Fräulein Kiss träumt von der Freiheit - Beatrix Mannel - E-Book
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Fräulein Kiss träumt von der Freiheit E-Book

Beatrix Mannel

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Beschreibung

Kalter Krieg, Spionage – und eine Frau, die ihren Mann steht: Als Spionin wider Willen bei "Radio Free Europe" kämpft die junge Elizabeth Kiss um den Mut, das Richtige zu tun – und um den Mann, den sie liebt. Ein fesselnder Roman, inspiriert von einer wahren Geschichte! München Mitte der 50er Jahre: Beunruhigt beobachtet die junge Elizabeth Kiss, was sich hinter dem Eisernen Vorhang zusammenbraut. Ihre Halbschwester Zsuzsa lebt noch in Budapest, wo sie immer stärkeren Repressalien ausgesetzt ist. Für Zsuzsa geht Liz einen gefährlichen Deal mit der CIA ein: Sie soll den Spion finden, der in München bei dem Sender "Radio Free Europe" geheime Informationen an den Ostblock verrät – nur dann kommt ihre Schwester frei. Wider Erwarten verliebt Liz sich nicht nur in die Welt des Radios, sondern auch in ihren Chef Béla. Als Liz entdeckt, dass er nicht der ist, für den alle ihn halten, muss sie eine schwere Entscheidung treffen ... Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges erzählt Beatrix Mannel vom Leben und Lieben in den 50er Jahren - so spannend wie Brigitte Glaser und so bewegend wie Carmen Korn. Auf die Idee zu diesem Roman kam sie durch die wahre Geschichte ihrer Schwiegereltern, die sich bei "Radio Free Europe" kennen und lieben gelernt haben.

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Seitenzahl: 564

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Beatrix Mannel

Fräulein Kiss träumt von der Freiheit

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

München 1956: Voller Sorge beobachtet die junge Elizabeth Kiss, was sich hinter dem Eisernen Vorhang zusammenbraut. Ihre Schwester Zsuzsa lebt noch in Budapest, wo sie immer stärkeren Repressalien ausgesetzt ist. Für Zsuzsa geht Liz einen gefährlichen Deal mit der CIA ein: Sie soll den Spion finden, der bei dem anti-kommunistischen Sender Radio Free Europe geheime Informationen an den Ostblock verrät – nur dann kommt ihre Schwester frei.

Wider Erwarten verliebt Liz sich nicht nur in die Welt des Radios, sondern auch in ihren charismatischen Chef Béla. Doch wer ist dieser Mann wirklich?

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. KapitelZur Frage von Dichtung und Wahrheit
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Für Lily und Armand

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1

Liz versuchte so viel wie möglich von all den Satzfetzen aufzuschnappen, die durch den Raum schwirrten. Amerikanische, deutsche und ungarische Worte verstand sie sofort, nach und nach erkannte sie auch rumänische, bayerische und polnische Bruchstücke.

»Das hier ist dann also unsere Kantine, wir nennen sie aber nur Cafeteria. Manche sagen auch, sie wäre das eigentliche Herz von Radio Free Europe.« Ron Summers, Liz’ neuer Chef, legte ihr die Hand in den unteren Rücken und schob sie sanft weiter in den etwas dämmrigen Raum hinein, in dem gerade auch noch Pat Boone anfing, mit schmalzig-warmer Stimme »I Almost Lost My Mind« zu singen.

Fasziniert betrachtete Liz die leidenschaftlich gestikulierenden Menschen, die an den Tischen der Cafeteria saßen oder standen und von dichten grau und weiß oszillierenden Rauchschleiern wie von geheimnisvollem Nebel umwabert wurden.

Das also waren von nun an ihre Kollegen! Redakteure, Sprecher, Techniker, Rechercheure und Stenotypisten, alle aus unterschiedlichen Ländern und doch vereint in ihrem mondänen Auftreten und sichtlich durchdrungen von ihrer Mission und dem Bewusstsein, das Richtige zu tun.

So ähnlich wie ich jetzt müssen sich die Menschen damals beim Turmbau zu Babel gefühlt haben, dachte Liz. Ein bisschen verloren angesichts des großen Ganzen. Natürlich war niemand bei Radio Freies Europa so überheblich, gleich Gott herauszufordern. Das Ziel des Senders, seine Mission, die crusade for freedom, bestand viel mehr darin, Informationen hinter den Eisernen Vorhang zu senden, die Kommunisten zu provozieren und in der dortigen Bevölkerung das Verlangen nach Freiheit und Wohlstand anzuheizen.

Liz folgte Summers, der nun voranging und sich nach einem freien Platz umsah. Es roch nicht nur nach dem Qualm der vielen Zigaretten, sondern auch nach Pommes frites, schalem Kaffee und Schweiß. Und über all dem schwebte ein Hauch von Rasierwasser. Was sicher daran lag, dass sich überwiegend Männer in der Cafeteria aufhielten. Die wenigen Frauen, die Kleider in duftigen Farben trugen, wirkten inmitten der vielen schwarzen Anzüge wie elegante Ausrufezeichen. Balenciaga, vermutete Liz, oder Chanel.

Unwillkürlich strich sie über die Wolle ihres engen wadenlangen Rocks und zog ihn an den Seiten glatt, doch es half nicht viel. Obwohl der Rock neu war, kam es ihr plötzlich so vor, als wäre er nicht besser als schäbige Nachkriegsware. Sie fühlte sich zurückkatapultiert in ihre Grundschule in Nordschwabing, wo sie vier Jahre lang immer nur eine Außenseiterin, »die Andere« gewesen war. Das war nun schon lange her, sie war sechsundzwanzig und kein kleines Mädchen mehr. Und sie hatte im Sender eine wirklich wichtige Mission zu erfüllen. Doch genau diese Aufgabe würde dafür sorgen, dass sie letztlich auch hier wieder »die Andere« bleiben musste. Liz seufzte. Jählings brandete eine schmerzhafte Sehnsucht in ihr auf, ein echter Teil von diesem Kosmos sein zu können, ein einziges Mal irgendwo wirklich dazuzugehören. Kitartás, kislánykám, Haltung, Kindchen, hörte sie ihre ungarische Großmutter sagen: Haltung!

Der Rauch, der den ganzen Raum durchzog, reizte ihre Kehle und ließ sie husten.

»Alles in Ordnung?«, fragte Summers, sah sie dabei aber nicht an, sondern suchte weiter nach einem freien Platz.

Sie folgte seinem Blick und entdeckte auf der anderen Seite in der rechten Ecke des Raumes eine rot glänzende Musikbox, die neben der meterlangen Theke aus Glas stand. Von dort steuerte eine junge Frau in einem maigrünen Dirndl und einer weißen Trachtenbluse zielstrebig auf sie zu.

Ganz eindeutig weder Chanel noch Balenciaga. Liz entspannte sich etwas. Und das änderte sich auch nicht, als die Frau näher herankam und ihr klar wurde, dass dieses weibliche Wesen gar keine Haute Couture brauchte, um sich in Szene zu setzen. Sie erschien Liz wie die perfekte Verkörperung der wehrhaften bayerischen Göttin, eine echte Bavaria. Aber kein bisschen kalt und starr wie die Bronzestatue auf der Theresienhöhe, sondern warm und weich wie frische Dampfnudeln. »Hello, Herr Geheimrat«, begrüßte die Bavaria den Sicherheitschef mit einem Nicken und lächelte offen, als sie Liz dann die Hand hinstreckte. »Hi, Miss, I am Rosi.«

Etwas überrumpelt ergriff Liz ihre Hand und schüttelte sie. Warm, zupackend, ein wenig feucht.

»Fräulein Huber, Sie können ruhig Deutsch mit uns sprechen.« Summers schenkte Rosi das Lächeln, das sich Liz während ihres stundenlangen Rundgangs durch den Sender wenigstens ein einziges Mal gewünscht hätte. Ein Lächeln, das diesen etwas bulligen Mann plötzlich geradezu attraktiv wirken ließ. Bisher war Liz gar nicht aufgefallen, wie perfekt der dunkelgraue Anzug an ihrem neuen Chef saß und wie gut seine bordeauxfarbene Seidenkrawatte dazupasste.

Anders als Summers schien sich die Milch-und-Honig-Bavaria über Liz’ Anwesenheit zu freuen. Ganz sicher war Liz aber noch nicht, denn es fiel ihr sehr viel schwerer, die Gefühle anderer Menschen korrekt einzuschätzen, als sich mit verlässlichen Fakten zu befassen. So hätte sie zwar genau sagen können, wer die 18,52 Meter hohe Bavaria auf der Theresienwiese gebaut hatte und wann. Aber nicht, ob Rosi sie nur deshalb anlächelte, weil Liz mit einer wichtigen Persönlichkeit wie Summers hier war oder weil sie Liz spontan sympathisch fand. Oder ob sie vielleicht nur froh war, dass die zierliche Liz keine ernsthafte Konkurrenz für so ein Vollblutweib wie sie darstellte.

»Fräulein Rosi ist hier die Chefin, die gute und unersetzliche Seele unserer Cafeteria«, erklärte Summers, wendete sich dann zu Rosi und stellte die beiden einander vor. »Das ist Fräulein Elizabeth Kiss! Jeff Daniels persönlich«, er zerdehnte das Wort, sodass es wie persööööönlich klang, »hat sie eingestellt, als Verstärkung für die ungarische Abteilung.«

Und genau das nahm Summers ihr offensichtlich übel. Nachdem er an diesem Morgen von Daniels mit ihrer Einstellung überrumpelt worden war, hatte er Liz reichlich unterkühlt und in einem dermaßen zackigen Tempo von Abteilung zu Abteilung geführt, dass sie in ihrem Bleistiftrock zu einem Dauerlauf in Trippelschritten gezwungen gewesen war. Von all den Tonstudios, Archiven und Newsräumen war in ihrem Kopf nur ein verwirrendes Labyrinth von Gängen zurückgeblieben. Sie würde sich das alles noch einmal in Ruhe anschauen müssen, ganz besonders den hektischen Newsroom mit den laut hämmernden Fernschreibern.

»Jeff Daniels?« Rosi wiederholte den Namen des obersten Chefs nachdenklich und zog eine Augenbraue hoch. Die schienen genauso blond zu sein wie ihre üppige Flechtfrisur, waren jedoch mit einem schwarzen Stift zu dicken, schwungvollen Balken übermalt worden und lenkten den Blick so auf ihre Augen. Blau wie ein schöner bayerischer Sommerhimmel, fand Liz, Biergartenwetteraugen.

»Oha! Der Daniels! Ja, dann von mir auch ein ganz herzliches Servus!«, sagte Rosi. »Zu den Ungarischen …«, wiederholte sie dann nachdenklich. »Ungarisch …« Plötzlich blitzten ihre Augen auf. »Ja, da hätt i zum Einstand was ganz was Guats!«

Sie nickte Liz zu, dann auch Summers. »Herr Geheimrat, Elizabeth, kommt’s mit, alle zwei beide!«

Rosi schob Summers und Liz durch die Menge zu einem kleinen Tisch, der näher an der langen Theke stand. Sie wischte kurzerhand mit der Schürze über die helle Kunststoffplatte des ohnehin schon sauberen Tisches und bedeutete ihnen Platz zu nehmen.

»Kaffee, wie immer?«, fragte sie Summers, nachdem sie sich hingesetzt hatten. Als er nickte, wandte sie sich Liz zu. »Und was magst du?«

»Auch Kaffee, bitte.«

»Ich versteh di net!« Rosi beugte sich so tief zu Liz, dass aus ihrem Dekolleté ein überraschend schwerer orientalischer Duft in Liz’ Nase stieg. Was so wenig zu dieser Bavaria passte wie Knoblauch zu einer Schwarzwälder Kirschtorte. Rosi schien überhaupt recht kurios zu sein. Zum einen war Summers so sehr Geheimrat wie Liz die Kaiserin Sissi. Zum anderen duzte Rosi Liz, ohne auch nur zu fragen, ob ihr das überhaupt recht war.

»I versteh di net!«, sagte Rosi noch einmal lauter und deutete zu der Musicbox, aus der gerade Elvis Presleys Stimme erschallte. »Don’t Be Cruel«, sang er, und die Hälfte der Cafeteriabesucher fing an, mit dem Fuß zu wippen oder mit den Fingern den Takt auf den Tisch zu trommeln.

»Also, was magst jetzt du trinken?«

»Kaffee bitte«, wiederholte Liz lauter, woraufhin Rosi hinter dem Tresen in der Küche verschwand und sie mit Summers allein ließ. Eigentlich passt Geheimrat doch gut zu ihm, dachte Liz, ein Sicherheitschef hatte ja durchaus mit Geheimnissen zu tun. Sie musste ihn unbedingt dazu bringen, Frieden mit ihr zu schließen, denn immerhin würde sie ihm direkt Bericht erstatten und nicht Jeff Daniels. Vielleicht würde ihr das besser gelingen, wenn sie mit ihm über sein Hobby redete. Der bullige Summers war sehr wahrscheinlich ein leidenschaftlicher Boxer. Während ihres Rundgangs hatte sie bemerkt, wie leichtfüßig er neben ihr hergelaufen war.

Seit sie im Boxklub der Army fotografiert hatte, erkannte sie Boxer nicht nur an ihrem Gang, sondern auch an den muskulösen Oberarmen und an ihrem stark ausgeprägten, leicht verkürzten Nacken. Und den hatte Summers ihr ständig zugewandt, weil er ihrem Blick ausgewichen war.

Die meisten Boxer liebten es, mit einer Frau über ihren leicht verruchten Sport zu reden. Sie würde Rocky Marciano ins Spiel bringen, den Rücktritt des ungeschlagenen Boxstars vor fünf Monaten, am 27. April nach 49 Siegen. Sicher konnte sie Summers mit all dem verblüffen, was sie über das Boxen wusste. Ihr Gedächtnis speicherte nämlich genau solche, eher unwichtige Details nur allzu bereitwillig ab, und womöglich würde der Sicherheitschef dann verstehen, warum Jeff Daniels sie eingestellt hatte.

Gerade als sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollte, war Rosi schon wieder mit einem Tablett zurück und stellte Kaffee und Kuchen auf ihren Tisch. Schwungvoll goss sie den leicht nach Karamell duftenden Kaffee aus den Porzellankännchen in die Tassen, zuerst in die von Summers, dann in die von Liz. Cremefarbenes Porzellan mit Streublümchen. In der Army war es nicht mal in der Offizierskantine so feudal zugegangen.

»Speziell für di – an Strudel!«, sagte Rosi triumphierend zu Liz. »An Guadn!«

Sie rückte das silberne Sahnekännchen und den Zuckerstreuer zurecht. Dann zupfte sie an der Schürze ihres grünen Dirndls, um sie zu richten, und zwinkerte Summers kokett zu, bevor sie mit wiegenden Hüften zurück hinter den Tresen lief.

»Als Ungarin sind Sie bestimmt verrückt nach Strudel!« Summers deutete auf ihren Kuchenteller.

Liz gab sich begeistert und wendete sich dem Gebilde auf ihrem Teller zu.

Kein Mensch mit auch nur einem einzigen Tropfen ungarischen Bluts in den Adern hätte diesen matschigen Blätterteig jemals als Strudel bezeichnet. Ein durchdringender Geruch nach Vanille stieg von ihrem Teller auf, obwohl die Soße schon zu einer dicken gelben Paste erstarrt war. Sie aß trotzdem davon, denn immerhin schmeckte es süß, und man hatte sie eingeladen.

»Wenn alles anders wäre, würden Sie dann nicht gern in Ungarn leben?«, fragte Summers nun etwas entgegenkommender. »Das ist doch Ihre Heimat, oder?«

Ihre Heimat? Auch wenn Liz die Sprache fließend beherrschte und selbst wenn Ungarn frei und demokratisch wäre, sie hätte ihm nicht aus vollem Herzen zustimmen können. Ja, ihre Mutter war Ungarin, aber ihr Vater war Deutscher, und Liz war in München geboren. Ungarn kannte sie nur aus den Sommern ihrer Kindheit. Reichte das für so ein großes Wort wie Heimat?

»Ich …«, fing sie an.

Aber Summers wartete ihre Antwort gar nicht ab, sondern redete schon weiter, als hätte ihn die Atmosphäre der Cafeteria nun ganz aufgetaut.

»So … this is it!«, begann er voller Inbrunst, breitete wie ein Priester am Abschluss seiner Predigt die Arme weit aus, die Kuchengabel hielt er dabei immer noch in seiner linken Hand. Seine launige Geste zur amerikanischen Flagge neben der Uhr schien nicht nur die Kantine und Amerika, sondern auch gleich das ganze Universum mit einzuschließen. »Ist das alles nicht großartig? Wir werden diese Welt besser machen, und Sie sind dabei!«

»Wonderful«, stimmte Liz zu, obwohl ihr Ziel keineswegs so altruistisch war, denn sie wollte nur ihre eigene Welt besser machen. Und sie bezweifelte auch, dass die anderen Angestellten in der Kantine allein wegen der Weltverbesserung im Sender arbeiteten. Trotzdem unterstrich sie ihre Antwort mit einem energischen Kopfnicken und nahm eine weitere Gabel von dem im Vanillesee ertränkten Apfelpamps.

»Wirklich köstlich«, sagte sie. Es war schließlich ihr erster gemeinsamer Tag, und sie hatte viel länger Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten, als er. Sie fragte sich, warum Jeff Daniels seinen Sicherheitschef nicht früher über ihre Einstellung informiert hatte. Noch dazu hatte Daniels ihm auch einige Details über Liz’ wahre Aufgaben verschwiegen. Warum? Welche Hintergedanken hatten ihn dazu bewogen? Verdächtigte er womöglich auch Summers?

Der legte seine Gabel mit einem leisen Klirren auf den noch halb vollen Teller. Als sie ihn erstaunt ansah, stöhnte er ein bisschen überzogen und klopfte mit einem etwas eitlen Grinsen auf seinen flachen, offensichtlich harten Bauch. »Das reicht mir.«

Niemand, den Liz sonst kannte, würde einen Teller mit Kuchen nicht aufessen. Ganz egal, wie er schmeckte und ob man schon satt war. Aber Summers war Amerikaner, und die wussten nicht nur immer genau, was zu tun war, sondern fühlten sich auch so frei, ihren Teller nicht leer essen zu müssen. So, als würde es auch morgen wieder genug geben. Immer und für jeden. Vielleicht würde es sich lohnen, das im Bild festzuhalten, überlegte Liz. Das könnte die sehr ungewöhnliche Grundidee für eine ihrer Fotoserien werden: Happen, die Amerikaner übrig lassen. Aber ich bin nicht zum Fotografieren hier, mahnte sie sich, und deshalb sollte sie sich lieber darauf konzentrieren, eine gute Basis für ihre Zusammenarbeit zu schaffen.

»In welchem Klub boxen Sie denn?«, fragte Liz.

»Woher wissen Sie das?« Summers wirkte verblüfft, genau, wie sie gehofft hatte.

»Ich habe …«, begann Liz zu erklären.

Doch in diesem Moment wurde er schon wieder abgelenkt. Ein Mann und eine etwas größere schlaksige Frau, die einen dunkelgrauen Marlene-Dietrich-Hosenanzug mit feinen Streifen trug, näherten sich ihrem Tisch und schienen seine Aufmerksamkeit förmlich anzusaugen.

Summers erhob sich, kurz bevor die beiden am Tisch angekommen waren. »Fräulein Kiss, es ist mir eine Ehre, Ihnen Fräulein Mira Prohaska vorstellen zu dürfen. Sie hat bei uns als Tontechnikerin angefangen, und jetzt ist sie der beste Desk Chief, den Radio Free Czechoslovakia jemals gehabt hat.« Er deutete einen Handkuss an, der ein wenig ungelenk ausfiel und komisch wirkte, weil Fräulein Prohaska größer war als er.

Mira entzog ihm ihre Hand schnell, fast schon unhöflich, und ergriff die von Liz mit unerwartet festem Druck. Dabei starrte sie Liz so durchdringend an, dass diese sich wie durchbohrt fühlte. Allerdings konnte das auch an Miras Augen liegen, die etwas vorstanden und dunkel untermalt waren, wie die von Bette Davis in einer ihrer ganz düsteren Rollen.

»Jsem ráda, že vás poznávám«, sagte Liz. »Es freut mich Sie kennenzulernen!«

Mit einem überraschten Lächeln gab Mira ihre Hand wieder frei. Liz fand, dass ihr Mund ein bisschen zu breit wirkte. Alles, dachte Liz, alles an dieser Mira war ein wenig zu groß oder zu breit, aber genau das machte sie irgendwie interessant.

»Und hier haben wir Béla Simon.« Summers zeigte auf den Mann neben Mira und zögerte, als ob er nach einem Wort suchen müsste. »Er ist unser … na, lassen Sie es mich so sagen: unser ungarischer Dichterheld.«

Summers zerdehnte das Wort Dichterheld mit einem leichten Naserümpfen, so als wäre die Rede von unangenehm riechendem Käse. Er holt tief Luft und fügte hinzu: »Neben seinen zahlreichen Verpflichtungen als Künstler ist Herr Simon auch noch der Desk Chief der ungarischen Abteilung und damit Ihr unmittelbarer Vorgesetzter.«

»Sie haben vergessen zu erwähnen«, sagte Mira mit einem missbilligenden Kopfschütteln, »dass unser Béla außerdem der Star der ungarischen Abteilung ist.« Sie sah Liz nun direkt an. »Ein ungarischer Walter Cronkite mit der Ausstrahlung eines Elvis Presley.«

Oh, was für eine Lobeshymne. Wie schaffte Mira es nur, dass sie dabei kein bisschen backfischhaft klang, sondern einfach nur so, als hätte sie eine unbestreitbare Tatsache festgestellt?

»Sie übertreibt manchmal ein wenig.« Béla musterte Liz, nickte ihr zu und murmelte dann: »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Béla wirkte sehr viel maskuliner als der bullige Sicherheitschef, obwohl er schlanker war. Verwundert fragte sich Liz, woran das liegen mochte. War es der geraden, reichlich dominanten Nase und den markanten Wangenknochen geschuldet oder den dunklen fingerlangen Locken? So viel unordentlich wildes Haar hatte Liz seit Jahren an keinem Mann mehr gesehen. Oder lag es an dem Kontrast zwischen seinen großen, melancholisch wirkenden Augen und dem starken, dynamischen Kinn? Vielleicht war es ganz einfach nur seine Haltung? Den würde ich gern fotografieren, ging es ihr durch den Kopf.

»Normalerweise lerne ich meine neuen Mitarbeiter kennen, bevor sie eingestellt werden. Denn normalerweise suche ich sie mir selbst aus.« Béla lächelte zu seinen Worten so charmant, als würde er Liz ein Kompliment machen. »Aber vermutlich weiß der verehrte Mr Summers genau, welche Kräfte wir in der ungarischen Abteilung dringend brauchen. Deshalb interessiert es mich brennend, welche journalistischen Erfahrungen Sie mitbringen. Oder welche Qualifikationen eine so junge und hübsche Frau wie Sie noch vorzuweisen hat.« Er setzte sich und schaffte es, das Stuhlrücken wie einen ruppigen Kommentar klingen zu lassen.

Liz merkte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. Er hielt sie für unfähig, für einen Protegé von Summers oder schlimmer noch für dessen Geliebte. Und als sie Summers anschaute, wurde ihr klar, dass er gerade genauso wütend über diese Unterstellung war wie sie. Ihre Blicke kreuzten sich, und Summers nickte ihr beruhigend zu. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass er wirklich mit ihr zusammenarbeiten würde.

»Mein lieber Béla, manchmal sind sogar mir die Hände gebunden. Fräulein Kiss kommt von ganz oben.«

»Natürlich, sie ist vom Himmel gefallen! Ein Engel!« Béla kräuselte herablassend die geschwungenen Lippen, dann fragte er Liz bemüht freundlich, ob sie denn überhaupt Ungarisch sprach.

»Természetesen beszélek magyarul – natürlich spreche ich Ungarisch!«

»Erfreulich. Und was haben Sie vor Ihrer Arbeit hier gemacht? Ungarische Lebensweisheiten auf Kissen gestickt? Kochrezepte aus der Puszta gesammelt?«

»Béla, das reicht jetzt!«, mischte sich Summers ein. »Geben Sie dem Mädel eine Chance.«

»Aber …!«, begehrte Béla auf, verstummte jedoch, als Mira beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm legte.

»Hey!«, mahnte sie ihn.

Er senkte den Kopf und murmelte: »Tut mir leid.«

Dann entzog er Mira seinen Arm, sah Liz beim Hochblicken wieder an und warf sich in seine breite Brust. Er blitzte sie ganz und gar nicht reumütig aus tiefdunklen Augen an. Wie nasses Eichenholz, dachte Liz, oder doch eher wie schwarze Oliven.

Schwer, diesen Schimmer auf einem Foto einzufangen.

Er stand auf und deklamierte mit leiser und sehr prägnanter Stimme: »Bist du als Mann geboren, zeig’s durch Bekennermut, und müsstest du’s bezahlen, sogleich mit deinem Blut. Das Leben mag vergehen, was dir als Wahrheit gilt, verleugne nicht, bewahre es wie deiner Ehre Schild.«

»Gott!« Summers hob abwehrend die Hände gegen Béla, als wäre Lyrik eine ansteckende Krankheit, vor der er sich schützen müsste.

»Jetzt wissen Sie, warum wir ihn den Dichterhelden nennen. Setzen Sie sich wieder hin, Béla, und tragen Sie es wie ein Mann. Fräulein Elizabeth Kiss gehört jetzt zu Ihrer Abteilung.«

Liz war ziemlich sicher, dass sie sich die leise Genugtuung in Summers’ Stimme eben nicht nur eingebildet hatte. Es gefiel ihm, dass er Béla das Gleiche antun konnte, was Jeff Daniels ihm an diesem Morgen angetan hatte.

»Fräulein Elizabeth Kiss …«, wiederholte Béla, als würde er ihren Namen zum ersten Mal hören. Er musterte Liz nun etwas weniger feindselig, während er sich wieder neben Mira an den Tisch setzte.

Wann immer jemand ihren Namen zum ersten Mal von jemandem hörte, der nicht wusste, wie man ihn richtig aussprach, war ein Witz zum Thema Küssen fällig. Vor allem bei den Amerikanern. Verwundert merkte Liz, wie wichtig es ihr war, dass dieser Béla das nicht tat.

»… oder vielmehr Kischsch«, sagte er nun und sprach damit ihren Nachnamen korrekt und mit langem Schsch ungarisch aus. »Das trifft sich gut, einen Nagy«, und er betonte auch das mit einem langen Vokal, »Notsch«, »haben wir nämlich schon.«

Unwillkürlich musste Liz lachen. Mira und Summers sahen sie fragend an. Liz erklärte ihnen, dass kiss im Ungarischen klein und nagy groß bedeutete. Nagy war der häufigste Nachname in Ungarn, vergleichbar mit Müller oder Meier in Deutschland.

»Nun gut, Fräulein Kisch, nun verraten Sie mir, wo kommen Sie her, und warum sind Sie hier?«, fragte Béla.

Bevor Liz antworten konnte, mischte sich Summers wieder ein. »Nachdem István bedauerlicherweise verschwunden ist, brauchte Ihre Abteilung dringend Verstärkung, deshalb hat der Chef Fräulein Kiss als Ihre Assistentin eingestellt. Ende der Geschichte. Keine Tragödie, kein Roman und ganz gewiss kein Anlass für ein Gedicht.«

»Trotzdem wüsste ich gern mehr über Fräulein Kiss.«

»Dem kann ich mich nur anschließen«, pflichtete Mira ihm bei.

»Natürlich! Fragen Sie sie doch einfach.« Summers warf Liz einen ermutigenden Blick zu.

»Also?« Béla drehte die Handflächen nach oben, hob sie auffordernd zu ihr hin, als wollte er damit seine Ungeduld zum Ausdruck bringen

»Gut, ich gebe Ihnen die Kurzversion. Meine Mutter ist Ungarin«, fing Liz an zu erzählen, »mein Vater war Münchner, deshalb bin ich in Nordschwabing aufgewachsen. Die beiden waren nicht verheiratet und auch nicht sehr glücklich. Deshalb ist meine Mutter noch vor dem Krieg mit uns nach London zu einer Freundin gezogen, wo wir dann bis zum Kriegsende geblieben sind. Meine Mutter ist Künstlerin, wir hatten nie viel Geld. Deshalb musste ich schon sehr früh arbeiten. Also habe ich als Übersetzerin bei der Army angefangen, kam dann nach Heidelberg, war im letzten Jahr bei den Nachfolgeprozessen in Nürnberg auch Simultandolmetscherin und bin kurz darauf wieder zu einer Spezialeinheit der Army nach München.«

»Wie viele Sprachen sprechen Sie?«, wollte Béla wissen.

»Sie werden noch jede Menge Zeit haben, das herauszufinden, wenn Sie zusammenarbeiten«, mischte sich Summers wieder ein. »Daniels hat außerdem angeordnet, dass Sie Fräulein Kiss den Schreibtisch von István geben sollen, den am Fenster!«

Liz registrierte noch mehr Genugtuung in Summers’ Stimme.

»Sie geben ihn also auf.« Béla spuckte dem Sicherheitschef die Worte geradezu ins Gesicht.

»Béla!«, mahnte Mira erneut.

»Sie lassen ihn also im Gefängnis verrotten, ja?«

»Niemand weiß, ob er im Gefängnis ist.« Summers blieb betont ruhig. »Und selbst wenn, hat er sich das selbst zuzuschreiben. Sie wissen doch, dass die Arbeit in diesem Sender es Ihnen verbietet, in die Länder hinter dem Eisernen Vorhang zu reisen. Wenn István also nach Ungarn gereist und dort in die Fänge der ÁVH geraten ist, dann können wir nichts mehr für ihn tun. Ihnen allen ist ja klar, dass die ÁVH nur zum Schein aufgelöst wurde und immer noch aktiv ist.«

Die Államvédelmi Hatóság, die ÁVH. Während Summers’ Vortrag hatte Liz’ Herz angefangen, schneller zu hämmern. Er hatte recht. Das weitverzweigte Spitzelnetz der Staatssicherheitspolizei war immer noch da und nur allzu bereit, mit Denunziationen Geld zu verdienen. Genau deshalb musste Zsuzsa dringend raus aus Ungarn. Man hatte ihre Halbschwester schon einmal weggesperrt, wie so viele Unschuldige. Glücklicherweise war es bisher dabei geblieben. Denn viele wurden so lange gefoltert, bis sie weitere Namen von Unschuldigen nannten und sich am Ende zu einer Tat bekannten, die sie nie begangen hatten. Eine vorgebliche Schuld, die nach einem lächerlichen Schauprozess mit dem Tod ausgelöscht wurde. Liz versuchte sich wieder auf das Gespräch zwischen Béla und Summers zu konzentrieren, hatte aber den Anschluss verloren.

»Ist das die offizielle Linie?« Béla ballte die Fäuste, als wollte er Summers schlagen. Doch der beugte sich daraufhin nur noch näher zu dem Ungarn, und es wurde sehr deutlich, wie gern er jetzt ausgeholt hätte. Das Hemd zog sich nun straff über die angespannten Muskeln seiner Arme.

»Reden Sie mit Jeff Daniels darüber.« Summers’ Stimme war nur mehr ein böses Zischen. »Das alles liegt nicht in meiner Zuständigkeit.«

»Schon klar, aber über Istváns Schreibtisch können Sie bestimmen, als wären Sie sein Testamentsvollstrecker!« Béla stand wutschnaubend auf und verließ die Kantine. Mira eilte ihm ohne eine weitere Erklärung nach.

»Diese Paprikafresser mit ihrem verfluchten Temperament! Dichterhelden und Mimosen.«

Paprikafresser, wiederholte Liz bei sich. War ihr Chef nur wütend, oder waren ihm alle Ungarn ein Dorn im Auge?

Summers nestelte eine blaue Schachtel Zigaretten und ein goldenes Feuerzeug aus der Hosentasche. Es waren Nil, ungewöhnlich für einen Amerikaner. In der Army hatten alle Chesterfield geraucht. Er zündete sie an und hielt dann inne. »Entschuldigen Sie, Fräulein Kiss, tut mir leid, möchten Sie auch eine?«

Liz nickte, griff zu und inhalierte schließlich dankbar den Rauch, während er die Zigaretten wieder einsteckte.

Jemand hatte erneut die Musikbox angeworfen, und Elvis Presleys samtige Stimme vibrierte durch die Cafeteria, die sich nun langsam leerte. »You be so lonely, baby«, sang er. »Sie sehen, mit wem Sie es hier zu tun haben. Seien Sie bloß vorsichtig! Béla ist schlau und misstrauisch, und er hat viele Freunde im Sender. Sie dürfen sich auf keinen Fall erwischen lassen.« Summers’ Warnung klang fast schon ein wenig besorgt.

»Ich werde ihn gut im Blick behalten«, versprach Liz. »Und ich werde Sie ganz sicher nicht enttäuschen.« Das konnte sie sich nämlich auf keinen Fall leisten.

»Das ist der richtige Ansatz, dieser Béla kam mir immer schon verdächtig vor. Allein schon seine merkwürdige Geschichte und dazu noch das ganze Dichterheldengehabe. Das alles könnte auch nur eine besonders ausgefuchste Tarnung sein.« Summers drückte seine Zigarette aus. »Ich hoffe nicht, dass Poesie Ihnen etwas bedeutet?«

Liz schüttelte den Kopf. »Nicht das Geringste.« Gedichte waren ihr suspekt, zu viele unklare Bedeutungsebenen, keine eindeutigen kausalen Zusammenhänge. Manchmal entstanden in ihrem Kopf zwar seltsame Wortgebilde wie Sommerhimmel oder Biergartenwetteraugen, aber sie fand, das waren eher präzise Beschreibungen als Poesie.

Rosi tauchte mit einem leeren Tablett auf und räumte das schmutzige Geschirr ab. »Herr Geheimrat… passt alles?«, fragte sie Summers.

»Bestens.« Er erhob sich und schob Rosi eine Mark zu, die sie ohne großes Aufheben einsteckte. »Na, dann bringe ich Sie jetzt mal in die Höhle des Löwen«, sagte er zu Liz, ohne der Bavaria weiter Beachtung zu schenken.

Zusammen verließen sie die Cafeteria, und diesmal schaffte sie es, Summers auf dem Weg zur ungarischen Abteilung in ein geradezu lebhaftes Gespräch über das Boxen zu verwickeln. Es erstaunte sie, dass er nicht, wie von ihr gedacht, in der Mittel-, sondern in der Schwergewichtsklasse kämpfte, und ihre Überraschung schien ihn zu freuen.

»Ich werde oft unterschätzt«, sagte er und blieb vor der Tür zu Bélas Büro stehen. Er trat näher zu Liz, sodass ihr der klebrige Duft seines Birkenhaarwassers in die Nase stieg, und reichte ihr die Hand, um sich zu verabschieden. Dabei schenkte er ihr ein breites Lächeln, das anders als vorhin bei Rosi seine Augen aber nicht erreichte. »Allerdings ist es ein schwerer Fehler, mich zu unterschätzen.«

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2

Auf Liz’ Klopfen hin öffnete ihr ein Mann. Er stellte sich sofort als Stefan und Assistent von Béla vor, der sie schon angekündigt hatte. Und begrüßte sie dann ganz anders als alle anderen im Sender, nämlich voller Begeisterung und mit einem »Csókolom a kezét«, dem klassisch ungarischen »Küss die Hand«. Dazu nahm er wirklich ihre Hand, küsste sie schmatzend und überhäufte Liz mit Komplimenten zu ihrem, wie er nicht müde wurde zu betonen, so außerordentlich erfreulichen Äußeren und fragte dann »Hogy tetszik lenni?« – eine Frage, die so altmodisch war, dass sie nur in Ungarn noch so gestellt wurde, in Deutschland fragte niemand mehr: »Wie beliebt es zu sein?«

Als sie ihm ins Büro folgte, bemerkte Liz, dass er sein Bein leicht nachzog. Er kam ihr doppelt so alt vor wie Béla, vielleicht weil er völlig kahl war und einen fülligen Bauch vor sich herschob. Doch wie sich kurz danach herausstellte, war er nur ein paar Jahre älter als Béla. Stefan nahm sie freudig in Beschlag und erzählte ihr ohne viel Federlesens gleich aus seinem Leben.

Vor dem Krieg hatte er als Uhrmacher gearbeitet, dann als Funker, und schließlich war er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft gelandet, wo er mit seinem selbst gebastelten Schmuck aus allem, dessen er habhaft werden konnte, die GIs und vor allem deren Freundinnen so erfreut hatte, dass er über ein paar Ecken zu diesem Job hier gekommen war.

Stefan gestikulierte viel und spuckte ein kleines bisschen bei jedem S. Seinen Kleidern entströmte ein Geruch nach Mais, der in kupfernen Pfannen über einem Holzfeuer geröstet wurde.

Liz war überrascht, wie heftig sie auf diesen Duft reagierte. Obwohl sie noch satt von dem Vanillepamps war, lief ihr das Wasser im Mund zusammen, und sie spürte, wie die Sehnsucht nach den Sommern bei ihrer Großmutter in der Nähe vom Plattensee ihr den Hals zuschnürte. Bis Ungarn 1944 von den Deutschen besetzt worden war, hatte ihre Mutter sie und ihre Schwester immer für drei Monate bei Oma Éva untergebracht. Zwölf wundervolle Wochen, vierundachtzig Tage, zweitausendsechzehn Stunden, in denen alles, was Liz tat, gut genug war. Egal, ob sie beim Pflücken und Einkochen von Himbeeren und Marillen half oder beim Einlegen der sauren Gurken und Pfefferschoten. Oma Éva war zwar sehr streng und genau, duldete keine Verschwendung und erwartete gottesfürchtiges Benehmen von ihr, doch im Unterschied zu Liz’ Mutter beklagte sie sich nie. Éva erwachte jeden Morgen bei Sonnenaufgang gut gelaunt und machte aus allem, was ihr begegnete, ein Fest. Und das, obwohl ihr Mann im Ersten Weltkrieg verschollen und ihre beiden Söhne schon früh im Zweiten Weltkrieg gefallen waren.

»Stefan!« Béla stürmte herein und riss Liz aus ihren Erinnerungen. »Hast du schon die neuen Telexe aus Budapest geholt?«

Als Stefan anfing zu erklären, dass er doch eben gerade erst Liz begrüßt hatte, scheuchte Béla seinen kahlköpfigen Assistenten davon, dann wandte er sich seiner neuen Mitarbeiterin zu.

»Fräulein Kisch, ich will und ich muss mich für unseren etwas unschönen Start entschuldigen. Es war nicht Ihre Schuld, ich habe die Fassung verloren und mich ganz und gar nicht korrekt benommen. Jobb a békesség – Frieden ist besser! Fangen wir also noch mal von vorn an.« Sein Blick wanderte zu dem leeren Schreibtisch unterm Fenster, verharrte dort einen Moment, als könnte er jemanden auf dem Stuhl davorsitzen sehen, jemanden, der ihm etwas zu bedeuten schien. Béla seufzte. »Machen Sie es sich bei uns gemütlich.«

Er zeigte jedoch nicht auf den leeren Schreibtisch am Fenster, sondern auf einen mächtigen Holztisch neben der Tür, der groß genug für zwei Mitarbeiter war und zu beiden Seiten Rollladenschränke besaß. Leider war von der eigentlichen Arbeitsfläche nicht der kleinste Fleck zu sehen. Denn zwischen den beiden schwarzen Lampen, deren Schirme umgedrehten Suppenschüsseln ähnelten, stapelten sich Akten und Bücher. Drei klobige Schreibmaschinen teilten sich den restlichen Platz mit zwei Stempelrädern, turmhohen Ablagekästen aus Holz und mehreren Behältnissen voller Stifte. Dazwischen lagen Radiergummis, Büroklammern, zerfledderte und abgeriebene Kohlepapierbögen neben noch unbenutzten für Durchschläge.

»Ich bin mir sicher, wenn Sie das wegschaffen, haben Sie genug Platz. Aufräumen können Sie bestimmt, oder?«

Als Liz zögerte, schob er in stakkatoartigem Tempo noch ein paar Fragen nach: »Können Sie tippen? Steno? Schon mal am Fernschreiber gearbeitet? Vertraut mit Bibliotheken? Welche Sprachen sprechen Sie denn nun?« Plötzlich hielt er inne und seufzte theatralisch. »Daniels wird mir doch nicht etwa so ein anstrengendes Mädel von der schüchternen, mormonischen Sorte geschickt haben, die er selbst so gern um sich hat, oder?«

Aha, dachte Liz, guter Hinweis. Wenn ich Béla nicht verärgern will, dann sollte ich also etwas forscher auftreten.

»Zurückhaltend vielleicht«, antwortete sie deshalb, »aber schüchtern wäre dann doch zu viel gesagt. Lassen Sie mich die Antworten auf Ihre Fragen kurz zusammenfassen: Ja, ja, nein und ja, Englisch, Deutsch und Ungarisch perfekt, Französisch und Italienisch weniger perfekt, Rumänisch und Tschechisch ein wenig.«

Er stutzte, denn er hatte offensichtlich vergessen, in welcher Reihenfolge er ihr die Fragen gestellt hatte.

»Wie erfreulich«, sagte er dann.

Béla sah allerdings nicht wirklich erfreut aus. Womöglich hielt er sie für eine Aufschneiderin, doch er würde schon noch merken, wie gern und schnell sie lernte. So funktionierte sie nun mal: Ihr Kopf musste beschäftigt werden, unentwegt, damit ihre Gedanken nicht auseinanderliefen wie Schokoladeneis in der Sommersonne.

»Unerwartet, aber wirklich erfreulich.« Bélas Augen waren noch dunkler und größer geworden. Schwarze Oliven, da war sie jetzt sicher, mit einem Hauch von Rot. Auf einem Schwarz-Weiß-Foto kaum darstellbar.

»Wenn Sie dermaßen qualifiziert sind, warum arbeiten Sie dann ausgerechnet hier? Beim MI 5 könnten Sie mit Ihren Fähigkeiten doch viel mehr Geld verdienen.«

Das sollte sie nicht so stehen lassen. Auf keinen Fall, am besten einen Witz darüber machen.

»Das ist ganz bestimmt nicht Ihr Ernst«, erwiderte sie. »Oder sehen Sie in mir etwa einen weiblichen James Bond?«

Béla musste tatsächlich lachen.

Gut, dachte Liz, dass bei der Army alle Casino Royale so geliebt hatten. Das Buch war vor drei Jahren erschienen und gleich ein so großer Erfolg gewesen, dass es dann schon 1954, also nur ein Jahr später, fürs Fernsehen verfilmt worden war. Liz hatte sich jede Menge Fakten darüber gemerkt, weil sie immer auf der Suche nach unverfänglichen Small-Talk-Themen war. Sie fragte sich, ob Béla zum Beispiel wusste, dass der Autor, Ian Fleming, den Namen des Helden von einem Ornithologen entliehen hatte, der ein Buch über die Vögel der Antillen geschrieben hatte. Vermutlich nicht, und sie sollte sich auch besser auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren. So wie Béla sich immer noch über ihren absurden Vergleich mit James Bond amüsierte, war er sicher nicht an weiteren Details zum Thema Spione interessiert. Und das war auch gut so, dachte sie, nun sollten sie beide flott das Thema wechseln.

»In der Tat, nein!« Béla bemühte sich sichtlich, langsam wieder ernster zu wirken. »Sie sind viel zu weiblich für einen James Bond.«

Liz war unsicher, ob das als Kompliment gemeint war, deshalb reagierte sie lieber nicht darauf.

»… und deshalb wird es Ihnen ja sicher nichts ausmachen, fürs Erste diese ungefährliche Aufgabe in Angriff zu nehmen.« Er deutete auf den übervollen Schreibtisch. »Wenn Sie sich dort eingerichtet haben, melden Sie sich bei mir.«

Er drehte sich um und verschwand dann in einem gläsernen Kasten, durch den der große Raum zweigeteilt wurde und den Liz jetzt erst richtig wahrnahm. Offensichtlich war das sein Büro. Dort ließ er sich auf einen Drehhocker fallen, nahm einen Schlüssel aus der Hosentasche, schloss eilig all seine Schreibtischschubladen auf, holte eine Akte heraus, griff dann nach einem der beiden schwarzen Telefone, warf den Schlüsselbund auf den Tisch und bellte ein paar Befehle in den Hörer.

Da war eine Lade in der Mitte, registrierte Liz, und eine Tür links, die er nicht aufschloss. Als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, wedelte er ungeduldig mit der Hand, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen.

Liz wandte sich dem Schreibtisch zu. Sie verübelte es ihm nicht, dass er verärgert war, denn das wäre jeder Mann gewesen, den man bei der Auswahl seiner Untergebenen übergangen hatte. Sie beschloss, ihn mit guter Arbeit von sich zu überzeugen. Das Aufräumen kam ihr da entgegen, denn sie liebte es, Dinge zu putzen und zu ordnen. Struktur und Klarheit gaben ihr innere Ruhe.

Nachdem sie den ganzen Kram auf dem Schreibtisch betrachtet hatte, wusste sie, wie sie das Chaos am schnellsten beseitigen konnte, und fing an, sich den nötigen Platz für ihre Arbeit zu schaffen.

Der Arbeit, die sie Jeff Daniels verdankte.

Sie hatte ihn bei der Army kennengelernt, wo sie im Haus der Kunst etwas für ihn und einen Experten aus Berlin hatte übersetzen müssen. Sehr schwer verständliche, teils unleserliche Dokumente im Zusammenhang mit einem von den Alliierten gefundenen Beutekunstschatz der Nazis. Nachdem sie sich stundenlang und mit großer Begeisterung daran die Zähne ausgebissen hatte, war ihr nachdenklicher Blick auf den goldenen Anstecker an Daniels’ Revers gefallen, einen Engel mit einer lang gezogenen Trompete. Das war der Engel Moroni. Dieser Daniels war also Mormone, hatte ihr Gedächtnis gemeldet, und sie sogleich mit Informationen über Mormonen überflutet, anstatt sich weiter auf das Dokument zu konzentrieren. Leise seufzend hatte sie vor sich hin gemurmelt, dass wohl nicht mal Urim und Thummim helfen konnten, diese Texte zu entschlüsseln.

Jeff Daniels war das nicht entgangen und hatte sie daraufhin hocherfreut in ein Gespräch verstrickt, denn Urim und Thummim waren Steine, die der Engel Moroni Joseph Smith, dem Gründer der Mormonen, gegeben hatte, und mit deren Hilfe er das Buch Mormon überhaupt erst hatte übersetzen können.

Daniels hatte sich darüber beklagt, dass den Europäern zu Mormonen meistens nur einfiel, dass sie Abstinenzler und Polygamisten waren. Dabei hätte man die Vielweiberei doch schon im letzten Jahrhundert abgeschafft.

Kurz darauf hatte er sie zu sich nach Hause eingeladen, um sie mit seiner Frau Phyllis bekannt zu machen. Sie nutzte ihren Aufenthalt in Deutschland dazu, alles über ihre hugenottischen Vorfahren herauszufinden, die 1686 als Handschuhmacher nach Erlangen gekommen waren. Die Mormonen waren geradezu besessen von ihren Vorfahren. Nach ihrem Glauben konnte und sollte man seine Verwandten rückwirkend taufen lassen, denn nur dann würden sich später alle im Paradies wieder begegnen.

Auch Daniels’ Frau war begeistert von Liz’ erstaunlichem Gedächtnis, genauso wie von ihren Fotokünsten, und bat sie darum, sie in ein Erlanger Archiv zu begleiten und dort Dokumente für sie abzulichten.

Als Liz nach einem alarmierenden Brief ihrer Mutter klar wurde, dass Zsuzsa einfach den Mund nicht halten konnte und deshalb so schnell wie möglich aus Ungarn wegmusste, fragte sie Daniels nach einer Arbeit, die besser bezahlt war als ihre Übersetzertätigkeit bei der Army. Immerhin hatte er mehrfach angedeutet, dass ihre Sprachkenntnisse in einem Sender wie Radio Freies Europa sehr von Nutzen sein könnten. Sie hatte ihm ehrlich gesagt, dass sie den Job deshalb so dringend brauchte, weil all ihre Ersparnisse für zwei unehrliche Schlepper draufgegangen waren, die Liz’ Geld genommen, aber ihre Familie nicht über die Grenze nach Österreich gebracht hatten.

Nie im Leben hätte sie mit so einem großzügigen Angebot von ihm gerechnet. Er stellte ihr viel Geld in Aussicht und alle Ausreisepapiere für Zsuzsa und ihre Mutter – weil ihm als Mormone die Familie wichtig war, wie er sagte. Und alles, was sie dazu tun musste, war etwas für ihn herauszufinden. Herausfinden nannte er das, nicht spionieren. Er wollte sie als Junior Editor und Assistentin in seinen Sender einschleusen, wo sie einen Maulwurf enttarnen sollte, der geheime Informationen an den KGB oder andere Geheimdienste verkaufte.

Daniels hatte zwar den starken Verdacht, dass der Spion in der ungarischen Abteilung saß, doch er war noch nicht zu hundert Prozent sicher, ob er wirklich nur von dort aus operierte. Einer der ungarischen Redakteure war spurlos verschwunden, und kurz danach waren zwei Informanten des Senders in Budapest von der ÁVH, der ungarischen Geheimpolizei, festgenommen worden. Ein tschechischer Informant war ebenfalls verschwunden, ob er untergetaucht oder übergelaufen war, darüber wusste niemand etwas. Es konnte also sehr gut sein, dass mehrere Angestellte aus verschiedenen Abteilungen zusammenarbeiteten, weshalb Liz’ Sprachkenntnisse Daniels ganz besonders gelegen kamen. Sie hatte ihm deutlich klargemacht, dass sie über keinerlei Ausbildung auf dem Gebiet der Spionage verfügte, wohingegen der KGB, der Mossad und das MI 5 natürlich nur gut geschulte Agenten beschäftigte, denen sie hoffnungslos unterlegen sein würde. Doch Daniels fand genau das besonders vorteilhaft, denn Liz würde sich eben nicht wie eine gewiefte Agentin verhalten, und das wiederum würde ihr Verhalten unvorhersehbar machen. Außerdem hielt er es für einen ganz besonders klugen Schachzug, eine Frau für diesen Job zu wählen.

Wenn sie ihm die nötigen Beweise lieferte, würde er für sämtliche Kosten und Formulare aufkommen und all seine Beziehungen spielen lassen, um Zsuzsa schnell und sicher aus Ungarn herauszuschaffen und ihr die nötigen Papiere für ein Leben im Westen zu besorgen. Doch Daniels stand unter Zeitdruck, die New Yorker Zentrale wollte Ergebnisse sehen, deshalb musste Liz innerhalb von acht Wochen herausfinden, wer der Maulwurf war. Für den Fall, dass ihr das gelang, hatte er ihr auch eine interessante Zukunft im Sender in Aussicht gestellt.

Sie sah zu Béla hinüber, der immer noch lebhaft telefonierte. Spielte er ganz genauso wie sie nur eine Rolle? Falls ja, dann war er gut.

Zwei Tage hatte sie sich mit der Entscheidung herumgequält, ob sie Daniels’ Angebot annehmen sollte. Denn damit war sie nicht besser als ein widerlicher Blockwart, ein Spitzel genau wie die von der ÁVH, jemand, der harmlose Leute ausspähte.

Aber am Ende jedoch lief alle Grübelei immer wieder auf das hinaus, was ihr wirklich wichtig war: Die Sicherheit ihrer kleinen und rebellischen Schwester. Und nur die zählte! Erst wenn sie wieder zusammen wären, konnten sie beide einen neuen Anfang wagen. Um ihre Mutter machte sie sich weit weniger Sorgen. Die kam überall zurecht, jedenfalls solange ein Mann in der Nähe war, den sie verführen konnte.

Seufzend wuchtete Liz die schweren Schreibmaschinen auf eine Seite, räumte dann die verstaubten Aktenstapel weg und suchte nach einem Lappen, um die kleine frei gewordene Fläche sauber zu wischen.

Sie verfluchte jetzt nicht nur den engen Rock, sondern auch ihr Korselett, das ebenfalls neu war und dessen Träger an den Schultern scheuerten. Genauso das camelfarbene Twinset, das sie extra für ihren ersten Tag angezogen hatte, um einen seriösen Eindruck zu machen. Liz schwitzte, obwohl sie die Strickjacke längst über eine Stuhllehne gehängt hatte und nun nur noch den ärmellosen Pullover trug. Energisch strich sie eine Haarsträhne zurück hinters Ohr, ignorierte die Staubflusen auf ihrem Rock und machte weiter, bis ihre Hände schwarz von dem Schmutz und den Kohlepapieren waren.

Gerade als innehielt, um durchzuatmen, rief Béla nach ihr. Weil sie auf die Schnelle nichts anderes fand, wischte sie ihre Hände widerstrebend an dem mit Mohnblumen bestickten Taschentuch von ihrer Großmutter ab, das sie immer dabeihatte, und eilte in den Glaskasten.

Auch Bélas Schreibtisch war von unordentlich aufeinandergestapelten Aktenmappen übersät. Gekrönt wurde er von einem türkisen Kristallaschenbecher, der überquoll und dessen Ausmaße Liz an einen Fressnapf für Bernhardiner erinnerten.

Angesichts ihres derangierten Anblicks zuckten Bélas Mundwinkel. »Arbeit steht Ihnen gut!«

»Meine Großmutter war der Ansicht, dass Arbeit jeden schmückt, sogar Dichter und Gelehrte«, gab sie zurück und hoffte, das wäre eine angemessene, nicht zu schüchterne Erwiderung.

»Können Sie tatsächlich stenografieren?«

»Ja, sicher.« Sie war nur nicht ganz so gut darin wie im Dolmetschen.

»Na, dann schnappen Sie sich Block und Stift.« Er lächelte sie an, aber sie hatte den Eindruck, dass er etwas im Schilde führte. »Ich arbeite gerade an einer erbaulichen Sendung für den kommenden Samstagnachmittag.«

Liz lief zurück zu ihrem Tisch, wo sie ergebnislos nach einem Block fahndete. Die Bleistifte waren alle abgebrochen, und sie konnte nirgends einen Spitzer entdecken.

»Ich habe hier alles!«, rief Béla und winkte sie wieder zu sich her.

Sie ging zurück in seinen Glaskasten, wo er ihr einen Block zusammen mit einem Kugelschreiber hinhielt.

»Zum Stenografieren verwende ich gewöhnlich einen Bleistift.«

»Die sind gerade aus. Außerdem ehren Sie hiermit unser Vaterland!« Er wedelte mit dem Kugelschreiber, und ihr fielen seine ungewöhnlich schönen, gepflegten Hände auf. Seine Nägel waren gefeilt und schimmerten wie poliert. Aber was wollte er ihr denn damit sagen? Vaterland und Kugelschreiber?

»Na, er war doch auch Ungar: László József Bíró.«

Ach so, Bíró! Den meinte er. Auch in diesem Moment erwies sich ihr unersättliches Interesse an unwichtigen Details als nützlich.

»Bíró war es aber nicht allein, auch wenn er 1938 schließlich das Patent für den Kugelschreiber erhielt.«

Béla zog eine Augenbraue hoch.

»Können wir dann?« Um nicht schüchtern zu wirken, setzte sie sich betont lässig auf eine Ecke seines Schreibtisches, fühlte sich aber in ihrem engen Rock sehr unwohl und stand wieder auf, um dann damenhaft auf dem Besucherstuhl vor dem Tisch Platz zu nehmen. Dort zückte sie demonstrativ den Stift.

Béla erhob sich und lief in dem gläsernen Kasten hin und her, während er mit seiner tiefen, warmen Stimme zu diktieren begann.

»Lenin sprach mit Stolz von der bolschewistischen, kommunistischen Partei als einer Führerin und Lehrerin des Volkes, er rief dazu auf, alle entscheidenden Fragen zur Beurteilung den bewussten Arbeitern und ihrer Partei vorzulegen.« Béla blieb vor ihr stehen. »Sind Sie bis hierher mitgekommen?«

»Natürlich.« Beim Aufschreiben lief ihr Gehirn auf Hochtouren. Lenin? Wirklich? Daniels hatte ihr zum Einarbeiten Bänder mit dem ungarischen Programm der letzten Woche von Radio Freies Europa zur Verfügung gestellt. Immerhin achtzehn Stunden pro Tag, und in all diesen Stunden war Lenin nur einziges Mal erwähnt worden, und zwar als ein Mann mit fehlgeleiteten Ideen.

Béla räusperte sich, nickte ihr zu und ging dann weiter durch den Raum.

»Er sagte: ›Der Partei glauben wir, in ihr sehen wir die Vernunft, die Ehre und das Gewissen unserer Epoche.‹«

Heureka! Das Gewissen unserer Epoche, jetzt wusste Liz, wo sie das schon gehört hatte, und sie fragte sich, warum Béla ihr so einen alten Hut diktierte. Wollte er sie auf die Probe stellen? Aber was für eine Probe sollte das sein? Sie hörte auf zu stenografieren und räusperte sich. Nicht schüchtern sein.

»Bei allem Respekt, darf ich Sie fragen, warum ich die Geheimrede von Chruschtschow aufschreiben soll? Die hat er doch schon im Februar gehalten und mit seiner Kritik an Stalin für Tauwetter hinter dem Eisernen Vorhang gesorgt. Und damit das auf keinen Fall aufhört, sendet Radio Freies Europa die in alle Landessprachen übersetzte Rede schon seit Monaten immer wieder hinter den Eisernen Vorhang. Soll das eine Art Prüfung für mich sein, wollten Sie einfach nur sehen, ob ich mit dieser Rede vertraut bin?«

»Nein.«

Sie war sich nicht sicher, aber er schien überrascht und kramte in seiner Hosentasche nach einem Päckchen Zigaretten, zog sie heraus und zündete sich eine an. Es waren Salem. Warum rauchte ein Mann wie er Mentholzigaretten? Damenzigaretten, aber er bot ihr keine an. Unhöflich, aber in Ordnung. Sie rauchte diese Sorte sowieso nicht, und er war ihr Chef.

»Es tut mir wirklich leid«, fühlte sie sich bemüßigt zu sagen, »dass ich ohne Ihr Wissen eingestellt wurde, aber nun müssen wir miteinander auskommen. Sehen Sie eine Möglichkeit für uns?«

Er musterte sie nachdenklich, legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch zur Decke. Dann verzog er seine schönen Lippen zu einem selbstironischen Lächeln. »Ich muss mich entschuldigen! Und ja, Sie haben mich erwischt. Ich war neugierig, wie es um Ihr politisches Wissen bestellt ist. Das war unhöflich, geradezu barbarisch. Aber vielleicht können Sie mir verzeihen und es als eine Art Aufnahmeritual in unsere Abteilung betrachten, so wie die Äquatortaufe eines neuen Matrosen. Willkommen also bei uns an Bord!«

Seine offenkundige Reue entwaffnete sie.

»Aye, aye, Captain!«, sagte sie, konnte es sich aber dann nicht verkneifen noch hinzuzufügen: »Auch wenn dieser Sender ein seltsamer Ort für eine Äquatortaufe ist. Wir sind hier ganze 48,1 Grad vom Äquator entfernt.«

»Wer sind Sie?« Béla schüttelte amüsiert den Kopf. »Ein verdammtes Universallexikon? Eine Außerirdische? Wo hat Daniels Sie noch gleich gefunden?«

»Jedenfalls nicht am Äquator.« Sie lächelte. »Mein früherer Chef bei der Army hat mich wegen meiner Sprachkenntnisse empfohlen, als er hörte, dass hier eine Stelle neu zu besetzen wäre.«

»Von wegen eine freie Stelle.« Béla blickte wehmütig zu dem leeren Schreibtisch unter dem Fenster hinüber, drückte die Zigarette in dem übervollen Kristallaschenbecher auf seinem Tisch aus und schien nicht zu merken, dass dabei jede Menge Aschefetzchen auf den umliegenden Akten landeten.

»Schläfst du, Gerechtigkeit«, murmelte er vor sich hin, »bist du gar tot? War dieser Mann nicht wert, dass um den Hals ihm eine goldne Ehrenkette hing?«

Summers hatte sie gewarnt: Béla liebte Gedichte! Ihr Herz fing an, schneller zu hämmern. Ausgerechnet Gedichte! Die waren ihr immer wie fremdartige Codes vorgekommen. Aber wenn sie ein gutes Verhältnis zu ihm haben wollte, dann musste sie in der Lage sein, mit ihm darüber zu reden. Sie fing an zu schwitzen. Was zum Teufel hatte er mit diesen kryptischen Worten gerade sagen wollen?

»Wie stehen Sie zur Poesie?«, fragte er da auch schon und sah ihr wieder in die Augen.

»Nicht gut«, entschlüpfte es Liz, viel ehrlicher, als sie es vorgehabt hatte. »Also, ich finde Gedichte natürlich schon schön, nur gibt es für mich zu viele unklare Bedeutungsebenen.« Sie dachte an all die Versmaße, Metaphern und Reimschemata, mit denen man sie gequält hatte, von der sapphischen Ode bis hin zum barocken Sonett. Nein!, mahnte sie sich selbst, drifte jetzt bloß nicht wieder ins lexikalische Wissen ab. Konzentrier dich auf das Hier und Jetzt.

Béla schien zu erwarten, dass sie noch etwas mehr dazu sagte, denn er schwieg.

»Ich frage mich«, sagte sie also, »wozu es gut sein soll, einen Sachverhalt nebulös zu umschreiben, wenn man das Gleiche auch in einem einfachen Satz ausdrücken könnte.«

Als er weiterhin schwieg, fing sie an, sich über sich selbst zu ärgern. Sie hätte nicht ehrlich sein müssen, aber jetzt fühlte sie sich genötigt, ihm näher zu erklären, wie sie ihre Worte gemeint hatte. »Warten Sie«, sagte sie und versuchte fieberhaft, sich an ein Gedicht zu erinnern, das ihm dieses Schwammige gut verdeutlichen würde. Leider verweigerte ihr Gedächtnis sich bei Gedichten, obwohl es sich sonst die aberwitzigsten Fakten merkte. Nur ein einziges kam ihr in den Sinn: »Endymion« von John Keats. Sie fing an, es mit reichlich Pathos zu deklamieren: »A thing of beauty is a joy for ever. Its loveliness increases; it will never pass into nothingness …«

Béla verdrehte die Augen. »Der alte Keats erscheint uns heute natürlich ein bisschen sehr romantisch, mitunter sogar schwülstig, das ist nicht jedermanns Sache, aber Sie tun der Poesie unrecht. Diese Worte können sehr trostreich sein. Und bei einem gelungenen Gedicht sind sie auch niemals nebulös! Ich weiß von Menschen, die ihre Seele im Lager nur mithilfe von Gedichten vor dem Wahnsinn bewahren konnten. Darüber hinaus gibt es Werke, die eine so eindeutige Botschaft haben, dass sie sogar von der Partei verboten werden.« Er redete sich richtig in Rage, seine Haut wirkte wie durchglüht, und er fing wieder an umherzugehen. Dabei unterstrich er seinen Vortrag mit weit ausholenden Gesten.

Fasziniert beobachtete Liz, wie die Leidenschaft seine melancholischen Augen aufblitzen ließ und wie er mit jedem Wort zu wachsen schien.

»Nehmen Sie nur ›Das Gedicht für Erwachsene‹ von Adam Ważyk. Darin beschreibt er ein Polen, in dem Studenten ›in fensterlosen Lehrbüchern eingesperrt‹ sind und die Sprache nur noch auf ›dreißig Zauberformeln‹ reduziert ist. Das Gedicht entlarvt nicht nur unmenschliche bürokratische Strukturen, sondern zeigt, was passiert, wenn man alles auf dem Altar des Kommunismus opfert. Die berühmteste Strophe klingt so: ›Sie trinken das salzige Wasser und schreien laut Limonade! Dann gehen sie verstohlen nach Hause und kotzen und kotzen sich aus.‹«

Bélas Stimme war zu einem lauten, trotzdem noch warmen Bariton angeschwollen, und seine Augen glänzten vor Begeisterung. Sein Körper war gespannt wie ein Bogen, und Liz wurde klar, dass Worte die Pfeile waren, mit denen er kämpfte.

»Man geht davon aus, dass dieses Gedicht zu den Unruhen in Polen geführt hat«, fuhr er fort und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Gedichte können nämlich die Welt verändern!«

»So habe ich das noch nie gesehen«, murmelte Liz. Sie fragte sich, warum ihr Daniels im Vorfeld nicht mehr Informationen über Béla gegeben hatte. Sie hätte sich viel besser auf ihn vorbereiten können. Oder war genau das Daniels’ Absicht gewesen – wirkte sie glaubwürdiger, wenn sie erstaunt war, keine Ahnung hatte?

»Und was für Gedichte schreiben Sie?«, durchbrach sie schließlich die Stille, die sich merkwürdig lodernd zwischen ihnen ausgebreitet hatte.

»Was wissen Sie über die aktuelle Situation in Ungarn?«, fragte er, statt zu antworten.

»Die Situation ist viel angespannter, als es scheint. Dieser angebliche Frühling, von dem alle geredet haben, wird nur verfrühte Knospen hervorbringen, die dann erfrieren werden«, murmelte Liz.

Genau deshalb musste Zsuzsa das Land ja so dringend verlassen.

Béla zog überrascht eine Augenbraue hoch, kommentierte das aber nicht und fragte weiter: »Was wissen Sie über die aktuelle Politik der USA, der Sowjetunion?«

»Über die Sowjetunion vermutlich zu wenig.«

»Wie kommt es dann, dass Sie hier arbeiten? Bei Radio Freies Europa sollte jeder, egal ob Mann oder Frau, sich umfassend für Politik interessieren.«

»Aber hier geht es doch um Ungarn, wir sind doch nicht bei Radio Liberty, die nur in die Sowjetunion senden, oder?« Es schien ihm zu gefallen, dass sie nicht so schnell klein beigab, deshalb legte sie nach: »Und womöglich bin ich auch deshalb hier, weil ich schnell lerne und ein gutes Gedächtnis habe. Oder wollen Sie mir weismachen, dass alle, die hier arbeiten, politische Genies sind?«

»Nicht wirklich.« Er schenkte ihr ein breites Lächeln. »Es gibt natürlich schon Genies, so wie Mira. Aber grundsätzlich ist bei Radio Freies Europa jeder Exilant willkommen, der glaubt, dass der leibhaftige Satan den Kommunismus erfunden hat und dass die Sowjets in der Hölle schmoren sollten, weil das genau der Ort ist, an den die gottlosen Verräter der Freiheit gehören.«

Liz war nicht sicher, ob sie sich seinen leicht ironischen Unterton nur eingebildet hatte. War das wieder ein Test, so wie die Rede von Lenin? Oder war diese Ironie schon ein Hinweis darauf, dass Béla der Maulwurf war? Immerhin waren das genau die Worte, die Jeff Daniels in ihren Gesprächen verwendet hatte, selbstverständlich ohne jede Ironie.

»Nicht, dass Sie mich falsch verstehen«, fuhr er da aber schon fort, »wir leisten hier wichtige Arbeit. Wir geben den Menschen hinter dem Eisernen Vorhang die Chance, alles von zwei Seiten zu betrachten.« Nun klang er wieder sehr sachlich. »Es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, Menschen mit Informationen zu versorgen, die keine sozialistische oder kommunistische Propaganda enthalten. Deshalb möchte ich in meiner Abteilung nur mit Menschen zusammenarbeiten, die sich dieser Verantwortung auch bewusst sind. Also verraten Sie mir jetzt, warum Sie wirklich hier sind?« Er trat so dicht vor sie, dass sie neben Rauch und Menthol auch einen Hauch von Rasierwasser wahrnahm. Sein Blick versenkte sich so tief in ihren Augen, dass ihr Herz anfing, schneller zu schlagen. Was, so fragte sie sich, konnte er in ihren Augen sehen?

Er kam noch näher. Zeder, Moos und völlig überraschend – ein Hauch von Schwarzen Johannisbeeren, eine interessante Mischung von Aromen, so beunruhigend und widersprüchlich wie Béla selbst. Sie hielt seinem Blick nicht länger stand, wich ihm aus und bemerkte dabei eine Narbe knapp über seiner rechten Augenbraue.

Ein Knall ließ sie beide zusammenzucken.

Es war Stefan, der mit seinem Fuß die Tür schwungvoll hinter sich ins Schloss gekickt hatte, weil er mit beiden Händen einen dicken Aktenstapel vor sich hertrug. Er stöhnte demonstrativ und legte die Akten auf den freien Platz, den Liz auf ihrem Schreibtisch geschaffen hatte.

»Ich bringe gute Neuigkeiten!« Stefan wischte sich mit seinem Hemdärmel die Schweißperlen von der Glatze, zog einen Briefumschlag aus der obersten Mappe und fächelte sich damit Luft zu. »Briefe«, erklärte er, »das sind Briefe, die uns Hörer aus Ungarn geschickt haben.«

Das überraschte Liz. Zsuzsas Briefe kamen oft gar nicht bei ihr an, und wenn, dann waren sie manchmal fast völlig von der Zensur geschwärzt.

»Und woher wollen Sie wissen, dass es gute Neuigkeiten sind?«, fragte sie.

»Es sind deshalb gute Neuigkeiten«, mischte sich Béla ein, »weil diese Briefe beweisen, dass wir gehört werden. Trotz der vielen Störsender, mit denen die Sowjets unsere Frequenzen torpedieren. Und noch dazu sind unsere Hörer Repressalien ausgesetzt, sie können uns allenfalls heimlich hören. Und weil diese Briefe beweisen, dass sie das tun, garantieren sie unsere Arbeitsplätze.«

»Aber wie ist das möglich?« Zsuzsa bekam schon Probleme, wenn sie an eine Privatperson nach München schrieb. An Radio Freies Europa zu schreiben wäre glatter Selbstmord. Sobald der Brief im Kasten war, würde man wegen unsozialistischen Verhaltens in die Folterkeller der ÁVH verschleppt. »Wie funktioniert das?«

»Unsere Moderatoren nennen im Radio ständig neue neutrale Deckadressen beispielsweise in Schweden oder in der Schweiz. Wenn man seinen Brief dann so schnell wie möglich abschickt, kann er es hierher schaffen, bevor die Geheimpolizei die Poststellen informieren kann, dass es sich dabei um eine Deckadresse für Radio Freies Europa handelt. Außerdem erhalten wir auch Briefe von Exil-Ungarn aus der ganzen Welt. Viele bitten darum, dass wir Grüße an ihre Verwandten hinter dem Eisernen Vorhang senden. Und all diese Post legen wir nun in Ihre schönen Hände, Fräulein Kiss.«

Béla kam näher. »Hast du meinen Hungarian Daily Survey? Stefan?«

Als er Liz’ fragenden Blick bemerkte, erklärte er ihr freundlich, dass sie jeden Tag etwa zehn Seiten von den Researchern erhielten, in denen die aktuellen Tageszeitungen Ungarns ausgewertet und zusammengefasst wurden.

»War noch nicht fertig, weil einer der Researcher krank ist.« Stefan stöhnte. »Die sollten einfach mehr Leute in dieser Abteilung beschäftigen.«

»Und was ist mit den Telexen, ich warte dringend auf Nachrichten von unserem Mann in Budapest, du weißt schon, warum.«

»Nichts, Chef. Halvány sejtelmem sincs – nicht der kleinste Krümel.«

»Entschuldigen Sie, aber was soll ich denn mit der Post tun?«, wollte Liz wissen.

»Beantworten?«, Stefan grinste zu Béla hinüber.

Liz fing an, sich zu ärgern. »Niemand in Budapest, der seine fünf Sinne beisammenhat, möchte wohl Post von Radio Freies Europa in seinem Briefkasten haben!«

»Das stimmt.« Béla nickte ihr zu. »Stefan, das war nicht sehr nett! Entschuldigen Sie, Fräulein Kiss, ich erkläre es Ihnen. Wir lesen die Briefe und beantworten die Fragen der Hörer in unseren Sendungen. Um ganz sicherzugehen, anonymisieren wir die Absender, das klingt dann so: Zoltán aus S bei D am Plattensee hat uns gefragt, wie viele ungarische Schallplatten wir bei Radio Freies Europa haben. Das verraten wir dann On Air.«

Liz nickte. Das klang nach einer Arbeit, die ihr viel Zeit für ihre eigentlichen Recherchen verschaffen würde.

»Und weil wir gerade dabei sind …« Béla zeigte auf all die Aktenstapel. »Wir möchten Sie bitten, immer ein Auge auf die Ordnung in diesem Büro zu haben, sich um die Ablage zu kümmern und sich zu unserer Verfügung zu halten. Sie holen morgens die Schlüssel ab, an einem gewöhnlichen Tag jedenfalls. Manchmal werden wir aber auch schon vor Ihnen hier sein, je nachdem, was in der Welt gerade los ist. Habe ich was vergessen, Stefan?«

»Das Wichtigste!« Stefan grinste breit. »Wir trinken beide den Kaffee mit Kondensmilch und Zucker, Béla drei Stück, ich vier. Morgens legt Rosi für uns zwei Nusshörnchen bereit, die können Sie dann auf dem Weg nach oben abholen. Falls jemand behauptet, dass in den Redaktionsräumen nicht gegessen werden darf, vergessen Sie’s. Wir beide dürfen das.« Er zögerte und zwinkerte ihr dann aufmunternd zu. »Und wenn Sie sich bewähren, dann dürfen Sie das sicher auch schon bald.« Er sah zu der großen Uhr, die im Glaskasten an der Wand hing, und sein Blick wurde schlagartig ernst. »Béla, in zehn Minuten bist du mit dem Kommentar dran! Wo ist der?«

Als Béla mit den Schultern zuckte, fuhr Stefan sich über die Glatze, als wollte er sich die Haare raufen. »Was hast du seit heute Morgen eigentlich gemacht?« Er sah zu Liz und schüttelte den Kopf. »Natürlich, die Schönheit unserer neuen Assistentin hat dem Herrn Béla mal wieder den Kopf verdreht! Das verstehe ich wirklich gut.« Stefan führte die Fingerspitzen seiner rechten Hand an den Mund, küsste sie übertrieben und warf Liz diesen Luftkuss dann pantomimisch zu. »Sie sind natürlich eine wunderbare Perle in der Krone des ungarischen Reiches, aber es wäre schön, wenn Sie Béla in Zukunft lieber zur Arbeit ermutigen.«

»Lass gut sein, Stefan, wir haben gearbeitet.« Béla sprang auf und verschwand aus dem Büro.

»Willkommen in der ungarischen Abteilung«, sagte Stefan. »Ich hoffe, Sie ertragen uns länger als unsere letzte Assistentin.«

»Warum ist sie denn gegangen?«

»Aus dem gleichen Grund, aus dem dann alle gehen.« Stefan legte mit tragischer Geste die Handflächen auf seiner üppigen Brust übereinander, und Liz bemerkte zum ersten Mal, dass er einen Ehering trug. »Sie lassen sich von Béla das Herz brechen.« Er lachte, schob die Mappe mit den Briefen zu ihr hinüber, packte die anderen Aktenmappen und trug sie in den Glaskasten.

»Aber der letzte Assistent war doch ein Mann, István?«, fragte Liz, als er zurückkam.

Stefans Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Unser lieber Pisti, so haben wir István immer genannt, war viel mehr als nur ein Assistent. Er war unsere Seele und auch ein Senior Editor wie ich. Ich bin sicher, dass er nicht freiwillig gegangen ist, schließlich ist er Bélas bester Freund.« Er senkte seine Stimme zu einem ehrfurchtsvollen Flüstern. »Die beiden kennen sich aus Recsk.«