Das Gefühl zu denken - Veronika Reichl - E-Book

Das Gefühl zu denken E-Book

Veronika Reichl

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Beschreibung

Jeder echte Lesende kennt das Gefühl: Plötzlich wird man mitgerissen in eine neue, unbekannte Welt. Oder es dämmert einem langsam eine Wahrheit, deren Existenz man zuvor noch nicht einmal erahnte, die einen aber im Kern des Seins berührt. Ausgelöst wird diese Empfindung durch ein Buch, einen Autor, einen Satz vielleicht nur, der das Leben in ganz neue Verhältnisse setzt. Diesen existenziellen Erweckungserlebnissen und Wendepunkten beim Lesen von Theorie geht Veronika Reichl in ihren aus unzähligen Interviews und Gesprächen destillierten Erzählungen nach: Wie fühlt es sich an, Judith Butler oder Slavoj Žižek zu lesen? Muss man schweigen, um Hegel verstehen zu können? Wie kommt man in die Derrida-Spannung? Hilft Kant dabei, die frei fließenden Phänomene anzuhalten? Reichls brillante Erzählungen aus Fiktion und Dokumentation bilden ein Archipel des Wissens und Fühlens, eine Universalgeschichte der Philosophie ebenso wie eine Leseanleitung und Selbstanalyse. Humorvoll und genau, überraschend und genial erzählt sie von Denkerfahrungen, vom Schmerz des Lesens, vom Umgang mit dem Nichtverstehen und davon, wie das Lesen das Leben berührt und für immer verändert.

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VERONIKA REICHL

DAS GEFÜHL ZU DENKEN

Erzählungen

INHALT

ÜBERSCHWANG

Traum vom Kohl – Sandy liest Martin Heidegger

Phasen des Verdachts – Roger liest Kant, von Baader, Heidegger, Derrida und einige mehr

Überall soll Luft dran – Adrian liest Roland Barthes

Wahrheit in der Tasche – Jasemin liest Clarice Lispector

Normen und Titel – Florian liest über die Scham

Ein zweiter Körper – Gisela liest Hegel

Felsen ineinanderschieben – Amina liest Donna Haraway

Denken in Figuren – Sven liest Hegel

TECHNIKEN 1

Hegel schweigt nicht

Zweimal lesen

Die perfekte Derrida-Spannung

Im Dōjō mit Donald Davidson

Alexandre Kojève füllt die Lücken

Kant und die frei fließenden Phänomene

Körperregister

Über den Dingen

AN SICH SELBST VORBEI

In der Maschine – Natalie liest William von Ockham

Die Liebe zur Wahrheit – Gregor liest Thomas von Aquin

Rettung – Russel liest de Sade, Artaud und Nietzsche

Das große Glück – Rolf ist ein Lesender

Mit den Füßen nicht auf den Boden kommen – Annett liest Susan Buck-Morss

Alternatives Wissen – Timo liest Diana Taylor

Ein Kompass, der in zwei Richtungen zugleich ausschlägt – Carla liest Judith Butler

Fabienne liest in den Anderen – und in Milan Kundera

TECHNIKEN 2

Wenn Kant mit Kant übereinstimmt

Deleuze’ präzise Wut

Hannah Arendt und die Vernunft der BRD

W. G. Sebald taubenblau

Schulden bei Derrida

Spinozas Labyrinth

Kitsch

Die angenehme Distanz

Universen

ANDERS WERDEN

Warten auf den Plopp – Lissi liest Jean-Luc Nancy

Der Grund unter der Pappe – Elmar liest Karl Barth

Perfekte Quader – Jan liest Deleuze & Guattari

Sanfte Aktion – Lilian liest Frauen

Wie schade! – Franzi liest Roland Barthes

Die Hummeln summen lauter – Katherina liest Clarice Lispector

Zu den Interviews

Dank

Anmerkungen

ÜBERSCHWANG

TRAUM VOM KOHL

Sandy liest Martin Heidegger

Sandy ist Künstlerin. Das heißt, sie nimmt die Form ernst. Die Form betrifft jedes Detail ihrer Arbeit. Sie betrifft das Material, die Werkzeuge und den Arbeitsraum. Sie betrifft die Dauer ihrer Arbeitsphasen, die Aufbewahrung ihrer Bleistifte und was in ihr Müsli kommt. Sie betrifft ihre Intentionen in jedem Augenblick. Die Form betrifft alles. Im Idealfall sind alle ihre Formen stimmig gewählt und erzeugen gemeinsam eine Stringenz in ihrer Kunst.

Die Form ernst zu nehmen, bedeutet, das Leben ernst zu nehmen. Es geht nicht um das Ergebnis, sondern um den Prozess. Und das stimmt unbedingt, trotzdem es Sandy jedes Mal in einen Zustand kindlich jubilierender Freude versetzt, wenn eine ihrer Arbeiten fertig vor ihr steht.

Die Form ist selbstverständlich auch ein Inhalt. Denn aus allen Aspekten der Form kann man ablesen, wer Sandy ist und in welchem Verhältnis sie zur Welt, zu den Dingen und zu den Menschen steht. (Dem philosophisch-ästhetischen Diskurs zu Form und Inhalt möchte Sandy sich unbedingt auch irgendwann einmal in Ruhe widmen.) Und doch ist es am Ende nicht die ideale Form, nach der Sandy sucht. Sie sucht in der Form nach einem Denken, das durch Form möglich wird und zugleich durch sie zum Ausdruck kommt.

Zu Sandys Überzeugungen gehört es, dass alle wichtigen Dinge zu ihr kommen, wenn sie ihre Arbeit macht. Und sie ist bereit, ihre Arbeit zu machen. Philosophie zu lesen, ist ein Teil davon. Denn es schärft ihre Intuition. Gern liest sie zum Beispiel eine halbe Stunde Deleuze oder Heidegger, bevor sie zu arbeiten beginnt. Die passende Form für den nächsten Arbeitsschritt oder die Lösung für ein Problem kommt danach oft einfach zu ihr wie ein Freund, der unerwartet klingelt. Dafür muss der Text nichts mit ihrem Kunstprojekt zu tun haben, er muss nur gute Philosophie sein.

Gerade stellt sie in einer Galerie in Linz aus. Ihr Kunstwerk besteht darin, jeden Tag für ein paar Stunden in der Galerie an einem alten Holztisch zu sitzen, Heideggers Sein und Zeit zu lesen und Satz für Satz abzuschreiben. Als Zeugnis der Körperlichkeit des Werkes. Das Abschreiben ist ein körperliches Tun und eine ganz andere Freude, als nur zu lesen – es schaltet etwas an und etwas ab. Der Text läuft durch ihre Hand und wird ihr dabei präsent, fast, als würde sie ihn selbst formulieren. Sandy denkt oft an die Mönche in den Klöstern, die ihr Leben lang heilige Texte abschrieben, und wie kraftvoll das gewesen sein muss.

In diesem Moment ist die Form richtig: der einfache Tisch, den sie extra für diese Arbeit gekauft hat, der Stuhl aus ihrem Atelier, ihre schlichte dunkelblaue Kleidung, die sie die gesamte Zeit tragen wird, und die warmen Wollsocken an ihren Füßen.

Solange niemand in der Galerie ist, ist es ein ruhiger Ort. Vor dem Tisch öffnet die Schaufensterscheibe den Blick nach draußen, eine wenig belebte Straße hinunter: genug Raum, in dem die Gedanken sich ausbreiten können. Auch die Zeit liegt wie ein weites Feld vor ihr. Sie hat heute und morgen und übermorgen und die ganzen acht Wochen nichts anderes zu tun, als Heidegger zu lesen und zu schreiben. (Das Projekt erscheint ihr fast ein wenig egoistisch.) Sie öffnet das Buch und beginnt dort, wo sie gestern aufgehört hat, je einen Satz halblaut mehrmals zu lesen, bis sie ihn ganz im Kopf hat. Meist versteht Sandy ihn sogleich, zumindest so ungefähr. Sobald ihr der Satz ganz präsent ist, schreibt sie ihn in ruhigen Lettern auf das Papier. Zuletzt liest sie noch einmal ihre Abschrift. Sie liest und schreibt:

Warum dringt das Verstehen nach allen wesenhaften Dimensionen des in ihm Erschließbaren immer in die Möglichkeiten?

Weil das Verstehen an ihm selbst die existenziale Struktur hat, die wir den Entwurf nennen.

Es entwirft das Sein des Daseins auf sein Worumwillen ebenso ursprünglich wie auf die Bedeutsamkeit als die Weltlichkeit seiner jeweiligen Welt.

Der Entwurfscharakter des Verstehens konstituiert das In-der-Welt-sein hinsichtlich der Erschlossenheit seines Da als Da eines Seinkönnens.

Der Entwurf ist die existenziale Seinsverfassung des Spielraums des faktischen Seinkönnens.

Und als geworfenes ist das Dasein in die Seinsart des Entwerfens geworfen.

Das Entwerfen hat nichts zu tun mit einem Sichverhalten zu einem ausgedachten Plan, gemäß dem das Dasein sein Sein einrichtet, sondern als Dasein hat es sich je schon entworfen und ist, solange es ist, entwerfend.1

Sie kann sich von Anfang an gut konzentrieren. Doch nach etwa fünfunddreißig Minuten merkt sie: Jetzt funktioniert es richtig! Sie kennt das und doch kommt es jedes Mal überraschend: Alles an ihr ist mit einem Mal in Bewegung. Alles denkt oder vielleicht noch genauer: wird gedacht. Der Text knetet sie, arbeitet an ihr und lässt etwas Grundsätzliches mit ihr geschehen. Das liegt auch daran, dass Heideggers Sprache genauso eingerichtet ist wie seine Ideen. Alles stimmt miteinander überein und ist voller Kraft. Sandy liebt Heidegger dafür, dass er so dringend nach der richtigen Form für seine Gedanken gesucht hat. Denn vermutlich ist es dieses Zusammenstimmen von Form und Inhalt, das dazu führt, dass der Text auf so vielen Ebenen an Sandy zieht, sodass alles in Bewegung gerät und sich öffnet. Es fühlt sich an, als ob sie in diesem Moment des Lesens ins volle Dasein gerate. Manchmal berührt sie das so tief, dass sie zu weinen beginnt.

Das Denken, das Heidegger auslöst, ist eine grundsätzliche Fähigkeit. Es antwortet auf den Text ebenso selbstverständlich, wie man läuft, wenn man ans andere Ende der Straße möchte, oder etwas isst, wenn man Hunger hat. Es ist eine animalische Fähigkeit. Diese Fähigkeit anzuwenden, lässt Sandy – das klingt ein bisschen kitschig oder esoterisch und so meint sie es überhaupt nicht, aber es stimmt eben: Es lässt sie das Pulsieren des Universums spüren.

Sandy liest nicht, um etwas Neues zu verstehen oder Wissen anzuhäufen, obwohl das selbstverständlich auch schöne Dinge sind. Doch Sandy kommt es vor, als habe Platon recht, wenn er sagt, alles Wissen sei schon in uns, wir müssten uns nur erinnern und uns wieder damit verbinden. Denn genau so fühlt es sich an: als werde sie durch das Lesen an etwas erinnert, was schon immer in ihr war und was sie doch allein nicht erreichen kann. Es funktioniert am besten mit Heidegger, Agamben und Deleuze.

Eine ältere Dame in einem blauen Mantel kommt in die Galerie, guckt herum und möchte nicht stören. Sandy begrüßt sie und sie kommen ins Gespräch. Sandy erzählt, dass sie glaube, dass Kunst und Philosophie eng verwandt seien, viel enger, als man gemeinhin denke. Beides sei ein Experimentieren und ein Entwerfen. Ein Arbeiten mit der Verschiebung der Perspektiven. Etwas, was einen wieder mit den wichtigen Dingen verbinde.

Die Dame lächelt sacht und nickt vorsichtig. Sandy redet weiter: Das brauche die Welt auch. Sandy wisse selbstverständlich, dass die Welt alle Anderen in gewisser Weise dringender brauche: Ärzte und Bauern und Computerspezialisten zum Beispiel – und manchmal falle es ihr deshalb schwer, einfach eine Rose zu zeichnen. Und doch gebe es eben auch sehr gute Gründe, eine Rose zu zeichnen und Philosophie zu lesen. Man müsse sich nur daran erinnern. Dann bietet Sandy der Dame an, das Heidegger-Abschreiben auszuprobieren. Die Dame lacht und hebt abwehrend die Hände. Doch dann schreiben sie beide – nebeneinandersitzend und konzentriert murmelnd – einen langen Absatz Heidegger. Danach bedankt sich die Dame und geht mit hüpfendem Schritt, ihre Abschrift in der Hand, wieder hinaus auf die Straße.

In den ersten vier Wochen mit Heidegger in der Galerie wird Sandy immer ruhiger und es scheint ihr, als sei sie nun zum ersten Mal tatsächlich ruhig genug für diesen Text. Doch eine Woche später wird sie unruhig. In ihren Träumen riecht es nun nach Kohl und Erde. Oft geht sie über Felder unter einer matten Sonne. Feucht ist die Erde und die Luft und karg sind die Farben. Immer trägt sie schwere Lederstiefel und spürt die Erdbrocken unter den Sohlen. Manchmal sind es Kohlfelder, blassgrüner Kopf neben blassgrünem Kopf in langen Reihen. Manchmal sind es schwarze, schwere, nasse Äcker, in denen ihre Stiefel tief einsinken. Immer wieder träumt sie, es werde etwas auf die Kohlblätter geschrieben. Oft enden die Träume damit, dass sie versteht, dass es die Toten sind, die auf die Blätter schreiben. Tote Männer, tote Frauen und tote Kinder. Manchmal ist es auch der schwere Boden selbst, der sich auf die Kohlblätter schreibt. Als schriebe die Materie sich selbst. Im Traum ist Sandy Teil all dessen: Sie ist Teil des Kohls und Teil der Erde, Teil des Schreibens und Teil des Beschriebenwerdens. Sie ist das Kratzen der Buchstaben und die Glätte der Kohlblätter. Sie ist der matte Himmel und die Felder darunter.

Auch tagsüber in der Galerie riecht Sandy nun Kohl und Erde, sobald sie Heidegger aufschlägt. Die Galeristin scherzt, sie rieche Heideggers grabbelige Lederhose, und vielleicht ist es so. Die Idee bringt Sandy zum Lachen, doch etwas unheimlich ist ihr das Ganze auch. Nach einer Woche voller Kohl wird es Sandy zu viel. Es wäre an der Zeit, den Tisch zu verlassen, etwas Buntes anzuziehen und in der Sonne zu liegen. Es wäre an der Zeit, Popmusik zu hören, Gummibärchen zu essen und tatsächlich eine Rose zu zeichnen. Aber erst einmal muss sie die letzten drei Wochen der Ausstellung noch mit Heidegger durchhalten.

PHASEN DES VERDACHTS

Roger liest Kant, von Baader, Heidegger, Derrida und einige mehr

Phase 1: Mit zwanzig, zu Anfang seines Philosophiestudiums, las Roger Kants Kritik der Urteilskraft. Der Beginn war leicht. Doch es dauerte keine Viertelstunde und er kam außer Puste. Er hatte in einer bequemen Schrittgeschwindigkeit gelesen und die plötzliche Steigung nicht bemerkt. Ganz außer Atem verstand er nicht mehr, worum es ging. Er konnte gar nicht anders – er musste zurückgehen und noch einmal ganz langsam lesen.

Es brauchte zwei Wochen, bis er einen Bergschritt von Satz zu Satz erlernt hatte: einen Satz lesen und dann, auch wenn alles klar zu sein scheint, trotzdem kurz innehalten und nachspüren, ob die Deutung mit der Deutung des bisher Gelesen wirklich zusammenpasst. Wenn nicht alles klar ist, den Satz noch einmal lesen, eventuell auch den letzten Absatz noch einmal lesen; eine neue, vorläufige Deutung des Satzes entwerfen; diese Deutung mit dem bisher Gelesenen innerlich abgleichen; falls sie nicht zusammengehen, auch mögliche Umdeutungen des bisher Gelesenen erwägen; wenn das zu nichts führt, die Deutung erst mal offenlassen. Das ist ein Bergschritt. Darauf folgt der nächste Satz und der nächste Bergschritt.

Manche Bergschritte gingen recht schnell, andere nahmen eine Menge Zeit in Anspruch. Doch es lag ein Rhythmus darin. Der Bergschritt ließ Roger ruhig werden. Es begeisterte ihn, nicht wie sonst von Wissenshappen zu Wissenshappen zu sprinten, sondern langsam in die Höhe zu steigen. Keine Bewegung in der flachen Ebene, sondern ein vertikales Aufsteigen.

Vor dieser Lektüre war ihm nicht klar gewesen, dass man so denken konnte. Es war ein völlig anderer Vorgang als das alltägliche Denken. Das Bergdenken war ruhig, neutral und kühl. Auf dem Bergpfad war es wichtig, Entscheidungen nicht sofort zu fällen. Denn das Verstehen entstand häufig erst später und oft genug war das Gegenteil dessen richtig, was Roger am Anfang gedacht hatte. Der Bergschritt funktionierte: Roger erreichte den Gipfel von Kants Buch. Dort oben angekommen war die Sicht unglaublich. Und es war sehr still. Das Gewusel der alltäglichen Gedanken und Gespräche fand weit entfernt, unten in den Tälern, statt.

Phase 2: Vier Monate später las Roger einen Text von Franz von Baader und war fasziniert. Der Text war schwer zugänglich, aber Roger nahm eine Art Verheißung darin wahr. Eine hell leuchtende Bedeutung klang darin an. Als könnte dieser Text eine Einweihung sein. Ein geheimes Wissen schien auf den Seiten für ausgewählte Leser2 offenzuliegen, auch wenn Roger es – selbst im Bergschritt – noch nicht bergen konnte. Dieser Eindruck eines höchst wichtigen, im Text enthaltenen Wissens verstärkte sich enorm, als er nach einigen Seiten auf drei Sätze stieß, die er verstand und die ihn trafen und begeisterten: ein heller Blitz von Einsicht. Er war nun überzeugt, dass sein Eindruck richtig gewesen war und auch alle anderen Sätze ähnlich helle Einsichten enthielten, würde man sie nur verstehen.

Roger gab sich die nächsten Wochen viel Mühe mit Franz von Baaders Text. Die mögliche Nähe des undenkbar Wichtigen zog ihn gewaltig an. Doch er kam nicht wesentlich weiter und das, was er bergen konnte, war nicht so spannend, wie erhofft. Roger kam der Gedanke, dass seine Erwartung eines im Text verborgenen, hell leuchtenden Wissens ein Kurzschluss gewesen sein könnte. Er schob den Gedanken zunächst weg. Doch der Verdacht, einem Effekt aufgesessen zu sein, ließ ihn nicht los. Schließlich legte Roger Franz von Baader zur Seite, ohne sagen zu können, wie gehaltvoll der Text nun eigentlich war.

Von da an unterschied Roger zwischen dem großartigen Gefühl einer tiefen Ahnung und dem etwas anders gelagerten, aber ebenfalls erhebenden Gefühl eines Verstehens. Das war schwieriger als angenommen. Denn wie er jetzt lernte, war sein Lesen ein ständiges Ahnen und Vorauseilen, immerzu etwas vermutend und vorwegnehmend. Es ging gar nicht anders. Und er war und blieb trotz seines neutralen Bergschritts ein Romantiker, der verführbar war von spiritueller Komplexität und wilden Paradoxa und wer weiß von was noch allem. Doch er versuchte, dem Ahnen nicht zu viel Raum einzuräumen, gerade weil es ihn so angenehm aufregte und Wunderbares fühlen ließ. Von nun an übte er sich noch bewusster in Kälte und Neutralität: Erst wenn er ganz sicher war, dass ein Text vor seinem kalten Blick standhielt, erlaubte er sich Begeisterung.

Phase 3: Während seines Hauptstudiums schwelgte Roger in der Kontinentalphilosophie: Walter Benjamin, die Franzosen und so weiter. Weiterhin interessierten ihn vor allem Texte, in denen er versteckte Ebenen und Geheimnisse wahrnahm. Sein langsamer Bergschritt hatte sich automatisiert. Roger achtete nun vor allem darauf, Texten so genau wie nur möglich zuzuhören. Ziel dieses Zuhören war es (neben der Wahrnehmung aller Details des jeweiligen Texts), die eigenen minimalen Irritationen während des Lesens mitzubekommen. Ging er im Alltag über kleine Irritation hinweg, war es beim Lesen essenziell – und gar nicht einfach –, sie wahrzunehmen. Denn diese Irritationen waren oft der zentrale Schlüssel, um Texte zu verstehen und zu kritisieren. Drei Arten von Irritation begegneten Roger regelmäßig:

Irritationen, die entstehen, wenn ein Text auf mehreren Ebenen zugleich spricht. Als Roger zum Beispiel Hannah Arendts »Organisierte Schuld« las, brauchte er lange, bis er – durch eine Irritation – endlich wahrnahm, dass der Text sich bereits im Titel ganz wortwörtlich darauf bezog, wie Schuld praktisch organisiert wird. Das wurde für Roger der interessanteste Aspekt des Texts.

Momente, in denen eine plötzliche Unschärfe in einem Text auftaucht. Immer wieder stieß Roger in relativ durchsichtigen Texten plötzlich auf eine Nebelbank. Diese konnte man ganz leicht übersehen, zumal die Autoren kleine Brücken bauten und hofften, dass man schnell über die Nebelbänke hinweggehe. Wenn Roger sehr aufmerksam war, nahm er das wahr und fragte sich:

Warum ist das hier plötzlich so unklar?Möglicherweise

ist hier der Hund begraben?

Bei einem mittelmäßigen Autor konnte man davon ausgehen, dass das nicht bewusst geschah. Der Autor verschleierte etwas vor sich selbst und vor dem Leser. Wenn Roger dort dann anfing zu graben, fand er oft einen Widerspruch, der vom Autor nicht bewältigt worden war und von dem aus Roger den ganzen Text dekonstruieren und dann feststellen konnte: Der Text basiert auf einem fundamentalen Widerspruch. Oder psychoanalytisch: Der Autor kreist unbewusst um einen Widerspruch, den er nicht überwunden hat. Der Widerspruch ist vielleicht sogar das, was ihn antreibt.

Widersprüche im Text, die auf einen vom Autor geplanten doppelten Boden hinweisen. Diese Widersprüche sind versteckte Botschaften, die nur Eingeweihte verstehen, den normalen Lesern (und den Mächtigen) aber entgehen. Bei Leo Strauss zum Beispiel verwiesen Irritationen Roger auf solche Botschaften. Roger genoss es sehr, zwischen Leo Strauss’ Zeilen auf Verstecktes zu stoßen und zu also zu den Eingeweihten zu gehören.

Dieses genaue Zuhören und all die Entdeckungen und Entlarvungen, die dadurch möglich wurden, machten Roger glücklich. Nebenbei wurde er immer sicherer im Umgang mit Texten. Er verstand das Feld und die Universität immer besser. Er fand Freunde und Freundinnen mit einem verwandten Leseethos. Und er fand Chloë.

Phase 4: Mit sechsundzwanzig wechselte Roger die Stadt und die Uni und zog mit Chloë zusammen. Er wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem jungen, sehr erfolgreichen Rationalisten und Idealisten. Im Kontrast dazu war Rogers postmodern geprägtes Denken relativistisch. Roger freute sich auf die intellektuelle Auseinandersetzung. Denn Roger interessierte das Fremde. Texte, denen er gleich dauernd zustimmte, legte er schnell zur Seite. Sie hatten ihm nichts anzubieten. Mehr noch, sie ließen ihm seine eigenen Gedanken suspekt und plump erscheinen. Einfach zuzustimmen und in einen bestehenden Chor einzufallen, widerstrebte ihm ganz grundsätzlich in allen Lebensbereichen. Es fühlte sich immer falsch an. Doch obwohl er der Begegnung mit diesem Fremden voll Freude entgegengesehen hatte, dauerte es keine zwei Wochen, bis die Argumente, die sein junger Chef im Graduiertenkolleg ausbreitete, Roger den Boden unter den Füßen wegzogen. Der Professor nahm Roger mit Leichtigkeit auseinander. Es war ein Schock. Eine Überwältigung. Es fühlte sich an wie Gewalt, ohne dass er dem Professor irgendetwas vorwerfen konnte. Roger bekam hohes Fieber. Zwei Wochen lag er im Bett. Er schwitzte so fürchterlich, dass sie die Matratze danach entsorgen mussten. Doch er erholte sich schnell. Wenige Wochen später schon lief er selbst mit der Waffe des performativen Selbstwiderspruchs in seinen Händen durch die Gegend und metzelte jeden nieder, der irgendwie relativistisch argumentierte. Für einige Monate sonnte er sich im Selbstbewusstsein des Neubekehrten. Heute ist er froh, dass er auch damit wieder aufhören konnte. In der Denkweise des jungen Rationalisten fehlte die Selbstkritik und die Weite: Man konnte damit über die Dinge, die Roger am wichtigsten waren, kaum nachdenken. Vermutlich konnte er aber vor allem deshalb so schnell damit aufhören, weil Chloë ihn mit freundlichem Spott ansah, wenn er damit anfing. Doch obwohl er froh war, dass er imstande gewesen war, seine Kampfhaltung wieder aufzugeben, würde er die Einsichten von damals niemals missen wollen. Sie gelten für ihn bis heute, sie sind ein wichtiges Werkzeug, eine Art Reality-Check.

Phase 5: Danach las Roger eine Weile gern Autoren, gegen die er von vornherein einen Verdacht hegte. Zum Beispiel Martin Heidegger und Carl Schmitt. Beide Namen waren mit dem Nationalsozialismus verbunden und beide verfolgten eine zwielichtige Richtung: politisch, moralisch und vermutlich auch philosophisch. Roger rechnete damit, die Richtigkeit seines Verdachts gegen sie leicht nachweisen und sie schnell abtun zu können. Er ging mit einer selbstbewussten Gegnerschaft in diese Texte hinein, mit einer fröhlichen Vernichtungswut. Doch die Texte waren widerständiger als gedacht. Roger musste einen großen Aufwand betreiben, immer weiter nachrüsten. Er brauchte lange, um halbwegs auf Augenhöhe mit ihnen zu kommen. Während er versuchte, die Texte zu knacken, verstrickte er sich in sie. Während er nach Gegenargumenten suchte, fing er an, wie sie zu denken. Er musste Stück für Stück zugeben, wie intelligent und gut gemacht sie waren. Je besser er sie verstand, umso mehr Spaß machte ihm die Lektüre. Es war erstaunlich schön auf ihren beiden Berggipfeln. Heidegger wurde sogar zum Thema seiner Dissertation. Wie merkwürdig und großartig war es, einen Kampf mit einem solchen Berg zu führen und in diesem Kampf zu bestehen! Erst am Ende dieser großen Arbeit nahm Roger wahr, dass Heideggers Texte ihn direkt betrafen. Sie beschrieben Roger, sie dachten in Mustern, die auch in ihm verborgen waren. Und es waren gerade die seinen Verdacht nährenden Dinge im Text, von denen er nun verstand, dass sie mit ihm selbst direkt zu tun hatten.

Chloë schlug derweil einen anderen Weg ein. Sie begann, ihr Geld mit der Übersetzung von Elektrotechnik-Patenten zu verdienen. Auch ohne entsprechende Ausbildung war sie in der Lage, sich in die technischen Details hineinzufuchsen und diese auf Französisch und Englisch präzise auszudrücken. Diese Tätigkeit war hervorragend bezahlt: Ein, zwei Tage die Woche reichten für ein sehr angenehmes Leben. Ihr Studium führte sie zwar weiter, aber es hatte die Dringlichkeit verloren. Sie plante auch nicht mehr, eine Dissertation zu schreiben. War für Roger die Auseinandersetzung mit Texten das Allerwichtigste, bildete für Chloë Theorie nur noch eine Zutat unter vielen für ein erfülltes Leben.

Obwohl Roger etwas Wichtiges von Martin Heidegger und Carl Schmitt mitnahm, wollte er sich so schnell wie möglich wieder von ihnen lösen – gerade weil er sich so wohl mit ihnen fühlte. Schopenhauer schreibt, dass die Philosophen Spinnennetze spönnen, in denen sich die Leser verfingen und kleben blieben. Und das stimmte – viele gute Philosophen wollten Roger mit ihren fein gewebten Texten einwickeln und festhalten. Oft schafften sie das, indem sie ihm einerseits immer wieder ein Verstehen und ein Aufdecken kleiner Geheimnisse erlaubten und andererseits doch das Gefühl vermittelten: Du verstehst mich noch nicht richtig, hier ist noch viel mehr zu finden. Diese Kombination fixte ihn immer wieder an. Doch die Vorstellung, bei einem Philosophen langfristig hängen zu bleiben, machte Roger von jeher Angst. Adept eines einzigen Autors zu sein, war mit seiner Würde nicht vereinbar. Menschen, die so lebten, wurden kleine Monde, die um einen Stern kreisten. Roger hatte durchaus manchmal die Gefahr wahrgenommen, auch zu einem kreisenden Mond zu werden. Aber so sehr er sich immer wieder für einen Autor begeisterte, so sehr er sich dabei mit dessen Pathologien ansteckte und in akuten Phasen in einem ständigen Bezug zu diesem Autor herumlief, so deutlich bildete Roger nach einer Weile doch eigentlich immer eine Immunisierung gegen dessen Denkweise aus: Er erkannte dessen Großartigkeit, aber auch dessen Fehler, dessen Arroganz und dessen spezifische Naivität. So hatte er es bisher immer problemlos geschafft, am Ende weiterzuziehen.

In seinen alltäglichen Gesprächen fiel ihm zu dieser Zeit seine zunehmende Unfähigkeit zu einer handwarmen Selbstverständlichkeit auf. Er konnte in Diskussionen, zum Beispiel auf Partys mit den Nachbarn, ja selbst mit den meisten seiner Kollegen, nicht mehr entspannt über Sachfragen sprechen. Zum einen, weil in den letzten Jahren sein Drang, bei jeder Fragestellung immer erst einmal zurückzutreten und nachzudenken, unwiderstehlich geworden war. Es hatte sich immer als richtig erwiesen, dem ersten Impuls zu misstrauen, gewissermaßen autistisch vorzugehen und Urteile erst nach sorgfältiger Prüfung zuzulassen. Ein zu schnelles Sprechen war meist oberflächlich und fast immer falsch. Roger hatte sogar die Angewohnheit entwickelt, auch bei alltäglichen Entscheidungen immer etwas abzuwarten, ob nicht doch noch ein Aspekt in seinem Kopf auftauchte, der alles anders erscheinen ließ – und so schob er sie, wann immer möglich, um halbe Stunden, halbe Tage oder auch halbe Wochen auf. Zum anderen fand er, selbst wenn er auf einer Party einmal ein einfach aus ihm herausströmendes Urteil zuließ, keine dem Anlass angemessene Sprecherposition mehr: Folgte er seinen Impulsen, zerschmetterte er die Argumente der Anderen mit zu viel Furor und zu viel raumgreifender Genauigkeit. Die Alternative, gleichgestellten Mitmenschen mit einem pädagogischen Impetus zu begegnen und sie behutsam zu einer anderen Perspektive zu führen, war ihm aufgrund der darin enthaltenen Überheblichkeit zutiefst unsympathisch. Egal, was er also tat, er entkam seiner intellektuellen Kälte nicht. Das entfernte ihn von vielen Menschen, aber nicht von seinen besten Freunden.

Phase 6: Auch nach der Dissertation blieb der Verdacht der zentrale Motor von Rogers Lesen. Doch es ging ihm nicht mehr um den Verdacht, den die Lebensläufe von Autoren mobilisierten. Spannender war jetzt der Verdacht gegenüber den Texten selbst. Wunderbar war es daher, als er in Derridas Grammatologie auf eine riesige Leerstelle stieß. Derrida schrieb darin über die Schrift. Doch die Bibel, die hebräische Schrift und das Phönizische kamen nicht vor. Das war höchst merkwürdig: ein Buch über die Schrift, das diese zentralen Etappen nicht einmal antippte. Das war, so schien es Roger, Grund für einen höchst vielversprechenden Verdacht. Hier musste es ein Geheimnis geben, vielleicht ein psychoanalytisches, vielleicht sogar ein schmutziges. Roger beschloss, seine Habil über diese Frage zu schreiben. Er verfolgte den dort begrabenen Hund als Spur eines fein konstruierten doppelten Bodens, aber zugleich auch als eine Möglichkeit, Derrida scharf zu kritisieren.

Das polemische Ankämpfen gegen Derrida wurde zu einem grandiosen Katz- und Mausspiel. Denn es war, als hätte Derrida Hinweise und Finten extra für Roger in den Text eingebaut. Roger musste alle seine Fähigkeiten einsetzen, um im Ringen mit Derrida als halbwegs gleichwertig bestehen zu können. Roger liebte es, von Derrida verführt und umschlungen zu werden. Für Monate war die Beziehung zu Derrida die intensivste aller seiner Beziehungen. Die Grammatologie wurde dabei immer größer. Er war Chloë dankbar, dass sie nicht eifersüchtig wurde, sondern sich an seiner Begeisterung freute. Und schließlich kam Roger auch mit Derrida an den Punkt, wo er auf sich selbst gestoßen wurde und sich durch dessen Buch erkannt fühlte: Er schaute darin einmal mehr in sein eigenes Gesicht. Am Ende dieser Lektüre, welches zugleich das Ende seiner Habil war, befand er sich mit Derrida hoch oben auf einem besonderen Berg des Denkens. Dort oben war es majestätisch und die Sterne leuchteten.

Phase 7: Ein Jahr nach Abschluss der Habil saß Roger mit Chloë am See und erzählte ihr, dass er sich über seine Lust am Dekonstruieren übermächtiger Autoren, diesem Versuch, den Vater zu morden, wundere. Schließlich sei sein eigener Vater sanft und warm. Roger habe sich nie in Konkurrenz zu ihm gefühlt, habe ihn nie überwinden wollen. Er habe nur etwas ganz anderes mit seinem Leben gemacht als sein Vater, der Physiotherapeut war und gern wanderte. Da könne man weitaus schlimmere Väter haben. Roger machte eine Pause und dachte an zwei enge Freundinnen und einige weitere Bekannte an der Universität, deren Väter alle Pfarrer waren. Chloë hatte einmal gesagt, dass es für sie so aussehe, als ob sie den Weg ihrer Väter auf eine andere Art fortsetzten. Roger hatte verstanden, was sie meinte, und hätte gern seine Freundinnen und Kollegen genauer danach befragt, aber er hatte sich nicht getraut: Über die mögliche Nähe zwischen Religion und Philosophie sprach man an der Universität besser nicht, denn das wurde gewöhnlich als Abwertung der Philosophie verstanden.

Chloë, deren Eltern beide Psychotherapeuten waren, holte ihn aus seinen Gedanken. Sie stellte die Mutmaßung auf, dass sein Vater womöglich zu sanft gewesen sei. Dass seine Zustimmung so leicht zu erreichen gewesen sei, dass Roger sie nicht ernst genommen habe. Roger suche stattdessen – eventuell bis heute – endlich eine Anerkennung, die wirklich zähle: die Anerkennung einer Horde superstrenger Philosophenväter. Vielleicht glaube er, dass Anerkennung nur dann etwas wert sei, wenn sie im Kampf errungen werde. Roger nickte vage, antwortete aber erst mal nicht, und dann gingen sie schwimmen.

In der Nacht nach diesem Gespräch lag er lange wach und hatte schlechte Laune. An dieser Idee von Chloë mochte durchaus etwas dran sein. Denn obwohl ihn der Impuls, Vaterfiguren zu entlarven, in Schwung brachte, ermordete er die Philosophen-Väter ja am Ende eigentlich nie. Sobald Roger sich sicher war, dass ein Text schwach war, wurde sein Autor mit einem Schlag uninteressant für ihn – ihn öffentlich umzubringen, lohnte den Aufwand nicht. Chloë hatte recht: Allein im Kampf gegen kluge Köpfe konnte er sie anerkennen und ihnen zuletzt auch zustimmen. Daraus zog er das Gefühl einer Gleichwertigkeit. Das aber bedeutete, dass seine Beziehungen zu den Philosophen und ihren Geheimnissen möglicherweise simpler und weniger verwunschen und dass seine einsamen Bergbesteigungen weniger majestätisch waren als gedacht: Wenn Chloë richtig lag, ging es ihm letztlich vor allem darum, eine imaginäre Anerkennung der klügsten Köpfe zu gewinnen. Das wäre nahezu armselig.

Phase 8: Roger liebt das hochkonzentrierte Bergschritt-Lesen auch noch mit Ende vierzig und er kann ihm nach wie vor einen guten Teil seiner Zeit widmen. Denn er finanziert sich durch eine halbe, unbefristete Stelle an einer privaten Hochschule und schlägt die meisten Einladungen für Vorträge aus. Zu lesen und zu schreiben ist ihm wichtiger, als Vorträge zu halten und Vorträgen zuhören. Heute liest er nicht mehr wegen eines Verdachts gegen einen bestimmten Autor oder Text. Das liegt hinter ihm. Der Motor einzelner Verdachtsmomente, der ihn jahrelang angetrieben hat, erscheint ihm nunmehr selbst verdächtig – wegen der Vatersache und weil er seiner eigenen romantischen Ader weiterhin misstraut, die so gern nach gut gehüteten Geheimnissen sucht. Dieses Spiel hat er schon gespielt. Stattdessen interessiert er sich nun für einen Verdacht gegen das ganze Feld. Er sieht überall Hinweise, dass die säkularen europäischen Philosophen bis heute viel mehr von der christlichen Tradition beeinflusst sind, als sie selbst wissen. Er plant, verschiedene theologische Motive in der Kontinentalphilosophie nachzuzeichnen. Der Plan macht ihn glücklich.

ÜBERALL SOLL LUFT DRAN

Adrian liest Roland Barthes

An einem Sommernachmittag sitzt Adrian im Speisewagen eines Zugs nach Bratislava. Er fährt zu einem Theaterfestival, bei dem er einen Lecture-Performance-Workshop geben wird. Draußen leuchtet das Grün der Wiesen. Adrian liest in Roland Barthes’ Fragmente einer Sprache der Liebe und schreibt dabei immer wieder aufgeregt in sein Notizbuch. Die Fragmente bestehen aus vielen kurzen, voneinander unabhängigen, alphabetisch geordneten Abschnitten. Adrian folgt der Lust an den Überschriften, liest dort, wo etwas ihn lockt: »Zeig mir, wen ich begehren soll«, »Der Überschwang«, »Lob der Tränen«. Unter: »Wenn meine Finger unversehens …« findet er:

Unversehens berührt der Finger Werthers Lottes Finger, begegnen sich ihre Füße unter dem Tisch. Werther könnte von der Bedeutung dieser Zufälle abstrahieren; er könnte sich körperlich ganz auf diese schwachen Berührungsstellen konzentrieren und dieses Stückchen Finger oder reglosen Fuß auf fetischistische Weise genießen, ohne sich um eine Reaktion zu sorgen (wie Gott – und das ist seine Etymologie – reagiert der Fetisch nicht). Aber genau das geschieht nicht: Werther ist nicht pervers, er ist Liebender: er bringt Sinn hervor, immer, überall, aus Nichts, und der Sinn ist es, der ihn erschauern macht: er steckt im Glutbecken des Sinnes. Jede Berührung stellt dem Liebenden das Problem der Reaktion: von der Haut wird verlangt, daß sie reagiert.3