Das Haus der vergessenen Träume - Katherine Webb - E-Book
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Das Haus der vergessenen Träume E-Book

Katherine Webb

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Beschreibung

Erst schlägt es höher, dann steht es still

Als die Journalistin Leah Hickson auf zwei geheimnisvolle Briefe stößt, gerät sie bald in den Sog einer Spurensuche, die sie in das England des frühen 20. Jahrhunderts zurückführt. Es ist die Geschichte einer starken jungen Frau, eine Geschichte von Liebe und tödlichem Verrat. Und schon bald erkennt Leah, dass die Vergangenheit ihr eigenes Leben nicht unberührt lässt. Denn ihre Nachforschungen führen sie zu einem alten Haus und einem lange vergessenen Familiengeheimnis, das stärker mit ihrem Schicksal verwoben ist, als sie zunächst ahnt …

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Seitenzahl: 752

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Über das Buch

England, 1911. Hester führt mit ihrem Ehemann, dem Pfarrer Albert Canning, ein glückliches und frommes Leben in ihrem Landhaus in dem kleinen Dorf Cold Ash Holt. Doch als sich die Schwüle des Sommers über den Ort zu legen beginnt, wird das Glück der Cannings unwiederbringlich zerstört. Zuerst tritt Cat, ein neues Dienstmädchen mit dunkler Vergangenheit, in das Leben des jungen Ehepaares. Kurz darauf nehmen die Cannings Robin Durrant, einen jungen Fotografen und Theosophen, bei sich auf. Schon bald muss Hester erfahren, wie schmal der Grat zwischen Liebe, Leidenschaft und Verrat ist. Am Ende des Sommers geschieht ein grausames Verbrechen, dessen wahrer Hergang hundert Jahre im Verborgenen bleibt – bis die Journalistin Leah Hickson auf zwei geheimnisvolle Briefe stößt. Ihre Recherchen führen sie nach Cold Ash Holt, in das ehemalige Haus der Cannings. Dort wird Leah nicht nur mit den dunklen Geheimnissen einer versunkenen Zeit konfrontiert, sondern muss sich auch den Gespenstern ihrer eigenen Vergangenheit stellen.

Über die Autorin

Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im ländlichen Hampshire auf und studierte Geschichte an der Durham University. Nachdem sie einige Zeit in London und Venedig verbracht hat, lebt Katherine Webb jetzt in der Nähe von Bath, England. Ihr Debüt Das geheime Vermächtnis war ein internationaler Erfolg und eroberte auch in Deutschland die Bestsellerlisten. Das Haus der vergessenen Träume ist der zweite Roman der Autorin.

KATHERINE WEBB

Das Haus der vergessenen Träume

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Volk

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel The Unseen bei Orion Books, an imprint of the Orion Publishing Group Ltd, London

Herzlichen Dank an den Rudolf Steiner Verlag für die freundliche Genehmigung der Verwendung des Zitats auf Seite 5: Rudolf Steiner, Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2003.

Deutsche Erstausgabe 11/2012

Copyright © Katherine Webb 2011

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion | Angelika Lieke

Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München Umschlagmotiv | Ami Smithson/Cabin London unter Verwendung eines Fotos von © Thomas Szadziuk/Trevillion Images

Satz | Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ePub 978-3-641-08591-9

www.diana-verlag.de

Geburt ist nur ein Schlaf und ein Vergessen.Die mit uns aufsteigt, als des Lebens Stern,die Seele: hatte Heimat einst besessenWoanders – kommt von fern …

William Wordsworth, Ode: Ahnungen der Unsterblichkeit durch Erinnerungen an die frühste Kindheit (Übersetzung Wolfgang Breitwieser)

… sollten wir tatsächlich bewiesen haben, dass auf der Oberfläche dieses Planeten eine Population existiert, welche so zahlreich wie die Menschheit sein könnte, auf ihre eigene, seltsame Art ihrem eigenen, seltsamen Leben nachgeht und von uns nur durch gewisse Unter-schiede in den Schwingungen getrennt wird …

Sir Arthur Conan Doyle, The Coming of the Fairies

In jeder Pflanze, in jedem Tier empfindet [der Mensch] außer der physischen Gestalt noch die lebenerfüllte Geistgestalt.

Rudolf Steiner, Theosophie

1

14. Mai 1911

Liebste Amelia,

einen herrlichen Frühlingsmorgen haben wir an diesem überaus aufregenden Tag. Das neue Dienstmädchen kommt heute – Cat Morley. Ich muss gestehen, dass ich ein wenig nervös bin, denn immerhin eilt ihr ein gewisser Ruf voraus, doch sie kann nicht durch und durch schlecht sein, dessen bin ich gewiss. Albert war ganz und gar nicht sicher, ob man sie anstellen sollte, aber es ist mir gelungen, ihn mittels zweier Argumente zu überzeugen, nämlich: dass es ein löblicher Akt christlicher Nächstenliebe wäre, wenn wir sie nehmen, da sie gewiss niemand sonst einstellen wird; und dass sie ihres schlechten Leumunds wegen nur einen geringen Lohn erwarten kann und somit eine hauswirtschaftlich sinnvolle Aufwendung wäre. Wir verdoppeln damit unser Hauspersonal, haben jedoch kaum mehr Ausgaben! Ich habe eine Art Empfehlungsschreiben aus der Broughton Street erhalten – von der Hausdame, Mrs. Heddingly – mit einer Liste der Tätigkeiten, die dem Mädchen bereits vertraut sind. Weiter legt sie mir darin dringend nahe, ihr »dem Allgemeinwohl zuliebe« das Lesen nicht zu gestatten. Ich weiß nicht recht, was sie damit meint, halte es jedoch grundsätzlich für klug, Ratschläge von Eingeweihten zu befolgen. Mrs. Heddingly berichtet mir zudem von einem merkwürdigen Gerücht über das Mädchen. Es ist mir ein Rätsel, weshalb sie es überhaupt erwähnt, und ich kann dahinter nur eine gewisse Freude an Klatsch und Tratsch vermuten: Offenbar gibt die Identität von Cats Vater Anlass zu allerhand Spekulationen, und da ihr Teint und das Haar so dunkel seien, habe man schon flüstern hören, er könnte ein Neger gewesen sein. Nachdem sich diese Geschichte herumgesprochen hatte, nannte das restliche Personal in der Broughton Street sie wohl nur noch »Black Cat«. Nun, ich bin sicher, dass die Mutter des Mädchens, so einfach ihre Verhältnisse auch gewesen sein mögen, nicht so tief gesunken sein kann, es sei denn, sie wäre Opfer eines abscheulichen Verbrechens geworden. Und dass ihre arme Tochter einen derart mit Unglück behafteten Spitznamen tragen soll, erscheint mir nicht recht. Schwarze Katze, nein wirklich – ich bin entschlossen, dafür zu sorgen, dass sie fortan nicht mehr so genannt wird.

Trotz leichter Nervosität muss ich gestehen, dass ich mich auch auf ihre Ankunft freue. Nicht zuletzt wegen der Wollmäuse unter den Betten, die inzwischen beinahe so groß wie Äpfel sind! Es ist Monate her, dass die gute Mrs. Bell sich tief genug bücken konnte, um dort Ordnung zu schaffen. Das ganze Haus muss einmal gründlich in Ordnung gebracht werden. Doch es wird mir auch eine Freude sein, mich einem von Gottes Geschöpfen anzunehmen, das in die Irre geleitet wurde und beinahe dem Verderben anheimgefallen wäre. Hier wird sie ein gottgefälliges Zuhause finden, Vergebung und die Chance, sich durch harte Arbeit und ein anständiges Leben dem Herrn anzubefehlen. In diesem Bestreben soll sie von mir jeglichen Beistand erfahren, ja, ich werde sie unter meine Fittiche nehmen, sie wird mein Projekt – stell Dir nur vor! Welch eine Gelegenheit, einen Menschen wahrhaft zu läutern und auf den rechten Weg zurückzuführen. Gewiss wird sie sich glücklich schätzen – sie erhält eine wunderbare Chance, sich reinzuwaschen. Befleckt kommt sie zu uns, doch schon bald wird sie in frisch poliertem Glanz erstrahlen.

Und solch ein Unternehmen ist sicherlich die beste Vorbereitung auf die Mutterschaft. Denn worin sonst bestünde die Aufgabe einer Mutter, als darin, ihre Kinder zu gottesfürchtigen, achtbaren und tugendhaften Menschen heranzuziehen? Ich sehe ja, wie gut Du Deine Sache mit meiner Nichte und meinem Neffen machst, der lieben Ellie und dem kleinen John, und ich bewundere Deine sanfte Art, sie anzuleiten. Beunruhige Dich nicht weiter wegen John und seiner Steinschleuder. Gewiss wird er bald aus dieser gewalttätigen Phase herauswachsen: Das Wesen eines Jungen ist – nach Gottes Willen – nun einmal kriegerischer als das eines Mädchens. Da steht es nur zu erwarten, dass er Triebe verspürt, die Du und ich nicht verstehen können. Wie sehr ich mich darauf freue, selbst kleine Seelen zu hegen und reifen zu lassen.

Amelia, bitte verzeih, dass ich Dich noch einmal darum bitte, aber leider hat Dein letzter Brief mich weiter im Dunkeln gelassen, was das fragliche Thema angeht. Musst Du denn gar so vage sein, meine Liebe? Ich weiß, dass es sich über solche Dinge nicht leicht spricht und man das am liebsten ganz vermeiden möchte, wenn es denn irgendwie geht. Aber ich benötige Deinen Rat so dringend, und wenn ich mich nicht an meine Schwester um Hilfe wenden kann, an wen, bitte schön, sollte ich mich dann wenden? Albert ist ein mustergültiger Ehemann und stets freundlich und zärtlich zu mir – jede Nacht, wenn wir uns zur Ruhe begeben, drückt er mir einen Kuss aufs Haar und lobt mich als gute Ehefrau und liebliches Wesen. Doch danach schläft er sofort ein, und ich kann nur daliegen und mich fragen, was um alles in der Welt ich falsch mache, oder tun müsste, oder auch nur versuchen sollte. Würdest Du mir bitte in ganz deutlichen Worten erläutern, wie ich mich zu verhalten habe und wie diese »Vereinigung« unserer Körper, von der Du schriebst, genau vonstattengeht? Albert ist ein so wunderbarer Ehemann – ich kann nur davon ausgehen, dass ich meine ehelichen Pflichten nicht richtig erfülle und dies der Grund für … nun ja, dafür ist, dass ich noch nicht froher Erwartung bin. Bitte, liebe Amelia, werde konkret.

Nun gut, ich sollte diesen Brief jetzt beenden. Die Sonne steht hoch am Himmel, und die Vögel singen aus vollen Kehlen. Ich werde den Brief unterwegs zu meinem Besuch bei der armen Mrs. Duff aufgeben, die nicht solche Schwierigkeiten hat wie ich und seit der Geburt ihres sechsten Kindes – schon wieder ein Junge! – mit einer furchtbaren Infektion daniederliegt. Und dann, nach dem Mittagessen, sollte Cat Morley mit dem Zug um drei Uhr fünfzehn eintreffen. Cat – wie schroff das klingt. Ob es ihr wohl gefallen würde, Kitty genannt zu werden? Schreibe mir bald, liebste und beste Schwester.

HerzlichstDeine Hester

2011

Als Leah dem Mann, der ihr Leben verändern sollte, zum ersten Mal begegnete, lag er bäuchlings auf einem Stahltisch. Von seiner Kleidung war nur noch hier und da ein Fetzen übrig, schlammfarben und glitschig-feucht – die untere Hälfte eines Hosenbeins, die Schultern seiner Jacke. Sie fror um seinetwillen, und seine Nacktheit machte sie ein wenig verlegen. Sein Kopf war von ihr abgewandt, das Gesicht halb an den Tisch gepresst, sodass sie nur die dunklen, steifen Strähnen seines Haars und ein perfektes, wächsernes Ohr sehen konnte. Leahs Haut kribbelte – sie kam sich vor wie eine Voyeurin. Als schliefe er nur und könnte sich jeden Moment regen, den Kopf heben und sie ansehen, geweckt von den Geräuschen ihrer Schritte und ihres Atems in diesem makellosen Ohr.

»Du wirst dich doch nicht übergeben, oder?« Ryans Stimme riss sie aus ihrer Trance. Sie schluckte und schüttelte den Kopf. Ryan grinste ein wenig boshaft.

»Wer ist er? War er?«, fragte sie und räusperte sich. Betont gelassen verschränkte sie die Arme vor der Brust.

»Wenn wir das wüssten, hätte ich dich nicht den weiten Weg bis nach Belgien kommen lassen.« Ryan zuckte unbekümmert mit den Schultern. Er trug einen weißen Kittel wie ein Arzt, aber seiner war schmuddelig, fleckig und nicht zugeknöpft, sodass darunter eine zerrissene Jeans und ein abgewetzter Ledergürtel zum Vorschein kamen.

»Siehst du zum ersten Mal eine Leiche?«, fragte Peter in seiner ruhigen, französisch gefärbten Sprechweise. Er leitete das Institut für Archäologie.

»Ja.« Leah nickte.

»Ist immer eine seltsame Erfahrung. Ein so alter Leichnam stinkt wenigstens nicht. Na ja, jedenfalls nicht so schlimm«, bemerkte er. Leah wurde bewusst, dass sie schon die ganze Zeit durch den Mund atmete, weil sie mit dem Schlimmsten rechnete. Vorsichtig sog sie jetzt die Luft durch die Nase ein. Ein feuchter, etwas herber Geruch hing im Raum, wie nasses Laub im Januar.

Sie suchte in ihrer Tasche herum und holte Notizblock und Stift heraus.

»Wo, sagtest du, wurde er gefunden?«, fragte sie Ryan.

»Im Garten hinter einem Haus in der Nähe von Zonnebeke, nordöstlich von Ypres. Eine Madame Bichet hat ein Grab für ihren Hund ausgehoben.« Ryan hielt inne und tat so, als müsse er in seinen Aufzeichnungen nachsehen. »Er hieß André, soweit ich weiß.« Er verzog den Mund, und sein schiefes Grinsen ging Leah unter die Haut. Sie zog nur eine Augenbraue hoch und sah ihn stumm an. Unter den grellen Lichtleisten wirkte seine Haut blass, und er hatte Ringe unter den Augen. Aber er ist immer noch schön, dachte sie hilflos. Immer noch so schön. »Da gräbt man ein Grab und stößt dabei auf ein anderes. Sie hat ihm mit dem Spaten fast den rechten Arm abgetrennt – schau, da.« Vorsichtig deutete er auf den Unterarm des Toten. Die fahle Haut war aufgeplatzt und gab den Blick auf faseriges, braunes Fleisch frei. Leah schluckte schwer, und ihr wurde ein wenig schwindelig.

»Wird die Britische Kriegsgräberfürsorge ihn denn nicht identifizieren? Warum habt ihr mich angerufen?«

»So viele tote Soldaten werden jedes Jahr gefunden – fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig. Wir geben uns Mühe, aber wenn es keine Regimentsabzeichen, keine Erkennungsmarken oder besonderen Ausrüstungsgegenstände gibt, haben wir einfach nicht die Mittel, der Sache weiter nachzugehen«, erklärte Peter.

»Er bekommt eine hübsche Beerdigung und ein weißes Kreuz auf sein Grab, aber sie werden eben nicht wissen, welchen Namen sie darauf schreiben sollen«, sagte Ryan.

»Eine hübsche Beerdigung?«, wiederholte Leah. »Du bist respektlos, Ryan. Warst du schon immer.«

»Ich weiß. Ich bin unmöglich, nicht?« Wieder grinste er fröhlich.

»Also, wenn ihr überhaupt keine Anhaltspunkte habt, warum meint ihr dann, ich könnte euch weiterhelfen?« Leah richtete die Frage an Peter.

»Na ja …«, begann Peter, doch Ryan schnitt ihm das Wort ab.

»Möchtest du ihn denn nicht erst mal von Angesicht zu Angesicht kennenlernen? Er ist bemerkenswert gut erhalten – offenbar ist das hintere Ende des Gartens das ganze Jahr über durchweicht, das Grundstück endet an einem Bach. Soll sehr idyllisch sein. Komm schon – du hast doch keine Angst vor einem archäologischen Fund, oder?«

»Ryan, warum musst du so …« Leah gab es auf und sprach den Satz nicht zu Ende. Sie strich sich das Haar hinter die Ohren, verschränkte erneut die Arme schützend vor der Brust und ging um den Tisch herum zur anderen Seite.

Das Gesicht des Toten war ein wenig zerknittert, als hätte er es beim Schlafen fest auf ein Kissen aus grober Erde gebettet. Eine Falte verlief von einer Augenhöhle zum Mundwinkel. Seine Oberlippe beschrieb noch eine lange, elegant geschwungene Kurve, und darüber war eine Spur von Bartstoppeln zu erkennen. Die Unterlippe und die Kieferpartie hatten sich zu einer matschigen Masse zersetzt, die Leah nicht allzu genau betrachten mochte. Auch die Nase war zerfallen, platt gedrückt, gallertartig. Sie sah aus, als könnte man sie mit einer leichten Handbewegung ganz abstreifen. Doch seine Stirn und die Augenpartie waren vollkommen erhalten. Eine durchweichte Locke fiel ihm störrisch ins Gesicht. Seine Stirn war faltenfrei, vielleicht, weil er so jung gewesen war, oder weil die Haut mit Wasser vollgesogen und leicht aufgequollen war. Er musste ein attraktiver Mann gewesen sein. Sie konnte ihn beinahe vor sich sehen – wenn sie ihren Blick ein wenig verschwimmen ließ, die schrecklichen Verletzungen ausblendete, die unnatürliche Hautfarbe und den unmenschlichen Geruch. Die geschlossenen Augen des Mannes ließen winzige schwarze Wimpern erkennen, säuberlich aneinandergereiht, genau so, wie sie sein sollten. Wie sie am Tag seines Todes vor fast hundert Jahren gewesen waren. Die Lider hatten einen seidigen Schimmer wie leicht verdorbenes Fleisch. Waren sie vollständig geschlossen? Leah beugte sich hinab und runzelte die Stirn. Jetzt sah es aus, als wären sie einen Spalt weit geöffnet. Nur ein kleines bisschen. Wie bei manchen Menschen, wenn sie tief schliefen und träumten. Sie beugte sich noch weiter hinab und hörte ihren Herzschlag, der das Summen der Lichtleisten übertönte. Würde sie eine leichte Bewegung seiner Augen hinter den geschlossenen Lidern wahrnehmen? Konnte das Letzte, was er gesehen hatte, noch da sein, vorwurfsvoll auf seine Netzhaut tätowiert? Sie hielt den Atem an.

»Buh!«, machte Ryan dicht an ihrem Ohr. Leah fuhr zusammen und schnappte hörbar nach Luft.

»Idiot!«, fauchte sie ihn an, wandte sich abrupt ab und marschierte durch die schweren Schwingtüren nach draußen. Es ärgerte sie, wie leicht sie aus der Fassung zu bringen war.

Mit schnellen Schritten stieg sie zwei Treppen hinauf und folgte dem Duft von Pommes frites und Kaffee zur Cafeteria der Fakultät. Als sie sich einen Pappbecher Kaffee einschenkte, stellte sie fest, dass ihre Hände zitterten. Sie ließ sich auf einen Kunststoffstuhl am Fenster sinken und starrte in die Landschaft hinaus. Flach und grau und braun, genau wie England bei ihrer Abreise. Eine ordentliche Reihe grellbunter Krokusse, die einen Fußweg säumte, hob die Eintönigkeit und Farblosigkeit der übrigen Aussicht noch hervor. Auch ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe war farblos – fahle Haut, blasse Lippen, aschblondes Haar. Selbst der Tote im Keller hat mehr Farbe, dachte sie trübselig. Belgien. Auf einmal sehnte sie sich danach, an einem anderen Ort zu sein, egal wo, nur nicht hier. Irgendwo, wo strahlender Sonnenschein der Landschaft Konturen verlieh und sie wärmte bis in die Knochen. Warum, um alles in der Welt, hatte sie überhaupt eingewilligt hierherzukommen? Aber sie kannte ja die Antwort. Weil Ryan sie darum gebeten hatte.

Als wäre er direkt aus ihren Gedanken herausgetreten, stand er plötzlich vor ihr und setzte sich schließlich mit gerunzelten Brauen ihr gegenüber.

»Hör mal, es tut mir leid, okay?«, sagte er zerknirscht. »Dich hier zu haben ist für mich auch nicht einfach, weißt du? Du machst mich nervös.«

»Warum bin ich überhaupt hier, Ryan?«, fragte Leah.

»Ich glaube, dass da eine großartige Story für dich drin sein könnte – wirklich. Der verlorene Soldat, all die Jahre lang namenlos und unbeweint …«

»Du weißt doch gar nicht, ob jemand um ihn geweint hat oder nicht.«

»Da hast du recht. Dann eben unentdeckt. Und ich weiß, du findest, dass ich damit respektlos umgehe, aber das stimmt nicht. Muss ein verdammt elender Tod gewesen sein, und ich finde, der arme Kerl verdient ein wenig Beachtung. Meinst du nicht?«

Leah beäugte ihn argwöhnisch, doch er schien es ernst zu meinen. Sein Haar war ein ganzes Stück gewachsen, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte. Es fiel in ungezähmten braunen Locken um sein Gesicht, passend zu den drei oder vier Tage alten Bartstoppeln an seinem Kinn. Seine Augen hatten die Farbe von dunklem Honig. Leah bemühte sich, nicht allzu tief hineinzuschauen.

»Warum ich?«, fragte sie.

»Warum nicht du?«, erwiderte er. »Ich kenne nun mal nicht so viele freie Journalisten.« Er betrachtete eine Weile seine Hände und zupfte an einem ungepflegten Daumennagel herum, dessen Nagelhaut ohnehin schon gerötet war. Leahs Finger zuckten aus alter Gewohnheit, ihn davon abzuhalten.

»Das ist alles?«, bohrte sie nach.

Ryan machte ein finsteres Gesicht und sog kurz und gereizt die Luft ein. »Nein, das ist nicht alles. Was willst du von mir hören, Leah? Dass ich dich sehen wollte? Na schön – bitte sehr«, sagte er schroff.

Leah verzog die Lippen zu einem kleinen, kühlen Lächeln. »Du konntest deine Gefühle noch nie besonders gut ausdrücken.«

»Ich habe kaum eine Chance bekommen, es zu lernen, so plötzlich hast du mich verlassen.«

»Ich hatte einen verdammt guten Grund dafür, das weißt du ganz genau«, erwiderte sie.

»Warum bist du dann gekommen, wenn ich ein solcher Albtraum bin und du mich nicht sehen willst?«

»Ich habe nie behauptet …« Leah seufzte. »Ich weiß selbst nicht so richtig, warum ich hergekommen bin. Ich hatte seit zehn Monaten keine gute Idee für eine Story. Ich habe seit weiß Gott wann nichts Lesenswertes mehr geschrieben. Ich dachte, du hättest vielleicht tatsächlich etwas, womit ich arbeiten kann, aber ein unidentifizierter Soldat? Worüber sollte ich denn da berichten – über die Arbeit, die ihr für die Britische Kriegsgräberfürsorge leistet? Darüber, was mit diesen Männern passiert, wenn ihr sie ausgebuddelt habt? Das ist natürlich eine gute Sache, aber es käme ein ziemlich trockener …«

»Na ja, es gibt da schon so etwas wie einen Anhaltspunkt«, sagte Ryan. Er beugte sich zu ihr vor und schenkte ihr wieder sein zufriedenes, jungenhaftes Grinsen.

»Was meinst du damit? Peter hat doch gesagt …«

»Ich wollte es dir ja gerade erzählen, als du unten davongestürmt bist.«

»Also, was habt ihr?«

»Geh heute Abend mit mir essen, dann zeige ich es dir«, entgegnete er.

»Warum sagst du mir nicht einfach jetzt, was es ist?«

»Ein Abendessen würde viel mehr Spaß machen.«

»Nein. Hör zu, Ryan, ich finde, wir beide sollten nicht … zu viel Zeit miteinander verbringen. Nicht so.«

»Ach, komm schon, Leah. Was soll daran so schlimm sein? Wir kennen uns doch wirklich lange genug.«

»Offenbar kannten wir uns aber nicht so gut, wie wir dachten«, sagte sie und blickte auf. Wut blitzte in ihren Augen auf, und sie sah, wie er zusammenzuckte.

»Bitte … geh nur heute Abend mit mir essen«, sagte er sanfter. Leah kippte den letzten Schluck Kaffee hinunter und verzog das Gesicht über den schalen, bitteren Geschmack.

»AufWiedersehen, Ryan. Ich würde gern behaupten, dass es mich gefreut hätte, dich wiederzusehen.« Sie stand auf.

»Warte, Leah! Willst du nicht mal wissen, was wir bei ihm gefunden haben? Ich sage es dir – und dann kannst du entscheiden, ob du bleiben willst oder nicht. Leah! Er hatte Briefe bei sich – sie haben fast hundert Jahre im Erdboden überstanden! Kannst du dir das vorstellen? Und es sind auch keine gewöhnlichen Briefe«, rief Ryan ihr nach. Leah blieb stehen. Da war es plötzlich, dieses winzige Funkeln, das Aufschimmern von Neugier, das sie stets empfand, ehe sie sich daranmachte, eine Story zu verfolgen. Langsam drehte sie sich wieder zu Ryan um.

1911

Cat ist so gebannt von der hinter den Fenstern vorüberfliegenden Welt, dass die Reise schnell vergeht – viel zu schnell. Sie hat die Stirn an die Scheibe gelehnt und starrt in den bleichen Himmel, unter dem die verschwommenen Wiesen dahinströmen wie ein Fluss. Sie stellt sich vor, dass sie schneller rennt, als jemals ein Mensch gerannt ist, oder dass sie vielleicht sogar fliegt wie ein Vogel. Sie weiß, dass der Zug bis ganz in den Westen fährt, weiter nach Westen, als sie je gewesen ist. Er wird ohne sie nach Devon weiterrollen, und nach Cornwall, und zum Meer. Sie sehnt sich danach, das Meer wiederzusehen. Beim Gedanken daran wird die Sehnsucht so stark, dass es wehtut. Cat hat das Meer nur einmal gesehen, als sie acht Jahre alt war und ihre Mutter noch lebte. Der ganze Haushalt war für einen Tag nach Whitestable gereist. Es war ein Sommertag wie eine luftige Bluse, mit zarten Wolken und einer verspielten Brise, die den Eseln die Schwänze nach hinten hochwehte und das Segeltuch der leeren Liegestühle aufblähte. Der Gentleman hatte ihr eine Auster in der Schale gebracht und eine Waffel mit Erdbeereis, und sie hatte sich danach übergeben, auf ihr bestes Kleid. Zähe kleine Klumpen Austernfleisch in klebriger rosa Soße. Dennoch war es der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Die Austernschale hatte sie jahrelang in einer Pappschachtel zusammen mit anderen kleinen Schätzen aufbewahrt.

Als der Zug langsamer wird, verrinnt die Illusion des Fliegens, und Cat spürt, wie sie wieder zu einem menschlichen Wesen wird, mit den Füßen fest auf der Erde. Die Versuchung, nicht auszusteigen, ist groß. Sie könnte in dem klammen Sitz versinken und einfach weiterfahren – weiterfahren, bis sie durch das staubige Fenster das Meer sehen könnte. Doch der Zug kommt quietschend zum Stehen, und sie krümmt die Finger und presst die Fäuste zusammen, bis sich ihre Fingernägel in die Handflächen bohren. Sie hatte gehofft, aus dieser Geste Kraft zu schöpfen, aber es gelingt ihr nicht ganz. Der Bahnhof von Thatcham ist klein und schlicht. Außer ihr steigt nur noch eine Person aus, ein Mann mit finsterer Miene über seinem Schnurrbart. Geschäftiger geht es am Güterwaggon zu, wo mehrere riesige Holzkisten auf einen Karren geladen werden. Sommerflieder und hohe, junge Brennnesseln neigen sich über den Holzzaun und flüstern leise. Cat holt tief Luft. Überall auf der Welt wäre sie jetzt lieber als hier, doch zugleich fühlt sie sich wie betäubt, ohne Gefühle, als hätten Schmerz und Brutalität der vergangenen Monate sie aus ihr herausgeschüttelt. Am Ende des Bahnsteigs steht eine ungeheuer dicke Frau. Cat hält inne, blickt sich suchend nach einer anderen Person um und geht dann langsam auf sie zu.

Die Frau ist fast so breit wie hoch. Ihre prallen Wangen quetschen die Augen zu Schlitzen zusammen. Ihr mächtiges Doppelkinn begräbt den Hals unter sich, sodass der Kiefer in einer Linie in den Busen überzugehen scheint. Von ihrer Mitte hängt eine Schürze aus schlaffem Fett herab, die unter ihrem leichten Baumwollkleid ein wenig hin und her schwingt und dabei an die Oberschenkel stößt. Cat fühlt den scharfen Blick aus grauen Augen, die sie von Kopf bis Fuß mustern. Sie erwidert ihn unerschrocken, ohne dabei mit der Wimper zu zucken.

»Sind Sie Sophie Bell?«, fragt Cat die Frau. Sophie Bell. Ein so hübscher, wohlklingender Name. Cat hatte sich eine große, sanfte Frau mit kornblumenblauen Augen und bernsteinfarbenen Sommersprossen vorgestellt.

»Für dich heißt das Mrs. Bell. Und du bist Cat Morley, nehme ich an?«, erwidert die Frau barsch.

»Die bin ich.«

»Na, dann steh Gott mir bei, denn du bist sicher zu nichts zu gebrauchen«, erklärt Sophie Bell. »Seit einem halben Jahr bitte ich um Hilfe für den Haushalt, und jetzt bekomme ich so ein mageres Ding, das aussieht, als würde es spätestens am dritten Tag tot umfallen«, brummelt sie, wendet sich von Cat ab und marschiert mit überraschender Geschwindigkeit davon. Ihre Beine beschreiben weite Bögen, die Füße klatschen flach auf den Boden. Cat blinzelt einmal, packt dann die Griffe ihrer Reisetasche und folgt Mrs. Bell.

Draußen vor dem Bahnhof wartet ein Ponywagen. Die kleine Kutsche neigt sich heftig zur Seite, als Sophie Bell sich auf den Sitz neben dem Kutscher hievt. Cat blickt zu ihm auf und zögert noch, ihm ihre Tasche hinzuhalten, doch der Mann wirft ihr nur einen kurzen Blick zu, ehe er seine ganze Aufmerksamkeit wieder einem glänzenden schwarzen Automobil widmet, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite gehalten hat.

»Na, steh da nicht herum und halte Maulaffen feil! Steig ein. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, sagt Mrs. Bell ungeduldig. Mühsam bugsiert Cat ihr Gepäck auf den hinteren Sitz und klettert hinterher. Kaum sitzt sie, lässt der Kutscher die Zügel schnalzen, das Pony stemmt sich ins Geschirr, und mit einem Ruck fahren sie los. Und so wird Cat rücklings, den Weg vor Augen, der bereits hinter ihnen liegt, in ihre neue Rolle, ihr neues Leben gezogen. Irgendetwas in ihr wehrt sich so heftig dagegen, dass es ihr die Kehle zuschnürt und sie kaum noch Luft bekommt.

Das Dorf Cold Ash Holt liegt gut drei Kilometer von Thatcham entfernt. Die Landstraße windet sich in südöstlicher Richtung durch ein Gewirr von Seen, Schilf und Feuchtwiesen, die der frische, sprießende Frühling so strahlen lässt, dass sie beinahe unwirklich aussehen. Junge Blätter schimmern silbrig, wenn die Brise sie bewegt, und selbst die Luft scheint einen grünen Duft heranzutragen – nach Feuchtigkeit und berauschenden Blüten. Sie schrecken einen Reiher auf, der aus den Binsen emporspringt und zu langsam, zu schwerfällig wirkt, um fliegen zu können. Das Sonnenlicht fängt sich in seinen gut gefetteten grauen Federn und glitzert in den Wassertropfen, die von seinen Beinen perlen. Cat starrt ihn an. Sie hat noch nie einen so großen Vogel gesehen und kennt seinen Namen nicht. Überhaupt kennt sie kaum Vögel außer Spatzen und den ewig gleichen Londoner Tauben, die im Schmutz nach ihrem täglich Brot scharren. Der Gentleman hatte einen Kanarienvogel auf einer kleinen goldenen Schaukel; Cat denkt daran, wie er dem Tier immer wieder etwas vorpfiff, leise mit ihm sprach und versuchte, es zum Singen zu ermuntern. Sie hatte mit dem Staubwedel in der Hand innegehalten, zugesehen und den Vogel für seine Verweigerung bewundert.

Mrs. Bell schwatzt die ganze Zeit über mit dem Kutscher, ein leiser, kaum je unterbrochener Kommentar mit einer kurzen Pause hier und da, in die der Mann ein leises Grunzen einfügt. Fast alles geht im Hufgeklapper des Ponys unter, doch Cat schnappt einzelne Worte und Halbsätze auf. »Die kommt zurück, noch bevor der Sommer um ist, das können Sie aber glauben« – »… besaß doch die Frechheit, anzudeuten, das wäre nicht so, wie es sich gehört hätte« – »… Sohn ist schon wieder auf und davon, dabei ist das Kind« – »… kurzen Prozess mit Leuten, die kriminelle Neigungen zeigen«. Cat wirft einen Blick über die Schulter und sieht Mrs. Bells schmale Augen auf sich gerichtet.

Das Pfarrhaus aus verblasstem rotem Backstein ist drei Stockwerke hoch und beinahe quadratisch. Symmetrisch angeordnete Fenster mit leuchtend weißen Rahmen blicken in die Welt hinaus, und ihre Scheiben spiegeln den sonnigen Himmel. Der Garten ums Haus fließt über vor Frühlingsblumen, wie kleine Fontänen aus Farbe spritzen sie aus ordentlichen Beeten empor, die geschwungene Formen im kurzen, ebenso ordentlichen Rasen bilden. Knospende Glyzinien und Geißblatt erklimmen die Wände und Fensterbretter, und hohe Tulpen säumen den Weg bis zu der breiten, leuchtend blauen Haustür, deren Messingklopfer stolz in der Sonne glänzt. Das Anwesen liegt am Rand des kleinen Dorfes, und der Garten grenzt an üppige Feuchtwiesen. In der Ferne folgt ein Flüsschen seinem gewundenen Pfad wie ein silbriges Band. Der Kutscher hält an der hinteren Hausecke an, am Ende der gekiesten Auffahrt, wo bemooste Stufen zu einer weniger imposanten Tür hinabführen.

»Du benutzt diese Tür und keine andere«, sagt Mrs. Bell barsch, als sie das Haus betreten.

»Selbstverständlich«, entgegnet Cat und ärgert sich. Die Frau glaubt wohl, sie hätte noch nie im Leben gearbeitet?

»Also, pass gut auf, wenn ich dir jetzt das Haus zeige. Ich habe keine Zeit, alles dreimal zu erklären, und ich muss mich um den Tee kümmern. Die Herrin, Mrs. Canning, will dich sehen, sobald du dich frisch gemacht und umgezogen hast.«

»Umgezogen?«

»Ja, umgezogen! Oder wolltest du dich ihr etwa in diesem zerschlissenen Rock vorstellen, mit schmuddeligen Bündchen an deiner Bluse und ausgefransten Schnürsenkeln?« Mrs. Bells graue Augen sind tatsächlich sehr scharf.

»Ich habe eine zweite Bluse, meine beste, die kann ich anziehen, aber dieser Rock ist der einzige, den ich habe«, sagt Cat.

»Sie haben dich doch in London gewiss nicht so im Haus herumlaufen lassen!«

»Da hatte ich eine Uniform. Ich … musste sie zurückgeben.«

Mrs. Bell stemmt die Hände dahin, wo eigentlich ihre Taille hätte sein sollen. Cat hält ihrem Blick unverwandt stand und weigert sich, sich einschüchtern zu lassen. Die Fingerknöchel der älteren Frau sind rot und rissig. Sie versinken in ihren fleischigen Händen, als wären sie dort eingeklemmt. Ihre Füße sind nach innen gekippt, die Wölbung unter dem Spann hat sich schon vor langer Zeit dem Gewicht ergeben müssen, das darauf lastet. Ihre Knöchel sehen aus wie Plumpudding-Teig, mit deutlich sichtbaren Dellen unter den Strümpfen. Cat verschränkt die Hände vor sich und spürt die beruhigende Härte ihrer Knochen.

»Tja«, sagt Mrs. Bell schließlich, »die Herrin wird entscheiden, ob sie dich mit Kleidung ausstatten will. Ansonsten wirst du dir irgendwie behelfen müssen. Du brauchst ein graues oder braunes Kleid für den Tag, ein schwarzes für abends und etwas für die Kirche. Nächste Woche ist Lumpenmarkt in Thatcham. Vielleicht findest du dort etwas, das du umarbeiten kannst.«

Cats Zimmer befindet sich auf dem Dachboden. Es ist einer von drei nebeneinandergelegenen Räumen, mit kleinen Mansardenfenstern nach Norden. Man erreicht sie durch einen hellen Flur mit Fenstern zur Südseite hin, als wäre der Architekt der Meinung gewesen, ein Flur verdiene mehr Sonnenlicht als die Dienstboten. Cat stellt ihre Reisetasche am Fußende des Bettes ab und mustert ihr neues Heim. Schlichte, weiß getünchte Wände, ein kleines eisernes Bett mit einem Messing-Kruzifix darüber, eine Bibel auf einem Korbstuhl, Waschtisch, fadenscheinige Vorhänge. Außerdem ein schmaler Kleiderschrank und eine bunte Steppdecke, am Fußende des Bettes zusammengefaltet. Cat durchquert den Raum mit ein paar raschen Schritten, reißt das Kruzifix von der Wand und schleudert es unters Bett. Mit einem melodischen Scheppern trifft es den Nachttopf. Cat hat das Gefühl, dass ihre Finger an den Stellen brennen, die die glatten Arme des metallenen Kreuzes berührt haben. Hastig wischt sie sich die Hände am Rock ab, schließt die Augen und wehrt sich gegen die Erinnerungen an ein ganz ähnliches Objekt. Auch damals hatte Jesus sie von einer hohen Wand herab beobachtet, ungerührt von ihrer Qual. Dann tritt sie ans Fenster und schaut auf die Landstraße und eine Weide mit rötlich braunen Kühen hinaus. So viel weiter, leerer Raum. Sie denkt an ihre Freundinnen in London, an Tess mit ihren neugierigen grünen Augen, die immer irgendetwas unglaublich spannend findet. Der Gedanke tut ihr weh. Sie hat keine Adresse, an die sie schreiben könnte, nicht einmal eine Ahnung, wo Tess schließlich landen wird. Womöglich würde ihre Freundin anders als sie keine neue Stellung finden. Ich kann mich glücklich schätzen, denkt Cat verbittert. Das hat man ihr in letzter Zeit zumindest oft genug gesagt.

Die Tür hinter ihr fällt zu, bewegt von einem nicht bestimmbaren Luftzug. Cat erstarrt, ihr ganzer Körper verkrampft sich. Stocksteif steht sie da und versucht zu atmen, obwohl ihr die Luft plötzlich viel zu dick erscheint. Sie ist nicht abgesperrt, sagt sie sich. Nur geschlossen. Nicht abgesperrt. Langsam dreht sie sich zur Tür um, gefasst, als warte dort etwas Schreckliches auf sie. Die Wände der kleinen Kammer neigen sich nach innen, bedrängen sie, kleben an ihr wie ein großes, nasses Laken. Ihr zittern die Knie, und sie nähert sich der Tür so wackelig wie eine alte Frau. Als sie nach dem Knauf greift, ist sie sicher, dass sie die Tür nicht wird öffnen können. Der metallene Griff klappert in ihrer Hand, als sie daran dreht, und sobald sie die Tür ein paar kostbare Fingerbreit geöffnet hat, wird ihr klar, dass nur ihr Zittern den Knauf hat wackeln lassen. Das Blut rauscht in ihren Ohren, und sie lehnt sich mit dem Gesicht an das schartige Holz der Tür, wartet ab, bis sie sich ein wenig ruhiger fühlt. Nie wieder, denkt sie. Nie, nie wieder.

Hester setzt sich an dem Schreibtisch aus Walnussholz im Musikzimmer zurecht, das Haushaltsbuch aufgeschlagen vor sich. Diese Haltung nimmt sie auch zu ihrer wöchentlichen Sitzung mit Mrs. Bell ein, bei der Speisezettel und Haushaltsgeld und Vereinbarungen mit Kaminkehrern, Lebensmittellieferanten und Fahrradmechanikern besprochen werden. Sie findet, dass diese Pose den richtigen Eindruck vermittelt – damenhaft, aber geschäftsmäßig, gebieterisch und doch zugänglich. Die Nachmittagssonne liegt in gelben Pfützen auf dem Eichenparkett und beleuchtet den gemächlichen Tanz von Staubflocken und Stubenfliegen. Hester schlägt gereizt nach einer Fliege, die ihr zu nahe kommt. Sie empfindet die haarigen Körper der Insekten als geradezu unanständig und ekelt sich davor, wie sie sich in ihren letzten Augenblicken auf den Fensterbrettern niederlegen und die borstigen Beine kreuzen, als erwarteten sie, dass jemand ihnen die Sterbesakramente bringt, bevor ihre Kadaver trocken und hart werden. Hester ist ungeheuer erleichtert, dass sie die toten Fliegen von nun an nicht mehr wird aufkehren müssen. Mrs. Bell hatte große Mühe, sowohl mit dem Putzen als auch mit dem Kochen hinterherzukommen – von dieser Frau kann man wahrlich keine flotte Arbeit erwarten.

Hester hört, wie sie sich polternd von der Küche her nähert. Sie nimmt eine noch aufrechtere Haltung an und legt ein mildes, vornehmes Lächeln auf ihr Gesicht. Einen Moment lang befällt sie die Sorge, ein Vergleich mit dem kosmopolitischen letzten Dienstherrn von Cat Morley könnte zu ihrem Nachteil ausfallen. Dann erinnert sie sich daran, dass das Mädchen praktisch eine Geächtete ist, und sie entspannt sich wieder. Ein wenig schämt sie sich ihrer eigenen Nervosität, da ihre Rolle ja darin bestehen wird, die junge Frau mütterlich anzuleiten und zu bessern.

»Das neue Mädchen, Madam«, verkündet Mrs. Bell nach einem kurzen Anklopfen.

»Danke, Mrs. Bell. Komm nur herein, Cat«, sagt Hester herzlich, doch dann zögert sie verwirrt. Cat Morley sieht eher aus wie ein Kind. Einen Augenblick lang glaubt Hester, es müsse irgendein Irrtum vorliegen. Das Mädchen ist kaum einen Meter fünfzig groß und wirkt so knochig und zerbrechlich wie ein Vogel. Ihre Schultern sind schmal, Hände und Füße geradezu winzig. Ihr Haar, beinahe rabenschwarz, ist sehr kurz geschnitten. Es streift höchst undamenhaft ihre Ohren. Cat hat den Pony zurückgesteckt, was ihr noch mehr das Aussehen eines Schulmädchens verleiht. Doch als sie sich dem Schreibtisch nähert, erkennt Hester, dass dies kein Irrtum ist. Cats Gesicht ist schmal, das Kinn spitz, doch die dunklen Ringe unter ihren Augen und die steile Falte zwischen ihren Brauen verraten Lebenserfahrung. Cat starrt Hester mit einem so festen Blick entgegen, die braunen Augen völlig unerschrocken, dass Hester sich unbehaglich fühlt, beinahe verlegen. Sie wirft Mrs. Bell einen Blick zu, als diese den Raum verlässt, und schließt aus deren schmalen Lippen ganz genau, was sie von der neuen Angestellten hält.

»Nun«, sagt Hester nervös. »Bitte, nimm Platz, Cat.« Das Mädchen lässt sich auf der Kante des geschnitzten Stuhls vor dem Schreibtisch nieder, als wollte es jeden Augenblick davonfliegen. »Es freut mich, dass deine Reise hierher gut verlaufen ist.« Hester hatte sich im Geiste zurechtgelegt, was sie zu der jungen Frau sagen würde, um sie zu beruhigen und ihr zu zeigen, welch freundliches, ruhiges und gottgefälliges Haus sie aufgenommen hatte. Doch der Schreck über die Erscheinung des Mädchens hat alles in ihrem Kopf ein wenig durcheinandergebracht, und jetzt weiß sie nicht mehr, was sie sagen wollte. »Du wirst hier gewiss sehr glücklich sein«, beginnt sie ein wenig zögerlich. Cat blinzelt, und obwohl sie keine Miene verzieht und kein Wort sagt, vermittelt sie Hester den deutlichen Eindruck, dass sie Zweifel an dieser Behauptung hegt. »Du meine Güte! Eine Frisur wie deine habe ich noch nie gesehen! Ist das der neueste Schrei in London? Lebe ich modisch etwa hinter dem Mond?«, platzt Hester heraus. Ihr eigenes Haar ist ihr ganzer Stolz. Es ist hell, voll und weich und lässt sich jeden Morgen gefällig zu einer üppigen Frisur hochstecken.

»Nein, Madam«, sagt Cat leise, ohne auch nur einmal den Blick zu senken. »Mein Haar war früher immer lang. Ich war gezwungen, es abzuschneiden, nach … nach meiner Zeit im Zuchthaus. Es war schrecklich verlaust.«

»Oh! Läuse! Wie abscheulich!«, ruft Hester entsetzt aus. Unwillkürlich hebt sie die Hände zum Kopf, als wollte sie ihn schützen, und weicht ein wenig vom Tisch zurück.

»Sie sind längst weg, das kann ich Ihnen versichern«, sagt Cat, und der Ansatz eines spöttischen Lächelns huscht über ihre Lippen.

»Gut, gut. Ja. Nun denn. Mrs. Bell hat dich sicher schon mit deinen Pflichten vertraut gemacht. Sie wird dich anleiten, bitte wende dich in allen Belangen deiner Arbeit an sie. Du wirst morgens um halb sieben aufstehen und um sieben Uhr deinen Dienst antreten, aber wahrscheinlich wirst du nicht als Erste auf sein – mein Mann liebt Spaziergänge in der Natur, die er vornehmlich bei Sonnenaufgang genießen kann. Er wird oft schon das Haus verlassen haben, ehe du herunterkommst, also denke dir nichts dabei, wenn du ihm schon früh am Morgen begegnest. Er erwartet auch nicht, dass das Frühstück vor seinen Spaziergängen bereit steht. Die Zeit zwischen drei und fünf Uhr nachmittags steht dir, abgesehen vom Nachmittagstee, zur freien Verfügung, sofern du alle deine Pflichten zu Mrs. Bells Zufriedenheit erledigt hast.« Hester hält inne und schaut zu Cat Morley auf. Der unverwandte Blick des Mädchens kann einen wirklich aus der Fassung bringen. Da ist irgendetwas hinter diesen dunklen Augen, das Hester noch nie gesehen hat und nicht entschlüsseln kann. Der vage Umriss von etwas überaus Befremdlichem, beinahe Unberechenbarem.

»Ja, Madam«, sagt Cat schließlich tonlos.

»Cat – dein richtiger Name lautet Catherine, nicht wahr? Möchtest du nicht vielleicht lieber Kitty genannt werden? Ein neuer Name für einen neuen Anfang? Ich finde, er würde sehr gut zu dir passen.« Hester sieht sie aufmunternd an.

»Ich war immer Cat, nicht Kitty«, entgegnet Cat verwundert.

»Ich verstehe. Aber meinst du nicht, dass Kitty schöner wäre? Was ich damit sagen will … Du könntest mit dem alten Namen auch all den alten Kummer ablegen. Verstehst du?«, erklärt Hester. Cat scheint darüber nachzudenken, und ihr Blick wird hart.

»Ich war immer Cat«, beharrt sie.

»Also schön!«, lenkt Hester ein, weil sie nicht mehr weiterweiß. »Möchtest du mich sonst noch etwas fragen?«

»Ich möchte Ihnen nur sagen, Madam, dass ich kein Korsett tragen kann. Nach meiner Krankheit hat der Arzt mir erklärt, dass der Druck auf meine Brust schädlich wäre.«

»Tatsächlich? Welch ein Jammer. Natürlich musst du auf deine Gesundheit achten, obwohl manche Leute das als unschicklich betrachten könnten. Hielt der Arzt es denn für wahrscheinlich, dass sich dein Zustand bessern wird? Glaubst du, dass du irgendwann wieder ein Korsett wirst tragen können?«

»Das weiß ich nicht«, antwortet Cat.

»Nun, wir werden sehen, was die Zeit bringt. Cat, du sollst wissen …« Hester zögert. Irgendwie kommen ihr die Worte, die sie sich zurechtgelegt hatte, beinahe albern vor, nun, da sie dem Mädchen gegenübersitzt. »Ich möchte dir sagen, dass es dir hier niemand verargen wird. Ich meine deine … schwierige Vergangenheit. In diesem Haus hast du die Chance, ganz neu anzufangen und ein reines, gottgefälliges Leben zu führen. Mein Mann und ich waren schon immer der Ansicht, dass Nächstenliebe die größte Tugend ist und im eigenen Hause beginnt. Ich hoffe, wir können auch dir die Aufrichtigkeit unserer Philosophie vermitteln.« Wieder diese beunruhigende Stille, diese reglose Miene. Hester überläuft ein kleiner Schauer, und ihre Kopfhaut kribbelt unangenehm – wie sonst nur, wenn sie in den Falten ihrer Schlafzimmervorhänge eine schwarze Spinne entdeckt.

»Danke, Madam«, sagt Cat.

Hester fühlt sich wesentlich wohler, sobald Cat Morley wieder nach unten gegangen ist, um Mrs. Bell bei der Vorbereitung des Tees zu helfen. Das Mädchen hat eine seltsame Ausstrahlung, als würde es von etwas Unsichtbarem abgelenkt, irgendeinem widernatürlichen Trieb vielleicht. Hester sagt sich, dass das doch sehr unwahrscheinlich sei, aber sie wird das Gefühl dennoch nicht ganz los. Cat hat den Blick nicht gesenkt, wie es sich gehörte. Nun ja, dass es sich gehörte, ist vielleicht zu viel gesagt, aber man hätte es doch von ihr erwartet. Sie wirkte so zierlich und schwächlich, dass man leicht glauben konnte, sie fürchte sich vor jeder Kleinigkeit. Hester greift zu ihrem Stickbeutel und dem Rahmen, den sie erst gestern mit Stoff bespannt hat, bereit, eine neue Arbeit anzufangen. Sie überlegt kurz und lächelt dann. Ein Geschenk für das Mädchen, das darauf besteht, Cat genannt zu werden. Wie könnte Hester ihrem guten Willen besser Ausdruck verleihen? Sie kramt in dem Beutel und sucht grünes, blaues und safrangelbes Garn heraus. Frische Farben für den frischen Frühling. Hester summt fröhlich vor sich hin, während sie das Muster anzulegen beginnt, und als Cat Morley das Teetablett bringt, dankt sie ihr freundlich und bemüht sich, nicht die Sehnen auf Cats Handrücken anzustarren, die sich beinahe stolz unter der Haut abzeichnen.

»Du redest nicht viel, was?«, bemerkt Mrs. Bell, als Cat das letzte Stück Teegeschirr abtrocknet und danach das feuchte Geschirrtuch über den Herd hängt. Die Haushälterin lehnt das breite Hinterteil an den schweren Arbeitstisch, die Knie zusammengepresst, die Füße aber leicht gespreizt, und beobachtet Cat mit Argusaugen. Die Küche liegt im Souterrain, sodass man durch die hoch angebrachten Fenster schräg in den Himmel und auf die Baumwipfel hinausschaut.

»Nur, wenn ich etwas zu sagen habe.« Cat zuckt mit den Schultern. Mrs. Bell gibt ein Brummen von sich.

»Ist wohl besser als so ein junges Ding, das den lieben langen Tag vor sich hin schwatzt.« Mrs. Bell mustert Cat noch einmal prüfend. »Du sprichst nicht wie jemand aus London. Ich habe schon einige Londoner gehört, die hier im Ort etwas verkauft oder Reden gehalten haben.«

»Meine Mutter hat sehr auf gute Aussprache geachtet. Der Gentleman hat bei allen seinen Angestellten Wert darauf gelegt«, erwidert Cat steif. Sie will nicht von ihrer Mutter sprechen. Sie will nicht von London sprechen, von der Vergangenheit. Mrs. Bell brummt erneut.

»Tu bloß nicht so eingebildet, jetzt, wo du hier bist. Du stehst ganz unten auf der Leiter, mein Mädchen – ein Wort von mir genügt, und du kannst deine Sachen packen.«

»Wie freundlich von Ihnen, mich darauf hinzuweisen«, murmelt Cat finster.

»Werd ja nicht frech.« Mrs. Bell hält inne, als zügelte sie ihre eigene Zunge. »Wie sieht’s mit Kochen aus?«

»Ich habe manchmal geholfen, das Essen für das Personal zuzubereiten. Aber nie für die Familie.«

»Gemüse putzen und so weiter? Kannst du Blätterteig?«

»Nein.« Cat schüttelt den Kopf und streckt die Arme nach hinten, um ihre Schürze aufzuknoten.

»Nicht so schnell, wenn ich bitten darf! Für das Abendessen heute sind noch vier Tauben zu rupfen – sie liegen im Kühlkeller.« Cat knotet die Schürze wieder zu und wendet sich zum Gehen. »Und mach das draußen auf dem Hof, sonst kehrst du noch tagelang Federn auf!«, ruft Sophie Bell ihr nach.

Der Hof ist ein kleiner Bereich an der Westseite des Hauses, umgeben von einer hohen Ziegelmauer und mit den gleichen roten Ziegeln gepflastert. Die Abendsonne scheint Cat bei der Arbeit warm auf den Kopf, und sie ist umgeben von zarten grünen Pflänzchen, die sich aus kleinen Rissen im Mörtel emporschieben. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen, denkt Cat, während ihre Finger die weichen Federn der Vögel packen und mit einem scharfen Zug aus der schlaffen Haut rupfen. Das reißende Geräusch, das dabei entsteht, hat sie schon immer gehasst und diese Arbeit deshalb um jeden Preis gemieden. In London waren die Dienstboten zahlreich und ihre Rollen genau festgelegt. Nur im absoluten Notfall hätte man ein Stubenmädchen Vögel für die Küche rupfen lassen. Dazu waren die Küchenmädchen da. Dazu war Tess da, mit verschmierten Fettflecken auf der Schürze, braunen Fingernägeln vom Kartoffelschälen, Mehlspuren im fröhlichen Gesicht. Die toten Vögel riechen klebrig süß. Ihre Köpfe baumeln und schlenkern, während Cat arbeitet, und die trockene Haut um ihre Schnäbel ist rissig. Cat denkt an getrocknetes Blut auf Tess’ Lippen, ihr blutverschmiertes Zahnfleisch, das ihre Zähne dunkel umrandet. Sie denkt an den gleichen ekelhaft süßlichen Geruch, der vom derben Stoff einfacher, blutgetränkter Kleidung aufsteigt. Cat sehnt sich nach einer Zigarette.

Gegen fünf Uhr kündet ein Klappern und das Surren von Speichen die Rückkehr des Reverend Albert Canning an. Hester legt ihre Stickarbeit beiseite und geht in den Hausflur, um ihn zu empfangen. Mit dem Stundenschlag öffnet er die Tür und lächelt seine Frau an, die ihm Hut und Ranzen abnimmt, während er das schwere Fernglas ablegt, das um seinen Hals baumelt, und den Mantel auszieht. Albert ist groß und schlank, sein helles Haar, fein wie Flaum, beginnt sich gerade am Oberkopf zu lichten – was ihn nicht im Mindesten älter wirken lässt, sondern im Gegenteil seine Jugendlichkeit noch betont. Seine Wangen sind gerötet, weil er mit dem Fahrrad aus dem Ort zurückgefahren ist. Seine großen blauen Augen haben noch immer diesen unschuldigen Ausdruck, der Hesters Herz schon bei ihrer ersten Begegnung erobert hat, und seine Haut ist weich und glatt. Er bleibt mit einem Arm im Ärmel seines Mantels hängen, und Hester versucht ihm zu helfen, doch sein schwerer lederner Ranzen behindert sie. Sie kämpfen einen Moment lang damit, bis sich ihre Blicke treffen und beide lachen müssen.

»Wie war dein Nachmittag, Bertie?«, erkundigt sich Hester, während sie wieder auf einem Stuhl Platz nimmt.

»Sehr angenehm, danke, Hetty. Ich habe alle angetroffen, die um meinen Besuch gebeten hatten, und in allen Fällen bis auf einen konnte ich in dieser oder jener Angelegenheit helfen. Und auf dem Heimweg habe ich ein prächtiges Pfauenauge gesehen – das erste dieses Jahr.«

»Und, hast du es gefangen?«, fragt Hester. Albert hat stets ein feines Schmetterlingsnetz und einen Sammelbehälter in der Tasche für den Fall, dass er ein seltenes Exemplar entdeckt.

»Nein, das erschien mir ein wenig unfair so früh im Jahr. Außerdem ist das Tagpfauenauge wahrlich nicht exotisch zu nennen«, antwortet Albert und beugt sich vor, um seine Hosenbeine von den Fahrradklemmen zu befreien. Er holt sein Tagebuch aus dem Rucksack und klappt es mit dem langen Zeigefinger auf.

»Nein, natürlich nicht«, stimmt Hester zu.

»Und du, Liebes? Was gibt es Neues?«

»Tja, ich fürchte, wir werden die Wäsche weiterhin außer Haus geben müssen.«

»Ach ja? Was ist mit dem neuen Mädchen – kann das sich nicht darum kümmern?«, fragt Albert und hebt den Blick von seinen Aufzeichnungen. Aus den Rhododendren vor dem Fenster lässt eine Amsel ihren perlenden Gesang erklingen.

»Ich denke nicht, nein. Sie ist recht schwächlich, und … nun ja, ich glaube kaum, dass sie genug Kraft in den Armen hat. Außerdem war sie krank.«

»Oje. Na ja, wenn du meinst, Liebes.« Hester betrachtet ihren Mann wohlwollend. Die langen Koteletten umrahmen sein Gesicht wie liebevoll sich anschmiegende Hände. Zwar fand Hester die Fasson schon immer ein wenig zu ernst für ein so junges Gesicht, aber sie weiß, dass Albert sich den Backenbart hat wachsen lassen, um auf der Kanzel gesetzter zu wirken. In der Sonne schimmern die Härchen golden, aber in nassem Zustand sind sie dunkel. Albert spürt ihren prüfenden Blick und lächelt sie an. »Was ist, Liebling?«, fragt er.

»Ich dachte nur gerade, welch eine gute Figur der Mann abgibt, den ich geheiratet habe«, antwortet Hester schüchtern. »Das ist nun beinahe ein Jahr her.« Albert nimmt ihre Hand. Er sitzt in seiner gewohnten Haltung, ein Bein über das andere geschlagen, sodass seine Hose ein wenig hochrutscht. Sie kann einen Fingerbreit weißer Haut über seinen Socken sehen, die ihn irgendwie verletzlich wirken lässt.

»Ich bin derjenige, der sich am glücklichsten schätzen kann«, sagt er, und Hester errötet leicht.

»Ich habe heute Nachmittag Mrs. Duff besucht«, erzählt sie.

»Und wie geht es ihr?«

»Etwas besser. Ich habe ihr etwas von meinem Zitronenlikör mitgebracht, den süßen, den sie besonders mag.«

»Das war nett von dir, Liebes.«

»Ihr jüngster Sohn ist ein prächtiger kleiner Kerl, und er weint überhaupt nicht, wenn ich ihn im Arm halte. Er betrachtet mich ganz ruhig mit so einem prüfenden Blick! Als mache er sich die ganze Zeit furchtbar ernste Gedanken über mich und käme dabei zu überaus bedeutsamen Schlüssen.« Hester lacht.

»Das kann ein so kleines Kind gewiss nicht«, murmelt Albert.

»Nein, da hast du wohl recht«, stimmt Hester zu. Albert vertieft sich wieder in sein Tagebuch. Sie wartet noch ein wenig, denn auf einmal schlägt ihr das Herz bis zum Hals. Dann nimmt sie all ihren Mut zusammen. »Wie sehr ich mich nach dem Tag sehne, wenn unser eigener Sohn geboren wird! Oder eine Tochter natürlich. Ich weiß, dass du ein ganz wunderbarer Vater sein wirst«, sagt sie strahlend und beobachtet ihren Mann erwartungsvoll. Als er nichts erwidert, steigt ihr die Hitze in die Wangen. Albert starrt noch immer auf sein Tagebuch, doch Hester bemerkt, dass er die Stirn runzelt und sein Füllfederhalter reglos verharrt. Die Feder hat mitten in einem Wort innegehalten und drückt sich in das Papier, sodass unter der Spitze ein Tintenfleck erblüht. Albert räuspert sich leise und blickt endlich auf. Er schaut vage in ihre Richtung, sieht ihr aber nicht in die Augen und sagt kein Wort.

Spät am Abend liegt Cat noch wach. Die dünne Matratze ist klumpig, Rosshaar sticht durch den fadenscheinigen Drillich. Die Bibel, die in ihrem Zimmer lag, hat sie in die Tür gelegt, damit sie nicht zufällt. Die Heilige Schrift da auf dem Boden zu sehen, so wenig ehrerbietig behandelt wie ein Sandsack, gefällt ihr. Die Worte darin sind ebenso leblos und genauso schwer. Durch den Türspalt scheint der Mond kalt und ruhig herein. Cat liegt still und lauscht dem Schnarchen von Mrs. Bell am Ende des Flurs. Ein, aus – ein, aus. Sie meint das Wabbeln des dicken Halses dabei hören zu können. Vorsichtig atmet Cat ganz tief ein. Da. Sie ist noch da, ganz unten in ihrer Lunge – die kleine nasse Blase, die einfach nicht austrocknen will. Cat lässt den Atem ausströmen und bemüht sich, nicht zu husten. Das ständige blutige Husten im Gefängnis – die ganze Nacht hindurch, aus jeder Zelle, weil die Feuchtigkeit, die Schimmelsporen und die widerliche Mixtur des Arztes ihrer aller Lungen verstopfen wie mit Schlamm. Sie fährt mit den Daumen über den Drillich und zählt die harten Härchen, jede Sekunde eines, während die Nacht langsam verstreicht und ihre Augen offen bleiben. Cat kann sich nicht erinnern, wie es sich anfühlt, sich hinzulegen und einzuschlafen. Dieses friedvolle Gefühl, alle Macht und Kontrolle aufzugeben. Sie kann das nicht mehr. Dieses Aufgeben fühlt sich an wie der Tod, als könnte sie schon der Luft im Raum nicht trauen, als würden die Wände selbst über sie herfallen, wenn sie es wagt, die Augen zu schließen, und die Schatten lebendig werden und sie verschlingen.

In einem anderen, beinahe dunklen Zimmer ein Stockwerk tiefer betrachtet Hester Alberts Silhouette. Er liegt auf dem Rücken mit geschlossenen Augen und so auffallend entspanntem Gesicht, dass Hester vermutet, er sei noch wach. Die Schönheit seiner Züge wirkt entwaffnend auf sie. Dieses Tal zwischen Stirn und Nasenrücken, die leicht schmollende Unterlippe. Sein Anblick löst einen ziehenden Schmerz in ihr aus, den sie nicht klar benennen kann, als wäre da irgendein Nerv, der angespannt ist und Erleichterung sucht. Sie streckt den Arm nach Albert aus, ergreift die Hand, die auf seiner Brust liegt, und verschränkt die Finger mit seinen. Da, sie spürt es – die subtile Veränderung in seinem Atemrhythmus, die leichte Anspannung des ganzen Körpers.

»Bertie? Bist du wach, Liebster?«, flüstert sie. Er antwortet nicht. Wenn er Dich erst umarmt und küsst und Deine leidenschaftliche Liebe zu ihm spürt, wird auch seine Leidenschaft geweckt, und Eure Leiber können sich vereinigen, hatte ihre Schwester geschrieben. Hester ist sich ihres eigenen Leibes bewusst, der sich in ihrem Nachthemd bewegt, der Haut, die den Baumwollstoff streift, befreit von dem Korsett, das ihren Körper den ganzen Tag lang einschließt. Ihr Haar gleitet wie eine weiche, zärtliche Welle über ihre Schulter. »Ich wünsche mir so sehr, du würdest mich umarmen«, sagt Hester mit leicht zitternder Stimme.

Albert schlägt die Augen nicht auf, als er ihr antwortet: »Es war ein sehr langer Tag, Liebste. Ich bin schrecklich müde.« Diese Worte hört Hester sehr oft von ihrem Mann. Sie hat sie sogar in ihrer Hochzeitsnacht gehört.

»Natürlich. Schlaf nur, liebster Bertie«, flüstert sie.

2

2011

Leah las den Brief des Soldaten, und eine steile Falte bildete sich dabei zwischen ihren Augenbrauen. Ryan streckte die Hand aus und strich die Haut an genau dieser Stelle glatt, sodass Leah zusammenfuhr.

»Lass das!«, fauchte sie und riss den Kopf zurück.

»So reizbar«, seufzte Ryan. Er lächelte, als er sich wieder zurücklehnte, doch Leah sah ihm den leichten Verdruss an. Sie spürte Triumph in sich aufflackern und ärgerte sich sofort über sich selbst.

»Das hier ist aber doch nicht das Original, oder?«, fragte sie.

»Natürlich nicht – wir haben ihn abschreiben lassen. Das Papier des Originals ist unglaublich brüchig. Etwas Wasser war eingedrungen – nicht viel, er hatte die Blechschachtel sehr sorgfältig versiegelt – und hatte den Umschlag zerstört. Mit anderen Worten: den Namen des Adressaten, unseres mysteriösen Soldaten.«

»Und sie nennt ihn ›Sehr geehrter Herr‹. Nicht gerade hilfreich«, murmelte Leah.

»Nein, aber wenn sie uns seinen Namen verraten hätte, würde ich dich ja nicht brauchen.« Seine Wortwahl ließ Leah aufblicken. »Ist schon spannend, oder?«, bemerkte Ryan.

»Ist es«, stimmte sie zu. »Wie hatte er die Schachtel versiegelt?«

»Mit Kerzenwachs, wie’s aussieht. Geschmolzen und um den ganzen Rand herum glatt gestrichen.«

»Wäre das denn leicht zu machen gewesen? Etwas, das er praktisch jeden Tag getan hätte, oder hat er den Brief nur ab und zu herausgeholt, um ihn zu lesen?«

»Wer weiß? Ich meine, er hat sehr gründlich gearbeitet, das hat wahrscheinlich seine Zeit gedauert. Ich glaube nicht, dass er die Schachtel jeden Tag geöffnet und wieder versiegelt hat.« Ryan zuckte mit den Schultern.

»Dann war dieser Brief also etwas Besonderes für ihn?«

»Das würde ich meinen, ja. Lies ihn laut, damit ich ihn auch noch einmal höre«, schlug er vor.

Pfarrhaus

Cold Ash Holt

Sehr geehrter Herr,

ich weiß kaum, wie ich diesen Brief beginnen soll, da ich bereits so viele geschickt und bisher kaum Antwort erhalten habe. Kaum, schreibe ich – dabei müsste es heißen, gar keine. Ich vermag mir die Situation, in der Sie sich jetzt befinden, nicht vorzustellen, und kann nur annehmen, so unmöglich mir das auch erscheint, dass sie noch schlimmer sein muss als die Umstände, die Sie hinter sich ließen. Der Gedanke daran, dass Sie unablässig in Gefahr schweben, ist grauenvoll – Sie und Ihre Kameraden. Bitte geben Sie auf sich Acht und seien Sie vorsichtig, sofern man auf einem Schlachtfeld von Vorsicht sprechen kann. Ich erfuhr erst kürzlich von Ihrer Abreise an die Front, und das auch nur durch einen Zufall – eine Bekannte erwähnte die Entsendung von Männern wie Ihnen. Mir ist bewusst, dass Sie und ich uns unter sonderbaren Umständen trennten und unsere gemeinsame Zeit nicht einfach war. Doch obwohl Sie keinen meiner Briefe beantwortet haben, als Sie noch in meiner Nähe waren, fühlt es sich noch schlimmer an, zu wissen, dass Sie nicht mehr auf englischem Boden weilen.

Was also kann ich schreiben? Was könnte ich schreiben, das ich nicht bereits geschrieben habe? Ich begreife es nicht. Ich lebe in ständiger Angst, in Elend und Unwissenheit, und Sie sind meine einzige Hoffnung, je aus diesem Nebel herauszufinden. Doch Sie können oder wollen mir nicht helfen und auch Ihr Schweigen nicht brechen. Was kann ich schon tun? Ich bin nur eine Frau. Ein Eingeständnis der Schwäche, aber allein besitze ich weder die Kraft noch den Mut, irgendeine Veränderung herbeizuführen. Ich sitze in der Falle. Gewiss klingt das in Ihren Ohren jämmerlich, da Sie so viel durchmachen mussten, seit wir uns zuletzt sahen, und nun Dinge ertragen müssen, die ich mir nicht einmal vorstellen kann.

Mein Sohn entwickelt sich prächtig. Zumindest in dieser Hinsicht habe ich also gute Neuigkeiten. Bald wird er drei Jahre alt sein – wo ist nur die Zeit geblieben? Beinahe vier dunkle Jahre sind verstrichen, in denen Thomas mein einziger Lichtblick war. Er flitzt wie ein kleiner Derwisch in Haus und Garten herum. Er ist nicht groß für sein Alter, sagte man mir, aber seine Beine und sein Körper sind robust, und er ist in bester Verfassung. Bisher hat er noch nicht ernsthaft unter irgendeiner Infektion oder Kinderkrankheit gelitten. Er hat braunes Haar, leicht gelockt, und braune Augen. Hellbraune Augen. Ich lasse sein Haar zu lang wachsen, weil ich es so gern bürste! Meine Schwester sagt, er sei zu alt für diese Frisur, und die Leute würden ihn für ein kleines Mädchen halten, aber ich möchte sie noch eine Weile so lassen. Er lernt die ersten Zahlen und kann sich Lieder und Verse binnen Minuten einprägen. Er besitzt eine rasche Auffassungsgabe, überhaupt ist sein Verstand schneller als meiner, möchte ich behaupten. Ich hoffe, es macht Sie froh, von Thomas zu hören.

ENDE DER LESEPROBE