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»Wo bei allen drei Höllen bist du? Die Antwort ist mir natürlich klar: unterwegs, wie immer. Auf Schatzsuche, auf Abenteuer, versteckt zwischen den Fugen dieser Stadt, in Hinterzimmern und Ballsälen.« Seit du verschwunden bist, lebe ich dein Leben, und niemand, weder Prinz noch Verbrecherboss, ahnt, wer ich bin. Bis ich ihr begegne–der Frau mit Silber in den Augen. Sie führt mich auf deine Spur, in unsere Vergangenheit und quer durch Tiara, diese schrecklich schöne Stadt am Meer. Hier hat sich der Aberglaube auch nach eintausend Jahren gehalten. Hier, so heißt es, sei die Macht der Fragmente noch real. Hier gibt es noch Geister, und sie warnen mich: Der Preis für Zauberei wird in Blut gezahlt.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Das Fragment des Schicksals
isabel aust
1. Auflage, 2021
© 2021 Nina Austermeier
Ellerauer Str. 39, 25451 Quickborn
Umschlaggestaltung und Satz: Nina Austermeier
Lektorat und Korrektorat: Raphaela Schöttler-Potempa/zeilenfeuerlektorat.com
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
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Prolog
Tod
Du hast einmal gesagt, der Tod habe viele Gesichter, aber heute ist er vor allem unzuverlässig. Das Ticken der Standuhr ist die einzige Vibration in der Hitze, die sich über den Vormittag in diesem Höllenloch gesammelt hat. Die Vertäfelung ist wie ein Käfig, der die Luft zu einem undurchdringlichen Block formt. Bald werde ich darin ersticken. Seit ich am Sterbebett unserer Mutter sitze, habe ich das Gefühl, dass ich den Atem anhalte. Wegen des allgegenwärtigen Geruchs kalter Zigaretten, und weil ich gar nicht hier sein dürfte.
Nessa hat die anderen rausgeschickt, als ich hier einfiel. Aus Respekt, wie sie sagte, doch es hatte den üblichen schalen Beiklang. Ich lasse den Kopf auf die Sessellehne zurücksinken und die Gestalten, die mich durch den Türspalt beobachten, weichen zurück. Ich blinzle zu Tempest.
Tempest passt in dieses Haus wie all meine unglücklichen Erinnerungen. Wie sie mit verschränkten Armen auf dem Fenstersims sitzt, gleicht sie einer Statue. In ihrem klassischen Profil fehlt das übliche gemeine Grinsen, das ich von ihr kenne, wenn sie Unheil gestiftet hat.
»Hab Geduld«, sagt sie, weil sie weiß, wie ich mich fühle.
Ich zwinge mich, die Feder, die ich schon fast ganz aus dem Polster gezogen habe, loszulassen. »Du hast leicht reden, du hast alle Zeit der Welt.« Obwohl ich leise spreche, wird hinter mir getuschelt. Ich senke die Stimme zu einem Flüstern. »Wie lange noch?«
»Macht das noch einen Unterschied? Du hast sie schon so lange ertragen.«
»Eben. Tu mir den Gefallen.«
Sie seufzt theatralisch und erhebt sich. Ihr unendlich langes Haar ist geflochten, nur die grauen Strähnen um ihr Gesicht schweben scheinbar schwerelos. Es ist ihre einzige Regung, als sie Mutters Stirn berührt. »Ein paar Minuten wirst du dich wohl noch gedulden müssen.«
Mutters hagere Hände liegen auf der Bettdecke gefaltet wie zu einem stillen Gebet, doch ich weiß aus Erfahrung, dass das nicht stimmen kann. Diese Frau glaubt an nichts und niemanden. Nicht an Gott, nicht an ein Leben nach dem Tod oder die Wiedergeburt. Auch nicht an Vergebung, sonst hätte sie vielleicht irgendwann versucht, die Dinge anders zu sehen. Sorgen, Fehler, Reue, die sie immer mit sich herumgetragen hat, werden erst jetzt sichtbar. Sie fressen sich mit vereinten Kräften in die Haut, obwohl nichts mehr daran zu ändern ist, was kommt.
Ich schaue zum hundertsten Mal auf die Standuhr.
Mutter umkrallt meinen Arm.
»Amian«, krächzt sie. Ihre Augen starren durch mich hindurch. »Mein lieber Junge, du bist zurückgekommen.«
Wie falsch sie damit liegt.
Amian, immer Amian. Doch damit ist jetzt Schluss. Ich nehme ihre Hand und beuge mich über sie. Mir schlägt der Geruch von Schweiß und Urin entgegen.
»Soll ich dir ein Geheimnis erzählen?« Mein Mund ist trocken, meine Stimme heiser von der Finsternis, die dahinter lauert. »Ich bin nicht Amian.«
Keine Ahnung, ob ihr der Gedanke Angst macht oder mein Lächeln. Auf Mutters Gesicht breitet sich Grauen aus. Ihre Augen weiten sich, gelb und krank und aderndurchzogen. Wenn sie mich früher so fixiert hat, stach es wie eine frische Schramme.
»Du hättest verrecken sollen«, röchelt sie. »Die Dämonen sollen dich holen, die Teufel …«
Gleich zwei Dinge, von denen ich nicht gedacht hätte, dass sie an sie glaubt. Das ist zu gut, um wahr zu sein.
»Sie sind deinetwegen hier«, antworte ich und kann meine bösartige Freude nicht länger verbergen.
Sie saugt die Luft ein. Der letzte Funken in ihren Augen erlischt, und sie ist nur noch ein Kokon, in dem die Made vertrocknet. All die Jahre hat sie sich in diesem Zimmer eingeschlossen. Als Kinder durften wir es nicht einmal betreten. Jetzt ist sie Teil davon geworden, wie die mit Tüchern abgedeckten Möbel oder die Rahmen an den verquarzten Wänden, in denen Schmetterlingsflügel auf Stecknadeln Staub ansetzen. Staub, der in meinem Hals kratzt.
Alles wirkt so viel kleiner als früher, schäbiger. In meiner Erinnerung kommt dieses Haus einem Palast gleich. Ich habe mich nie gefragt, wie es wäre, es noch einmal zu betreten; ich hatte es ehrlich nicht vor.
»Das war gemein von dir«, tadelt Tempest, streicht mir dann aber über den Kopf wie eine seichte Brise. »Ich bin stolz auf dich.«
Bin ich froh, dass sie hier ist; eine Verbündete, eine Freundin. Eine Retterin, wenn es sein muss. Keine Wände oder Türen könnten sie aufhalten. Offener Himmel, nur einen Atemzug entfernt. Der Gedanke beruhigt mich, und ich sinke zurück in den Sessel. Tempest verwirbelt vor mir wie das letzte Flackern eines Kerzenlichts.
»Ist es vorüber?« Nessas Stimme lässt mich zusammenzucken. Die Schatten spucken sie hinter mir aus, ganz lassen sie sie jedoch nicht los. Sie hängen in ihrem tintenschwarzen Haar und dem herablassenden Zug um den Mund.
»Ja«, antworte ich knapp. Nicht weiter darauf eingehen. Keine Höflichkeiten. Nicht einmal für dich. Ich habe mir nicht umsonst angewöhnt, sie wie Gefahrgut zu behandeln. Eilig springe ich auf und sammle mein Jackett ein.
Nessa nimmt es mir ab. »Du willst doch nicht etwa schon wieder gehen? Wir haben uns so lange nicht gesehen. Lass uns über alte Zeiten reden.«
Sie kann nicht ernsthaft glauben, dass das ein Argument ist! Alte Zeiten sind der Grund dafür, dass ich gehen will. Wie schade, ich habe Verpflichtungen, das wäre meine Antwort. Aber gerade bin ich du. Und du stimmst zu – mit einem Lächeln auf den Lippen.
Meine Beobachter von vorhin sind verschwunden. Ich gehe jede Wette ein, dass sie mich im Verborgenen weiter belauern. Dazu kommen die Augen dutzender Ölschinken, die Nessa und mir zum Salon folgen. Wenn man genau hinhört, ist da ein leises Raunen, ein Flüstern, und ich habe nie herausgefunden, ob es das Haus selbst ist oder nur seine Bewohner.
Im Salon sperren die schweren Vorhänge vor den Fenstern auch das letzte bisschen Licht aus. Keine Spur vom Himmel. Er ist trotzdem da, sage ich mir – und Tempest ebenfalls. Kein Grund, nervös zu werden. Ich wische mir die Hände an der Hose ab. Sollte ich mich nicht längst an diese schummrige Umgebung gewöhnt haben?
Nessa nimmt auf dem Sofa Platz wie auf einem Thron und bringt dabei die Glasperlen zum Klimpern, die an langen Strängen von der Decke hängen. Eine Kanne mit verblasstem Goldrand zwischen uns speit Dampf, der nach Kaffee schmeckt. Nessa schenkt uns ein.
Es sind lächerlich kleine Tassen. Ihretwegen stahl Nessa eben dieses Geschirr, wenn sie früher mit uns Kaffeekränzchen spielen wollte. Ich fahre mit dem Finger über den Sprung, an dem ich mir mit sechs oder sieben die Unterlippe aufgeschnitten habe. Zwanzig Jahre ist das her.
»Jetzt gehören sie mir«, sagt Nessa zufrieden.
»Wie alles.«
Sie lacht. »Das ist dir zu verdanken.«
Ihre langen Nägel klimpern über das Porzellan. Früher hat sie an ihnen gekaut, bis sie bluteten. An den meisten hier hinterlässt das Leben Spuren, bei ihr ist es umgekehrt. Das Lächeln, mit dem sie schon immer alle verzaubert hat, verspricht nun ein Geheimnis. Die Unschuld – so gekonnt zur Schau getragen – gibt an genau den richtigen Stellen den Blick frei.
»Pass auf«, sagt sie, »dass du dich nicht wieder schneidest.«
Meine Finger verkrampfen um den Henkel. In Gedanken wiederhole ich den Tag: den Weg hierher, die Begrüßung, das nervöse Kribbeln in meinem Nacken, das mich erst nach Stunden losgelassen hat. Nicht ein einziges Mal hat Nessa meinen Namen gesagt.
»Denkst du, dass ich hier sitze, war Glück?« Sie winkt mit ihrer leeren Tasse. »Ich erkenne eine Fälschung, wenn ich sie sehe.«
Ich halte den Blick starr auf den Kaffeerest gerichtet. Versuche, unbeteiligt zu wirken. Nessa soll mir meine Überraschung nicht anmerken.
Wir beide, du und ich, haben das gleiche braune Haar, das in alle Richtungen absteht, das gleiche breite Kinn. Doch bei dir hat sich schon in jungen Jahren ein Wohlwollen um die Augen eingegraben, das mir gänzlich fehlt. Verrückt, wie viel das ausmachen kann.
»Wo ist er?« Nessas Ton ist Salz in längst vergessenen Wunden. Sie hat ein Talent dafür. Das muss in der Familie liegen.
»Würfele ein paar Knochen«, antworte ich kalt. »Leg dir die Karten. Du bist die Wahrsagerin.«
»Du weißt es also nicht.«
»Dir würde ich es nicht sagen.« Das klang bissig. So viel zu meinem Versuch, mich unbeteiligt zu geben.
Nessa schürzt beleidigt die Lippen, doch ich durchschaue es als das verzerrte Grinsen, das es tatsächlich ist. Glaubt sie, sie sei die Einzige, die Fälschungen erkennt?
»Ich bin deine Schwester«, sagt sie.
Nur zur Hälfte, aber das spreche ich nicht aus. Es hat keinen Sinn, alten Streit erneut auszufechten. Ich bin nicht hier, um wieder Kind zu sein. Mit klammen Fingern greife ich das Jackett und stehe auf. Noch einmal lasse ich mich nicht davon abbringen, endlich zu gehen.
Im Treppenhaus poltert es, als unzählige Ohren das Weite suchen. Nessas Schritte neben mir sind geräuschlos. Sie wusste schon immer, welche der Dielen knarren.
An der Tür hält sie mich zurück. Im scharfen Licht, das von draußen hereinfällt, hat sich ihr Lächeln verdunkelt. »Diese Weissagung ist umsonst, Amian: Eines Tages werden deine Dämonen dein Untergang sein.«
Wenn ich etwas auf ihre Worte geben würde, hätte ich vielleicht Angst. Aber ich halte ihr stand, reiße meinen Ärmel aus ihren Krallen und ziehe die schwere Eichentür hinter mir zu.
Vor dem Haus bleibe ich kurz stehen, um mir eine Kippe anzuzünden. Im Zigarettenrauch erscheint Tempests Umriss. Ich weiß, ich weiß, sie kann es nicht leiden, wenn ich rauche. Sie beäugt mich kritisch – wie immer, wenn ich dumme Entscheidungen treffe. Ausnahmsweise sagt sie nichts.
Als ich mich umdrehe, lauern die verzerrten Gesichter unserer Familie hinter welligem Fensterglas auf mich. Gänsehaut jagt über meine Arme wie eine Warnung, noch bevor ich Horace unter ihnen entdecke; ein Schädel, bezogen mit verfaulendem Pergament.
Seine Augen bohren sich so tief in meine Brust, dass ich Kupfer schmecke.
Ich wende mich ab, recke den Hals und fokussiere mich auf den Himmel zwischen den Dächern. Blau und grau. Meine Schultern entkrampfen. Ich atme durch. Der Qualm spült das Metall von meiner Zunge und vermischt sich mit dem Dunst der leeren Avenue:
Zwei endlose Häuserreihen, vier und fünf Stockwerke hoch, mit schmiedeeisernen Toren und Stuck um die Fenster. Sie stehen sich so dicht gegenüber, dass man selten überhaupt die Gelegenheit bekommt, ihre hohle Schönheit zu bewundern. Kabel spannen sich zwischen ihnen, vielerorts hängt Wäsche über der Straße wie das Dach eines zerfetzten Pavillons.
Hier leben die Marianos seit Generationen. Einer unserer Urgroßväter hat das Haus erworben, niemand weiß so recht, wann und wie; Teile des ehemaligen Stadtkerns von Tiara sollen noch aus der Vergangenen Welt stammen.
Nun ist diese einst herrschaftliche Gegend ein Gefängnis, abgeschottet vom Rest der Stadt. Eine Zelle, die ich mir mit dir geteilt habe, als wir Kinder waren.
»Er hätte kommen sollen«, sagt Tempest, als hätte sie meinen Gedanken gelauscht. »Es war falsch, es dir zu überlassen.«
»Er hatte keine Zeit.«
Doch sie hat recht. Dich hätte man mit offenen Armen empfangen. Deshalb sind wir hier – und, weil ich es mir einfach nicht nehmen lassen konnte, Mutter wenigstens einmal leiden zu sehen. Zumindest dieser Wunsch hat sich erfüllt.
Ich drücke die Kippe auf dem Asphalt aus. Dafür, dass ich meine Vergangenheit lange hinter mir gelassen habe, klebt sie so hartnäckig an mir wie Pech.
1
Heiligtum
Auf dem Heimweg halte ich am einzigen Kiosk in der Umgebung. Seit ein paar Wochen ist der mit Plakaten bepflastert, auf denen eine Frau mit leuchtend blauem Schal hervorsticht.
»Wie immer?«, fragt der Verkäufer.
Ich nicke und krame Kleingeld heraus, stecke die Packung Kippen ein und schnippe das Rückgeld ein paar Schritte weiter einem Mädchen namens Nomi zu. Sie ist die Prophetin, die schräg gegenüber des Antiquariats Posten bezogen hat. Diesen Irren läuft man wirklich überall über den Weg.
»Fick dich, Mariano!« Sie schleudert mir die Kupfermünzen zurück. »Besitz ist Blasphemie! Was soll ich damit bitte anfangen?«
»Was weiß ich? Kauf dir einen Kaffee oder Kippen, du siehst aus, als könntest du beides gebrauchen.«
»Ich bin elf!« Sie schneidet eine Grimasse, die ihr kleines, kreisrundes Gesicht wie einen wütenden Mond aussehen lässt. Es hat dieselbe Farbe wie ihr weißes Kleid und ist ebenso voller Flecken und staubiger Streifen. Ein Leben ohne Besitz ist so lange eine nette Idee, bis man frierend und hungrig hinter einem Kiosk herumlungert.
Nomi ist eine von hunderten, die auf den Straßen Tiaras leben. Dies war eine der ersten großen Metropolen, die die Menschen nach dem Untergang der Vergangenen Welt errichtet haben. Eine gewisse Hoffnung auf die Zukunft gehört da wohl dazu.
Ein Jahrtausend später ist die neue Welt auch nicht mehr das, was sie einmal war. Die Straßen sind zu eng für die Automobile, die hier entlangrattern. An Häusern, die man in der Mitte geteilt hat, um Platz für neue Straßen zu machen, prangen Schmierereien. Es sind nicht die einzigen Gebrauchsspuren.
Der Briefkasten, in dem eigentlich eine Antwort von dir hätte stecken sollen, hängt verbeult neben der ebenso verbeulten Gittertür, hinter der das Antiquariat verbarrikadiert liegt. Am Schloss entdecke ich neue Kratzspuren und seufze. Dieses Schmuckstück von Laden zieht immer wieder unerwünschte Gäste an. Das könnte am Emblem auf dem Fensterglas neben der Tür liegen: eine Krone aus Blattgold mit verschnörkelten Lettern darunter, die auf deinen größten Fund hinweisen.
Das Antiquariat war ein genialer Einfall – dein Einfall. Du wusstest: Für ein echtes Fragment der Vergangenen Welt würde jeder einzelne Bürger in Tiara seinen rechten Arm geben. Ständig kursieren Gerüchte über die sagenhafte Macht seltener Antiquitäten. Die Leute sind verrückt danach, ich habe nie verstanden, warum. Fragmente sind erstunken und erlogen. Und die Krone ist die größte Lüge von allen.
Ich wappne mich gegen den übermächtigen Geruch von alterndem Holz und muffigen Polstern und schließe auf. Der Luftzug bringt den Staub zum Wirbeln, vorbei an Teetischchen und Zinnkannen, Wanderstöcken und Teppichen, die aufgerollt in einer Reihe stehen. Vitrinen mit Kompassen, Taschenuhren und tanzenden Porzellanfiguren säumen die Wand, und es ist eine lange Wand. Der Laden ist wie ein Schlund in die Hölle, wenn es in der Hölle gehäkelte Platzdeckchen gibt. Alles, was irgendwie alt aussieht, findet hier seinen Platz, stapelt sich bis unter die Decke und in die hintersten Ecken und bringt ein Vermögen ein.
Als ich eingezogen bin, stieß ich mir jeden Tag die Schienbeine an dem Krempel. Aber ich habe Übung darin, mich in dein Leben einzufinden. Gekonnt drücke ich mich zwischen einem Paravent und einem Regal voller angelaufener Tabakdöschen vorbei.
Hinten steht ein Ohrensessel mit freiem Blick auf das vergitterte Schaufenster; Cordbezug in Senfgelb, zweiundsiebzig Jahre alt. Definitiv kein Fragment. Er war das erste Möbelstück, das du für den Laden erworben hast. Obwohl er wie alles andere genug Gelegenheit hatte, Staub anzusetzen, ist er als einziges unverkäuflich – aus dem einfachen Grund, dass Tempest gerne darin sitzt. Man könnte sie mit einer Hauskatze vergleichen, doch hören sollte sie das lieber nicht. Meist drapiert sie ihr langes Haar über die Lehne und kommentiert und ergänzt die Lügen, die ich den Kunden auftische. Hanebüchene Geschichten. Bei Gelegenheit werde ich dir ein paar davon erzählen.
Ich stapfe an Tempest vorbei, die sich schon auf ihrem Sessel ausgestreckt und die Augen geschlossen hat, als würde sie dösen. Sie döst nie.
Im Büro knipse ich das Licht an und erstarre.
Der Aktenschrank ist verschoben und die Papiere auf dem Schreibtisch liegen durcheinander. Der Aschenbecher ist heruntergefegt worden. Kristall, fünfundachtzig Jahre alt, jetzt bestehend aus etwa zweitausend Teilen.
»Scheiße«, murmle ich und lasse den Arm sinken. So ein Chaos.
»Was gibt es?«, fragt Tempest von nebenan.
»Ärger.«
»Mmh«, macht sie gelangweilt. Manchmal bewundere ich sie für ihre Einstellung. Mir flattern die Nerven.
Es ist, als hätte jemand das Zimmer genommen und geschüttelt, bis alles über den Boden verteilt ist. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie du ohne einen weiteren Blick auf dem Absatz kehrtmachst, um den Verantwortlichen zu finden. Aber … Wo anfangen? Ich fasse mir ein Herz und steige über aufgeblätterte Mappen.
Erstmal Bestandsaufnahme.
Überall Unordnung und schwarzblaue Farbe, die aus einem Tintenfass unter die Zettel gelaufen ist. Es wird ewig brauchen, das sauber zu machen! Wenn ich Tempest wenigstens einen Schwamm in die Hand drücken könnte … Sie wird bloß auf dem Sessel hocken und altkluge Wortwitze vortragen, und ich werde schrubben, das weiß ich jetzt schon.
Ich ziehe die Schreibtischschublade auf. Der Schlüsselbund liegt nicht mehr an seinem Platz. An meinem Hals pocht es immer unangenehmer, während ich mich durch den Schubladeninhalt wühle.
Nichts.
Sollte ich die Polizei rufen? Und dann? Der Einbrecher ist doch längst auf und davon. Und der Schlüssel … Dokumente sind eine Sache, aber der Schlüssel …
Da ist er, unter dem Tisch zwischen den Scherben!
Beim Auflesen schneide ich mich. Verflixt … Blut tropft auf den Boden und vermischt sich mit der Tinte. Aber ich bin zu erleichtert über meinen Fund, um mich weiter darum zu scheren.
Aus der Besenkammer nebenan hole ich eine Klappleiter, die ich eilig zwischen Schreibtisch und Schrank aufstelle. So groß der Laden ist, im Büro ist kaum genug Platz dafür. Aber anders gelangt man nicht an das ockerfarbene Landschaftsgemälde, das als das Zweite von rechts unter der Decke hängt. Es ist eines von dutzenden, die aussehen, als wären sie aus dem Laden herübergekrochen, Zentimeter für Zentimeter. Bis vor den Geheimschrank in der Wand.
Ich steige auf die Leiter und schiebe das Bild zur Seite. Glück im Unglück: Die Schranktür ist noch verschlossen. Jetzt geht mein Puls etwas ruhiger. Ich sehe über meine Schulter; im Geschäft schien alles an seinem gewohnten Platz zu sein. Durchatmen. Wenn ich hier fertig bin, brauche ich dringend eine Kippe.
Ich öffne die Tür, erfühle mit einer Hand Papier und ein Geldbündel und bemerke zu spät, dass mir bei der anderen das Blut bis zum Ärmel läuft. Aus dem Schrank kommt mir eine Kette entgegen. Ich kann sie eben gerade noch fangen – mit der blutigen Hand. Die Leiter schwankt gefährlich.
Ich schiebe rutschende Papierstapel zurück und wische die Hand an meinem Hemd ab – das ist eh nicht mehr zu retten.
Dieses Medaillon hatte ich schon fast vergessen.
Der Anhänger ist eine Münze, deren Prägung mit der Zeit unkenntlich geworden ist. Ich würde sie auf etwa eintausend Jahre schätzen. Nach manchen Rechnungen wäre sie womöglich ein Fragment. Irgendwann hat jemand eine dünne Kette durch das Loch darin gefädelt und später, sehr viel später, hast du sie mir geschenkt.
Ein vermeintliches Fragment für einen Vergessenen – einen seltsamen Humor hast du. Eines der wenigen Dinge, die wir nicht teilen.
Das Blut an der Münze ist schon getrocknet, ich werde es später abwaschen. Erst einmal hänge ich mir die Kette um, damit ich beide Hände freihabe.
Ich taste mich durch den staubigen Schrank; endlich finde ich die Schatulle mit dem Ring. Ihn habe ich ebenfalls von dir. Er war die Auszahlung für meine Arbeit. Ich klettere von der Leiter und stelle sie wieder in der Besenkammer ab.
Dass du sie kurzerhand in einen Kleiderschrank verwandelt hast, ist praktisch, wenn man notorisch spät dran ist wie ich, oder immer gut gekleidet wie du. Du warst lange Zeit etwas kräftiger als ich, aber über die Jahre sind wir uns ähnlicher geworden. Jetzt macht sich das bezahlt. Tempest hat den Kopf in den Nacken gelegt und beobachtet von nebenan, wie ich mich durch deine Hemden wühle.
»Nimm das Gelbe«, schnurrt sie.
»Ally mag kein Gelb.«
»Das wüsste ich vielleicht, wenn ich sie kennen würde.«
Energisch schiebe ich ein paar Kleiderbügel zur Seite. »Darüber haben wir gesprochen. Du hältst dich da raus.« Die Chancen stehen schlecht, dass das passiert. Ein Konzept von Privatsphäre hatte Tempest noch nie.
Endlich entdecke ich das Hemd mit den feinen Streifen und fische es aus dem Durcheinander. Passend für den Abend. Zwar wäre selbst mit verbundenen Augen etwas dabei gewesen, aber gerade heute ist ein makelloser Eindruck überlebenswichtig.
»Ally hier, Ally da«, sagt Tempest. Ich ziehe mich eilig um, das Medaillon verschwindet unter der Knopfleiste am Kragen, der Ring in der Hosentasche. »Es vergeht kein Tag, ohne dass du von ihr schwärmst. Natürlich muss ich sie näher kennenlernen.«
»Dafür wirst du noch genug Zeit haben. Heute Abend hältst du Abstand.« Wir sind das hundertmal durchgegangen, und hundertmal hat Tempest die Augen verdreht oder eine der schwarz-silbernen Strähnen eingezwirbelt. Eine Antwort bleibt sie mir immer schuldig.
»Tempest.«
Keine Antwort.
»Te…«
»Hast du etwas gesagt?«, ertönt Allys Stimme. Ich beuge mich um die Ecke zum Laden; der Sessel ist verlassen, daher Tempests Schweigen. Sie hätte mich wenigstens vorwarnen können, wenn ich die Silberglocke an der Tür schon nicht gehört habe. Sonst hat sie zu jedem Hut und jedem Schnurrbart etwas zu sagen.
Nur nicht zu Ally.
Sie wartet am Eingang, zurechtgemacht in einem pinken Kostüm, und nutzt ihre Reflektion im Fenster der Ladentür, um ihr blondes Haar zu richten. Für den Anlass hat sie es noch ein bisschen eleganter hochgesteckt als sonst.
»Du hast wieder einmal vergessen, dass du mich von der Arbeit abholen wolltest«, sagt sie.
»Ich muss beim Umräumen die Zeit aus den Augen verloren haben.« Es ist ein offenes Geheimnis, dass ich das St. Thalassa meide, wann immer es mir nur möglich ist.
Sie belässt es dabei – zumindest für den Augenblick – und schlendert zwischen den ausgestellten Waren hindurch, solange ich meine Krawatte binde. Hinter dem Schaufenster bleibt sie stehen.
»Hast du das Kleid etwa auch weggeräumt?« Sie deutet auf eine leere Kleiderpuppe. Dort hing bis vorhin ein hässlicher blauer Fetzen aus dem Müll des Sanatoriums.
Ich habe es gefunden, als ich Ally doch einmal abholte. Man hatte es entsorgt, weil es uralt und kaputt war, und genau aus dem Grund nahm ich es mit. Ich ließ es reinigen und nähen, und es hätte die Kosten zehnfach wieder reingebracht – wenn es nicht verschwunden wäre. Ausgerechnet heute!
»Amian«, sagt Ally, »ist alles in Ordnung?«
Ich nicke mühsam und schiebe den Ärger von mir. Dieser Tag ist nichts für schwache Nerven. Und noch ist er nicht vorbei. Um das Kleid muss ich mich später kümmern.
Ich werfe das Jackett über, will Allys Hand nehmen, doch sie stockt und dreht mein Handgelenk. Die Haut ist rostrot verschmiert.
Sie schürzt missbilligend die Lippen. »Ist das etwa Blut?«
»Ach das.« Ich ziehe am Ärmel, bis man den Schnitt nicht mehr sieht. Sie sorgt sich. Einen Moment entgleitet mir die von dir gewohnte Selbstsicherheit, aber ich straffe die Schultern. »Das ist halb so wild. Es war bloß ein Missgeschick.«
»Du wirkst heute nicht wie du selbst«, sagt Ally. Sie hat keine Ahnung, wie goldrichtig sie damit liegt. »Noch können wir den Abend absagen, wenn gerade nicht der richtige Moment ist.«
»Auf keinen Fall. Du hast dich so darauf gefreut, es offiziell zu machen.« Jetzt bin ich zurück in der Rolle, und Ally scheint besänftigt. Falls ihr mein Blick zurück zur Schaufensterpuppe auffällt, bohrt sie nicht weiter, sondern schenkt mir ein nachsichtiges Lächeln.
»Es ist fast acht«, sagt sie. »Wir sollten uns beeilen. Mein Vater kann Unpünktlichkeit nicht ausstehen.«
Du solltest wissen: Du hast Dr. Allinora Orville auf den Tag genau vor einem Jahr kennengelernt, auf einer Feier im dritten Palast. Sie ist die Tochter eines einflussreichen Beamten und glücklicherweise hat sie keine Ahnung davon, dass weder der Ruhm noch der Laden mir gehören – nicht einmal der Name.
Schon eine ganze Weile enden unsere gemeinsamen Abende nicht mehr nach dem Essen. Als wir kürzlich das Wochenende zusammen verbracht haben, nutzte ich die Gelegenheit und fragte sie, ob sie mich heiraten würde. Sie sagte Ja.
Damit hat sie deutlich mehr gesagt als ich.
Die Gelegenheit, alles aufzuklären, will sich auch nach Monaten nicht ergeben. Der passende Zeitpunkt dafür befindet sich irgendwie stets in der Zukunft – wenn du zurückkommst.
Doch das passiert einfach nicht.
Dass ich zuletzt mit dir gesprochen habe, ist ebenfalls ein Jahr her. Bis dahin habe ich dich nie glücklich gesehen und nie verzweifelt. An dem Abend warst du beides. Ich würde wetten, dass eine Frau ihre Finger im Spiel hatte. Blind bin ich schließlich nicht, und ich weiß selbst, wie das sein kann.
Bei mir ist es Ally.
Ich war noch nie so glücklich wie mit ihr. Kein Wunder, alles an ihr ist perfekt. Ihr Aussehen – das feine Gesicht, die vollen Lippen –, ihr Sinn für Mode, ihr Selbstvertrauen. Nichts, aber auch gar nichts kann sie aus der Ruhe bringen, und ich weiß, wenn sie jemals erfahren sollte, wer ich bin, wird sie mir mit einem zuckersüßen Wort das Herz in tausend Stücke brechen – eins für jede kleine, hinterhältige Lüge. Ich weiß es einfach.
Trotzdem wünschte ich, ihr könntet euch kennenlernen. Vielleicht würde sie dann sehen, wer ich wirklich bin, wer ich schon immer war; ich, nicht du. Hoffnung ist nicht immer logisch, dafür aber hartnäckig.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir die Rollen getauscht haben, und nur knapp das längste. Jeden Tag erwarte ich, dass du vor der Tür stehst, dass alles geklärt ist. Dann müsste ich wohl mit der Wahrheit herausrücken.
Seit dem Moment, in dem Ally den Tisch reserviert hat, zieht die Hoffnung wieder an mir. Als dann vor kurzem die Nachricht aus der Avenue kam, fühlte es sich wie ein Zeichen an. Ich wäre bereit gewesen, alles aufs Spiel zu setzen oder mir neue Lügen auszudenken – was immer besser funktioniert. Ich hätte den Himmel und alle drei Höllen in Bewegung gesetzt, um eine Familie aus den Bruchstücken meiner verschiedenen Leben zusammenzukleben.
Nur … wie soll das gehen, ohne dich?
Erst jetzt bemerke ich, dass ich stehen geblieben bin. Über uns flattert die Markise des Restaurants im aufkommenden Herbstwind. Ein Automobil rauscht vorbei.
»Was ist, bist du nervös?« Ally hat sich bei mir eingehakt, aber ich kann nicht sagen, dass ich das bemerkt hätte. Eine Strähne hat sich aus ihrem Haar gelöst, und sie versucht zum wiederholten Mal, sie wieder an ihren Platz zu stecken. Mir kommt der Gedanke, dass auch sie nicht sonderlich entspannt aussieht.
»Nein«, antworte ich ehrlich. Ich bin frustriert. Von dir, weil du nicht auf meine Nachricht reagiert hast, und von mir selbst, weil ich weiter lüge und gleichzeitig dermaßen erleichtert bin, dass alles beim Alten bleibt. Nervös wäre besser.
»Das werden meine Eltern an dir schätzen.« Ally nestelt an ihrem Kostüm. »Du behältst immer einen kühlen Kopf.«
»Absolut«, antworte ich, weil noch eine Lüge nichts ändern wird, und küsse sie. Kurz nur, aber es entlockt ihr ein kokettes Lächeln, das nicht verschwindet, bis sie den Lippenstift in ihrer Handtasche gefunden hat und neues Pink aufträgt.
Ich sehe mich nach Tempest um. Sie ist nicht hier. Hat sie tatsächlich auf meine tagelangen Mahnungen gehört? Das kommt einem kleinen Wunder gleich.
Drinnen empfangen uns Kerzenschein und Violinenmusik. Ally hat unser Stammlokal für den Anlass ausgewählt. Das Schnäppchen ist noch vom alten Schlag, was nicht zuletzt der Name verrät. Dir würde es gefallen, wenn auch nur, weil es große Ähnlichkeit mit einem Museum besitzt. Das mag an den wackelnden Tischchen und den eingestaubten Setzkästen, rostigen Plaketten und vergilbten Fotos liegen, die jeden freien Platz bedecken. Wann immer wir hierherkommen, haben die Kerzen neue Brandlöcher in den roten Tischdecken hinterlassen. Genau wie das Mobiliar hat der Besitzer seine besten Zeiten lange hinter sich.
Ally findet all das »charmant«. Sie behauptet, ihr Vater habe ein Faible für derartige Restaurants »mit Persönlichkeit«. Im Vorbeigehen werfe ich einen Blick auf die Tageskarte. Lauter Klassiker. Damit will sie ihre Eltern beeindrucken? Die ganze Kreuzstraße herunter gibt es dutzende Restaurants, in denen Festlandküche serviert wird. Die Preise sind paradoxerweise dieselben, für dein Portemonnaie ist es egal.
Ally zieht mich weiter; die Orvilles warten schon.
Allys Mutter ist in genau die gleiche Sorte von Kostüm gekleidet wie ihre Tochter – in Grellgrün, was die maximale Sichtbarkeit bei dieser schummrigen Beleuchtung garantiert. Scheinbar ist ihr Mode wichtig, doch das Bemerkenswerteste an ihr ist die früh ergraute Dauerwelle. Ihr Mann ist ungleich größer und breiter; er versucht, seinen Bierbauch als breite Brust zu verkaufen. Sein Jackett sitzt so eng, dass sich die Kontur seiner Taschenuhr darunter abzeichnet. Ich schüttle Hände, ziehe Ally den Stuhl zurecht und als das Essen kommt, ist das Schlimmste überstanden.
»Wie läuft das Geschäft?« Mr. Orville hackt auf seinen Auflauf ein. »Es ist lange her, dass Sie etwas an die königliche Sammlung verkauft haben.«
»Ich halte die Augen immer für Sie offen«, antworte ich gönnerhaft. Ihm gegenüber fällt mir dein Ton fast schon zu leicht.
Ally hat sich besser unter Kontrolle. Statt uns warnende Blicke zuzuwerfen, klimpert sie lieber mit dem Besteck. »Das ist ein Familienessen! Heute wird nicht über die Arbeit geredet.«
Erstaunlicherweise gibt Mr. Orville klein bei und widmet sich wieder der schwierigen Aufgabe, alles auf seinem Teller mit der Gabel zu durchlöchern. Ich hätte ihm bessere Manieren und lauteren Widerspruch zugetraut; er ist ein hoher Beamter und hat schon Jahre für das Königshaus gearbeitet, bevor du die Idee hattest, das Geschäft dorthin auszuweiten. In gewisser Weise ist es auch ihm zu verdanken, dass ich Ally kennengelernt habe. Mrs. Orville bin ich bisher nur an der Haustür begegnet.
»Sie haben also die antike Krone wiederentdeckt?«, erkundigt sie sich.
»Ganz recht.«
Mr. Orville sieht von dem Durcheinander auf seinem Teller auf, wohl in der Hoffnung, Ally würde etwas einwenden. Vergeblich.
Also erzähle ich die Geschichte über den Bericht eines Archäologen vom Festland, der dich auf die Spur gebracht hat. Über Hehlerei – Mr. Orville rutscht unruhig auf seinem Platz hin und her – und wie du die Krone trotz aller Widrigkeiten ausfindig machen konntest. Ich gestikuliere, wie du es tun würdest, und dein Stolz schwingt genau richtig mit. Allys Augen glitzern vor Begeisterung.
»An dem Abend, an dem ich dem Königshaus die Krone überreicht habe, haben wir uns kennengelernt«, schließe ich und nehme ihre Hand.
»Von all dem wusste ich gar nichts«, haucht sie.
Mrs. Orville hat ihre Suppe ganz vergessen. Sie beugt sich interessiert vor. »Was ist das Geheimnis? Wie unterscheidet man ein echtes Fragment von einer einfachen Antiquität?«
Das bringt mich ins Straucheln. Ich durchforste mein Hirn nach einer passenden Phrase. Die ehrliche Antwort würde ihr nicht gefallen. Sie lautet:
Gar nicht.
Es gibt keine Fragmente.
Es gibt keine Vergangene Welt.
Es ist Betrug.
Nichts von den Geschichten, die man sich in Tiara erzählt, ist wahr. Wenn ich wählen müsste, würde ich noch am ehesten an die drei Höllen glauben. Nicht an das Jenseits der Vergangenen Welt, und schon gar nicht daran, dass irgendein Teil davon in dieser Stadt gelandet ist.
»Man braucht einfach Fingerspitzengefühl dafür.« Ich schenke Allys Mutter ein Lächeln wie das, mit dem du beinahe alles verkaufen kannst.
»Wie aufregend. Das haben Sie sicher geerbt.«
»Ja …«, sage ich gedehnt, »meine Familie hat einen gewissen Ruf.« Und was für einen. Selbst unter den Vergessenen sind wir Marianos berüchtigt für unseren Geschäftssinn. Das würde ich aber niemals aussprechen. Genauso gut könnte ich mich mit dem Tranchiermesser erdolchen, das der alte Kellner liegen lassen hat.
Ally und ihre Mutter tauschen einen Blick. Eine Pause entsteht, in der insbesondere Mrs. Orville auf etwas zu warten scheint.
»Sehr aufregend«, sagt sie so aus dem Zusammenhang gerissen, dass anscheinend niemand bemerkt, dass sie sich nur wiederholt.
Erneut diese Pause. Allmählich wird mir klar, worauf sie wartet.
Auf mich.
Auf die Frage, den Ring, die Glocken und am besten gleich die Enkelkinder.
Mr. Orville steht auf und brummt etwas von frischer Luft. Er bedeutet mir, ihm zu folgen.
Ally drückt meine Hand, bevor ich aufstehe, und bleibt auffällig still zurück. Ich habe sie noch nicht oft nervös erlebt – in Privatdingen ist sie mindestens genauso organisiert wie im Beruf. Dass sie jetzt die Falten in der zerknitterten Tischdecke glattstreicht, will mir gar nicht in den Kopf. Meine eigene Nervosität hält sich in Grenzen, um es mild auszudrücken. Ich bin es nicht, der hier verurteilt wird, sondern du. Und du stehst über solchen Dingen, wie immer.
Dennoch bin ich froh, diesen verstaubten Wänden für einen Moment zu entkommen. In den Restaurants der Altstadt wird das Rauchen wegen der Brandgefahr ungern gesehen. Daher sammeln sich einige Gäste um den Aschenbecher, den man vor dem Schnäppchen aufgestellt hat. Mr. Orville weicht der fröhlichen Gesprächsrunde weiträumig aus und stellt sich zwischen ein paar brachliegende Blumenkübel.
»Sie meinen es also ernst.« Er zündet sich einen Zigarillo an und steckt das Feuerzeug wieder ein, sodass ich nach meinem eigenen graben muss. »Ich habe mich über Sie erkundigt, wissen Sie?«
Deshalb stehen wir hier. Er will große Töne spucken.
»Sollte ich mir Sorgen machen?«, frage ich.
»Sie sind ein Mann mit blütenweißer Weste.«
»Gut zu hören.«
Er stößt eine dichte Rauchwolke aus. »Sie verstehen mich falsch.«
Meine Hand am Feuerzeug erstarrt; ich wittere Ärger.
Mr. Orville zieht sein zu kleines Jackett zurecht und räuspert sich. »Keine Geschichte zu haben ist nie ein gutes Zeichen. Daher habe ich Sie beschatten lassen – ein paar Tage lang, bis heute früh. Ich nehme an, Sie haben meiner Tochter nichts davon erzählt, dass Sie Familie in der Avenue haben.«
Es gibt etwas, das er nicht über dich weiß: Du bist höflich. Du bist charmant. Aber du nimmst nicht einfach alles hin.
»Das muss ich auch nicht.« Ich lasse das Feuerzeug Feuerzeug sein und greife nach dem Scheckbuch in meiner Brusttasche. »Wie viel?«
Mr. Orville lässt beinahe seinen Zigarillo fallen. »Was?«
Ich tippe mit dem Füller aufs Papier. Eine kleine Bewegung, aber sie fühlt sich grandios an. »Für Ihr Schweigen.«
Innerhalb von kürzester Zeit wechselt die Farbe seines Gesichts von fahlweiß zu hochrot. »Ich bin ein Beamter für das Königshaus!«, empört er sich. Ein paar rauchende Gäste recken die Köpfe. Er verstummt – wohl aus Angst um seinen Ruf – und schnappt still nach Luft.
Ich verkneife mir ein Grinsen und kritzle eine zusätzliche Null, unterschreibe schwungvoll mit deinem Namen und überreiche den Scheck. »Ich liebe Ihre Tochter, was für einen Unterschied macht es da, wo meine Familie wohnt?« Die Antwort kenne ich längst, aber ich kann mich nicht damit abfinden, dass es in Tiara keinen Platz für Ally und mich geben soll.
»Sie sind ein Vergessener«, knurrt Mr. Orville. Er spricht leise, damit die anderen es nicht hören, damit sie nicht erfahren, wer ich bin. Ich – kein Mensch, eher ein Dämon. Vielleicht sogar ein Teufel. Das kommt mir bekannt vor.
»Ich bin ein Vergessener mit Geld«, verbessere ich normal laut und nicht ohne eine gewisse Genugtuung. Es darf gern jeder hören …
Jeder bis auf Ally.
Mr. Orville überfliegt den Scheck und der Protest verstummt. Damit, dass ich ihn zur Hölle schicke, hat er nicht gerechnet. Du kannst mir glauben: Allein das war das Geld absolut wert.
»Ally möchte nächsten Sommer heiraten.« Ich klopfe ihm auf die Schulter und dränge mich an ihm vorbei. »Kaufen Sie sich von dem Geld bis dahin einen besseren Anzug.«
»Wie hast du es hinbekommen, dass mein Vater sich dermaßen gut benimmt?«, fragt Ally leise.
»Charme.« Ich helfe Mrs. Orville in den Wagen, mindestens so galant, wie du es tun würdest. Dabei wirft sie Ally einen Blick zu, von dem ich genau weiß, dass er meinen Sieg bedeutet. Das Automobil der Orvilles braust davon und lässt uns allein zurück.
Dieser Abend ist allen Hoffnungen und Befürchtungen gleichermaßen gerecht geworden – bin ich erleichtert, dass er vorbei ist! Ich kann gar nicht abwarten, die Krawatte endlich loszuwerden. Für den Moment lockere ich den Knoten. Nur ein Stück. Ally, sonst der Inbegriff von Haltung, ist schon dabei, ihre Ohrringe abzunehmen und in der Handtasche zu verstauen.
Sie bemerkt, dass ich sie beobachte, und schenkt mir ein Lächeln. »Hast du uns ein Taxi gerufen?«
»Ein Spaziergang ist viel romantischer. Und vom Schnäppchen zum Antiquariat ist es bloß ein Katzensprung.«
Wir machen uns auf den Weg. Ich will ihre Hand nehmen, doch sie bemerkt es gar nicht. Sie ist zu beschäftigt damit, neuen Lippenstift aufzutragen.
»Amian«, sagt sie nach einer Weile, während der das einzige Geräusch das Klappern ihrer Absätze war. »Der Ring ist wirklich schön. Aber hätte es nicht etwas … Moderneres sein können?«
»Ich bin Antiquar. Der Ring ist aus geschnitztem Elfenbein und bestimmt über vierhundert Jahre alt. Der ist praktisch unbezahlbar.«
»Eben. Du hättest einen neuen, richtigen Ring kaufen können.«
»Er gefällt dir nicht.« Die Erkenntnis sticht, und vielleicht setzt Ally deshalb nichts nach. Sie kennt mich. Fast schon zu gut.
Zugegeben, es war eine zynische Entscheidung, ihr genau diesen Ring zu schenken. Er stammt von dir, natürlich, und du hast ihn aus der Avenue. Jedes Haus dort besitzt etwas, das man Dummen als Fragment auftischen kann. Er ist ein Familienerbstück, aber mir sollte er mit Sicherheit nie gehören. Nessa würde toben, schon deshalb habe ich mich diebisch darauf gefreut, dass Ally ihn trägt. Ich nehme endlich doch ihre Hand. Es wäre die kleinliche Sorte Rache gewesen. Jetzt drückt das schlechte Gewissen genauso wie das Elfenbein zwischen unseren Fingern.
»Er ist hübsch«, sagt sie. »Aber …«
Ein kaum merklicher Schauer geht durch die Erde. Ally auf ihren hohen Schuhen verliert das Gleichgewicht. Sie greift nach meinem Ellenbogen. Dann ist es schon wieder vorüber. Ich halte sie, sodass sie sicher steht.
Ihre Schuhe haben dieselbe Farbe wie ihr gerade geschnittenes Kostüm. Der Rock geht genau bis übers Knie. Aber Ally sieht nach so viel mehr aus. Sie ist mehr.
Für mich ist sie alles.
Der Ring ist egal.
»Ich kaufe dir einen anderen.«
Sie schenkt mir ihr perfektes Lächeln und wir gehen Arm in Arm nach Hause.
Der Strom ist ausgefallen. Ich trage Ally im Dunkeln die Treppen hoch und sie lacht bei jeder Stufe, die ich verpasse. Oben setze ich sie auf dem Küchentisch ab und küsse sie.
Ich weiß, dass ihre Lippen bonbonfarben sind. Sie schmecken zwar bitter, doch die Worte, die sie flüstern, sind zuckersüß. Allys Nägel hinterlassen kalte Spuren unter meinem Kinn bei dem Versuch, mich näher zu locken.
Als wäre das nötig.
Ich ziehe ihr die Jacke aus und sie beugt die Schultern, damit ich die Träger ihres Kleides darüberstreichen kann. Dem schmalen Grat ihres Nackens folge ich zur Wirbelsäule, fahre durch ihr Haar und löse das Akkurate auf zu einzelnen Strähnen, in denen ich mich verfangen kann. Sie locken sich über ihre Brust, verhüllen, was ich entdecken will. Allys Hand führt mich. Ihr Kostüm knittert und rutscht ihre Oberschenkel herauf. Ich spüre den Erhebungen und Tälern ihres Körpers nach, taste mich immer weiter vor, bis zu weicher, feuchter Haut.
Wir legen unsere Masken ab. Wenn sie stöhnt, wenn sie seufzt, dann ist sie nicht perfekt. Wir finden Wege vorbei an Schnallen, Stoff und Spitze. Ihre Finger graben sich in meinen Rücken.
»Amian«, haucht sie.
Ich ziehe sie zu mir, sodass sie auf dem Tisch zum Liegen kommt, küsse sie, damit sie schweigt. Morgen werde ich blaue Flecken haben, wo die Tischkante drückt, doch jetzt bemerke ich es kaum. Wir haben alle Worte aufgegeben, sie ist Ally und ich bin Osian, und dies wird das bittersüße Ende eines bittersüßen Tages.
Vor achtzehn Jahren
Es hatte als Mutprobe begonnen. Den Tag über hatten sie im verwilderten Friedhof hinter der Kathedrale herumgehangen. Nachdem die Furcht verflogen war, tobten die Kinder dort, wo braune Gräser zwischen halb versunkenen Grabsteinen hervorpiksten und Engelsstatuen mitleidige Blicke tauschten. Amian spielte nicht mit, er hatte sich zu den Älteren gesellt, die bei der Gruft rauchten.
Osian hatte ihn allein gelassen. Er hatte behauptet, einen Geist gesehen zu haben. Man sollte denken, dass das auf einem Friedhof zu erwarten gewesen wäre. Der Sinn einer Mutprobe. Aber Osian stellte solche Behauptungen nicht auf, um Anerkennung zu bekommen. Er war zu Amian gelaufen und hatte ihm mit zitternder Stimme davon berichtet. Offenbar hatte Cergio, ein hagerer Kerl von etwa zwölf Jahren, mitgehört. Denn kurze Zeit später wussten es alle: nicht bestanden.
Die älteren Jungen hatten gelacht. Die Mädchen getuschelt. Amian und Osian waren Brüder, gleichalt, und sie sahen sich ähnlicher als die meisten anderen Geschwister. Beide hatten das gleiche wilde Haar und wache Augen. Aber Osian war ein bisschen kleiner, ein bisschen dünner. Und er weinte, während Amian einfach nicht dazu zu bewegen war.
Geister, was für ein Unsinn. Amian fürchtete sich weder vor Gespenstern, noch vor der vielfach beschworenen gruseligen Atmosphäre, die auf dem Friedhof herrschte. Genau genommen fürchtete er sich vor nicht viel, selbst wenn er aus Mutters Zimmer finstere Gesprächsfetzen aufschnappte, die ihm und Osian eine düstere Zukunft prophezeiten. Quatsch, dachte er sich dann jedes Mal. Irrsinn. Die Welt war nur halb so finster, wenn man den Schatten keine Beachtung schenkte.
Aber Osian schenkte ihnen Beachtung, und das hatte ihm den Spott aller eingebracht. Er war nach Hause gegangen und nun schienen die anderen darauf zu warten, dass auch Amian doch noch Angst bekam. Er ließ die Beine von der Mauer baumeln, auf die er geklettert war, und genoss die erwartungsvollen Blicke. Einer der älteren Jungen hatte von etwas Kleingeld Wassereis für all jene gekauft, die die Mutprobe bestanden hatten. Amian würde auf keinen Fall auf eine solche Gelegenheit verzichten.
Irgendwann war das Eis aufgegessen, die Sommerhitze ließ nach und der Abend kam. Die ersten Mädchen machten sich auf den Heimweg. Und als auch die Jungen nach und nach den gemeinsamen Treffpunkt verließen, befand Amian, dass er seinen Mut hinlänglich bewiesen hatte. Er schnippte den Eisstiel weg, traf einen Grabstein und rutschte von der Mauer, um zu gehen.
Zuhause war ein Bau am hinteren Ende der Avenue, ein grauer Klotz, in den es kaum Tageslicht hineinschaffte. Hinter den hohen Mauern wohnten fünf Generationen, von Amians Urgroßonkel bis zu seinem jüngsten Neffen. Genügend Menschen, um eine halbe Stadt zu füllen. Doch sie lebten hier, eingepfercht in die Avenue.
Das Haus war nicht annähernd so alt wie die Kathedrale, trotzdem schlug Amian jedes Mal der Geruch von Jahrhunderten entgegen, wenn er durch das Portal am Eingang trat. Muff und Schimmelpilz saßen in den Wänden, da war nichts zu machen. Genauso hartnäckig wie die Stimmen, die verächtlichen Worte, die wie Staub in der Luft hingen. Sie kamen aus dem verbotenen Raum und jagten Gänsehaut über Amians Rücken. Er schlüpfte aus seinen Schuhen, um lautlos an der Tür vorbeizugelangen.
»Dieses verdammte Balg«, knurrte Mutter. Jahrzehntelanges Rauchen hatte ihre Stimme komplett zerstört. »Diesmal hat er seine Lektion gelernt.«
Etwas durchfuhr Amian wie ein Schock. Osian war doch hoffentlich nicht so dumm gewesen, ihnen von den Geistern zu erzählen? Sie schauten ihm sowieso schon auf die Finger. Aber er war zu naiv, zu ängstlich. Anders als Amian schien er nichts richtig machen zu können.
Amian klemmte sich die Schuhe unter den Arm und lief die Treppen hinauf.
Osian und er hatten eines der Schlafzimmer unter dem Dach, wo es im Winter kalt war und im Sommer brütend heiß. Goldenes Abendlicht flutete den Gang und ließ etwas auf dem Türrahmen blitzen. Der Schlüssel. Sie hatten ihn wieder eingeschlossen. Amian sprang, schnappte sich den Schlüssel und sperrte auf.
Da waren rotbraune Flecken auf dem Teppich. Hinten, halb versteckt unter dem Bett, lag eine Gestalt. Amian wusste, es war Osian. Und obwohl sie ja fast gleich groß waren, sah er unheimlich klein aus.
»Osian?«, fragte Amian leise und trat näher.
Osian regte sich nicht. Das Sonnenlicht schien Streifen auf sein Gesicht zu malen. Amian hockte sich neben seinen Bruder. Nicht Licht und Schatten, sondern Blut. Es verklebte Osian die Augen, pappte sein Haar an seinen Kopf wie Teer und versickerte im Teppich. Er atmete flach.
Da war er vor Geistern geflohen und echten Monstern in die Arme gelaufen, und nun konnte Amian nichts für ihn tun. Er war wirklich nicht der Klügste. Amian setzte sich zu ihm und streckte die Beine aus. Er streichelte Osian übers klebrige Haar.
»Du hättest es für dich behalten sollen«, seufzte er. »Und niemand hätte etwas geahnt.«
2
Vergangenes
Ich wache auf, und es dauert ein paar Sekunden, bis mir bewusst wird, dass Ally neben mir liegt. Sie bleibt selten über Nacht.
Im Licht der Straßenlaterne vor dem Haus ist ihr Haar ein goldenes Meer um ein elfenbeinfarbenes Gesicht. Ihr Atem ist lautlos; sie ist es nicht, die mich geweckt hat.
Mein Herz hämmert wie nach einem Alptraum.
Ich fahre mir über das Gesicht, den Kiefer. Im Schweiß an meinem Hals klebt etwas. Die Kette. Das Medaillon auf meiner Brust ist warm – heiß …
Es brennt.
Ich zerre an der Kette, sie schneidet in meinen Nacken und reißt. Der Schmerz lässt nach. Erleichtert seufze ich auf.
Das Medaillon baumelt von meiner Faust. Ich spüre die Hitze, wie sie die Kette entlangwandert; in den Kratzern meine ich sogar, ein wütendes Glühen zu entdecken.
Was bei allen drei Höllen …? Ich rolle so leise wie möglich aus dem Bett, um Ally nicht zu wecken.
Das fahle Licht, das nur in Badezimmern herrschen kann, blendet. Jetzt sieht das Medaillon vollkommen normal aus, kein Leuchten mehr wie frisch geschmiedet. Auf der einen Seite klebt mein Blut. Ich drehe den Hahn auf und spüle es ab. Nein, nicht nur Blut. Eine dünne Schicht aus Rost färbt das Wasser bräunlich. Etwas an dem Anblick stößt mir sauer auf.
Naturgemäß dauert es nicht lange, bis Tempest im Spiegelbild über dem Waschbecken erscheint. »Der Küchentisch?«, seufzt sie. »Du bist wirklich ein Traum von einem Schwiegersohn.«
»Wenn du wüsstest, wie viele Nullen auf dem Scheck standen, würden wir diese Unterhaltung nicht führen.« Mir fehlen die Nerven für Streit mit ihr. Ich reibe mir übers Gesicht. Noch bin ich nicht sicher, ob ich wirklich wach bin. Die Fugen sind unscharf und der Geschmack von Schlaf liegt pelzig auf meiner Zunge.
»Das meinst du nicht ernst.« Tempests Stimme dröhnt hinter meinen Schläfen. Kennt sie denn keine Rücksicht? »Sie ist deine Verlobte, keine Antiquität, die man kauft und verkauft!«
»Ally hätte alles erfahren. Sie würde mich nicht wollen, wenn sie von Nessa und Horace wüsste.«
»Was ist mit dem Gerede über Liebe?«
Nicht zum ersten Mal wünschte ich, sie würde meine Gedanken nicht immer laut aussprechen, vollkommen egal, ob nur ich sie hören kann.