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Österreich, 1999: Mathea findet im Haus ihrer Mutter ein altes Tagebuch. Es erzählt die Geschichte der jungen Kaufmannstochter Marie Steinbach aus Linz, die in den Zwanzigerjahren zur Sommerfrische aufs Land geschickt wurde. Dort lernte sie Jakob kennen, der beim Fluss eine Perlenzucht betrieb.
Matheas Interesse ist geweckt. Doch die Aufzeichnungen sind lückenhaft, und sie reist ins Tal der Großen Mühl, um vor Ort zu recherchieren. Hier trifft sie auf den attraktiven Naturschützer Paul, der ihr den Schatz der heimischen Flüsse näherbringt und mehr über die Hintergründe der Perlenzucht weiß. Finden sie gemeinsam auch die Antworten, die das Tagebuch nicht preisgeben will? Und wie hängen Maries Erlebnisse mit Matheas eigener Familiengeschichte zusammen?
Eine dramatische, fesselnde Familiengeschichte, und eine junge Frau auf der Suche nach einer lang gehüteten Wahrheit.
Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 447
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Aus dem Tagebuch der Marie Steinbach
TEIL 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
TEIL 2
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
TEIL 3
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
TEIL 4
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Nachwort und Dank
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Österreich, 1999: Mathea findet im Haus ihrer Mutter ein altes Tagebuch. Es erzählt die Geschichte der jungen Kaufmannstochter Marie Steinbach aus Linz, die in den Zwanzigerjahren zur Sommerfrische aufs Land geschickt wurde. Dort lernte sie Jakob kennen, der beim Fluss eine Perlenzucht betrieb.
Matheas Interesse ist geweckt. Doch die Aufzeichnungen sind lückenhaft, und sie reist ins Tal der Großen Mühl, um vor Ort zu recherchieren. Hier trifft sie auf den attraktiven Naturschützer Paul, der ihr den Schatz der heimischen Flüsse näherbringt und mehr über die Hintergründe der Perlenzucht weiß. Finden sie gemeinsam auch die Antworten, die das Tagebuch nicht preisgeben will? Und wie hängen Maries Erlebnisse mit Matheas eigener Familiengeschichte zusammen?
Melanie Lindorfer
Für meine Eltern
Braune Perlen sind von geringer Bedeutung. Sie gelten als unreif und minderwertig, da sie nicht von Perlmutterschichten umhüllt sind und deshalb des schönen Glanzes und Lüsters entbehren, der gemeinhin den Reiz dieser Schmuckstücke ausmacht.
Aus dem Tagebuch der Marie Steinbach
Linz an der Donau, Ende Juni 1999
Ein lautes, ungeniertes Gähnen ließ Mathea den Vortrag über die Meisterwerke der Renaissance mit gehobener Braue unterbrechen. Dem Kichern, das in der Klasse daraufhin laut geworden war, schenkte sie keine Beachtung. Ihr Blick wanderte ohne Umschweife in die letzte Reihe. Mittlerer Platz. David.
Er war der Hahn im Korb in einem Stall von Mädchen, die mit ihren sechzehn Jahren kaum der Pubertät entsprungen waren. Mit Anfang dreißig fühlte sich Mathea Faber inmitten ihrer Schüler oft so, als stamme sie selbst aus einem anderen Jahrhundert. Dabei hatte alles vielversprechend begonnen: In den ersten Stunden mit ihrer Klasse hatten die Jugendlichen sowohl beachtliches Interesse für die neue Lehrerin an der Schule aufgebracht als auch für den Stoff, den Mathea mit großer Begeisterung zu vermitteln versuchte. Die anfängliche Neugier war allerdings schnell abgeebbt, nachdem sie Davids völlig absurde Schmeicheleien mit einem Konter abgetan hatte, der ihm das frivole Grinsen im Gesicht hatte gefrieren lassen. Seither war sie bei ihm unten durch – wie auch beim Rest der Klasse.
Sie sandte ihm einen strengen Blick, den er dreist fixierte. Die Provokation weckte Rachegelüste in ihr, die genauso lächerlich waren wie sein Benehmen, trotzdem wollte sie sich von dem Bengel nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Wo käme sie denn da hin?
Gemessenen Schrittes durchquerte sie den Mittelgang und fing einen Zettel ab, den ein Mädchen aus der Vorderreihe dem Jungen gerade zustecken wollte.
»Dann wollen wir mal sehen, was dich hier so langweilt, David«, bemerkte sie und machte Anstalten, das Papier auseinanderzufalten. Ihr entging nicht, wie der Zettelschreiberin die Röte ins Gesicht schoss. Beschämt sank diese auf dem Stuhl zusammen. Das genügte Mathea als Lektion. Mit Nachdruck legte sie das Briefchen vor das Mädchen auf den Tisch und achtete auf einen gelassenen Ton. »Das heb dir für die Pause auf.«
Das Mädchen schielte nach oben und schluckte hart. Mathea wandte sich von ihr ab, setzte sich wieder an ihr Pult und ruhte sich für einen Moment auf ihrem Triumph aus, ehe sie nach einem gedämpften Schnaufen die nächste Overheadfolie aus der Hülle zog. Ihre Hand fand blind den Umlenkspiegel des Projektors und klappte ihn zu. Mit geübten Griffen tauschte sie die Folien aus, bevor sie die Klappe wieder öffnete und die Projektion auf der Leinwand ausrichtete.
»Hier seht ihr eines der berühmtesten Werke des italienischen Malers Sandro Botticelli. Die Geburt der Venus. Es handelt sich dabei um ein Auftragswerk für seinen Mäzen Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici. Die Inspiration für das Gemälde geht vermutlich auf eine Erzählung aus der griechischen Mythologie zurück. Aphrodite, wie die Göttin in Griechenland heißt, wurde aus einer Muschel geboren. Diese Geschichte diente als Sinnbild für das Mysterium, wie Gott die Welt mit Schönheit segnete.«
»Sie ist heiß«, rief David dazwischen, was Mathea nicht sonderlich überraschte. Des Zanks überdrüssig, zog sie einen Mundwinkel an und wartete, bis das Kichern abklang. Doch bevor das der Fall war, läutete das blecherne Schrillen der Glocke am Gang die Pause ein. Die Schüler rafften ihre Sachen zusammen, als handele es sich um einen Bombenalarm, Stühle schnellten polternd nach hinten, und die ersten Mädchen strebten zum Ausgang.
Mathea erhob die Stimme gegen den Lärm und rief ihnen nach. »Vergesst beim nächsten Mal nicht das Geld für den Eintritt in die Galerie!«
Eine Woche später war es Mathea mit dem Besuch der Ausstellung gelungen, das Schuljahr mit dieser Klasse zu einem versöhnlichen Abschluss zu bringen. Sogar David hatte ihr schöne Ferien gewünscht, und sie hatte sich bei dem Gedanken, die neun Wochen würden ihn womöglich reifen lassen, mit einem strahlenden Lächeln von ihm verabschiedet. Aber jetzt musste sie sich beeilen. Ein paar Einkäufe erledigen und dann darauf hoffen, dass ihr mangelndes Geschick im Hantieren mit Pfannen und Kochtöpfen nicht in einem Fiasko endete wie beim letzten Versuch, Raffael mit einem schönen Essen zu überraschen.
Diesmal sollte es besser gelingen. Denn sie beabsichtigte, damit einen Streit beizulegen, der, obwohl er Tage zurücklag, noch immer zwischen ihnen brodelte. Im Grunde schwelte das Thema bereits seit längerer Zeit unter der Oberfläche und loderte gelegentlich auf. Diesmal zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, denn Raffael würde heute Abend zu einer Reise aufbrechen, die ihn den ganzen Sommer lang ins Ausland führte. Mit seiner Jazzband würde er durch unterschiedliche europäische Städte touren, kleinere Auftritte absolvieren und dazwischen etliche Studioeinheiten einschieben, um an einem neuen, vom Elektro-Swing dominierten Album zu feilen. Für Raffael war die Band ein lukrativer Nebenerwerb zu seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Orchestermusiker – was Mathea von ihrer Kunst nicht behaupten konnte.
Bei der Wohnung angelangt, hob sie die Zeitung von der Fußmatte auf, klemmte sie sich unter die Achsel und versuchte, mit Einkaufstaschen beladen, den Schlüssel im Loch zu drehen. Ein Salatkopf purzelte aus der Tasche und landete vor ihren Füßen. Sie stieg darüber hinweg, drückte die Tür auf und schob sich durch den Spalt. Endlich konnte sie ablegen.
Mit Pumpbewegungen lockerte sie die verkrampften Finger. Die Riemen der schweren Stoffbeutel hatten Striemen auf ihren Handflächen hinterlassen, daneben zeichneten sich schwach verwischte Farbspuren ab. Die dunklen Töne waren immer am schwersten abzubekommen. Ob es sich da überhaupt lohnte, Nagellack aufzutragen? Vermutlich fehlte ihr am Ende ohnehin die Zeit dafür.
Sie mühte sich weiter in die Küche, bückte sich, um das Fleisch im Kühlschrank zu verstauen, und griff schon nach der Tür, als ihr Blick auf einer hastig gekritzelten Notiz hängen blieb.
Chérie, ich bin schon früher los. Alex hat angeboten, mich mitzunehmen, wollte aber schon zeitiger weg. Ich rufe dich an, sobald ich in Frankfurt angekommen bin.
Ich hoffe, du genießt die Ferien. Raffael
Enttäuscht ließ Mathea die Hand vom Griff des Kühlschranks sinken. Ihr Blick wanderte auf die Säcke mit Lebensmitteln zu ihren Füßen.
Er wollte sie schmoren lassen! Dafür, dass sie das Tabuthema erneut angeschnitten hatte.
»Fängst du wieder davon an? Ich will keine Kinder mehr, darüber haben wir schon hundertmal diskutiert. Für mich ist die Sache abgeschlossen.«
Kein Wunder, dachte Mathea grimmig. Immerhin war er bereits Vater von einem zehnjährigen Sohn. Sammy war ein Sonnenschein, und Mathea hatte ihn ins Herz geschlossen, obwohl er nur alle paar Wochen zu Besuch kam. Der Junge lebte mit seiner Mutter in einer anderen Stadt.
Für Mathea war das nie ein Problem gewesen. Auch nicht, als sie und Raffael einander vor fünf Jahren kennengelernt hatten. Damals hatte für sie der Wunsch nach der Gründung einer Familie lediglich als vages Ziel existiert. Ebenso vage hatte sich auch Raffael stets dazu geäußert, sodass sie den Eindruck gewonnen hatte, ein weiteres Kind läge für ihn im Bereich des Möglichen. Schließlich gab es für Männer diesbezüglich kein biologisches Ablaufdatum. Dennoch hatte er sich dagegen entschieden. Mathea war noch nicht bereit, das zu akzeptieren.
Sie seufzte und betrachtete das Päckchen in ihrer Hand. »Dann eben heute kein Filet Mignon.« Der Appetit darauf war ihr ohnehin vergangen. Trotzdem zwang sie sich, eine Kleinigkeit zu essen. Dazu holte sie den abtrünnigen Eisbergsalat aus dem Treppenhaus, ließ Wasser in die Spüle und brach ihn in grobe Stücke, die nun an der Oberfläche dümpelten wie seine Namensgeber. Während sie die Hände ins kalte Wasser tauchte, wanderten ihre Gedanken erneut zu Raffael, bis ein leises Tröpfeln ihre Aufmerksamkeit einforderte. Sie hielt inne und lauschte genauer hin. In einer bösen Vorahnung öffnete sie den Unterschrank, in dem sich bereits eine Pfütze gebildet hatte.
»Verdammt!«, schimpfte sie. »Immer alles auf einmal.«
Murrend begab sie sich auf die Knie und tastete sich am kühlen Hals des Abflusses entlang nach unten, um das Leck zu verorten. Vermutlich musste sie nur einmal alles auseinanderschrauben und wieder richtig zusammensetzen. Das wäre zu schaffen, schließlich war sie geschickt mit den Händen.
Weil der Ärmel ihrer halb transparenten Bluse, kaum hochgekrempelt, wieder nach unten rutschte, zog sie diese kurzerhand aus und warf sie auf den orangefarbenen Schalensessel beim Esstisch – die einzige Ablagefläche, die nicht vollkommen zugestellt war. Raffael hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Reste seines Frühstücks abzuräumen. Oder das Mittagessen. Von Fett triefende Take-away-Schachteln begruben die Kochzeile unter sich, und auch in jeder anderen Ecke des Raums wartete eine seiner Hinterlassenschaften darauf, von ihr aufgehoben und an Ort und Stelle gebracht zu werden. Darum würde sie sich später kümmern, jetzt galt es erst einmal, einen Wasserschaden zu verhindern.
Mathea positionierte einen Eimer unter den Rohren, aber das Verbindungsstück ließ sich von ihren Händen nicht zum Nachlassen bewegen. Eine Rohrzange musste her.
Mathea zog den Kopf unter der Spüle hervor, rückte zurück, bis sie auf den Fersen zu sitzen kam, und betrachtete ihr unvollendetes Werk.
Sicher wäre zwischen den Staffeleien, Farbtöpfen und Leinwänden, die im Kellerabteil lagerten, irgendwo der verschollene Werkzeugkasten zu finden, allerdings war ihr im Moment mehr nach der tröstenden Gesellschaft ihrer Mutter, die ihr sicher gern mit allem möglichen Gerät aushelfen würde. Nicht, dass Mathea einen Vorwand gebraucht hätte, um dort aufzukreuzen, jedoch würde das leckende Abflussrohr immerhin die bohrenden Fragen ein wenig länger hinauszögern, die ihrer Mutter gewiss auf der Zunge brannten.
»Muss er dich so lange allein lassen? Warum nimmt er dich nicht einfach mit auf Tournee? Immerhin hast du Ferien«, beanstandete Rita, während sie eine Wespe vom Rand ihres Früchtebechers verscheuchte. Über ihrer Oberlippe hatten sich feine Schweißperlen gebildet, und das Netz ihres Sonnenhuts warf ein dunkles Muster auf ihr Gesicht.
Mathea stellte das Bein auf den Gartensessel und ließ das Eis, das mittlerweile zu rosa-marmorierter Sahne zerronnen war, von ihrem Löffel zurück in die Schale mit den bunten Cocktailfrüchten tröpfeln. Sie nahm eine der künstlich-roten Kirschen auf und betrachtete sie, während sie antwortete.
»Mama, du machst dir unnötig Gedanken. Raffael und ich haben das besprochen. Ein bisschen Freiraum schadet nicht. Wir sind eben Künstler, und Künstler brauchen manchmal Zeit für sich. Zeit, um uns voll und ganz der kreativen Arbeit zu widmen.«
Rita brummte. »Wenn du meinst. Ich kann es trotzdem nicht verstehen.«
»Das musst du ja auch nicht. Es reicht, wenn ich ihn verstehe. Ich schaue dann mal nach der Rohrzange. Nicht, dass der Eimer unter der Spüle noch überläuft.«
Enttäuschung machte sich auf dem Gesicht ihrer Mutter breit, sie seufzte gedehnt und griff nach Matheas Eisbecher, um ihn mit nach drinnen zu nehmen. »Dann packe ich dir zumindest noch ein Stück Kuchen ein. Kommst du am Sonntag zum Essen?«
Mathea stand auf. »Sehr gern sogar. Und dann bringe ich mehr Zeit mit, damit wir wieder einmal in Ruhe plaudern können, versprochen.«
»Das will ich aber hoffen«, antwortete Rita trotzig und rupfte am Ausschnitt ihres Spaghettiträgerkleids, das dem schweißnassen Dekolleté anhaftete wie eine zweite Haut.
Nachdem ihre Mutter im Haus verschwunden war, schob Mathea das Garagentor auf, wobei sie sich für einen letzten Schubs nach oben recken musste. Die Sonne flutete den vollgepferchten Raum, der größtenteils vom alten Mercedes ihres Vaters eingenommen wurde. Seit dieser vor acht Jahren an Prostatakrebs verstorben war, hatte der Wagen Rost und Staub angesetzt, weil sich Matheas Mutter nie durchgerungen hatte, doch noch den Führerschein zu machen, und das Auto ansonsten nur einmal im Jahr bewegt wurde, wenn die jährliche Überprüfung fällig wurde. Es war Matheas Aufgabe, den Mercedes in die Werkstatt zu fahren.
Rita bestand darauf, und Mathea hatte noch nie den Versuch gewagt, es ihr auszureden. Sie brachte es einfach nicht übers Herz. Obwohl es sie jedes Mal bedrückte, wie sehr ihre Mutter den Vater offensichtlich immer noch vermisste, da sie ihm diesen Dienst sogar noch weit über den Tod hinaus erwies.
»Also gut. Wo versteckst du dich?«, murmelte Mathea mit Blick auf die Werkbank, vor der sich eine schier unüberwindbare Barriere aus gestapelten Kartons erhob. Sie ging näher und stieß mit der Schuhspitze gegen einen davon. Damit sie an das Werkzeug heranreichte, musste sie sich zunächst den Weg bahnen. Bereits der erste Karton entglitt ihren Händen, weil sie sein Gewicht unterschätzt hatte, und krachte auf den darunterliegenden, wobei er eine tiefe Delle schlug.
»Mist!«, entfuhr es Mathea. Hoffentlich war nichts kaputtgegangen. Erneut hievte sie den Karton zur Seite und stellte ihn breitbeinig auf den Boden, bevor sie sich der versehrten Schachtel widmete. Vorsichtig zog sie das Klebeband ab, das sich durch den Aufprall schon teilweise gelöst hatte, und klappte die Einschläge auf.
Ordner über Ordner, reiner Bürokram auf den ersten Blick. Ein enttäuschender Fund, für jemanden, der es gewohnt war, nach alten Schätzen zu graben – in Matheas Fall Urkunden, Handschriften und alle möglichen anderen Zeitdokumente, die als Leinwand für ihre Kunst taugten. Mehr noch, die ihre Arbeit inspirierten. Der markante Schwung einer Unterschrift, unvollständige Stempelabdrücke oder rätselhafte Randnotizen – alles davon konnte einen Funken bei Mathea entfachen, der sie anfeuerte, bis ein neues Werk vollendet war.
Sie hob einen der Ordner aus dem Karton. Rechnungen, die Krönung der Spannung. Da reizte sie das leckende Rohr in der heimischen Küche bei Weitem mehr. Mit dem Vorsatz, sich endlich darum zu kümmern, legte sie ihn zurück zu den anderen. Und stockte.
In dem schmalen Spalt, der zwischen Seitenwand und Inhalt verblieb, schimmerte es golden. Mathea ließ ihre Finger hineingleiten und ertastete ein kleines Buch. Eilig schaffte sie alles Hinderliche beiseite und beförderte den Fund ans Tageslicht. Eine in Leinen gebundene Kladde, die von Ornamentbordüren geziert wurde, ansonsten aber recht mitgenommen wirkte. Der Einband war am Rücken aufgebrochen und ausgefranst, und die Ränder der Seiten schlugen Wellen. Ein einzelnes Wort stand auf dem Etikett mitten auf dem Umschlagdeckel.
Marie.
»Seit wann, bitte schön, haben wir die Rohrzange in der Garage?«, rief ihre Mutter, die allerdings noch nicht zu sehen war. »Die liegt doch im Heizungskeller. In der alten Kommode.« Eilig versteckte Mathea das Tagebuch hinter ihrem Rücken.
»Ach, deshalb kann ich sie nicht finden«, gab sie, Erleuchtung heuchelnd, zurück. »Daran hab ich echt nicht mehr gedacht. Aber weißt du, was mir aufgefallen ist? Die Prüfplakette von Papas Mercedes läuft bald ab. Ich könnte den Wagen mitnehmen, dann ist es erledigt.«
Ihre Mutter musterte sie skeptisch, dann wurden ihre Züge weich. »Lieb, dass du dran denkst. Ja, das wäre nicht schlecht. Dann kannst du ihn mir nächsten Sonntag wiederbringen.«
Das Atelier in ihrer Altbauwohnung war seit ihrem Einzug vor zwei Jahren Matheas liebster Rückzugsort geworden. Damals hatten sie deswegen auf ein geräumiges Wohnzimmer verzichtet, immerhin widmeten sie und Raffael ohnehin den größten Teil ihrer Freizeit der Musik und Kunst. Mathea ließ den Blick über die gerahmten Bilder an den hohen Wänden gleiten. Es waren nur drei. Eine kleine Auswahl ihres Schaffens.
Fein geschwungene Handschriften bildeten eine Symbiose mit ihrer reduzierten Malerei – eine Melange aus Tuschezeichnung und Aquarell –, die jeweils im Kontext des zugrunde liegenden Dokuments stand. Der Prozess ihres Entstehens war dabei kein bloßes Übermalen, sondern gewissermaßen ein Ergründen.
Tatsächlich entsprang Matheas Kunst nur äußerst selten einem Akt der Impulsivität. Noch weniger war sie ein Produkt blinder Schöpferwut. Ihren Arbeiten gingen zumeist intensive Nachforschungen voraus. Ehe sie anfangen konnte und lange vor dem Moment, ab dem es kein Halten mehr gab, musste sie versuchen, alles über die Hintergründe der Dokumente in Erfahrung zu bringen, was ihr anhand des Materials, das ihr zur Verfügung stand, möglich war. Manchmal durchforstete sie erst sämtliche Kisten aus Nachlässen. Mitunter wurden ihr diese von Kulturinstitutionen vererbt, wenn die Zeitzeugnisse für diese nicht von Belang waren, weil sie nicht über eine historisch bedeutsame Persönlichkeit Auskunft gaben, sondern nur über das Leben eines einfachen Menschen. Der Platz in den Archiven war eben auch nur begrenzt.
Raffael hatte dafür nur Kopfschütteln übrig.
»Was du immer für einen Aufwand betreibst! Wozu die ganze Mühe, wenn du es am Ende doch nur verschenkst?« Er spielte darauf an, dass sie ihrer Freundin Hanna einige ihrer Bilder als Dekoration für ihr neues Café geschenkt hatte. »Wenn du erst mal in meinem Alter bist, wirst du erkennen, dass dich dein Idealismus nirgendwo hinbringt. Er bringt dir weder Geld noch Ansehen, aber dir scheint ja ein feuchter Händedruck als Dank zu genügen.«
Natürlich hätte Mathea Gegenargumente bemühen können, aber sie hatte es sich verkniffen.
»Zu schade, dass du nicht noch einmal so jung sein kannst wie ich«, hatte sie ihn stattdessen geneckt und den vierzigjährigen Besserwisser herausfordernd angefunkelt, ein siegessicheres Schmunzeln auf den Lippen. Daraufhin hatte er sie mit einer Leidenschaft, die nicht so recht zu seinen starren Ansichten passen wollte, überrumpelt und sie geküsst. Sie hatten eine Sauerei veranstaltet, weil sie einen der Farbtöpfe, die sie umringten, in ihrem Eifer umgestoßen hatten. Der Fleck war immer noch da.
Mathea lächelte wehmütig. Es gab auch diese verbindenden Momente zwischen ihnen. Wären sie sich doch ansonsten ebenso einig!
Sie ging auf die Wand zu, nahm eines der Bilder ab und lehnte es zu den vielen anderen, die darunter lagerten. Aus Platzmangel übereinandergeschichtet, warteten bestimmt zwanzig Unikate auf den Moment, in dem ihr Schattendasein ein Ende hätte und sie endlich das Licht der Öffentlichkeit erblickten. Der Rest schlummerte im Keller. Doch noch war Mathea nicht so weit.
Es fehlte das Bindeglied, das übergeordnete Thema einer ersten eigenen Ausstellung.
Um diesem auf den Grund zu kommen, wählte sie gewohnheitsmäßig – wie jede Woche – ein weiteres Stück aus ihrem Fundus aus und hing es an den frei gewordenen Platz. Es zeigte den Grundriss einer Jugendstilvilla, die einmal in Matheas Nachbarschaft gestanden hatte und inzwischen abgerissen und durch einen modernen Architektenbau ersetzt worden war. Das ursprüngliche Gebäude, das sie bei ihren Spaziergängen immer zum Träumen verleitet hatte, war nun in stilisierter Form auf dem Plan verewigt. Eine konservierte Erinnerung, die sie mit anderen teilen wollte.
Sie seufzte. Leider hatte ihr die lieb gewonnene Routine bisher zu keiner Einsicht verholfen. Und gerade war sie viel zu unkonzentriert, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.
Die Präsenz des Notizbuchs, das sie beiläufig auf ihrem Schreibtisch abgelegt hatte, war nicht zu leugnen. Wie ein stiller Beobachter im Nacken, von dem eine unheimliche Sogwirkung ausging. Eine Verlockung und auch ein stiller Tadel – als würde es sie stellvertretend für ihre Mutter rügen, dass sie es ohne zu fragen aus der Garage entwendet hatte. Aber was hatte es dort überhaupt zu suchen? Wer war diese Marie? Und in welchem Verhältnis stand sie zu ihrer Familie?
Grübelnd griff Mathea nach dem Notizbuch und ließ den Daumen über die raue Textur des Leineneinbands streichen. Ein erstes Vertrautmachen, ein Zeichen der Wertschätzung. Sollte sie es wagen? Einen Blick riskieren? Sie wollte nicht in die Privatsphäre ihrer Mutter eindringen und hatte sich geschworen, es bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zurückzubringen. Kommenden Sonntag. Aber es machte sie verrückt, nicht zu erfahren, was darin geschrieben stand. Ihr Daumen glitt über die Handschrift auf dem Etikett. Marie – nein, der Name sagte ihr beim besten Willen nichts. Demzufolge würde sie gegenüber ihrer Mutter, aller Wahrscheinlichkeit nach, keine Grenze überschreiten, wenn sie kurz die Nase hineinsteckte. Nur, um ein paar Zeilen zu lesen. Ein paar wenige. Im nächsten Moment schlug sie die Kladde auf, wobei das feste Papier auf der Innenseite des Umschlags knackte.
Wie erwartet, handelte es sich dabei um ein Tagebuch. Es bestätigte sich auch, wovon Mathea insgeheim ausgegangen war: Intime Details über das Leben ihrer Mutter würde es ihr bestimmt keine liefern. Denn der erste Eintrag datierte auf den 29. Juli 1927 und war somit lange vor Ritas Geburt verfasst worden.
Liebes Tagebuch,
es erscheint mir absurd, dass gerade ich diese Worte schreibe. Ein Tagebuch zu führen kam mir stets als vergeudete Zeit vor. Als ein Zeitvertreib, dem nur Langweiler frönen, die nichts Besseres mit ihrem Leben anzufangen wissen. Oder selbstverliebte Schwätzer, die sich am eigenen Wort ergötzen, als wäre es erlesener Wein. Aber nun, da sich die Lok schnaubend den Berg hinaufquält und es mir an anderweitiger Beschäftigung oder gar einem geistreichen Gesprächspartner fehlt, will ich es notgedrungen auf einen Versuch ankommen lassen.
Das Ziel meiner Reise ist ein verschlafenes Nest in der Heimat meiner Mutter, das als mein Exil auserwählt wurde. »Wir schicken Marie auf Sommerfrische.« Diesen Vorwand haben sich meine Eltern für die Geschäftspartner meines Vaters und deren werte Gattinnen zurechtgelegt, aber in Wirklichkeit wollen sie mich ruhigstellen. Sie haben Angst, ich könnte ihrem Ansehen schaden. Und ich kann es immer noch nicht verstehen.
Rechtfertigt das Festhalten an meiner Absicht tatsächlich diese strenge Strafe? Gut, ich habe mein Vorhaben, Ärztin zu werden, nicht nur geäußert. Ich habe es kundgetan, es verteidigt, darauf beharrt. Dabei bin ich zugegebenermaßen übers Ziel hinausgeschossen.
Und so bin ich hier gelandet: im Tal der Großen Mühl.
Ich sehe schon das Kloster in Schlägl, also erreiche ich bald die Endstation.
Wünsch mir Glück! Ich kann es gebrauchen.
Linz an der Donau, Ende Juni 1927
Marie unterdrückte einen Fluch, als die lange Halskette ihrem Ziehen und Zerren nachgab und einige lose gewordene Perlen in ihren Schoß kullerten. Hastig warf sie einen Blick zu ihren Sitznachbarn an der Tafel, die glücklicherweise nichts von ihrem Malheur mitbekommen hatten, da mit dem Vizepräsidenten der Handelskammer schon der nächste Festredner ihre Aufmerksamkeit beanspruchte. Sie hingegen war der langen Ansprachen anlässlich des hundertjährigen Jubiläums einer altrenommierten ortsansässigen Papierwarenfabrik, zu dem sie ihren Vater begleitet hatte, längst überdrüssig geworden. Die überschwänglichen Ehrerbietungen hatten sich ob ihrer Gleichförmigkeit und Wiederholung abgenutzt, weshalb sie nach einiger Zeit gedanklich abgeschweift war. Sie hatte die Ölgemälde studiert, dem der prunkvolle Bildersaal des Kaufmännischen Vereinshauses seinen Namen verdankte und mit ihrer Kette gespielt. Immerfort hatte sie diese um ihre Fingerknöchel gewunden und war anschließend dazu übergegangen, sie zwischen den Falten ihres Plisseekleides zu kunstvollen Ornamenten zu arrangieren. Dabei hatte sich allerdings das Band verheddert und war beim Versuch, das Knäuel zu entwirren, gerissen.
Ihre Mutter würde darüber wenig erfreut sein, zumal Marie das Schmuckstück erst zwei Tage zuvor als Geschenk zu ihrer Reifeprüfung erhalten hatte. Dabei war es nur Zierrat – und nichts anderes war sie selbst an diesem nicht enden wollenden Abend. Hübsch anzusehen, doch im Grunde so überflüssig wie die Perlenkette, deren Fehlen niemand bemerken würde, sobald Marie sie abstreifte.
Die Gelegenheit dazu war gekommen, als erneut Applaus aufbrandete und sich die Menschen klatschend erhoben, weil der offizielle Teil der Veranstaltung für beendet erklärt worden war. Marie ließ die Kette in ihrem Täschchen verschwinden und sah sich nach ihrem Vater um, der weiter vorn im Saal bei den Vertretern aus Industrie und Wirtschaft und den geladenen Mitgliedern des Linzer Bürgertisches gesessen hatte. Als fähiger Kaufmann genoss Berthold Steinbach in diesen Kreisen hohes Ansehen. Da seine Gattin in den letzten Tagen unter ihrer Migräne sehr gelitten hatte, war er an seine Tochter herangetreten und hatte sie gebeten, ihm bei dem offiziellen Anlass Gesellschaft zu leisten. Marie hatte nach kurzem Zögern eingewilligt, allerdings nicht ohne Hintergedanken: Denn auch ihrerseits gab es ein Anliegen, von dem sie ihren Vater unterrichten musste. Eines, dessen Erfüllung einzig und allein von seiner Gunst abhing. Sie würde also Hände schütteln und ihr schönstes Lächeln bemühen, bis ihr Vater sie entließ, um mit seinen Kollegen wichtige geschäftliche Angelegenheiten zu diskutieren.
Da er aber immer noch in ein Gespräch verwickelt war, beschloss sie, kurz nach draußen zu gehen, um auf dem Balkon frische Luft zu schnappen. Sie entschuldigte sich bei ihren Sitznachbarn und strebte, begleitet von den Klängen einer munteren Tanzweise, mit der die Tafelmusik den vergnüglichen Teil des Abends einleitete, Richtung Ausgang, als ihr von hinten jemand nachrief.
»Entschuldigen Sie, Fräulein! Ich glaube, Sie haben da etwas verloren.«
Marie wandte sich um, und sah einen jungen, in einen schicken Anzug gekleideten Mann auf sich zukommen. Gewiss war er kein Arbeiter aus der Belegschaft der Fabrik. Gehörte er womöglich zum kaufmännischen Personal?
Der Mann schloss in wenigen flinken Schritten zu ihr auf und tauchte erst in ihren Blick ein, ehe er seinen Fund offenbarte. Zwischen den Fingerspitzen balancierte er eine einzelne, schimmernde Perle. »Das ist doch Ihre?«
Marie konnte ihre Verblüffung nicht verbergen. »Ja … Aber woher wissen Sie …?« Unwillkürlich tastete sie an ihr nacktes Schlüsselbein.
Der Mann nickte in Richtung eines der großen Wandspiegel. »Mir ist aufgefallen, dass Sie sich damit die Zeit vertrieben haben.« In einem Anflug von Verlegenheit neigte er den Kopf. »Verzeihen Sie, dass ich Sie so schamlos beobachtet habe. Aber diese vielen Reden …«
Marie lächelte. Da hatte sie wohl einen Gleichgesinnten gefunden. »Nun ja. Dass Sie die hier für mich aufgelesen haben, war jedenfalls sehr aufmerksam von Ihnen. Vielen Dank.«
Sie streckte die Hand aus, um die Perle entgegenzunehmen, aber wider Erwarten verschloss der Mann sie wieder in seiner Faust und deutete eine Verbeugung an.
»Darf ich mich erst bei Ihnen vorstellen? Mein Name ist Julius Hartlieb. Ich bin der Neffe vom Spediteur Hartlieb. Mein Onkel Gustav ist mit Ihrem Vater befreundet.«
»Tatsächlich?« Marie hob die Brauen, während sie nach kurzem Zögern die Hand ergriff, die er ihr dargeboten hatte. »Dann erübrigt sich die Vorstellung meinerseits dem Anschein nach – da Sie ja schon wissen, wer ich bin. Trotzdem. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Herr Hartlieb.«
»Bitte, nennen Sie mich Julius. Ich bin ja nur ein paar Jahre älter als Sie, wenn ich mich nicht täusche.«
Marie nickte. Dabei glich sie seinen Eindruck automatisch mit ihrem eigenen ab. Acht, wenn nicht sogar zehn Jahre ergaben ihre Schätzung des Altersunterschieds. Die eleganten Wasserwellen, zu denen sie ihr blondes Haar heute gelegt hatte, ließen sie vermutlich reifer wirken. Schenkte man der Einschätzung ihrer Mutter Glauben, verliehen sie ihr eine sanfte Eleganz und Weiblichkeit, die kaum noch an das Schulmädchen erinnerten, das sie eben noch gewesen war. Ihren achtzehnten Geburtstag würde sie allerdings erst in ein paar Wochen feiern. Ob Herr Hartlieb – Julius – sich dessen bewusst war? Immerhin musste sie zugeben, dass er eine überaus ansehnliche Erscheinung besaß. Sein dunkles Haar trug er adrett nach hinten gekämmt, und sein Blick verriet eine gewisse Zielstrebigkeit, der er nun auch mit seinen Worten Ausdruck verlieh.
»Nun … Da Sie mich ja schon als unverschämten Zeitgenossen kennengelernt und geduldet haben, wage ich mich gleich an die nächste Frage. Darf ich Sie zum Tanzen auffordern? Bitte erweisen Sie mir diese Ehre, und wenn es nur drum sei, dieses Pfand hier auszulösen.« Mit einem Schmunzeln hielt er die Perle in die Luft.
Maries Blick folgte unbewusst seiner Bewegung, ehe sie den freimütigen Bittsteller einer genaueren Prüfung unterzog. Er hatte Charme, das stand außer Zweifel, und seine blitzenden Augen ließen auf reizvolle Gespräche hoffen – auf solche, die womöglich über reine Belanglosigkeiten hinausgingen und auch Maries Intellekt forderten. Andererseits … Konnte sie wirklich ausschließen, dass er nicht doch nur das unbedarfte Mädchen in ihr sah? Das herauszufinden, war sie eventuell bereit, jedoch wollte sie keinesfalls die Missgunst des Vaters auf sich ziehen. Dafür war das Begehren, das sie ihm schonend beibringen wollte, viel zu wichtig.
Ihr Vater war es nun auch, der sie aus der Verlegenheit, den jungen Mann abweisen zu müssen, befreite.
»Ah, da ist ja meine Marie.« Er trat hinter sie und drückte ihr die Schultern. »Hast du dich gut unterhalten, mein Kind?« Die Frage in den Raum geworfen, ließ er sie dennoch nicht zu Wort kommen, sondern wandte sich sogleich ihrem Gesprächspartner zu.
»Julius? Julius Hartlieb? Sie sind es doch? Ihr Onkel hat bereits anklingen lassen, dass Sie wieder in der Stadt sind. Es freut mich sehr, Sie hier anzutreffen. Gustav hatte ja nur Löbliches über Sie zu berichten …« Während er das sagte, ergriff er Julius’ Oberarm und schüttelte ihm ausgiebig die Hand.
»Die Freude ist ganz meinerseits, Herr Kommerzialrat. Ich hoffe, Ihr Eindruck von mir verkehrt sich nicht ins Gegenteil, wenn Sie erfahren, dass ich im Begriff war, Ihre Tochter zum Tanzen zu überreden. Um ehrlich zu sein, habe ich sie soeben deswegen bestochen.«
»Nun, was soll ich dazu denken? Sind Sie sicher, dass Sie sich mit der Juristerei dem richtigen Beruf verschrieben haben? Gemessen an Ihrem Vorgehen würde sich eine Karriere im Handel für Sie womöglich mehr rentieren.« Berthold Steinbach lachte schallend und setzte in seinem Überschwang noch eins hinzu, indem er dem Jüngeren beherzt auf den Rücken klopfte.
»Vater …«, tadelte ihn Marie, der sein Gehabe unangenehm war.
»Aber nicht doch, Liebes. Der junge Mann hier weiß doch, dass ich nur zu scherzen beliebe. Nicht wahr, Julius?«
»Gewiss.« Julius nickte ernst und warf anschließend einen amüsierten Blick zu Marie.
»Wie dem auch sei. Ich habe nichts gegen einen Tanz einzuwenden, wenn meine Tochter sich dafür begeistern lässt. Aber warum sollte sie auch nicht? Bestimmt bist du froh, Marie, weil nicht ich es bin, der diesen Gefallen einfordert. Meine Tochter ist nämlich der Ansicht, mir fehle es an Taktgefühl. Was sagt man dazu?« Der Vater ließ seine Worte verklingen und bot Julius damit gerade ausreichend Raum für ein ratloses Ächzen. Doch noch bevor dieser eine Beschwichtigung vorbringen konnte, fuhr Berthold Steinbach bereits fort. »Leider ist daran nichts zu rütteln, denn meine Tochter stimmt dahingehend – wie in so vielen anderen Dingen, die meine Person betreffen – mit ihrer Mutter überein. Also, nur zu! Mischt euch ins Getümmel. Viel Vergnügen!«
»Besten Dank, Herr Kommerzialrat«, erwiderte Julius und drehte seine Handfläche nach oben, was als Einladung für Marie gedacht war. Diese schickte erst noch einen bedeutsamen Blick zu ihrem Vater, der ihm zu verstehen geben sollte, dass er zwar nach ihrem Einverständnis gefragt, aber sie dennoch übergangen hatte. Ungeachtet dessen lächelte der Vater vergnügt und verabschiedete sich mit einer Geste, ehe er sich umdrehte und in der Menge verschwand.
In einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen über seine Arglosigkeit gegenüber Julius starrte Marie ihm nach, bis eine sanfte Berührung am Rücken ihre Aufmerksamkeit zurückforderte. »Wollen wir?«
Julius war ein galanter Tänzer, das ließ sich nicht abstreiten, trotzdem versteifte sich Maries Körper in seinen Armen, weshalb sie nicht gleich in einen harmonierenden Rhythmus fanden. Julius bemerkte ihre Anspannung und versuchte, die Situation aufzulockern.
»Sehen Sie das? Ist das nicht dieser Herr Götzer, der vorhin die Ehrenmedaille für seinen langjährigen Dienst in der Papierfabrik erhalten hat?« Julius unterbrach sich für die Dauer einer Drehung. »Alle Achtung, für seine zweiundsiebzig Jahre legt er aber eine ordentlich flotte Sohle aufs Parkett.«
Marie verrenkte den Kopf. Beim Anblick des rüstigen alten Herrn, dessen Eifer seine etwas ungelenken Bewegungen aufwog, kam sie nicht umhin zu lächeln. Endlich gelang es ihr, ihre Scheu abzuschütteln und das, was ihr an Routine im Tanz fehlte, durch einen Konter wettzumachen. »Wirklich beachtlich. Von ihm könnte sich so mancher Jungspund eine Scheibe abschneiden.«
Dicht an ihrem Ohr hörte Marie, wie Julius die Luft scharf einzog. »Touché, liebe Marie.« Er blieb stehen, weil die Musik zu spielen aufhörte. Seine Hand ruhte weiterhin auf ihrem Rücken. »Ich fürchte, Ihr Vater hat sich in mir geirrt, wenn ich mich bereits nach den ersten Schritten als ebenso miserabler Tänzer herausstelle, wie er es vorgibt zu sein. Aber was tut man nicht alles, um sich mit einem reizenden jungen Fräulein zu unterhalten.«
Wie um ihm einen Gefallen zu tun, schlug die Kapelle nun ein gemächliches Tempo an. Doch anstatt sich wieder in Position zu bringen, nahm er Marie ein Stück zur Seite, wo sie das Treiben auf der Tanzfläche nur noch beiläufig beobachteten.
»Ich fand es jedenfalls eine sehr schöne Geste, dass diesem Herrn Götzer so viel Anerkennung und Respekt gezollt wurde. Völlig zu Recht, wie ich finde. Achtundfünfzig Jahre ist er der Firma treu ergeben. So etwas kann man sich in der heutigen Zeit gar nicht mehr vorstellen.«
»Oh ja, da kann ich Ihnen nur beipflichten. Dieser Mann hat es sich allemal verdient. Was ich allerdings sehr schade finde, ist, dass der Schwester des Inhabers nicht die gleiche Wertschätzung zuteilwurde. Sie ist immerhin auch bereits zwanzig Jahre für das Unternehmen im Einsatz.«
»Wie kommen Sie zu diesem Schluss?« Er verschränkte die Arme. »Ihr wurde doch anlässlich des Jubiläums die Einzelprokura übertragen. Ist das nicht der Anerkennung genug? Ein Ritterschlag gewissermaßen.«
»Mag sein. Begeisterungsstürme hat dieser Akt allerdings nicht unbedingt ausgelöst, der Applaus klang sogar relativ verhalten. Ich habe die Jubelrufe vermisst, die Herrn Götzers Auftritt begleitet haben – die Pfiffe.«
»Sie dürfen aber nicht vergessen, weshalb der Mann tosenden Beifall geerntet hat. Er stammt aus den Reihen der Belegschaft, die heute immerhin den Gutteil des Publikums ausmacht. Außerdem hatte ich den Eindruck, es war der Dame äußerst unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen. Stellen Sie sich nur vor, es hätte tatsächlich Pfiffe gegeben. In einer solchen Bekundung hätte sie aller Wahrscheinlichkeit nach doch nur blanken Hohn vermutet. Und das lag nun sicher nicht in der Absicht der Männer.«
Marie nickte verhalten, denn in einem Punkt stimmte sie ihm zu. Auch ihr war aufgefallen, wie die Frau auf die Bühne gehuscht war und geradezu erleichtert wirkte, als der Rummel um ihre Person wieder vorbei war. Trotzdem war es ihr sauer aufgestoßen, wie lieblos dieser Teil der Ehrung abgefertigt worden war. Gut möglich, dass dahinter nichts als Rücksichtnahme auf den bescheidenen Charakter der Frau steckte. Andererseits … sollten sich nicht auch Frauen, vor Stolz strahlend, in der Bewunderung für ihre Tüchtigkeit sonnen dürfen – ohne sich im Umkehrschluss dafür zu schämen, diesen Platz für sich beansprucht zu haben?
Marie überlegte noch, wie sie ihren Gedanken am besten ausdrücken sollte, als von Julius Seite ein weiterer Einwand kam.
»Darüber hinaus finde ich den Umstand viel bedauerlicher, dass aufgrund des unermüdlichen Einsatzes für die Firma offenbar andere Dinge auf der Strecke geblieben sind.«
»Wie meinen Sie das?« Marie runzelte die Stirn.
»Ist Ihnen denn nicht aufgefallen, dass sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters mit »Fräulein« angesprochen wurde?«
»Doch, natürlich.«
»Dann wissen Sie ja, worauf ich hinauswill. Der Beruf hat ihr keine Zeit gelassen für einen Mann, eine eigene Familie. Denken Sie nicht, sie wird das eines Tages bereuen? Wenn sie es nicht bereits tut?«
Marie presste die Lippen aufeinander. Die Selbstverständlichkeit, mit der er über die Frau urteilte, weckte einen unterschwelligen Groll in ihr. Einen Mann hätte man unter diesen Umständen keinesfalls wegen seines Versäumnisses beanstandet. Freilich hielt sie mit ihrer Überlegung hinter dem Berg, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass Julius bei Marie Sympathiepunkte eingebüßt hatte.
»Nun ja, reden wir nicht mehr davon. Wollen wir es noch mal wagen? Ich verspreche, diesmal trete ich Ihnen nicht auf die Füße.« Wieder öffnete sich Julius Handfläche in der Erwartung, dass sie sich seiner Bitte fügen würde. Doch auf einmal verspürte Marie keine Lust mehr, sich von ihm über das Parkett dirigieren zu lassen.
»Ich denke, ich brauche eine kleine Pause. Das macht Ihnen doch nichts aus? Ich bin wirklich durstig.«
»Keineswegs, sofern das der Wahrheit entspricht und Sie mir nicht nur wegen meiner bescheidenen Vorstellung auf der Tanzfläche einen Korb geben.« Marie verneinte mit einem halbherzigen Lächeln.
»Kommen Sie. Ich begleite Sie zu Ihrem Vater.«
Sie machten Berthold Steinbach in einer Gruppe von Männern ausfindig, die sich am Rande des Saals angeregt unterhielten. Alles Herrschaften von Rang und Namen, darunter Regierungsrat Katzwendel, Herr Steurer, der das Linzer Handelsgremium an diesem Abend vertrat, und außerdem einige einflussreiche Kaufleute der Innenstadt.
»Da ist ja das werte Fräulein, von dem wir gerade sprachen!«, rief Gustav Hartlieb, als er sie erspähte, und winkte sie zu sich. Die übrigen Männer unterbrachen ihre Diskussion für eine flüchtige Begrüßung und steckten dann wieder die Köpfe zusammen. Julius’ Onkel dagegen nahm Marie regelrecht in Beschlag.
»Nun erzählen Sie doch, Marie! Ihr Vater platzt ja geradezu vor Stolz. Er hat uns eben berichtet, dass es heute noch einen Grund zu feiern gibt. Ich gratuliere Ihnen aufs Herzlichste zur bravourös gemeisterten Reifeprüfung. Darauf wollen wir anstoßen!« Er schickte sich an, ein Getränk zu ordern, hob dann aber einstweilen sein eigenes Glas an die Lippen. Kaum hatte er daran genippt, richtete er schon wieder das Wort an sie. »Ihr Vater hat uns außerdem verraten, dass Sie zu diesem Zweck auch eine Arbeit zu einem äußerst spannenden Thema verfasst haben.«
»Nicht nur das«, schaltete sich der Vater ein. »Der Direktor fand Maries Aufsatz überaus gelungen, weshalb sie ihn im Rahmen der Abschlussfeier vortragen durfte.«
»Nur Auszüge davon«, stellte Marie richtig. Den gefälligen Teil, hätte sie ergänzen mögen, und schluckte den Unmut, der plötzlich auf ihre Brust drückte, hinunter. Sie war so stolz auf ihre Leistung gewesen, erst recht als sie dazu auserwählt worden war, ihre Gedanken mit einem größeren Publikum zu teilen. Doch dann hatte sich herausgestellt, dass keineswegs wirkliches Interesse an ihren Ansichten bestand. Dem Direktor hatte wohl sehr daran gelegen, mit Marie eine Absolventin aus einem angesehenen Elternhaus als Aushängeschild zu präsentierten. Den kontroversen Ansätzen ihrer Arbeit, die Bezug auf schwierige gesellschaftliche Fragen nahmen, hatte er dagegen wenig abgewinnen können.
»Das ist ja interessant. Wie lautete denn das Thema?«, wollte nun auch Julius wissen, allerdings richtete er seine Frage nicht an Marie, sondern an ihren Vater.
»Das ist es ja gerade. Berthold weigert sich, es uns zu verraten!« Gustav bezog die anderen Männer mit ein, obwohl diese bereits ein Stück von ihrer Gruppe abgerückt waren und sich, ihren ernsten Mienen nach zu urteilen, mit solcherlei Banalitäten nicht weiter aufhalten würden.
»Er verlangt, dass wir selber draufkommen«, fuhr Gustav Hartlieb fort. »Aber bisher tappen wir noch im Dunkeln. Wir lagen alle daneben.«
»Julius, was ist mit Ihnen?«, fragte der Vater. »Wollen Sie sich an dem Rätsel versuchen?«
»Ein Rätsel? Nun gut … Warum nicht.« Sein Blick fand Maries, und er maß sie, als wollte er abschätzen, ob er ihr die Lösung auf diese Weise entlocken könnte.
»Wie ich es erwartet habe. Doch ich muss Sie warnen! Wenn Sie antworten, bedenken Sie dabei Folgendes: Wie Sie sich zu diesem Thema äußern, wird unweigerlich auch einiges über Sie selbst preisgeben …«
Julius lachte leise auf. »Eines muss ich Ihnen lassen, Herr Kommerzialrat! Sie verstehen es wirklich, für Spannung zu sorgen. Wie lautet denn nun das Rätsel?«
Ein beinahe spitzbübisches Schmunzeln ließ erkennen, wie sehr Berthold Steinbach seinen Vorteil genoss. »Dann passen Sie mal auf!« In der Absicht, seinen Worten Bedeutung zu verleihen, fuhr er betont langsam fort. »Eines ist es, worauf es ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei …« Er machte eine Pause. »Was meinen Sie, Julius? Welches ist dieses eine entscheidende Etwas?«
»Hm.« Julius rieb sich das Kinn. »Das ist in der Tat eine verfängliche Frage …« Er stützte die Hände in die Hüfte. »Ich kann mir wohl nicht sicher sein, aber ich vermute, es geht um den Intellekt, der uns Menschen von anderen Lebensformen unterscheidet. Um den Verstand – das Privileg unserer Art.«
»Falsch!« Berthold Steinbach lächelte zufrieden. »Unser Verstand zeichnet uns Menschen aus, da sind wir uns alle einig. Dennoch ist es nicht die Antwort, nach der wir suchen.«
Julius verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Stirn kraus. »Sondern?«
Berthold Steinbachs Blick glitt zu seiner Tochter. »Marie, bitte kläre die Männer auf.« Mit einem Nicken ermunterte er sie, ihr Wissen mit ihnen zu teilen.
Marie räusperte sich, ehe sie mit fester Stimme zu sprechen begann. »Die Ehrfurcht. Es ist die Ehrfurcht vor dem Leben, aus der wahrhaftig menschliches Handeln erwächst. Diese Auffassung von Ethik vertritt jedenfalls Albert Schweitzer. Die Auseinandersetzung mit seinem humanistischen Gedankengut war Teil meiner Arbeit.« Marie hatte sich intensiv mit dem Leben und Wirken des Mannes befasst, seine Autobiografie gewälzt, sie als sehr inspirierend empfunden, und auch sonst einiges über ihn in Erfahrung gebracht. Schweitzer war zunächst in Theologie und Philosophie promoviert worden und hatte daneben sein Orgelspiel perfektioniert, sich aber im Alter von dreißig Jahren dazu entschlossen, Medizin zu studieren. Danach war er nach Afrika gegangen und hatte dort, mitten im Urwald, ein Tropenhospital gegründet. Weil die Spendengelder nicht reichten, um die Einrichtung zu finanzieren, reiste er durch Europa, gab Orgelkonzerte und hielt Vorträge. Ein beeindruckender Mann, fand Marie. Vor allem, da er sich auch von Rückschlägen nicht von seinem Weg hatte abbringen lassen. Nicht von der Tatsache, dass die Franzosen ihn während des Krieges aufgrund seiner deutschen Staatsangehörigkeit verhafteten und in einem Lager internierten. Nicht von der Ruhr, die er sich dort eingefangen und die ihn sehr geschwächt hatte. Nein, er hatte nicht aufgegeben, sondern diese Zeit genutzt, um seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben zu entwickeln.
Doch Marie kam nicht dazu, darüber zu berichten, weil ihr Gustav Hartlieb ins Wort fiel.
»Grundgütiger! Da haben wir uns ja ordentlich verschätzt. Ich hoffe, Sie sehen es uns nach, mein liebes Fräulein. Ich fürchte, in moralischen Belangen sind unserlei Konsorten nicht gerade als Vorzeigeexemplare geeignet. Umso erfreulicher, dass Ihnen in der Schule bessere Sitten beigebracht wurden. Gerade für eine junge Dame wie Sie ist ein respektvoller Umgang mit den Mitmenschen sehr erstrebenswert. Nur weiter so. Berthold, du prahlst zu Recht mit deiner Tochter. Sie ist nicht nur klug, sondern absolut bezaubernd und wird ihrer Mutter von Tag zu Tag ähnlicher.«
Marie bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Julius sie unverwandt musterte, was in ihr Unbehagen auslöste. Nicht etwa, weil ihr seine Bewunderung zuwider war, sondern weil sie nicht einschätzen konnte, ob diese sich nicht doch nur in reinen Oberflächlichkeiten verlor. Viel zu oft war sie Zeuge davon geworden, wie die Freunde ihres Vaters der angenehmen Erscheinung einer Frau weitaus mehr Beachtung schenkten als ihrem Scharfsinn. Und zumindest Gustav Hartlieb schien davon keine Ausnahme zu bilden. Warum sonst hätte er das im Grunde überaus spannende Gesprächsthema so schnell beilegen sollen, um Marie anschließend doch wieder nur mit ihrer schönen Mutter in einen Topf zu werfen?
»Und was gedenken Sie nun zu tun, nachdem Ihre Ausbildung abgeschlossen ist? Wollen Sie sich ebenfalls im väterlichen Betrieb einbringen?«, fragte Julius, wobei sich ein leiser Triumph in Marie regte. Ihre Mundwinkel zuckten. Womöglich hatte sie ihn falsch eingeschätzt. Doch dann erinnerte sie sich an seine abfällige Bemerkung gegenüber der eben erst ernannten Prokuristin, die es ob ihres Pflichtbewusstseins verabsäumt hatte, eine eigene Familie zu gründen.
Was sollte sie auf seine Frage erwidern? Da Marie sich nicht so schnell zu einer Antwort durchringen konnte, fühlte sich Gustav dazu verleitet, seine Meinung einzubringen.
»Oh, das würde mir gefallen, wenn ich Sie dadurch öfter zu Gesicht bekäme, mein liebes Kind. Bei gewissen Dingen ist ihr Vater sicherlich gut damit beraten, Ihrem Urteil zu vertrauen. Bei der Auswahl bestimmter Güter des Sortiments, die für die werte Damenwelt von Belang sind, begibt sich unsereins … Wie soll man es am besten ausdrücken«, er kratzte sich die Stirn und lachte verlegen, »auf unsicheres Terrain. Wenn Sie wissen, was ich meine.«
Marie, die sich durch seine Anspielung herabgewürdigt fühlte, presste die Lippen zusammen. Sie öffnete den Mund, um zum Gegenschlag auszuholen, was der Vater aber mit einem Räuspern, hinter dem sich unverkennbar eine Warnung verbarg, unterband.
»Du lässt Fräulein Steinbach ja gar nicht zu Wort kommen, Onkel«, schaltete sich nun Julius ein. »Bestimmt hat sie ihre eigenen Vorstellungen, was das betrifft. Nicht wahr?«
Und ob. Das hatte sie. Und mittlerweile war sie es leid, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Sie fühlte sich gekränkt und konnte den Ärger darüber, wie hier über ihren Kopf hinweg über ihre Zukunft spekuliert wurde, nicht mehr länger zurückhalten. Sie hatte es satt, dass man sie ihres Geschlechtes wegen auf die trivialen Aspekte des Lebens beschränkte. Dem musste sie doch etwas entgegensetzen! Und wenn es nur der Wille war, aus diesem engen Korsett, in das man sie zwängen wollte, auszubrechen. Ganz gleich, ob sie ihren Vater damit brüskierte.
»In der Tat. Ich habe sogar eine sehr genaue Vorstellung davon, was ich in meinem Leben erreichen möchte!«
»Ach, wirklich?« Der Vater hob die Brauen. »Und was sollte das sein? Wenn dir an der Mitarbeit im Unternehmen liegt, habe ich davon noch nichts zu spüren bekommen.«
Er setzte zu einem Lachen an, das jedoch erstarb, als Maries stechender Blick in traf und sie mit fester Überzeugung ihren Entschluss kundtat. »Wenn du es genau wissen willst, Vater – ich möchte studieren.«
Berthold Steinbachs Mund klappte auf. »Du willst was?«
»Ich möchte studieren und Ärztin werden.«
Gustav Hartlieb räusperte sich. »Nun, was sagt man dazu? Das ist ja …«
»Du willst Medizin studieren?«, fuhr der Vater dazwischen.
Marie nickte. »Das will ich.«
»Und wann hattest du vor, mir das zu sagen?« Seine Stimme klang scharf und er schien kurz davor, sich zu vergessen. Seine Nasenflügel blähten sich, und sein Gesicht hatte eine ungesunde rote Farbe angenommen. Marie fühlte Panik in sich aufsteigen und versuchte, ihn zu beschwichtigen.
»Vater, die Leute drehen sich schon nach uns um.«
»Das ist mir so was von …«, brauste er auf, wurde aber von Julius’ Onkel durch eine Berührung am Arm unterbrochen.
»Mein Freund, jetzt beruhige dich! Bestimmt lässt das Mädchen mit sich reden. Es macht sich nur keine Vorstellungen davon, was es bedeutet, eine Ärztin zu sein.«
Bei diesen Worten konnte Marie nicht länger an sich halten. Wie kam er überhaupt dazu, sich ungefragt einzumischen?
»Natürlich tue ich das!«, zischte sie, mahnte sich aber wieder, ihren Zorn zu zügeln. Das Beben in ihrer Stimme. So beherrscht, wie es ihr in dieser Situation möglich war, fuhr sie fort. »Ich bin durchaus in der Lage, mir so etwas vorzustellen. Mehr noch: Ich weiß, dass ich es schaffen kann. Ich wüsste nicht, was mich daran hindern sollte.«
»Wenn du dich da nur nicht täuschst«, knurrte der Vater. »Wir sprechen morgen darüber. Es ist spät geworden. Deine Mutter wird sich fragen, wo du bleibst.«
Linz an der Donau, Anfang Juli 1927
Eine Woche war seit der Auseinandersetzung mit dem Vater vergangen, nach der er Marie aus der Gesellschaft hinaus kommandiert hatte wie ein unartiges Gör. Natürlich hatte Marie versucht, auf ihn einzureden. Dabei hatte sie allerdings kaum mit ihm Schritt halten können, während sie über die breite Marmortreppe hinunter zum Ausgang gehastet waren. Und genauso wenig war sie zu ihm durchgedrungen.
»Ich will nichts mehr davon hören! Ein Medizinstudium kommt nicht infrage und damit basta!«
Marie hatte in dieser Nacht noch lange wach gelegen und sich geärgert. Doch so oft sie auch auf ihr Kissen einschlug und so viele Tränen sie in ihrem Zorn vergoss, es änderte nichts daran, dass sie sich dieses Übel selbst zuzuschreiben hatte. Warum hatte sie sich nur dazu hinreißen lassen, diese Männer mit ihrem Ansinnen zu konfrontieren. Dumm war sie gewesen, unsäglich dumm! Ohne dieses unbedachte Vorgehen hätte sie gute Chancen gehabt, ihren Vater von ihren Zukunftsplänen zu überzeugen, da war sich Marie sicher. Aber jetzt?
Ihre hervorragenden Leistungen im Realgymnasium, die mit Auszeichnung bestandene Reifeprüfung – all das nutzte ihr nun rein gar nichts mehr, da sie ihren Vorteil verspielt hatte. Zu allem Überfluss hatte sich auch noch ihre Mutter auf die Seite des Vaters geschlagen und Marie für ihren Eigensinn und die Tatsache, dass sie ihren Vater vorgeführt hatte, gerügt.
Der wachsende Groll ließ Marie die Seiten der Frauenzeitschrift, die ihr ihre Freundin Charlotte vermacht hatte, immer heftiger umschlagen, als ein Klopfen für eine Unterbrechung sorgte. Die Haushälterin Fanny steckte erst den von einer Haube bedeckten Kopf in das Zimmer, ehe sie forsch eintrat. Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Fräulein Marie, wie können Sie hier drinnen Trübsal blasen, wo doch draußen das schönste Wetter auf Sie wartet?«, tadelte sie, wobei ihr der Staubwedel in ihrer Hand als Zeigestock diente. »Haben Sie heute überhaupt schon einmal aus dem Fenster geschaut?«
Marie zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder ihrem Magazin zu.
Soll man Kostüme tragen?, lautete der Titel auf dem nächsten Blatt. Sie rollte mit den Augen. Grundgütiger, gab es denn nichts Bedeutenderes, über das man schreiben konnte? In der Hoffnung, doch noch irgendetwas von Belang zu finden – einen Ratschlag, der ihr nutzte – schlug sie die Seiten um. Doch es wurde nicht besser. Du sollst schön sein, verlangte eine Rubrik in auffälligen Lettern, worunter ein Artikel über Entfettungskuren abgedruckt war. In jeden Haushalt gehört Gas … So ging es ewig weiter. Maries Frustration wuchs mit jeder Zeile, die sie überflog, war sie doch auf der Suche nach Antworten gewesen.
Vom Leitartikel des Heftes, der von der Gleichberechtigung der Geschlechter handelte und von einer gewissen Helene Granitsch verfasst worden war, hatte sich Marie sofort angesprochen gefühlt. Er hatte sie aber auch mit vielen Fragen zurückgelassen – und mit dem wachsenden Gefühl des eigenen Unvermögens. Denn die Autorin war mit der heutigen Staatsbürgerin hart ins Gericht gegangen. Obwohl diese per Gesetz dazu in die Lage versetzt würde, in alle Bereiche des öffentlichen Lebens einzudringen und in ihrem Sinne zu wirken, mache sie ihren Einfluss nicht geltend, hieß es dort etwa. Ob den Frauen überhaupt bewusst sei, dass sie im Staat de facto die Majorität bildeten? Als Beispiel fungierte die Hauptstadt Wien, wo der Anteil der auf den Wählerlisten verzeichneten weiblichen Personen den der Männer um 150.000 Stimmen überwog. Ähnliche Verhältnisse zeigten sich auch im übrigen Bundesgebiet: Ein Männermangel, der immer noch dem Krieg anzulasten sei. Allein, die Frauen machten nicht von ihrer Stimme Gebrauch. Sie ließen sich weiter unterdrücken, weil sie sich ihrer Kraft nicht bewusst werden könnten. Somit hätten sie es sich selbst zuzuschreiben, dass heute noch alles so sei wie es sei.
Aufgewühlt durch diese unverblümte Anklage, war Marie aufgesprungen und rastlos durchs Zimmer gewandert.
»Und was sollen wir dagegen tun?«, hatte sie gerufen und war dann erschrocken verstummt. Im Stillen hatte sie ihren Gedanken weitergeführt: Wie sollen wir unser Recht durchsetzen, wenn uns doch die Hände gebunden sind? Darüber schreibt sie nichts …
Da musste doch noch mehr stehen. Sie brauchte niemanden, der ihr die Missstände vor Augen führte, sondern jemanden, der ihr einen Ausweg aus dieser Sackgasse zeigte! Doch da war nichts. Nichts als unerhebliches Gewäsch und Erprobte Mittel gegen Krampfadern.
Ein Seufzen, mit dem Fanny ihrem Missfallen Luft machte, ließ Marie aufhorchen. »Sie werden sich noch die Augen verderben. Wenn Sie sogar in den Ferien die Nase in Ihre Unterlagen stecken müssen, dann lassen Sie doch wenigstens frische Luft herein!«
Der Dielenboden knarrte unter den beherzten Schritten der Haushälterin. Marie drehte den Kopf über die Schulter, als sie hörte, wie diese die schweren Vorhänge ratschend zur Seite riss. Fanny öffnete auch das Fenster, wobei das Licht ihre untersetzte Gestalt umflutete, die Konturen verwusch. »So, das ist schon viel besser.«
Um sich vor der schier unerträglichen Helligkeit abzuschirmen, hob Marie die Hand vor die Augen.
»Wollen Sie wirklich noch länger Ihren tristen Gedanken nachhängen, an so einem herrlichen Tag? Sie haben sich doch auf den Sommer gefreut! Und was ist mit Ihren Freundinnen? Brunni oder Charlotte sind doch sicher für einen vergnüglichen Spaziergang zu haben.«
»Kann sein«, gab Marie zurück und rieb sich mit beiden Händen über das staubtrockene Gesicht. Tatsächlich hatten sie ihre Freundinnen in den letzten Tagen bei jeder sich bietenden Gelegenheit belagert, um sie aus ihrem selbst auferlegten Hausarrest zu locken. Besonders eindringlich hatten sie sich gezeigt, als es darum ging, dem Phänomen der absoluten Sonnenfinsternis beizuwohnen. Dazu hatten sie sich zu aller Herrgottsfrühe auf dem Freinberg einfinden wollen – um sechs Uhr morgens – und das, obwohl sich die Sonne letztendlich nur für die Dauer einer halben Minute vollständig verfinstert hatte.
Marie hatte ihrem Drängen nicht nachgegeben. Der Mangel an lohnenden Perspektiven, dem sie sich nunmehr gegenübersah, der so plötzlich all ihre Träume überlagert und ihr Dasein überschattet hatte, drückte ihr aufs Gemüt. Ihr fiel es schwer, sich zu den einfachsten Dingen aufzuraffen. Nichts konnte ihre Stimmung heben. Das Klinische Wörterbuch, das sie sich unlängst voller Vorfreude in der Bibliothek ausgeliehen hatte, lag unberührt auf ihrer Frisierkommode, die Buchdeckel verschlossen. Wozu sollte sie sich noch damit aufreiben, wenn ihr die Ausübung des darin enthaltenen Wissens doch verwehrt bleiben würde?
»Wunderbar. Dann spricht ja nichts dagegen, sich eine kleine Pause von Ihrem …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »Streik zu gönnen. Ich kann Ihnen versichern, niemand wird es bemerken – sollte es darauf ankommen. Ihre Mutter ist vor einer halben Stunde zu einer Unterredung mit der Heiligen Agatha aufgebrochen. Wegen dieser Wohltätigkeitsveranstaltung. Sicher ist sie nicht vor dem Nachmittag zurück.«