an seiner Staffelei saß und so tat, als würde er den Canal Grande malen. In Wahrheit galt seine Aufmerksamkeit den vorbeiflanierenden Damen, die ihm verdeutlichten, warum hier in der Serenissima jeder Mann geradezu zum Casanova werden musste.

Ich wollte ihn unbedingt photographieren, und so ergab ein Wort das andere, und ehe ich michs versah, landeten wir im Café Florian. Von da an nahm er mich unter seine Fittiche, erhöhte mein Bildungsniveau, indem er mir Neues und ungemein Interessantes aus dem Kulturgut Italiens nahebrachte. Ich lernte Bellini kennen und Caffè corretto, Tizian und zweiunddreißig Sorten Grappa.