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»Osian zieht mich mit sich, wohin er auch geht. Mal sind zwischen uns drei Schritte, mal dreißig. Aber sie führen immer zu ihm. Ein ziemlich kleiner Mittelpunkt für eine ganze Welt.« Schon immer ist Tempest an Osian gebunden wie ein Schatten. Nur er kann sie sehen–und ihren Geschichten lauschen. Für ihn ist sie eine begnadete Geschichtenerzählerin geworden, doch in letzter Zeit scheint er nicht mehr so recht zuzuhören …
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Veröffentlichungsjahr: 2021
1. Auflage, 2021
© 2021 Nina Austermeier
Ellerauer Str. 39, 25451 Quickborn
Umschlaggestaltung und Satz: Nina Austermeier
Lektorat und Korrektorat: Raphaela Schöttler-Potempa/zeilenfeuerlektorat.com
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
ISBN: 9783754623862
isabelaust.com
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Das Geisterlicht
Im Antiquariat steht ein kleines Lämpchen aus buntem Glas.
»Emaillierter Deckel.« Osian tippt es im Vorbeigehen an. »Schuppenmuster, ein Zeichen, dass es alt ist. Mindestens einhundertfünfzig Jahre.«
»Tatsächlich«, gebe ich sarkastisch zurück. Als wüsste ich das nicht. »Ich könnte dir hunderte Geschichten von alt erzählen …« Mich unterbricht das Rumpeln des Mobiliars, das er durch das halbe Antiquariat schiebt. Wie immer, wenn das Wetter so herrlich mies ist, fällt Osian nichts Besseres ein, als drinnen zu hocken und Schubladen zu zählen. Sein Bruder wäre stolz auf ihn!
Ich warte also, strecke mich auf meinem Sessel aus und zwirble mein Haar, um wenigstens etwas zu tun zu haben.
Plötzlich hält er inne. »Tempest, was sagt die Uhr?«
Ich werfe einen Blick auf die Kaminuhr, die auf der alten Kommode gegenüber steht. »Fast Geisterstunde.«
Osian hebt eine Braue. »Es ist vormittags.«
»Und trotzdem bin ich hier. Halb zwölf. Also was ich –«
»Verflixt!« Osian lässt alles stehen und verschwindet nach nebenan ins Büro.
»He!« Ich ziehe mich an der Lehne hoch. »Was ist mit meiner Geschichte? Ich habe noch gar nicht richtig angefangen!«
Die Glocke an der Tür klimpert und ich wende den Kopf. Eine Frau im Kostüm und mit hochgestecktem blondem Haar tritt ein. Die schon wieder! Sie grüßt halblaut, doch auf eine Antwort kann sie ewig warten. Osian hört schlecht, wenn sein Kopf voller Mumpitz ist. Davon kann ich ein Lied singen.
»Guten Tag«, sage ich tonlos. Natürlich bemerkt sie mich nicht. Für alle außer Osian bin ich Luft.
Sie wandelt durch das Sortiment, ein bisschen langsamer als die meisten. Als würde sie versuchen, die Sachen mit den Augen auseinanderzuschrauben und wieder zusammenzusetzen.
»Ladendieb gesichtet«, verkünde ich.
Osian kommt um die Ecke geeilt und bleibt stehen. »Ally.« Reflexartig fährt er sich durchs nass glänzende Haar. Er muss es sich frisch zurückgekämmt haben. Das war ihm wichtiger als meine Geschichte? Typisch! Dem offenen Knopf am Kragen nach war er außerdem gerade dabei, sich umzuziehen.
Ally sieht es auch und lächelt. »Ich bin wohl zu früh dran für Mittagessen.«
Osian wirft Jackett und Mantel über und klopft sich notdürftig den Staub von der Hose. Kann er sich sparen, da hilft nur die Reinigung. »Macht nichts, wollen wir gehen?« Er schießt mir einen beschwörenden Blick zu.
Was soll ich tun, ihn aufhalten? Mit einer Kette am Fuß hinter ihm her poltern? Ich verdrehe die Augen und folge ihnen mit einigem Abstand hinaus in die Kälte.
Osian zieht mich mit sich, wohin er auch geht. Mal sind zwischen uns drei Schritte, mal dreißig. Aber sie führen immer zu ihm. Ein ziemlich kleiner Mittelpunkt für eine ganze Welt.
Ally kennt er vielleicht, hmm, drei Tage. Oder drei Wochen. Oder vier. Und sie treffen sich jeden. Verflixten. Abend.
Jeden!
Im Restaurant hocke ich auf dem Fenstersims. Alte Angewohnheit. Der Laden ist voll, das kommt Osian bestimmt gelegen. Er hat es nicht gern, wenn ich ihm auf den Teller schaue. Seiner Angebeteten erst recht nicht. Wenn es um sie geht, ist es, als wäre sein Hirn mit Watte gestopft. Dann denkt er plötzlich, er müsste mich aus allem aussperren. Oder zumindest einen Tisch am anderen Ende des Raums wählen.
»Osian«, sage ich; zu mir natürlich, weil er nicht hört. Niemand hört. »Das Glaslämpchen ist nicht nur alt, es ist sehr alt. Ich könnte dir eine ganze Menge über alt erzählen, wenn du …« Die Tür zur Küche schlägt zu, ein Kellner eilt vorbei. Er trägt einen Heidezweig am Revers. Schicker Laden, den sie sich da ausgesucht haben, alles dekoriert. Ich recke mich. Die beiden lachen. Reden. Osian hat glatt vergessen, dass ich hier bin. Ich lasse die Beine vom Sims baumeln. »Wenn du nur zuhören würdest«, seufze ich.
Das Taxi fährt.