Das geheime Vermächtnis - Katherine Webb - E-Book

Das geheime Vermächtnis E-Book

Katherine Webb

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Beschreibung

Zwei Schwestern, ein brennendes Geheimnis und eine düstere Vergangenheit …

Nach dem Tod ihrer Großmutter erben die Schwestern Erica und Beth das Gut Storton Manor im englischen Wiltshire. Jahre sind vergangen, seit sie den herrschaftlichen Landsitz zuletzt betraten, zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an ihre Kindheit, als ihr Cousin Henry mit zwölf Jahren spurlos verschwand. Doch die Vergangenheit lässt Erica nicht los. Sie liest alte Briefe ihrer Großmutter und gerät immer tiefer in den Bann eines Familiengeheimnisses, das offenbar seit Generationen auf Storton Manor gehütet wird …

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Seitenzahl: 787

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KATHERINE WEBB| Das geheime Vermächtnis

Über dieses Buch

An einem düsteren Wintertag machen sich Erica und Beth auf den Weg zu dem Landsitz ihrer verstorbenen Großmutter. Diese hat ihr Erbe mit einer Bedingung verknüpft: Wollen die Schwestern Storton Manor behalten, müssen sie selbst dort einziehen. Erica und Beth sind darüber alles andere als glücklich, denn die Erinnerungen an die unbeschwerten Sommertage ihrer Kindheit werden überschattet vom mysteriösen Verschwinden ihres Cousins Henry. Bis heute weiß niemand, was damals wirklich geschah, und die Familie zerbrach an dem tragischen Schicksalsschlag.

Als Erica die Hinterlassenschaften ihrer Großmutter ordnet, wird ihr klar, dass Henrys Verschwinden nicht das einzige Geheimnis ist, das die alten Mauern von Storton Manor bergen. Auf einem vergilbten Foto erkennt sie ihre Urgroßmutter Caroline mit einem unbekannten Baby. Wer ist dieses Kind, und was ist aus ihm geworden? Stück für Stück folgt Erica den geheimnisvollen Spuren, bis sie sich schließlich mit einem schrecklichen Verrat konfrontiert sieht …

Über die Autorin

Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im englischen Hampshire auf und studierte Geschichte an der Durham University. Später arbeitete sie mehrere Jahre als Wirtschaftlerin auf herrschaftlichen Anwesen. Nach längeren Aufenthalten in London und Venedig lebt und schreibt die Autorin heute in der Nähe von Bath, England. Auf ihr großes internationales Erfolgsdebüt Das geheime Vermächtnis folgten weitere SPIEGEL-Bestseller-Romane.

Das geheime Vermächtnis

KATHERINE WEBB

Das geheime Vermächtnis

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Volk

Impressum

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel The Legacy

bei Orion Books, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London

Deutsche Erstausgabe 09/2011

Copyright © Katherine Webb 2010

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion | Angelika Lieke

Umschlagmotiv | © plainpicture | wildcard

Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München

Herstellung | Helga Schörnig

Satz | Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-05642-1V003

www.diana-verlag.de

Für Mum und Dad

Prolog

Prolog

1905

Langsam kam Caroline wieder zu sich. Die Benommenheit wich zurück, und sie wurde sich unzähliger Gedanken bewusst, die wie Vögel in einem Käfig durcheinanderflatterten, so schnell, dass sie sie nicht greifen konnte. Mit unsicheren Bewegungen richtete sie sich auf. Das Kind war noch da, auf dem Bett. Angst fuhr ihr klamm den Rücken hinab. Ein Teil von ihr hatte gehofft, dass es nicht so sein würde – dass er irgendwie verschwunden sein könnte, oder besser noch, nie hier gewesen wäre. Er war bis ans andere Ende des Bettes gerobbt, obwohl er Mühe hatte, sich auf der rutschig-weichen Tagesdecke vorwärtszuziehen. Seine kräftigen Fäuste packten eine Handvoll Stoff nach der anderen, und er bewegte sich wie schwimmend ganz langsam über die blaugrüne Seide. Er war so groß und stark geworden. An einem anderen Ort, in einem anderen Leben, hätte ein Krieger aus ihm werden können. Sein Haar war pechschwarz. Der Kleine spähte auf dem Bett umher und wandte dann den Kopf, um Caroline anzusehen. Er gab einen einzelnen Laut von sich, ein leises dah. Und so unsinnig das auch sein mochte, Caroline wusste, dass es eine Frage war. Sie hatte Tränen in den Augen, und ihre Knie drohten erneut nachzugeben. Er war real. Er war hier, in ihrem Schlafzimmer in Storton Manor, und er war stark genug geworden, um ihr Fragen zu stellen.

Ihre Scham glich einer Wolke, die ihr Blick nicht durchdringen konnte. Sie hing wie Rauch in der Luft, verschleierte alles und machte jeden klaren Gedanken unmöglich. Caroline wusste nicht, was sie tun sollte. Lange Minuten verstrichen, bis sie glaubte, Schritte auf dem Flur vor der Tür zu hören. Ihr Herz machte einen Satz, und alles, was sie letztendlich wusste, war, dass das Baby nicht hierbleiben konnte. Nicht auf dem Bett, nicht in ihrem Zimmer, nicht in diesem Haus. Er konnte nichtbleiben, und ebenso wenig durften irgendwelche Bediensteten oder ihr Mann erfahren, dass er je hier gewesen war. Die Dienstboten hatten ihn womöglich schon entdeckt, vielleicht irgendetwas gesehen oder gehört, während sie bewusstlos auf dem Boden lag. Sie konnte nur beten, dass niemand etwas bemerkt hatte. Sie wusste nicht, wie lange sie dort verharrt hatte, vor Grauen und Trauer wie von Sinnen. Offensichtlich nicht so lange, dass dem Kind die Erkundung des Bettes inzwischen langweilig geworden wäre. Ihr blieb noch Zeit, zu handeln, und sie hatte keine andere Wahl.

Caroline wischte sich die Tränen vom Gesicht, ging um das Bett herum und hob den kleinen Jungen hoch, zu beschämt, um ihm in die Augen zu schauen. Auch die waren schwarz, das wusste sie. So schwarz und undurchdringlich wie Tintenflecke. Er war so viel schwerer als in ihrer Erinnerung. Sie legte ihn hin und zog ihm alles aus, auch die Windel. Denn obwohl die Kleidung einfach und grob war, fürchtete sie, die Sachen könnten jemanden auf die Spur zu ihr bringen. Sie warf sie in den Kamin, wo sie auf den Kohlen des morgendlichen Feuers qualmten und stanken. Dann blickte sie sich hilflos um, bis ihr Blick auf den bestickten Kissenbezug am Kopfende des Bettes fiel. Die Stiche waren fein und präzise und bildeten gelbe, bandförmig angeordnete Blüten. Das Leinen war glatt und dick. Caroline zog ihn von dem Kissen und steckte das zappelnde Baby hinein. Sie ging sehr zärtlich mit ihm um, denn ihre Hände waren sich ihrer Liebe zu dem Kind bewusst, wenngleich ihr Verstand sie nicht fassen konnte. Doch sie wickelte den Kleinen nicht darin ein. Stattdessen stülpte sie den Kissenbezug um wie einen Sack und trug das Baby darin hinaus wie ein Wilderer seine Beute. Tränen, die aus tiefstem Herzen kamen, liefen ihr übers Gesicht. Aber sie durfte nicht zögern, sie durfte sich nicht erlauben, ihn wieder zu lieben.

Draußen regnete es in Strömen. Caroline lief mit schmerzendem Rücken und kribbelnder Kopfhaut über den Rasen und glaubte, die Blicke des Hauses auf sich zu spüren. Sobald sie die Bäume erreicht hatte, wo sie außer Sicht war, rang sie nach Luft. Die Knöchel der Finger, die den Kissenbezug zuhielten, traten weiß hervor. Das Kind zappelte leicht und brabbelte vor sich hin, aber es weinte nicht. Regen rann ihr durchs Haar und tropfte von ihrem Kinn. Doch er wird mich niemals reinwaschen, sagte sie sich in stiller Verzweiflung. Da war ein Teich, das wusste sie. Ein Weiher am anderen Ende des Parks, wo das Anwesen auf das Hügelland stieß, in welchem der Bach entsprang, der durch das Dorf floss. Der Teich war tief und finster, das Wasser an einem wolkenverhangenen Tag wie heute aufgewühlt vom plätschernden Regen – bereit, jedes Geheimnis zu verbergen, das man ihm anvertraute. Bei dem Gedanken wurde ihr kalt. Nein, das kann ich nicht, flehte sie stumm. Ich kann nicht. Sie hatte diesem Kind schon so viel genommen.

Sie ging weiter, nicht in Richtung des Teichs, sondern weg vom Haus, und betete darum, dass sich ihr irgendeine andere Möglichkeit bieten möge. Als das tatsächlich geschah, seufzte Caroline vor Erleichterung. Auf einer grünen Lichtung, wo der Wald auf den Feldweg stieß, stand ein Wagen. Ein schwarz-weißes Pony war daneben angebunden, den Kopf tief gesenkt, das Hinterteil Sturm und Regen zugekehrt, und dünne Rauchfähnchen stiegen aus einem metallenen Ofenrohr im Dach auf. Zigeuner, dachte sie, und verzweifelte Hoffnung flackerte in ihrer Brust. Sie würden ihn finden, ihn mitnehmen, mit ihm fortziehen. Sie würde ihn nie wieder sehen, ihm nie wieder gegenüberstehen müssen. Aber er würde gut versorgt sein. Er würde ein Leben haben.

Jetzt begann das Baby zu weinen, denn der Regen hatte den Kissenbezug durchweicht und seine Haut berührt. Hastig hob Caroline den Sack wieder auf die Schulter und lief durch die Bäume um die Lichtung herum zur anderen Seite, weg vom Haus, damit die Spur nicht in diese Richtung wies. Sie hoffte, so würde es aussehen, als hätte jemand, der von Süden her gekommen war, das Kind ausgesetzt. Sie legte ihn zwischen die knotigen Wurzeln einer mächtigen Buche, wo es einigermaßen trocken war, und wich zurück, während seine Schreie lauter und beharrlicher wurden. Nehmt ihn und verschwindet, flehte sie stumm.

Immer wieder stolpernd lief sie so rasch und so leise wie möglich hinein in den Wald, und das Weinen des Babys folgte ihr noch eine Weile. Als sie endlich außer Hörweite war, blieb sie stehen. Sie schwankte unentschlossen und überlegte, ob sie weiterlaufen oder umkehren sollte. Ich werde ihn nie wieder hören, sagte sie sich, aber dieser Gedanke brachte ihr keine Erleichterung. Es konnte nicht anders sein, aber eine Kälte breitete sich in ihrem Herzen aus, so fest und scharfkantig wie Eis, denn sie erkannte jetzt, dass sie vor dem, was sie getan hatte, niemals würde davonlaufen, es nie würde vergessen können. Es steckte in ihr wie ein böses Geschwür, und obwohl es kein Zurück gab, war sie nicht mehr sicher, ob sie weiter vorwärtsgehen konnte. Ihre Hand glitt zu ihrem Bauch, in dem ein Kind heranwuchs. Sie ließ es die Wärme ihrer Handfläche spüren, als wollte sie ihm versichern, dass sie noch lebte und fühlte und es lieben würde. Dann ging sie langsam zum Haus zurück, wo ihr Stunden zu spät klar werden würde, dass sie das Baby zwar sorgfältig ausgezogen, es dann aber in dem feinen, bestickten Bezug ausgesetzt hatte. Sie drückte das Gesicht in ihr nacktes Kopfkissen und versuchte, den kleinen Jungen aus ihrer Erinnerung zu verbannen.

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Wie still es ist! So still, dass es mir fast

Das Denken drückt und stört mit sonderbarer

Und übergroßer Stille.

Samuel Taylor Coleridge, Frost um Mitternacht

Wenigstens haben wir Winter. Wir waren immer nur im Sommer hier, deshalb wirkt das Haus ein wenig anders. Es ist nicht so grässlich vertraut, nicht so übermächtig. Storton Manor, grimmig und klotzig, hat dieselbe Farbe wie der tief hängende Himmel. Ein viktorianischer, neugotischer Berg von einem Herrenhaus, Fenster mit Mittelsäulen und abblätterndem Holz, grün vor Algen. Trockenes Laub liegt an die Wände hingeweht, und Moos wächst dahinter herauf bis zu den Fenstersimsen im Erdgeschoss. Ich steige aus dem Auto und atme ruhig durch. Bisher war der Winter sehr englisch. Feucht und matschig. Die Hecken in der Ferne sehen aus wie verschmierte violette Flecken. Ich habe mich heute extra in leuchtenden Farben angezogen, aus Trotz diesem Ort gegenüber, seiner kargen Strenge und des schweren Gewichts wegen, das meine Erinnerungen bedrückt. Jetzt komme ich mir darin albern vor, wie ein Clown.

Durch die Windschutzscheibe meines alten weißen Golf kann ich Beths Hände in ihrem Schoß liegen sehen, und die feinen Spitzen an dem langen Zopf. Hier und da ist er jetzt von grauen Strähnen durchzogen, und das erscheint mir zu früh, viel zu früh. Sie war ganz versessen darauf, hierherzukommen, aber jetzt sitzt sie da wie erstarrt. Diese blassen, schmalen Hände, schlaff im Schoß gefaltet – passiv, abwartend. Unser Haar war so leuchtend hell, als wir noch klein waren. Es war weißblond wie das Haar von Engeln, von jungen Wikingern. Doch die Reinheit dieser Farbe hatte sich mit den Jahren in dieses langweilige Mausbraun verwandelt. Ich färbe mir jetzt die Haare, damit sie lebendiger wirken. Inzwischen sehen wir immer weniger wie Schwestern aus. Ich erinnere mich, wie Beth und Dinny verschwörerisch flüsterten und die Köpfe zusammensteckten: sein Schopf so dunkel, ihrer so hell. Damals war ich ganz krank vor Eifersucht, und jetzt erscheinen ihre Köpfe vor meinem geistigen Auge wie Yin und Yang. Pech und Schwefel.

Die Fenster des Hauses sind leer und zeigen dunkle Spiegelbilder der kahlen Bäume ringsum. Diese Bäume kommen mir jetzt größer vor, und sie neigen sich zu dicht ans Haus heran. Hier muss ausgeholzt werden. Denke ich etwa daran, was hier zu tun ist, was man verbessern könnte? Stelle ich mir vor, hier zu leben? Das Haus gehört jetzt uns, alle zwölf Schlafzimmer, die hohen Decken, die prächtige Treppe, die Kellerräume, deren Steinböden von dienstbaren Füßen glatt geschliffen sind. Alles gehört uns, aber nur, wenn wir hier einziehen und wohnen bleiben. Das hat Meredith schon immer gewollt. Meredith – unsere Großmutter mit ihrer Boshaftigkeit und ihren knochigen Händen, zu Fäusten geballt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre meine Mutter mit uns allen schon vor Jahren hier eingezogen, um ihr beim Sterben zuzuschauen. Aber unsere Mutter weigerte sich, wurde prompt enterbt, und wir setzten unser fröhliches vorstädtisches Leben in Reading fort. Wenn wir nicht hier einziehen, wird das Herrenhaus verkauft und der Erlös wohltätigen Zwecken gestiftet. Meredith, die im Tod zur Philanthropin wurde – verkehrte Welt. Jetzt gehört das Haus also uns, aber nur für kurze Zeit, denn ich glaube nicht, dass wir es lange ertragen können, hier zu wohnen.

Dafür gibt es einen Grund. Wenn ich versuche, ihn direkt ins Auge zu fassen, löst er sich auf wie Nebel. Nur ein Name taucht daraus auf: Henry. Der Junge, der verschwand, der einfach nicht mehr da war. Was ich jetzt denke, als mir vom Blick hinauf in die kahlen Zweige schwindlig wird … Ich glaube, ich weiß es. Ich weiß, warum wir hier nicht leben können, warum es schon bemerkenswert ist, dass wir überhaupt gekommen sind. Ich weiß es. Ich weiß, warum Beth jetzt nicht einmal aus dem Auto steigen will. Ich frage mich, ob ich ihr gut zureden muss, um sie da herauszubekommen, so, wie man ihr zureden muss, damit sie etwas isst. Auf der Erde zwischen mir und dem Haus wächst keine einzige Pflanze – es ist zu schattig. Vielleicht ist der Boden auch verseucht. Es riecht nach Erde und Fäulnis, nach samtigem Pilz. Humus, das Wort fällt mir plötzlich aus dem Naturkundeunterricht vor vielen Jahren ein. Tausend kleine Insektenmäuler, die kauen und arbeiten und den Boden verdauen. Ein Augenblick der Stille entsteht. Der Motor ist still, die Bäume und das Haus sind still, und alles dazwischen. Hastig setze ich mich wieder ins Auto.

Beth starrt auf ihre Hände hinab. Ich glaube, sie hat noch nicht einmal aufgeblickt und unser Haus angesehen. Plötzlich kommen mir Zweifel, ob es nicht doch ein Fehler war, sie hierherzubringen. Mit einem Mal fürchte ich, dass ich es zu lange aufgeschoben habe, und diese Angst dreht sich in meinen Eingeweiden. An ihrem Hals stehen Sehnen hervor wie dünne Seile, und sie ist irgendwie eckig in den Beifahrersitz gefaltet, ganz Kanten und Winkel. So dünn ist sie jetzt, und sie sieht so zerbrechlich aus. Immer noch meine Schwester, aber sehr verändert. Da ist etwas in ihrem Inneren, das ich nicht zu fassen bekommen, das ich nicht verstehen kann. Sie hat Dinge getan, die ich nicht begreife, und Gedanken gehabt, die ich mir nicht vorstellen kann. Ihre Augen, der Blick starr auf ein Knie gerichtet, sind glasig und weit aufgerissen. Maxwell will, dass sie wieder in die Klinik geht. Das hat er mir vor zwei Tagen am Telefon gesagt, und ich habe ihm fast den Kopf dafür abgerissen, dass er das auch nur vorschlägt. Aber ich verhalte mich in ihrer Gegenwart jetzt anders, sosehr ich mich auch bemühe, das nicht zu tun. Und ein Teil von mir hasst sie dafür. Sie ist meine große Schwester. Sie sollte stärker sein als ich. Ich reibe sacht ihren Arm und schaue sie aufmunternd an. »Wollen wir reingehen? Ich könnte einen Drink gebrauchen.« Meine Stimme klingt in dem beengten Raum sehr laut. Ich stelle mir Merediths kristallene Karaffen vor, die im Salon aufgereiht sind. Als Kind habe ich mich dort hineingeschlichen und in die geheimnisvollen Flüssigkeiten gestarrt, beobachtet, wie sie das Licht einfingen, und die Stopfen herausgezogen, um verbotenerweise daran zu schnuppern. Es erscheint mir irgendwie grotesk, jetzt, wo sie tot ist, ihren Whisky zu trinken. Diese Fürsorglichkeit ist meine Art, Beth zu zeigen, dass ich weiß: Sie will nicht wieder hier sein. Doch dann steigt sie mit einem tiefen Seufzen aus und läuft auf das Haus zu wie getrieben, und ich eile ihr nach.

Von innen wirkt das Haus kleiner, wie viele Dinge, die man aus der Kindheit kennt, aber es ist immer noch riesig. Meine WG-Wohnung in London erschien mir groß, als ich dort einzog, weil sie so viele Zimmer hat, dass man nicht durch die trocknende Wäsche spähen muss, um fernzusehen. Jetzt stehe ich in der weiten Eingangshalle und verspüre den lächerlichen Drang, Rad zu schlagen. Wir zögern und stellen unsere Reisetaschen am Fuß der Treppe ab. Zum allerersten Mal sind wir allein hier angekommen, ohne unsere Eltern, und das fühlt sich so seltsam an, dass wir kopflos im Kreis laufen wie die Schafe. Unsere Rollen werden von Gewohnheiten, von Erinnerungen und Gepflogenheiten definiert. Hier, in diesem Haus, sind wir Kinder. Aber ich muss das irgendwie überspielen, denn ich sehe, wie Beth der Mut verlässt und dieser wohlbekannte hektische Ausdruck in ihre Augen tritt.

»Setz schon mal den Kessel auf. Ich suche den Schnaps, und dann trinken wir Kaffee mit Schuss.«

»Erica, es ist noch nicht einmal Mittag.«

»Na und? Wir sind im Urlaub, oder etwa nicht?« O nein, sind wir nicht. Ich weiß zwar nicht, was genau das hier ist, aber mit Sicherheit kein Urlaub. Beth schüttelt den Kopf.

»Ich trinke nur einen Tee«, sagt sie und schleicht in Richtung Küche. Ihr Rücken ist schmal, die Schulterblätter zeichnen sich scharf unter dem Stoff ihrer Bluse ab. Der Anblick beunruhigt mich – erst vor zehn Tagen habe ich sie das letzte Mal gesehen, aber sie ist unübersehbar noch dünner geworden. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen, dafür sorgen, dass es ihr wieder gut geht.

Das Haus ist kalt und feucht, also drücke ich an den Knöpfen einer uralten Schalttafel herum, bis ich höre, dass sich Dinge regen, Rohre in der Tiefe stöhnen und Wasser brodelt. Im Kamin liegt alte Asche, und im Papierkorb des Salons finde ich benutzte Taschentücher und einen süßlich vor sich hin faulenden Apfelbutzen. Mich so in Merediths Leben breitzumachen, gibt mir ein scheußliches Gefühl, wie eine leichte Übelkeit. Als könnte ich mich umdrehen und sie im Spiegel sehen – eine säuerliche Grimasse mit künstlich goldblondem Haar. Ich bleibe am Fenster stehen und schaue auf den winterlichen Garten hinaus, der ein Durcheinander zu hoch geschossener, umgeknickter Pflanzen birgt, wild und ungepflegt. Es gibt Gerüche, die ich mit den Sommerferien hier verbinde: Kokosmilch-Sonnencreme; Ochsenschwanzsuppe zu Mittag, und wenn es noch so heiß war; süße, schwere Duftwolken von den Rosen und Lavendelsträuchern an der Terrasse; der scharfe, irgendwie fleischige Geruch von Merediths fetten Labradoren, die ihre heiße Erschöpfung an meine Schienbeine hecheln. Jetzt ist alles so anders. Das hätte Jahrhunderte her sein können. Jemand anders könnte all das erlebt haben. Ein paar Regentropfen klatschen ans Fenster, und ich bin hundert Jahre entfernt von allem und allen. Hier sind wir wahrhaftig allein, Beth und ich. Allein, wieder in diesem Haus, in unserem verschworenen Schweigen, nach all der Zeit, in der nichts gelöst wurde, in der Beth sich selbst Stück für Stück auseinandergerissen hat, während ich alledem immer nur ausgewichen bin.

Wir müssen zuerst einmal sortieren und irgendeine Ordnung in die Schichten ihrer Besitztümer bringen, die vielen Gegenstände, die sich wie Schneewehen in den Ecken angesammelt haben. Dieses Haus hat so viele Zimmer, so viele Möbel, so viele Schubladen und Schränke und Verstecke. Der Gedanke, es zu verkaufen, sollte mich wohl traurig stimmen, weil die Familiengeschichte, die über lange Zeit bis zu Beth und mir hinreicht, dann gebrochen wäre. Aber ich bin nicht traurig. Vielleicht deshalb, weil das alles von Rechts wegen Henry erben sollte. Das ist die Stelle, an der alles gebrochen ist. Ich beobachte eine Weile, wie Beth Spitzentaschentücher aus einer Schublade nimmt und auf ihrem Knie stapelt. Sie holt eines nach dem anderen heraus, betrachtet die Muster, fährt sanft mit den Fingerspitzen darüber. Der Stapel auf ihrem Knie ist nicht so gerade und ordentlich wie der in der Schublade. Was sie da tut, ist sinnlos. Das ist eines von diesen Dingen, die sie tut und die ich nicht verstehen kann.

»Ich gehe spazieren«, verkünde ich, richte mich mit steifen Knien auf und schlucke meine Gereiztheit herunter. Beth fährt zusammen, als hätte sie vergessen, dass ich da bin.

»Wo gehst du hin?«

»Spazieren, habe ich doch gerade gesagt. Ich brauche ein bisschen frische Luft.«

»Aber bleib nicht so lange«, sagt Beth. Das macht sie auch manchmal – sie spricht mit mir wie mit einem eigensinnigen Kind, so, als könnte ich davonlaufen. Ich seufze.

»Nein. Bin in zwanzig Minuten wieder da. Will mir nur die Beine vertreten.« Ich glaube, sie weiß, wohin ich gehe.

Ich lasse mich einfach von meinen Füßen tragen. Der frühere Rasen ist zerrupft und verklumpt. Kabbelige Wellen aus geknicktem braunem Gras durchnässen meine Schuhe. Das war früher alles so gepflegt, so schön. Ich ertappe mich bei dem dummen Gedanken, dass der Garten seit Merediths Tod ungehindert vor sich hin wuchert. Aber das ist lächerlich. Sie ist erst vor einem Monat gestorben, und der Garten ist offensichtlich schon seit Jahren vernachlässigt worden. Es scheint, als hätten wir auch sie vernachlässigt. Ich habe keine Ahnung, wie sie vor ihrem Tod hier zurechtgekommen ist – wenn sie denn zurechtgekommen ist. Sie war einfach da, irgendwo in meinem Hinterkopf. Mum und Dad haben sie besucht, etwa einmal im Jahr. Beth und ich waren schon ewig nicht mehr hier. Aber unsere Abwesenheit ging irgendwie in Ordnung, denke ich. Unser Widerstand wurde nicht allzu sehr herausgefordert, nie wurden wir dazu gedrängt, herzukommen. Vielleicht hätte sie uns gern gesehen, vielleicht auch nicht. Das war bei Meredith schwer zu sagen. Sie war keine liebe Großmutter, sie war nicht einmal mütterlich. Als unsere Mutter noch klein war, hatte auch unsere Urgroßmutter Caroline hier gelebt. Eine weitere Quelle von Ungemach. Unsere Mutter war ausgezogen, sobald sie konnte. Merediths Tod kam plötzlich, ein Schlaganfall. An einem Tag noch alterslos – oder vielmehr eine alte Frau, solange ich zurückdenken kann –, am nächsten Tag nicht mehr da. Zuletzt habe ich sie bei Mums und Dads Silberhochzeit gesehen, nicht hier, sondern in einem überheizten Hotel mit dicken Teppichen. Sie thronte wie eine Königin an ihrem Tisch, ließ den kalten, harten Blick durch den Raum schweifen, scharfe Augen über geschürzten Lippen.

Da ist der Teich. Wo er immer war, aber er sieht in Winterfarben so anders aus. Er liegt in der Ecke eines ganz kurz abgegrasten Rasenstücks. Die Wiese zieht sich nach Osten hin, westlich davon ist der Wald. Die Bäume haben immer fleckiges grünes Licht auf die Wasseroberfläche gezaubert, eine kühle Farbe, die von Zweigen herrührte, auf denen Vögel flatterten und sangen. Jetzt sind sie kahl, besetzt nur von lauten Saatkrähen, die keckern und lärmen. An heißen Julitagen war er unwiderstehlich, dieser Grundwasserweiher, doch unter dem trüben Himmel wirkt er flach wie eine Pfütze. Wolken jagen darüber hinweg. Ich weiß, dass er nicht flach ist. Als wir noch klein waren, war er eingezäunt, aber nur mit ein paar Reihen Stacheldraht, die für entschlossene Kinder keinerlei Hindernis darstellten. Der Teich war die zerkratzten Schienbeine und die ausgezupften Haare allemal wert. Er sah tief aus, aber Dinny sagte, er sei sogar noch tiefer, als man sehen könne. Er sagte, das blaue Wasser täusche das Auge, und ich glaubte ihm nicht, bis er eines Tages hi-nabtauchte. Er holte mächtig viel Luft und strampelte mit den Füßen, trat sich in die Tiefe hinab. Ich sah zu, wie sein gebräunter Körper Wellen schlug, sah zu, wie er immer weiter mit den Beinen trat, obwohl es den Anschein hatte, als hätte er den kalkigen Grund längst erreichen müssen. Er tauchte japsend wieder auf und fand mich hingerissen und fasziniert am Ufer.

Der Teich speist den Bach, der durch das Dorf Barrow Storton fließt, unterhalb des Herrenhauses an dem breiten Hügel gelegen. Dieser Teich ist fest in meiner Erinnerung verankert; er scheint meine gesamte Kindheit zu beherrschen. Ich kann Beth an seinem Rand entlangwaten sehen, als ich zum ersten Mal darin schwamm. Sie ging im knöcheltiefen Wasser auf und ab, nervös, weil sie die Älteste war, und das Ufer war steil, und wenn ich ertrinken würde, so wäre das ihre Schuld. Ich tauchte immer wieder hinab und versuchte, den Grund zu erreichen wie Dinny, doch ich schaffte es nie. Jedes Mal, wenn ich erneut durch die Oberfläche brach, hörte ich Beths schrille Drohungen. Ich schoss nach jedem Versuch wieder in die Höhe, wie ein Korken. Das war wohl der Auftrieb des Babyspecks an meinen dicken Beinen, meinem runden Bauch. Sie ließ mich danach Runde um Runde durch den Garten laufen, ehe ich mich dem Haus wieder nähern durfte, damit ich trocken und warm hineinging statt blass und mit klappernden Zähnen, was einer Erklärung bedurft hätte.

Hinter mir sind durch die kahlen Bäume hier und da ferne Blicke aufs Haus zu erhaschen. Das ist mir vorher noch nie aufgefallen. Durch sommergrüne Bäume kann man es nicht sehen, aber jetzt beobachtet es mich, es wartet. Ich mache mir Sorgen, weil Beth allein dort drin ist, aber ich will noch nicht zurück. Ich gehe weiter und klettere über das Tor auf die Wiese draußen. Diese Wiese, und noch eine, und dann ist man in den Downs – den hügeligen Kreideformationen von Wiltshire, geprägt hier und da von der Vorgeschichte, an manchen Stellen auch von Panzern, Manövern und Zielübungen. Am Horizont ruht der Grabhügel, der dem Dorf seinen Namen gegeben hat, das bronzezeitliche Hügelgrab eines Königs, dessen Ruhm und Name längst in Vergessenheit geraten sind: ein niedriger, schmaler Buckel, etwa so lang wie zwei Autos und an einem Ende offen. Im Sommer ruht dieser König unter wilder Gerste, gelbem Jakobskraut und blauen Vergissmeinnicht und lauscht dem endlosen, satten Glucksen der Lerchen. Jetzt findet man jedoch nur noch mehr verdorrtes Gras, abgestorbene Disteln und eine leere Chipstüte.

Am Hügelgrab bleibe ich stehen und schaue auf das Dorf hinab, um nach dem Aufstieg wieder zu Atem zu kommen. Unten regt sich nicht viel, ein paar fransig aufsteigende Rauchsäulen aus Schornsteinen, ein paar wetterfest vermummte Dorfbewohner, die ihre Hunde ausführen, auf dem Weg zum Briefkasten. Von diesem einsamen Hügel aus scheint es dennoch der Mittelpunkt des Universums zu sein. Dies volle Dorf! Coleridge geht mir plötzlich durch den Kopf. Seine reflektierenden Blankversgedichte habe ich gerade mit meiner zehnten Klasse durchgenommen. Ich habe versucht, sie dazu zu bringen, dass sie langsam genug lesen, um die Worte zu spüren, die Bilder in sich aufzunehmen; aber sie gehen flüchtig darüber hinweg, schnatternd wie die Affen.

Die Luft ist beißend kalt hier oben – sie teilt sich um mich wie eine Strömungswelle. Meine Zehen sind schon taub, weil meine Schuhe klatschnass sind. Ich weiß, dass im Haus zehn oder zwanzig Paar Gummistiefel herumstehen. Unten im Keller, ordentlich aufgereiht und mit Spinnweben drapiert. Ich habe eine scheußliche Erinnerung daran, wie ich einmal einen Stiefel nicht ausschüttelte, ehe ich mit dem nackten Fuß hineinfuhr, und das Krabbeln eines kleinen Bewohners darin spürte. Ich bin aus der Übung, was das Landleben betrifft, nicht ausgerüstet für unterschiedliches Terrain, für Boden, der nicht bearbeitet wurde, um mir die größtmögliche Bequemlichkeit zu bieten. Und dennoch: Wenn mich jemand danach fragte, würde ich sagen, dass ich hier aufgewachsen bin. Diese frühen Sommer, die in meiner Erinnerung so lang sind und mir noch deutlich vor Augen stehen, erheben sich wie Inseln aus einem Meer von Schultagen und verregneten Wochenenden, die so verschwommen ineinander übergehen, dass man sich nicht an sie erinnern kann.

Am Eingang zum Hügelgrab erzeugt der Wind ein leises Stöhnen. Ich springe mit beiden Füßen auf einmal die steinerne Stufe hinab und erschrecke ein Mädchen im Inneren. Die junge Frau fährt mit einem Keuchen hoch und stößt sich den Kopf an der niedrigen Decke, krümmt sich wieder nach vorn und hält sich mit beiden Händen den Schädel.

»Oh, verdammt! Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken … Ich wusste nicht, dass jemand hier ist.« Ich lächle. Das schwache Licht aus dem Eingang fällt auf sie, auf goldblonde Ringellocken, mit einem türkisfarbenen Tuch zurückgebunden, ein junges Gesicht und ein eigenartig unförmiger Körper, in lange Chiffonröcke und eine Häkelbluse gehüllt. Sie blickt mit zusammengekniffenen Augen zu mir hoch – ich muss ihr als Silhouette erscheinen, als schwarzer Umriss vor dem Himmel draußen. »Ist alles in Ordnung?« Sie antwortet mir nicht. Kleine, bunte Blumensträußchen stecken in den Spalten der Wand vor ihr. Die abgeschnittenen Stängel sind ordentlich mit Band umwickelt. Hat sie das so still hier drin getan? An irgendeinem halb eingebildeten, halb geborgten Schrein gebetet? Sie sieht, dass ich ihre Opfergaben betrachte, steht auf, zieht ein finsteres Gesicht und drängt sich wortlos an mir vorbei. Mir wird klar, dass ihre scheinbar unförmige Gestalt tatsächlich aus zwei Gestalten besteht – sie ist schwanger. Sehr hübsch, sehr jung und mit einem sehr dicken Bauch. Als ich aus dem Grab trete, schaue ich den Hügel hinab in Richtung Dorf, aber da ist sie nicht. Sie läuft in die andere Richtung – in die Richtung, aus der ich gekommen bin, zum Wald in der Nähe des Herrenhauses. Sie marschiert entschlossen und mit schwingenden Armen.

Beth und ich essen an jenem ersten Abend im Arbeitszimmer. Das mag eine seltsame Wahl sein, aber es ist der einzige Raum, in dem ein Fernseher steht. Während wir mit Tabletts auf den Knien Pasta essen, leisten uns die Abendnachrichten Gesellschaft, denn an beiläufigen Gesprächsthemen fällt uns offenbar nichts mehr ein, und die großen Themen sind einfach noch zu groß. Wir sind noch nicht so weit. Ich weiß auch nicht, ob wir je dahin kommen werden, aber es gibt ein paar Fragen, die ich meiner Schwester stellen möchte. Ich werde abwarten und dann sichergehen, dass ich richtig frage. Wenn ich die richtigen Fragen stelle, so hoffe ich, werde ich ihr damit helfen. Die Wahrheit wird ihr helfen, sie befreien. Beth scheucht jedes Nudelröhrchen erst einmal auf dem Teller herum, ehe sie es mit der Gabel einfängt. Sie führt die Gabel mehrmals an die Lippen, ehe sie sie in den Mund steckt. Ein paar Penne schaffen es nicht bis dahin – sie lässt sie wieder von der Gabel fallen und wählt eine Alternative. All das sehe ich aus den Augenwinkeln, ebenso wie ihren verhungernden Körper. Die Fernsehbilder spiegeln sich dunkel in ihren Augen.

»Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist? Hier mit Eddie Weihnachten zu feiern?«, fragt sie mich unvermittelt.

»Natürlich. Warum nicht? Wir müssen sowieso eine Weile hierbleiben und alles in Ordnung bringen, also könnten wir auch gleich über Weihnachten bleiben. Zusammen.« Ich zucke mit den Schultern. »Wir haben ja reichlich Platz.«

»Nein, ich meine … ein Kind hierherzubringen. In dieses … Haus.«

»Beth, es ist nur ein Haus. Es wird ihm gefallen. Er weiß nichts … Na ja. Er wird seinen Spaß daran haben, da bin ich sicher – hier gibt es so viele Ecken und Winkel zu erforschen.«

»Aber es ist ein bisschen groß und leer, nicht? Vielleicht ein wenig einsam? Es könnte ihn deprimieren.«

»Du könntest ihm doch sagen, dass er einen Freund mitbringen soll. Wie wäre das? Ruf ihn morgen an – nicht für die ganzen Weihnachtsferien natürlich. Aber irgendwelche berufstätigen Eltern wären sicher froh, wenn sie noch ein paar Tage Pause machen könnten, ehe ihre kleinen Tyrannen wieder auftauchen, meinst du nicht?«

»Hm.« Beth verdreht die Augen. »Ich glaube nicht, dass irgendeine der anderen Mütter, deren Kind auf diese Schule geht, etwas so Gewöhnliches tut, wie ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen.«

»Das tut nur Pöbel wie du?«

»Nur Pöbel wie ich«, stimmt sie trocken zu.

»Welch Ironie, wo du doch eigentlich die echte Sorte bist. Praktisch blaublütig.«

»Wohl kaum. Genauso wenig wie du.«

»Tja, ich glaube, bei mir hat der Adel eine Generation übersprungen.« Ich grinse. Meredith hat mir das einmal erzählt, als ich zehn war. Deine Schwester hat die Calcott-Züge, Erica. Du kommst ganz nach deinem Vater, fürchte ich. Das hat mir damals nichts ausgemacht und tut es auch heute nicht. Ich war zu der Zeit nur nicht sicher, was genau Züge bedeuten sollte. Ich dachte, sie meinte mein Haar, das nach einem Zwischenfall mit einem Kaugummi ganz kurz geschnitten war. Als sie sich abwandte, streckte ich ihr die Zunge heraus, und Mum tadelte mich mit erhobenem Zeigefinger.

Beth lehnt ihn auch ab, den Adel. Sie hat mit Maxwell – Eddies Vater – darum gekämpft, dass er in die Grundschule im Ort gehen durfte, die winzig und freundlich war und in einer Ecke des Schulhofs einen Naturkunde-Garten hatte: Froschlaich, verdorrte Überreste von Libellen-Nymphen, Primeln im Frühling, und später Stiefmütterchen. Aber Maxwell hat sich durchgesetzt, als es um die weiterführende Schule ging. Vielleicht war es besser so. Eddie besucht ein Internat und wohnt während der gesamten Schulzeit dort. Beth hat vor den Ferien viele Wochen Zeit, sich aufzubauen und ein Strahlen in ihr Lächeln zu rütteln.

»Wir machen das Haus gemütlich«, versichere ich ihr. »Mit Weihnachtsschmuck und allem Drum und Dran. Ich finde bestimmt irgendwo ein Radio. Es wird nicht wie …« Meine Stimme erstirbt. Der winzige Fernseher in der Ecke gibt ein ärgerliches Rauschen von sich, das uns beide zusammenfahren lässt.

Es ist schon fast Mitternacht, und Beth und ich haben uns in unsere Zimmer zurückgezogen. Dieselben Zimmer wie immer, in denen wir dieselben Tagesdecken vorgefunden haben, glatt und ausgeblichen. Das kam mir zuerst ganz unwirklich vor. Aber warum sollte man Decken in einem Zimmer wechseln, das nie jemand benutzt? Ich bin ziemlich sicher, dass Beth auch noch nicht schläft. Die Stille im Haus tönt wie eine Glocke. Die Matratze sinkt da, wo ich sitze, tief unter mir ein, die Federn federn nicht mehr. Das Bett hat ein Kopfteil aus dunkler Eiche, und an der Wand hängt ein Aquarell, das inzwischen stark verblasst ist. Es zeigt Schiffe in einem Hafen, obwohl ich nie davon gehört habe, dass Meredith je an der Küste war. Ich schiebe die Hand hinter das Kopfteil, und meine Finger tasten sich an den senkrechten Streben hinab, bis ich es finde. Es ist brüchig, hart und staubig. Das Stückchen rotes Kunststoffband, das ich von einer Schleife auf einem Geburtstagsgeschenk abgeschnitten habe. Ich habe es hier festgebunden, als ich acht Jahre alt war, um ein Geheimnis zu haben, von dem nur ich allein etwas wusste. Dann konnte ich immer daran denken, wenn wir wieder zur Schule gingen. Ich konnte es mir vorstellen, verborgen, unberührt, während das Zimmer geputzt wurde und Leute kamen und gingen. Da war etwas, von dem ich weiterhin wissen würde, ein Relikt von mir, das ich immer wiederfinden konnte.

Es klopft leise, und Beths Gesicht lugt um die Türkante. Ihr Zopf ist gelöst, das Haar fällt ihr offen ums Gesicht und lässt sie jünger wirken. Manchmal ist sie so schön, dass ich einen Schmerz in der Brust spüre, der mir die Rippen zusammendrückt. Der schwache Schein der Nachttischlampe legt Schatten auf ihre Wangenknochen, unter ihre Augen, und betont den Schwung ihrer Oberlippe.

»Wie geht es dir? Ich kann nicht schlafen«, flüstert sie, als sei noch jemand im Haus, den sie wecken könnte.

»Mir geht es gut, Beth, ich bin nur noch nicht müde.«

»Oh.« Sie bleibt zögernd in der Tür stehen. »Es ist so seltsam, hier zu sein.« Das ist keine Frage. Ich warte. »Ich fühle mich … ich komme mir ein bisschen vor wie Alice im Wunderland. Alles ist so vertraut, und doch irgendwie falsch. Als wäre es spiegelverkehrt. Was glaubst du, warum sie uns das Haus vererbt hat?«

»Ich weiß nicht. Um Mum und Onkel Clifford eins auszuwischen, nehme ich an. Das wäre genau Merediths Art.« Ich seufze. Immer noch drückt Beth sich im Türrahmen herum, so hübsch, so mädchenhaft. Im Augenblick scheint es, als sei überhaupt keine Zeit vergangen, als hätte sich nichts verändert. Sie könnte wieder zwölf sein, dann wäre ich acht, und sie könnte ihren Kopf ins Zimmer stecken, um mich zu wecken und dafür zu sorgen, dass ich nicht zu spät zum Frühstück komme.

»Ich glaube, sie hat das getan, um uns zu bestrafen«, sagt sie leise und schwermütig.

»Nein, Beth. Wir haben nichts Böses getan«, erkläre ich bestimmt.

»Nicht? In jenem Sommer? Nein. Nein, wahrscheinlich nicht.« Sie streift mich mit einem hastigen, etwas verwunderten Blick, und ich bekomme den Eindruck, als versuchte sie irgendetwas zu sehen, irgendeine Wahrheit über mich zu entdecken. »Gute Nacht, Rick«, flüstert sie, und mit der vertrauten Kurzform meines Namens aus Wildfang-Kinderzeiten verschwindet sie aus der Türöffnung.

Ich erinnere mich an so vieles aus jenem Sommer. Der letzte Sommer, in dem alles gut war, der Sommer 1986. Ich erinnere mich daran, wie untröstlich Beth war, weil Wham! sich trennten. Ich erinnere mich daran, dass die Hitze wässrige Bläschen auf meiner Brust hinterließ, die juckten und unter meinen Fingernägeln platzten, wovon mir schlecht wurde. Ich erinnere mich an das tote Kaninchen im Wald, nach dem ich fast täglich sah, angewidert und zugleich fasziniert davon, wie es langsam zusammensank und weich wurde. Es schien zu atmen, bis ich es mit einem Stock anstupste, um zu prüfen, ob es auch wirklich tot war, und erkannte, dass die Bewegung vom gierigen Wimmeln der Maden in seinem Inneren herrührte. Ich erinnere mich daran, dass ich auf Merediths winzigem Fernseher zusah, wie Sarah Ferguson Prinz Andrew heiratete, am dreiundzwanzigsten Juli – dieses fantastische Brautkleid, das mich brennen ließ vor Neid.

Ich erinnere mich an die Tanznummer zu Diana Ross’ Hit »Chain Reaction«, die ich mir ausdachte. Ich erinnere mich daran, dass ich für das Kostüm dazu eine von Merediths Boas stahl, stolperte und darauftrat: Es regnete Federn, und ich versteckte sie in einer abgelegenen Schublade, mit einem scheußlichen Gefühl in der Magengrube, viel zu verängstigt, um meine Tat zu gestehen. Ich erinnere mich an Reporter und Polizisten, die einander zu beiden Seiten des eisernen Tors von Storton Manor gegenüberstanden. Die Polizisten verschränkten die Arme und wirkten gelangweilt in ihren zu warmen Uniformen. Die Reporter liefen durcheinander, fummelten an ihren Geräten herum, sprachen in Kameras und Kassettenrekorder und warteten, warteten auf Neuigkeiten. Ich erinnere mich daran, wie Beths Blick mich fixierte, während der Polizist mit mir über Henry sprach und mich fragte, wo wir gespielt und was wir gemacht hatten. Sein Atem roch nach Pfefferminzdrops, nach sauer gewordenem Zucker. Ich erzählte ihm alles, glaube ich, und fühlte mich nicht wohl dabei. Und da war Beths flackernder Blick aus weit aufgerissenen Augen.

Trotz dieser Erinnerungen schlafe ich schließlich gut, sobald ich erst über die kalte Bettwäsche und die ungewohnte Dunkelheit des Zimmers hinweggekommen bin. Und dann ist da der Geruch, nicht unangenehm, aber alles durchdringend. So, wie die Häuser anderer Leute immer nach ihren Bewohnern riechen – die Kombination aus ihrer Seife, ihrem Deo und ihrem Haar, wenn es gewaschen werden muss, ihrem Parfüm, der Haut, dem Essen, das sie kochen. Obwohl es Winter ist, hängt dieser Geruch in jedem Zimmer, erinnerungsträchtig und verstörend. Einmal wache ich auf und glaube, Beth im Haus herumlaufen zu hören. Und dann träume ich von dem Teich, ich schwimme darin und versuche, hinabzutauchen, weil ich etwas vom Grund holen muss, aber ich kann es nicht erreichen. Der kalte Schock des Wassers, der Druck in meiner Lunge, die schreckliche Angst davor, was meine Finger am Grund ertasten werden …

Aufbruch

1902

Ich werde standhaft bleiben, nahm Caroline sich entschlossen vor, während sie ihre Tante Bathilda heimlich durch die gesenkten Wimpern beobachtete. Die ältere Frau leerte ihren Teller mit methodischer Tüchtigkeit, ehe sie weitersprach.

»Ich fürchte, du begehst einen schweren Fehler, meine Liebe.« Doch da war ein Glitzern in den Augen ihrer Tante, das überhaupt nicht nach Befürchtung aussah. Eigentlich eher selbstgerecht, mit sich zufrieden, als glaubte sie, all ihren Behauptungen zum Trotz, einen Sieg errungen zu haben. Caroline betrachtete ihren eigenen Teller, auf dem das Fett aus der Bratensauce aufgestiegen war und sich zu einer unappetitlichen Schicht verfestigt hatte.

»Das sagtest du bereits, Tante Bathilda.« Sie sprach leise und respektvoll, und dennoch funkelte ihre Tante sie weiterhin an.

»Ich wiederhole mich, Kind, weil du mich offenbar nicht hörst«, fauchte sie.

Hitze flammte in Carolines Wangen auf. Sie rückte ihr Besteck noch ordentlicher zurecht und spürte das glatte Gewicht des Silbers unter ihren Fingern. Sie bewegte leicht den Rücken. Ihre Wirbelsäule war zu einer strengen Kurve geschnürt und tat weh.

»Und zapple nicht so herum«, setzte Bathilda hinzu.

Der Speisesaal des La Fiorentina war übermäßig hell, eingeschlossen von Fenstern, die vom Dampf heißer Speisen und dem Atem der Gäste vollständig beschlagen waren. Der Winter war lang und hart gewesen, und nun, da der Frühling mit einer vielversprechenden Woche singender Vögel, zarter Krokusse und einem grünen Hauch an den Bäumen im Park zur vollen Blüte anzusetzen schien – hatte sich Regenwetter über New York City festgesetzt.

Caroline erhaschte einen Blick auf sich selbst in mehreren Spiegeln, die im Raum so angeordnet waren, dass jede ihrer Bewegungen vervielfacht wurde. Diese peinlich genaue Beobachtung verunsicherte sie, und sie errötete noch tiefer. »Ich höre dir zu, Tante. Ich habe immer auf dich gehört.«

»Du hast in der Vergangenheit auf mich gehört, weil du es musstest, soweit ich das beurteilen kann. Nun hältst du dich offenbar für alt genug, mich nicht mehr zu beachten. In der wichtigsten Frage, die sich dir je stellen wird, an dieser alles entscheidenden Wegkreuzung im Leben ignorierst du mich. Tja, es ist ein Segen, dass mein armer lieber Bruder nicht mehr erleben muss, wie ich bei seinem einzigen Kind versagt habe.« Bathilda seufzte märtyrerhaft.

»Du hast nicht versagt, Tante«, murmelte Caroline widerstrebend.

Ein Kellner räumte ihre leeren Teller ab, brachte ihnen lieblichen Weißwein anstelle des roten und den Servierwagen mit den Desserts. Bathilda nippte und hinterließ einen verschmierten Fleck am vergoldeten Rand des Glases. Dann wählte sie ein mit Sahne gefülltes Eclair, schnitt ein dickes Stück ab und machte den Mund weit auf, damit es hineinpasste. Ihr weißes, fleischiges Kinn faltete sich über den Spitzenkragen. Caroline beobachtete sie voller Abscheu und spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte.

»Du hast mir nie das Gefühl gegeben, dass dir etwas an mir liegt«, flüsterte Caroline so leise, dass die Worte im Stimmengewirr und den Geräuschen des Essens, Trinkens, Kauens und Schluckens untergingen. Der Geruch von Braten und mit Curry gewürzter Suppe hing in der Luft.

»Nuschle nicht so, Caroline.« Bathilda aß das Eclair auf und tupfte sich Sahnereste von den Mundwinkeln. Nicht lange. Nicht mehr lange, sagte sich Caroline. Ihre Tante war eine Festung, dachte sie zornig. Balustraden aus Manieren und Geld um eine Leere im Inneren – eine Leere, die für gewöhnlich mit üppigem Essen und Sherry gefüllt wurde. Gewiss gab es da drin kein Herz, keine Liebe, keine Wärme. Caroline spürte Trotz in sich aufflackern.

»Mr. Massey ist ein guter Mann aus einer anständigen Familie …«, begann sie im Tonfall ruhiger Vernunft.

»Die moralischen Qualitäten dieses Mannes spielen keine Rolle. Corin Massey wird dich zu einer gewöhnlichen Haushälterin herabwürdigen. Er wird dich niemals glücklich machen«, unterbrach Bathilda sie. »Wie könnte er auch? Er ist unter deiner Würde. Er steht weit unter dir, sowohl was sein Vermögen als auch was seine gesellschaftliche Stellung und seine Manieren angeht – in jeder Hinsicht.«

»Du kennst ihn kaum!« Carolines Stimme wurde laut, und Bathilda warf ihr einen strengen Blick zu.

»Darf ich dich daran erinnern, dass auch du ihn kaum kennst? Du magst jetzt achtzehn sein und damit von mir unabhängig, aber habe ich dafür, dass ich dich großgezogen habe, nicht ein wenig Respekt verdient? Ich habe für dich gesorgt, dich unterwiesen …«

»Du hast mich mit dem Geld versorgt, das meine Eltern mir hinterlassen haben. Du hast deine Pflicht getan«, sagte Caroline ein wenig bitter.

»Unterbrich mich nicht, Caroline. Unser Name ist ein guter Name und wäre dir hier in New York gut zustattengekommen. Dennoch entscheidest du dich dafür, einen … einen Bauern zu heiraten. Und allem und jedem, den du kennst, den Rücken zu kehren, um mitten im Nirgendwo zu leben. Ich habe in der Tat versagt, das steht fest. Es ist mir nicht gelungen, dir Respekt, Vernunft und Anstand beizubringen, all meinen Bemühungen zum Trotz.«

»Aber ich kenne hier auch niemanden, Tante. Nicht richtig. Ich kenne nur dich«, entgegnete Caroline traurig. »Und Corin ist kein Bauer. Er ist Viehzüchter, und zwar ein sehr erfolgreicher. Seine Geschäfte …«

»Seine Geschäfte? Er hätte mit seinen Geschäften in der Wildnis bleiben sollen, wo sie hingehören, statt hierherzukommen und leicht zu beeindruckenden jungen Mädchen nachzustellen.«

»Ich habe genug Geld.« Caroline reckte trotzig das Kinn. »Wir werden nicht arm sein.«

»Noch hast du das Geld nicht, noch nicht. Erst in zwei Jahren. Wir werden ja sehen, wie es dir gefällt, bis dahin vom Einkommen eines Farmers zu leben. Und wir werden sehen, wie lange dein Vermögen reicht, wenn er es erst in die Hände bekommt und es an den Spieltisch trägt!«

»Sag nicht so etwas. Er ist ein guter Mann. Er liebt mich, und … und ich liebe ihn«, verkündete Caroline hartnäckig. Er liebte sie. Sie genoss diesen Gedanken und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Als Corin Caroline den Antrag gemacht hatte, da hatte er gesagt, er hätte sie vom ersten Augenblick an geliebt, seit sie sich auf einem Ball einen Monat zuvor begegnet waren – dem Ball der Montgomerys zum Beginn der Fastenzeit. Seit ihrem Debüt hatte Caroline die anderen Mädchen um das Vergnügen beneidet, das ihnen solche Anlässe offenbar bereiteten. Sie tanzten und sie lachten und unterhielten sich ganz ungezwungen. Caroline, die jeden Ballsaal zusammen mit Bathilda betreten musste, fand sich stets auf der Schattenseite. Immer fürchtete sie sich davor, etwas zu sagen, weil ihre Tante sie dann korrigieren oder tadeln könnte. Corin hatte all das geändert.

Caroline wählte für den Ball der Montgomerys ihr beigefarbenes Seidenkleid und den Smaragdschmuck ihrer Mutter. Die Kette lag kühl und schwer um ihren Hals. Sie bedeckte ihr schmales Dekolleté mit einem goldenen Schimmer und einem tiefen Glanz, der Licht in ihre grauen Augen zauberte.

»Sie sehen aus wie eine Kaiserin, Miss«, sagte Sara bewundernd, während sie Carolines helles Haar bürstete. Dann steckte sie es auf dem Oberkopf zu einem hohen Chignon zusammen und stemmte einen Fuß gegen den Stuhl, um das Korsett zu schnüren. Die anderen jungen Damen beneideten Caroline um ihre schlanke Taille, und Sara achtete stets sorgfältig darauf, sie so eng zu schnüren, wie es ging. »Kein Mann im Saal wird Ihnen widerstehen können.«

»Glaubst du wirklich?«, fragte Caroline atemlos. Sara hatte dunkles Haar und ein freundliches Gesicht, und für Caroline war sie beinahe so etwas wie ihre einzige wahre Freundin. »Ich fürchte allerdings, sie werden sehr wohl in der Lage sein, meiner Tante zu widerstehen«, seufzte sie. Bathilda hatte mehr als einen zaghaften Verehrer in die Flucht geschlagen – junge Männer, die sie für nicht würdig hielt.

»Ihre Tante setzt große Hoffnungen in Sie, Miss, das ist alles. Natürlich ist es ihr furchtbar wichtig, wen Sie heiraten werden«, besänftigte Sara sie.

»Wenn es so weitergeht, werde ich überhaupt nicht heiraten, sondern für immer hierbleiben und mir anhören müssen, wie enttäuscht sie von mir ist!«

»Unsinn! Der richtige Mann wird kommen und auch Ihre Tante für sich gewinnen, wenn er erkennt, dass er das tun muss, um Sie zu bekommen. Sehen Sie sich nur an, Miss! Sie werden alle bezaubern, da bin ich ganz sicher.« Caroline begegnete ihrem Blick im Spiegel. Sie griff über ihre Schulter, nahm die Finger des Mädchens und drückte sie, um sich Mut zu machen. »Alles wird gut«, versicherte ihr Sara und ging zur Kommode, um Puder und Rouge zu holen.

Caroline, jeder Zoll die sittsame, unschuldige junge Dame der Gesellschaft, stieg die breite Treppe hinab in den hell erleuchteten Ballsaal der Montgomerys. Der Raum schillerte vor glitzernden Juwelen und perlendem Lachen und duftete nach Wein und parfümierter Pomade. Tratsch und Lächeln liefen durch die Menge wie die »stille Post« – abwechselnd freundschaftlich, belustigt und boshaft. Caroline sah, wie ihr Kleid begutachtet, ihre Tante verspottet, ihr Schmuck bewundert, sie selbst unverhohlen gemustert und Bemerkungen geflüstert wurden, die sich hinter zarten Fingern und Zigarettenhaltern aus Perlmutt verbargen. Sie sprach wenig, gerade so viel, wie es die Höflichkeit gebot, und zumindest dies war ein Charakterzug, den ihre Tante stets schätzte. Caroline lächelte und klatschte mit den anderen, als Harold Montgomery sein Kabinettstückchen vorführte: eine kleckernde Champagner-Kaskade aus einer Magnumflasche in eine Pyramide aus Gläsern. Der Champagner spritzte jedes Mal herum und floss über, und die nassen Stiele hinterließen Flecken auf den Handschuhen der Damen.

Im Saal war es heiß und stickig. Caroline hielt sich gerade, nippte sauren Wein, von dem ihr leicht schwindlig wurde, und spürte, wie Schweiß in ihren Achselhöhlen prickelte. In jedem Kamin loderte ein Feuer, und Hunderte elektrischer Kerzen in den Kronleuchtern warfen ein so helles Licht, dass sie sehen konnte, wie der rote Lippenstift von Bathildas Lippen in die Falten um ihren Mund kroch. Doch da erschien Corin vor ihnen, und sie hörte kaum, wie Charlie Montgomery ihn vorstellte, denn sie war wie gebannt vom offenen Blick und der Wärme des Neuankömmlings. Als ihre Wangen heiß wurden, errötete er ebenfalls und stammelte die ersten Worte, die er an sie richtete: »Hallo, wie geht es Ihnen?«, als wären sie zwei alte Bekannte, die sich bei einer Partie Whist trafen. Er ergriff ihre Hand in dem bestickten Handschuh, als wollte er sie schütteln, erkannte seinen Fehler und ließ sie abrupt los, sodass sie schlaff gegen ihre Röcke fiel. Daraufhin errötete Caroline noch tiefer und wagte es nicht, Bathilda anzusehen, die den jungen Mann mit einem äußerst strengen Blick bedachte. »Verzeihung, Miss … ich, äh … wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen?«, nuschelte er, neigte vor ihnen den Kopf und verschwand dann in der Menge.

»Was für ein merkwürdiger junger Mann!«, rief Bathilda in vernichtendem Tonfall aus. »Wo um alles in der Welt haben Sie den aufgelesen, Charlie?« Charlie Montgomerys schwarzes Haar war so glatt wie Öltuch, und das Licht blitzte darauf, als er den Kopf wandte.

»Ach, denken Sie sich nichts dabei, so ist Corin eben. Er ist ein bisschen aus der Übung, weiter nichts. Er ist ein entfernter Verwandter von mir. Seine Familie wohnt hier in New York, aber er lebt schon seit Jahren im Westen, im Oklahoma-Territorium. Er ist zum Begräbnis seines Vaters in der Stadt«, erklärte Charlie.

»Wie ausgesprochen merkwürdig«, wiederholte Bathilda. »Ich hätte nie gedacht, dass gute Manieren eine Frage der Übung sein könnten.« Über diese Worte lächelte Charlie vage. Caroline warf einen Blick auf ihre Tante und sah, dass diese nicht einmal ahnte, wie unbeliebt sie war.

»Was ist mit seinem Vater geschehen?«, fragte sie Charlie zu ihrer eigenen Überraschung.

»Er saß in einem der Züge, die vergangenen Monat im Park-Avenue-Tunnel zusammengestoßen sind. Das war eine ziemliche Katastrophe«, erzählte Charlie und verzog das Gesicht. »Von siebzehn Toten wird jetzt berichtet, und fast vierzig Verletzten.«

»Wie schrecklich!«, hauchte Caroline. Charlie nickte zustimmend.

»Sie müssen die Züge unbedingt elektrisch betreiben. Auch die Signale müssen automatisiert werden, dann können schläfrige Fahrer keine solchen Tragödien mehr verursachen«, erklärte er.

»Aber wie sollte ein Signal funktionieren, wenn niemand es bedient?«, fragte Caroline. Doch Bathilda seufzte leicht, als sei sie gelangweilt, und Charlie Montgomery entschuldigte sich und ging weiter.

Caroline suchte die Menge nach dem bronzefarbenen Haar des Fremden ab und merkte, dass er ihr leidtat – wegen seines Verlustes und weil er unter Bathildas kaltem, erbarmungslosem Blick so ungeschickt mit ihrer Hand umgegangen war. Den entsetzlichen Schmerz, einen nahen Verwandten zu verlieren, konnte sie nur zu gut nachfühlen. Geistesabwesend nippte sie an ihrem Wein, der in ihrer Hand warm geworden war und in ihrer Kehle brannte. Sie spürte den Druck der Smaragde auf ihrer Brust und den fließenden Stoff ihres Kleides, wie Wasser an ihren Oberschenkeln, als sehnte ihre Haut sich plötzlich danach, berührt zu werden. Als Corin einen Moment später an ihrer Seite erschien und um einen Tanz bat, nahm sie die Aufforderung stumm und mit einem verblüfften Nicken an, denn das Herz schlug ihr bis zum Hals, sodass sie nicht sprechen konnte. Bathilda funkelte ihn an, doch er blickte nicht einmal auf und bemerkte es gar nicht, was ihr den Ausruf entlockte: »Also wirklich!«

Sie tanzten einen langsamen Walzer. Caroline, die sich darüber gewundert hatte, dass Corin einen so langsamen Tanz abgewartet hatte, dazu noch so spät am Abend, vermutete den Grund in seinen unsicheren Schritten und der vorsichtigen Art, wie er sie hielt. Sie lächelte ihn schüchtern an, und erst sprachen sie gar nicht. Dann sagte er:

»Bitte, Sie müssen mir verzeihen, Miss Fitzpatrick. Das vorhin, und … Ich fürchte, ich bin kein guter Tänzer. Es ist lange her, dass ich zuletzt das Vergnügen hatte, einen solchen Ball zu besuchen oder mit einer so … äh …« Er zögerte, und sie schlug die Augen nieder, wie sie es gelernt hatte. Doch sie konnte den Blick nicht lange abwenden. Sie spürte die Hitze seiner Hand in ihrem Rücken, als sei da nichts zwischen ihrer Haut und seiner. Auf einmal fühlte sie sich nackt, aufgewühlt und beunruhigt, aber auch aufgeregt. Sein Gesicht war tief gebräunt, und die Sonne hatte seinen Brauen und seinem Schnurrbart einen warmen Ton verliehen. Sein Haar war gekämmt, aber nicht mit Brillantine frisiert, und jetzt fiel ihm eine ungezähmte Strähne in die Stirn, sodass sie beinahe die Hand gehoben hätte, um sie zurückzustreichen. Er beobachtete sie mit hellbraunen Augen, und sie glaubte, eine Art verwunderte Freude darin zu sehen.

Als der Tanz zu Ende war, nahm er ihre Hand, um sie von der Tanzfläche zu geleiten, und ihr Handschuh blieb an der rauen Haut seiner Handfläche hängen. Ohne darüber nachzudenken, drehte sie seine Hand in ihrer um und betrachtete sie, rieb mit dem Daumen über die schwieligen Hügel am Ansatz der Finger und verglich die Breite seiner Handfläche mit ihrer. Ihre Hand wirkte in seiner wie die eines Kindes, und sie holte schon Luft und öffnete den Mund, um den Gedanken auszusprechen, als ihr klar wurde, wie unschicklich das wäre. »Fühlen Sie sich nicht wohl, Mr. Massey?«, fragte sie.

»Doch … mir geht es gut, danke. Es ist ein wenig stickig hier drin, finden Sie nicht?«

»Kommen Sie mit hinüber zum Fenster, da ist die Luft frischer«, sagte sie, nahm seinen Arm und führte ihn durch die Menge. Die Luft war tatsächlich dampfig von Schweiß und Atem und dick vor Rauch, Musik und dem Gewirr der vielen Stimmen.

»Danke sehr«, sagte Corin. Die hohen Flügelfenster waren gegen die Kälte der Februarnacht geschlossen, doch diese Kälte strahlte trotzdem vom Glas ab und bot überhitzten Tänzern eine kühle Zuflucht. »Ich bin es nicht gewohnt, so viele Menschen auf einmal unter einem Dach zu sehen. Seltsam, wie schnell man den Umgang damit verlernt.« Er zuckte mit den Schultern, was zu lässig für seinen Herrenrock wirkte.

»Ich war noch nie außerhalb von New York«, platzte Caroline heraus. »Nun ja, nur zur Sommerfrische im Haus meiner Familie an der Küste … Damit will ich sagen …« Aber sie wusste selbst nicht, was sie eigentlich sagen wollte. Dass er ihr fremdartig vorkam, beinahe wie eine mythische Gestalt – weil er so fern der Zivilisation gewesen war und sich für ein Leben in einem ungezähmten Land entschieden hatte.

»Würden Sie nicht gerne reisen, Miss Fitzpatrick?«, fragte er, und sie erkannte, dass zwischen ihnen irgendetwas begonnen hatte. Eine Art Verhandlung, ein gegenseitiges Abklopfen.

»Da bist du ja, meine Liebe.« Bathilda stürzte sich geradezu auf sie. Offenbar konnte sie eine solche Verhandlung bereits aus einiger Entfernung erkennen. »Bitte komm mit mir, ich möchte dich Lady Clemence vorstellen.« Caroline blieb nichts anderes übrig, als sich von ihrer Tante wegführen zu lassen, doch sie blickte über die Schulter zurück und hob die Hand zu einem schwachen Gruß.

»Sei nicht albern, Caroline!«, riss Bathilda sie aus ihren Gedanken und holte sie in die Gegenwart zurück, an den Mittagstisch im La Fiorentina. »Du benimmst dich wie ein verliebtes Schulmädchen! Auch ich habe Mr. Wisters Roman gelesen, der dir offenbar allerhand romantischen Unsinn in den Kopf gesetzt hat. Ich wüsste nicht, wie du sonst darauf kommen solltest, dich für einen Cowboy als Ehemann zu entscheiden. Aber du wirst schon merken, dass Der Virginier reine Fiktion ist und wenig mit der Wirklichkeit des Westens zu tun hat. Hast du nicht auch von den Gefahren, der Einsamkeit und der Mühsal des Grenzlandes gelesen?«

»So ist es heute nicht mehr. Corin hat mir viel davon erzählt. Er sagt, das Land sei so schön, dass man Gottes Hand in jedem Grashalm sehen könne …« Das quittierte Bathilda mit einem wenig eleganten Schnauben. »Und Mr. Wister gibt ja selbst zu, dass die wilde Ära, die er beschrieben hat, vorüber ist. Woodward ist ein lebhafter, aufstrebender Ort, sagt Corin.«

»Woodward? Wer hätte denn schon je von Woodward gehört? In welchem Staat liegt das?«

»Ich … weiß es nicht«, gestand Caroline und presste verärgert die Lippen zusammen.

»Es liegt in gar keinem Staat, deshalb weißt du es nicht. In keinem Staat der Union. Das ist der Wilde Westen, unerforschtes Land, voller Wilder und Pöbel aller Arten. Ja, ich habe sogar gehört, dass man westlich von Dodge City gar keine Damen mehr findet – nur noch Frauen der übelsten Sorte. Keine Damen! Kannst du dir vorstellen, welch ein gottloses Land das sein muss?« Bathilda schwoll in der Enge ihres weinroten Kleides die Brust. Sie bekam rote Flecken im Gesicht bis hinauf zum Haaransatz, wo ihr stahlgraues Haar zu einer weichen, bauschigen Frisur hochgesteckt war. Sie war ergriffen, erkannte Caroline ungläubig. Bathilda war tatsächlich bewegt.

»Aber natürlich gibt es dort Damen! Ich bin sicher, dass solche Geschichten stark übertrieben sind«, entgegnete Caroline.

»Es ist mir ein Rätsel, wie du so sicher sein kannst, obwohl du überhaupt nichts weißt. Wie könntest du auch etwas darüber wissen, Caroline? Du bist noch ein Kind! Er würde dir alles erzählen, um eine so hochstehende und wohlhabende Frau zu bekommen wie dich. Und du glaubst ihm jedes Wort! Du lässt dein Zuhause, deine Familie und alle deine Zukunftsaussichten hier zurück. Um irgendwo zu leben, wo du keinen Namen haben wirst, keine Gesellschaft und keinerlei Komfort!«

»Ich werde es gut haben«, beharrte Caroline.

Eine Woche nach dem Ball hatte Corin Caroline ausgeführt, zum Schlittschuhlaufen auf dem Teich im Central Park, gemeinsam mit Charlie Montgomery und seiner Schwester Diana, die jedoch taktvoll Abstand hielten. Es war später Februar, und der Himmel hatte eine seltsame gelblich-weiße Farbe, vor der die wirbelnden Schneeflocken erst schwarz erschienen, dann vor den kahlen Bäumen weiß wurden und schließlich zu Boden sanken.

»Als kleiner Junge hatte ich immer ein bisschen Angst davor, hier Schlittschuh zu laufen. Ich habe jeden Moment damit gerechnet, ins Eis einzubrechen«, bemerkte Corin lächelnd. Er machte kleine, vorsichtige Schritte, die eher nach Gehen aussahen denn nach Eislaufen.

»Sie hätten sich keine Gedanken zu machen brauchen, Mr. Massey. Zu Beginn des Winters lassen sie fast das ganze Wasser ab, damit der Rest auch sicher durchfriert.« Caroline lachte. Die beißende Kälte rötete ihre Wangen und ließ ihren Atem in weißen Wölkchen um ihre Köpfe hängen. Caroline schob die behandschuhten Hände in die Manteltaschen und glitt in einem großen, anmutigen Kreis um Corin herum.

»Sie sind sehr gut darin, Miss Fitzpatrick. Viel besser als ich!«

»Meine Mutter war sehr oft mit mir hier, als ich noch ein kleines Mädchen war. Aber ich bin schon lange nicht mehr Schlittschuh gelaufen. Bathilda hat nichts dafür übrig.«

»Wo ist Ihre Mutter jetzt?«, fragte Corin und ruderte unbeholfen mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Auf der Krempe seines Huts hatte sich Schnee angesammelt, der ihm ein beinahe festliches Aussehen verlieh.

»Meine Eltern sind verstorben. Vor acht Jahren«, sagte Caroline und blieb vor Corin stehen, der schweigend zuhörte. »Als sie eines Abends gerade auf dem Heimweg waren, gab es eine Explosion in einer Fabrik, an der sie vorbeikamen. Eine Wand stürzte ein, und … ihre Kutsche wurde darunter begraben«, erzählte sie ihm leise. Corin streckte die Hände aus, als wollte er sie festhalten, ließ sie dann aber wieder sinken.

»Welch ein tragisches Unglück. Das tut mir sehr leid«, sagte er.