Himmel, Arsch und Zwirn - Melanie Lindorfer - E-Book
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Himmel, Arsch und Zwirn E-Book

Melanie Lindorfer

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Beschreibung

Jessy träumt von einer Karriere als Designerin und ihrem eigenen Label. Doch schon kurz nach ihrem erfolgreichen Debüt auf der Londoner Fashion Week stellt ihr das Leben ein Bein. Ihr Vater streicht ihr die Unterstützung. London, der Modehimmel – jetzt ist beides unerschwinglich. Jessy zieht mit ihrer besten Freundin nach Edinburgh. Zu verbissen, fast schon bissig, kämpft sie darum, in der Branche Fuß zu fassen. Sehr zum Leidwesen ihrer Freundin, die nicht länger als Fußabstreifer herhalten will. Das macht diese überdeutlich: Eine Einladung zum Treffen der Anonymen Arschlöcher flattert in Jessys Postkasten. Ein aberwitziges Zwölf-Schritte-Programm soll sie zu einem besseren Menschen machen. Und dann gibt es dort noch einen sogenannten Arsch, der ihr auf Anhieb gefällt.

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Kurzbeschreibung: Jessy träumt von einer Karriere als Designerin und ihrem eigenen Label. Doch schon kurz nach ihrem erfolgreichen Debüt auf der Londoner Fashion Week stellt ihr das Leben ein Bein. Ihr Vater streicht ihr die Unterstützung. London, der Modehimmel – jetzt ist beides unerschwinglich. Jessy zieht mit ihrer besten Freundin nach Edinburgh. Zu verbissen, fast schon bissig, kämpft sie darum, in der Branche Fuß zu fassen. Sehr zum Leidwesen ihrer Freundin, die nicht länger als Fußabstreifer herhalten will. Das macht diese überdeutlich: Eine Einladung zum Treffen der Anonymen Arschlöcher flattert in Jessys Postkasten. Ein aberwitziges Zwölf-Schritte-Programm soll sie zu einem besseren Menschen machen. Und dann gibt es dort noch einen sogenannten Arsch, der ihr auf Anhieb gefällt.

Melanie Lindorfer

Himmel, Arsch und Zwirn

Edel Elements

Edel Elements

- ein Verlag der Edel Verlagsgruppe GmbH

© 2022 Edel Verlagsgruppe GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2022 by Melanie Lindorfer

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera.

Covergestaltung: Coverboutique, www.coverboutique.de

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-462-2

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1 Ferne Sterne

Hallo allerseits, mein Name ist Jessy und ich bin ein Arschloch.

Ja, wirklich! Ich habe sogar ein offizielles Zertifikat, welches das bescheinigt. Zur Erinnerung an meine Verdienste als Ekel hängt es eingerahmt über dem Schreibtisch in meinem Zimmer. Direkt neben dem Zeitungsbericht über die Präsentation meiner Kreation bei der London Fashion Week.

In diesem Artikel werde ich nicht einmal erwähnt, aber das Foto – kaum größer als die Abziehbildchen auf den Fruchtgummitüten – zeigt mein Kleid. Es ist inspiriert von den viktorianischen Redingotes, wie sie die Damen Ende des neunzehnten Jahrhunderts bei Ausritten trugen.

Jedes Jahr erhalten die besten Absolventen des Central Saint Martins College of Art and Design die Chance, ihre Entwürfe auf den Brettern, die für sie die Welt bedeuten, zu präsentieren. Ich war eine von ihnen.

Dort auf dem Laufsteg entscheiden Augenblicke über die Zukunft der angehenden Modeschöpfer. Über Aufstieg oder Fall. Wird am Ende der nächste Karl Lagerfeld geboren oder wieder nur ein tapferes Schneiderlein? Als Designer ist man dem Urteil des Modemobs – so nenne ich die Gesamtheit aller, die in dieser Branche etwas zu sagen haben oder ungefragt ihren Senf dazugeben – ausgeliefert, wie ein Gladiator der Gunst Cäsars. In meinem Fall ging der Daumen nach oben. Oder – wie war das nochmal – drehten es die alten Römer nicht genau anders herum?

Egal. Ich erntete Beifall und meine Professorin prophezeite mir eine steile Karriere.

An jenen Abend, den ich wie im Rausch erlebte, denke ich gerne zurück. Beschwipst von einem Cocktail aus Adrenalin, Endorphinen und all den anderen guten körpereigenen Stoffen, wie auch immer sie heißen mögen.

Das Motto der Show lautete „London meets Europe“, was angesichts der Brexit-Debatte durchaus gewagt daherkam und auch so gedacht war.

Auf einem Monitor im Backstagebereich verfolgte ich den Aufritt meines Models. Ein Rappe trug das elfengleiche Wesen über den Laufsteg und sorgte sogleich für einige Special Effects. Die wohlgeformten Pferdeäpfel verwandelten den Catwalk für die folgenden Models in einen Spießrutenlauf.

Trotz dieses unerwarteten Ablenkungsversuchs des tierischen Statisten erhielt ich begeistertes Feedback zu meiner Robe.

Das Material für das enganliegende Oberteil stammte aus meiner Heimat im Norden Österreichs. Genauer: aus der Leinenmanufaktur meines Vaters. Der feine Stoff mit dem dezenten Jacquardmuster schimmerte rauchblau im Scheinwerferlicht. Ich wählte edelweißförmige, mit Kettchen verbundene Trachtenknöpfe für den Verschluss. Auf dem Kopf des Models wackelte ein Steirerhut mit Gamsbart. Ja, ich spielte mit den Klischees.

Ein Hauch von Sissi und The Sound of Music – so kennt und liebt die Welt die Alpenrepublik. Das Gebirge deutete ich auf dem transparenten Stoff des Rockes an. Auf den ersten Blick waren nur graublaue Schattierungen zu erkennen. Sie flossen ineinander über wie auf einem Aquarell. Erst als das Model von dem Pferd abstieg, und die Falten für einen Knicks weit auffächerte, war das Motiv zu erkennen.

Selbst der Umstand, dass wir nach der Veranstaltung dazu beordert wurden, den Pferdemist vom Boden der Welsh Chapel zu kratzen, konnte die Euphorie unter uns Studenten nicht dämpfen.

An die Party, für die wir im Anschluss in irgendein schickes Loft umgezogen sind, erinnere ich mich kaum noch, dafür aber an den einen besonderen Moment.

Edie und ich hatten uns in eine lauschige Ecke der Dachterrasse verzogen, um uns auszuruhen. Plötzlich hat sie aufgeregt gerufen: „Schau mal, eine Sternschnuppe! Wünsch dir was!“

Da musste ich nicht lange überlegen, obwohl es rückblickend betrachtet eher unwahrscheinlich war, dass Edie eine gesehen hatte. Dennoch wollte ich es gerne glauben. Wie so viele meiner Kommilitonen träumte ich davon, dass mich ein Stardesigner unter seine Fittiche nahm und mich hinaufschwang in den Modehimmel. Ein aufgehender Stern mit einem eigenen kleinen Label. Hach, wie schön hatte ich mir meine Zukunft ausgemalt. Stattdessen war ich kometengleich mit dem Boden der Tatsachen kollidiert. Von diesem Standpunkt aus ist meine Laufbahn auf dem Fashion-Firmament eher mit dem aufgeregten Blinken der Flugzeuge zu vergleichen, die, kaum abgehoben, schon wieder den Sinkflug antreten.

Da bin ich nun. Mit fünfundzwanzig Jahren fange ich gefühlt bei null an. Um wieder in die Spur zu kommen, strample ich mich ab und fühle mich erschöpft.

Das schwache Licht der Nähmaschine erhellt die Naht auf dem eingespannten Stoff. Ich muss sie nochmal auftrennen. Müde reibe ich mir die Augen. Für einen Moment schließe ich sie und massiere meinen verspannten Nacken.

Mit einem Seufzer erhebe ich mich vom Stuhl und knipse die Overlock aus. Auf meinem Bett liegen ausgerollte Stoffballen und Schnittmuster. Das muss ich wegräumen, bevor ich schlafen gehe, obwohl mir jegliche Energie fehlt. Es ist weit nach Mitternacht und ich habe heute nichts geschafft. Dabei fühle ich mich schlapp, wie die Zimmerpflanze am Fensterbrett, die ihre Blätter hängen lässt.

Beim Blick hinaus aus dem Fenster sehe ich keine Sterne, sondern die Schemen der Mauer, welche den davor liegenden Grünstreifen vom Nachbargrundstück abgrenzt.

Der „Garten“: eine urwüchsige Oase inmitten der Stadt – das versprach die Annonce auf der Immobilienseite. Übersetzt aus dem Maklerjargon heißt das konkret: Vor meinem Fenster wuchert undurchdringliches Gestrüpp. Ich bezweifle, dass jemand in den letzten zehn Jahren Hand oder Heckenschere daran angelegt hat.

Selbst wenn ich freie Sicht auf die Sterne hätte, wäre es nicht der Himmel über London. Denn der ist unerschwinglich, seit mir mein Vater den Geldhahn zugedreht hat.

So bin ich vor einigen Monaten in Edinburgh gelandet. Gemeinsam mit Edie, deren Eltern in einem kleinen Vorort der Stadt leben. In London hat sie sich häufig nach ihrer Familie gesehnt, trotzdem wollte sie nach ihrer Rückkehr lieber auf eigenen Beinen stehen und nicht über jeden Mucks Rechenschaft ablegen müssen. Nicht zuletzt deshalb hat sie es vorgezogen, sich eine Wohnung mit mir zu teilen, was auch mir sehr gelegen kam. Allein hätte ich mir die bescheidene Bleibe im Souterrain dieses Mietshauses in der Edinburgher New Town kaum leisten können.

Noch einmal greife ich zum Handy, wähle Edies Nummer und stelle mich darauf ein, wieder weggedrückt zu werden. Ihr Telefon ist aus. Meine Nachrichten ignoriert sie.

Ich muss zugeben, ich habe mich diesmal im Ton vergriffen. Dass sie den Saum schlampig genäht hat, hätte man auch netter erklären können. Edie war gleich eingeschnappt aufgesprungen.

„Dann mach deinen Scheiß doch selbst“, hat sie beim Hinauslaufen gemurmelt. Typisch Edie. Nicht einmal, um ihrem Ärger Luft zu machen, erhebt sie die Stimme.

Aber diesmal ist sie wirklich sauer. Das hat sie mehr als deutlich gemacht …

2 Schwarze Löcher

Einige Tage zuvor

Ich dekoriere den Rand von Edies Teller mit einem Kranz aus Lachgummis und stecke mir, ehe meine Freundin aus ihrem Zimmer kommt, noch schnell eine Kirsche in den Mund. Das sind mir die liebsten. Anschließend lasse ich den Blick über den Tisch wandern und bin zufrieden mit mir. Es duftet nach Earl Grey und frischem Gebäck. Das Spiegelei ist mir heute perfekt gelungen. Will heißen, es hat sich nicht auf halber Strecke dazu entschlossen, ein Rührei zu werden.

Vor mir steht die Emaille-Tasse, die mir Edie nach unserer Ankunft in Edinburgh geschenkt hat. Sie hat sie selbst bemalt. Ein Schmunzeln huscht über mein Gesicht. Edie macht das andauernd: Sie verteilt kleine Nettigkeiten wie Flugblätter. Mich überschüttet sie regelrecht damit. Mir ist es fast schon unangenehm, obwohl ich weiß, welche Freude es ihr bereitet. Aber heute habe ich ihr Frühstück gemacht.

Gedankenverloren schenke ich mir etwas Tee ein, schnuppere und schlürfe. Und warte.

Fünf Minuten später warte ich immer noch und bin geknickt, weil das Spiegelei jetzt sicher kalt und zäh wie Gummi ist. Da fällt mir ein, ich habe Edies Wecker heute Morgen nicht gehört. Hat sie vielleicht verschlafen?

Ich stehe auf und klopfe an ihre Zimmertür. Ein gähnender Garfield schaut vom Poster, das daran klebt, auf mich herunter. Dahinter regt sich nichts.

Sachte drücke ich die Klinke nach unten und spähe hinein. Die Vorhänge sind nicht zugezogen, das Bett ist gemacht. Ist Edie heute früher los? Schade um meine Überraschung. Sie war als Wiedergutmachung für meine Entgleisung am Vortag gedacht.

Ratlos kehre ich an den Frühstückstisch zurück und lasse mich auf Edies Platz nieder. Mit der Gabel stochere ich in die gelbe Haut, der Dotter quillt heraus und verläuft zu einem kleinen See auf dem Teller. Dann schneide ich ein Stück vom dünnen Eiweißrand ab. Während ich meinen Tee schluckweise trinke, arrangiere ich die Lachgummis auf der Tischdecke zu einem Gesicht, esse erst die Nase und dann den Rest. Sie verfehlen ihre Wirkung, denn zum Lachen ist mir nicht zumute. Zum ersten Mal komme ich auf die Idee, dass mir Edie womöglich bewusst aus dem Weg geht. Schmollt sie nach unserem Streit gestern immer noch?

Ein Blick auf die Uhr verrät, dass ich langsam losmuss. Mister Taylor sieht es nicht gern, wenn man zu spät zur Arbeit erscheint. Das lässt er einen den ganzen Tag über spüren. Mit Blicken, die wie Stecknadeln piken.

Ich schlüpfe in meine Klamotten, eine elegante weiße Bluse und eine gerade geschnittene, schwarze Hose. Beides habe ich extra für den Job in der Herrenschneiderei erworben, nachdem es mir Mister Taylor, der eher ein Typ von der zugeknöpften Sorte ist, beim Vorstellungsgespräch nahegelegt hat. Anscheinend hält er nicht viel von dem, was gerade en vogue ist – von modischen Experimenten ganz zu schweigen.

Doch selbst mit meiner biederen Uniform fühle ich mich in dem Laden wie ein Paradiesvogel. Ich wurde in das stille Kämmerlein hinter den Geschäftsräumen verbannt. Dort lasse ich die Nähmaschine glühen, kürze Ärmel und Hosenbeine. Mehr ist mir nicht erlaubt, trotz meines Diploms an einer der renommiertesten Modeschulen der Welt.

Mit einem Seufzer binde ich mir mein blondes, schulterlanges Haar zum Pferdeschwanz, schnappe mir anschließend meine Tasche und öffne die Haustür. Es regnet, was nicht anders zu erwarten war, Sommer hin oder her. Kleine Sturzbäche laufen die Treppen bis zur Eingangstür unserer Lower Ground-Wohnung hinunter. Darauf bin ich vorbereitet und zücke den Regenschirm. Da sehe ich eine Gestalt in einem quietschgelben Regenmantel an unserem Briefkasten.

Edie?

„Warte!“, rufe ich. Sie fährt zusammen und dreht sich kurz zu mir um. Die Kapuze hat sie tief ins Gesicht gezogen, nur Mund und Nasenspitze lugen hervor. Dann rennt sie davon, ohne ein Wort zu sagen. Was bitte hat das nun wieder zu bedeuten? Das ist doch kindisch!

Wie festgetackert stehe ich neben der Mailbox und starre Edie mit geöffnetem Mund hinterher, während sie sich im Laufschritt auf dem Gehsteig entfernt. Am Ende ist sie nur noch ein hüpfender gelber Punkt im tristen Ockergrau der Straße, deren Sandsteinfassaden bei dem feuchten Wetter abweisender als sonst erscheinen.

Ich fange mich wieder und erinnere mich: Edie hat etwas durch den Postschlitz geworfen. Weil ich zum Öffnen des Briefkastens beide Hände benötige, klemme ich den Knauf des Knirpses zwischen Schulter und Kinn. Natürlich geht das nicht gut. Zum einen fährt mir ein hexenschussartiger Schmerz ins Genick, zum anderen entgleitet mir der Schirm und fällt zu Boden. Ich fluche in mich hinein und bücke mich danach, ehe ich komplett durchnässt bin. Endlich ziehe ich Edies Zettel heraus. Und muss schlucken.

Einladung zum Treffen der Anonymen Arschlöcher.

Das steht auf dem dilettantisch anmutenden Flugblatt. Ich ziehe die Brauen zusammen und sehe nach, ob noch etwas anderes im Kasten liegt. Nichts. Mein Gehirn bemüht sich um eine Erklärung und wird schnell fündig. Natürlich, das muss ein Scherz sein.

„Haha Edie, selten so gelacht“, sage ich zu mir selbst und ernte schiefe Blicke von einer alten Lady, die ihren Dackel Gassi führt. Sie hält mich sicher für verrückt. Dabei ist Edie es, die verrückt geworden ist!

Ich greife in meine Manteltasche und hole mein Handy hervor, mit der Absicht, meiner besten Freundin genau das mitzuteilen. Aber als mein Blick auf die Uhr fällt, durchzuckt es mich. Schon so spät? In fünf Minuten erwartet mich Mister Taylor bei der Arbeit, zu der ich fünfzehn Minuten brauche. Es hat keinen Zweck, ein Taxi zu rufen, denn damit bin ich nicht schneller.

Also galoppiere ich in bester Rennpferdmanier durch die Straßen Edinburghs. Meine Absätze klappern über Asphalt und Kopfsteinpflaster. Es ist niemand da, in dessen Windschatten ich mich hängen könnte. Auf Höhe der Queen Street Gardens erwarten mich mit Regenschirmen bewaffnete, menschliche Hürden. Ein vortreffliches Dressurross gäbe ich ebenfalls ab, denn ich schaffe es, niemanden umzurennen. Anrempeln zählt nicht. Dafür stolpere ich über die zweite Eingangsstufe zu Mister Taylors Laden. Vergeblich versuche ich, meinen Sturz abzufangen, indem ich mich am Türknauf festhalte. Die Ladentür springt bimmelnd auf und ich falle auf den Fliesenboden. Kurz bleibe ich mit dem Gesicht nach unten liegen, fluche in Gedanken und schaue dann auf.

Zwei zu Schlitzen verengte Knopfaugen begegnen mir. Ich merke, welche Mühe es Mister Taylor kostet, sich zu beherrschen. Er bedient gerade Kundschaft. Also habe ich heute noch einmal Glück gehabt.

„Kann ich Ihnen helfen, meine Dame? Ich hoffe, Sie haben sich nicht verletzt?“ Jetzt gibt er den Ahnungslosen. Den noblen Ritter.

Ich spiele mit, wohl wissend, dass er genau das von mir erwartet.

„Danke. Nichts passiert“, murmle ich. „Darf ich vielleicht Ihre Toilette benutzen? Ich möchte nachsehen, ob ich die Schramme versorgen muss.“

„Natürlich, gerne. Hinter dem Vorhang haben Sie eine Möglichkeit, sich frisch zu machen. Soll ich Ihnen mit einem Pflaster aushelfen? Ich komme zu Ihnen, sobald ich kann.“

Verschone mich, hätte ich am liebsten geantwortet. Stattdessen beiße ich mir auf die Zunge und ringe mir ein Lächeln ab. „Sehr freundlich!“

Dann verdrücke ich mich nach hinten in die Schneiderei und begrabe die Hoffnung, jemals aus diesem Loch herauszukommen. Nach dieser Vorstellung lässt mich Mister Taylor garantiert niemals in die Nähe eines Kunden.

Durch das schmale Fenster im hinteren Kabuff dringt kaum Tageslicht. Ich schalte die Lampe über meinem Arbeitsplatz an und prüfe das Auftragsbuch, in das mein Chef seine Anweisungen an mich fein säuberlich auf Klebezetteln notiert hat. Anschließend schiebe ich die Bügel auf der Kleiderstange hin und her, bis ich den Kleidersack mit der richtigen Kundennummer gefunden habe. Ein Tweedanzug mit Karomuster. Ich soll die Ärmel um einen Inch kürzen, also trenne ich vorsichtig das Futter vom Oberstoff und bin gerade fertig, als mein Chef den Raum betritt.

Schnell verstecke ich Little Taylor in einem der Hosenbeine des Anzugs. So nenne ich mein Nadelkissen, ein Geschenk von Edie. Das Voodoopüppchen weist rein zufällig eine frappierende Ähnlichkeit mit meinem Boss auf. Klein und untersetzt. Sogar dessen gestrengen Gesichtsausdruck hat Edie gut getroffen. Die Lippen, nichts als ein schmaler Strich, unfähig zu lächeln.

Big Taylor verweilt bei der Tür und schickt ein anklagendes Schweigen voraus. Obwohl ich ihm, gemessen an der Körpergröße, in nichts nachstehe, schrumpfe ich gefühlt um einen Kopf, während ich auf seine Standpauke warte. Er ist der Endgegner und ich eins dieser kleinen Champignons. Das absurde Bild taucht plötzlich vor mir auf und es fällt mir schwer, ernst zu bleiben. Das passiert mir ständig. Es muss damit zu tun haben, dass meine Kreativität bei diesem Hilfsjob zu verkümmern droht. Doch die Fantasie ist ein geflügeltes, störrisches Wesen, das sich nicht einsperren lässt. Wird es nicht ausreichend beansprucht und in geordnete Bahnen gelenkt, bricht es aus und macht Unsinn.

„Jessica …“ Big Taylor verwandelt meinen Namen in einen gedehnten Vorwurf. Er spricht mit mir, als wäre ich ein unartiges Kind. „Muss ich Sie noch einmal darauf hinweisen? Wir bei Taylors legen außerordentlichen Wert auf gepflegte Umgangsformen. So etwas wie eben möchte ich nicht noch einmal erleben. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

„Nein. Ähm. Ich meine, ja“, stammle ich. Je nachdem, auf welche Frage er zuerst eine Antwort hören wollte. Big Taylor ist ein Meister im Stellen solcher Fallen. Egal, was man sagt, es ist falsch. Das ist der Grund, weshalb sich unsere Kommunikation aus meiner Richtung relativ einsilbig gestaltet. Obwohl ich sonst nicht auf den Mund gefallen bin, verweigert mir meine Schlagfertigkeit im Angesicht des Endgegners den Dienst.

Wo ist mein Selbstvertrauen hingekommen? Immerhin hatte ich während diverser Praktika mit ganz anderen Kalibern zu tun. Vielleicht haben mir die Rückschläge der letzten Wochen doch mehr zugesetzt als gedacht. In der Modebranche herrschen raue Sitten. Das ist nichts für Sensibelchen.

Plötzlich erwischt mich ein Luftzug und etwas klatscht zu Boden. Mein Mantel. Ich hatte ihn über den überfüllten Garderobenhaken geworfen und … Taylor ist weg. Oh je, ich habe ihm gar nicht mehr richtig zugehört. Hoffentlich hat er es nicht bemerkt. Hat er sich überhaupt verabschiedet? Egal.

Ich bücke mich nach dem Mantel, hänge ihn wieder zurück und will dann mein Handy aus dessen Tasche holen, denn ich gehe davon aus, jetzt ein paar Minuten ungestört zu sein. Es raschelt, als ich danach greife. Meine Finger fassen den Flyer, den ich vorhin eilig hineingestopft habe. Ich beachte ihn nicht weiter, sondern wende mich dem Telefon zu, das allerdings keine Nachricht von Edie anzeigt. Keine Erklärung für die Anonymen Arschlöcher. Dann muss ich wohl selbst herausfinden, was es damit auf sich hat.

Ich setze mich und widme mich nun doch dem Flyer, suche ihn nach einem versteckten Hinweis von Edie ab. Nach einem „Reingefallen“ oder etwas in der Art. Aber ich finde nichts, so oft ich den Zettel auch drehe und wende.

Der Beschreibungstext verspricht ein Zwölf-Schritte-Programm, das einen zu einem besseren Menschen werden lässt. Ansonsten sind die Angaben recht dürftig. Das erste Treffen ist für das kommende Wochenende angesetzt. Wo es stattfinden soll, steht nicht darauf. Bei Interesse solle man sich unter der angeführten E-Mail-Adresse an Moira wenden.

Ich falte das Papier und lasse es in meiner Hosentasche verschwinden. Das ist doch total lächerlich! Was hat sich Edie nur dabei gedacht?

Ich schnaube und klemme den Ärmel unter das Füßchen der Nähmaschine. Das gleichmäßige Rattern entspannt mich binnen weniger Minuten. Der Ärger verpufft, die Arbeitswut übernimmt die Oberhand.

Kurz vor Mittag habe ich drei Viertel meines Tagespensums geschafft. Mister Taylor ist wieder mit einem Kunden beschäftigt, als ich mich in die Mittagspause verabschiede.

Vor der Tür schnaufe ich durch und mache mich auf den Weg in die Princess Street Gardens, die nur wenige Gehminuten von meinem Arbeitsplatz entfernt liegen. Genauer: zu meiner Lieblingsstelle, die einen fantastischen Blick auf das Edinburgh Castle bietet, der mich für einen Moment gefangen nimmt.

Die Festung thront auf einem erloschenen Vulkan. Mir kommt es so vor, als hätten sich die Bauherren vergangener Tage den schroffen, steil abfallenden Fels zum architektonischen Vorbild genommen. Die Knicke in der Festungsmauer wirken wie die formale Fortsetzung der Kanten und Klüfte im Gestein. Nur wachsen auf dem natürlichen Untergrund Gräser und gelber Stechginster. Am Fuß des Bergs reihen sich üppige Baumkronen aneinander. Davor sprudelt ein imposanter Springbrunnen, die Ross Fountain. Warum man sich bei der Restaurierung dazu entschlossen hat, die ehemals goldenen Figuren ausgerechnet türkis anzustreichen, ist mir ein Rätsel. Ich mag diese Effekthascherei nicht, die Kunst wie Kitsch erscheinen lässt. Aber nun ist es ja nicht mehr zu ändern.

Zielgerichtet steuere ich die Parkbank an, auf der ich gerne sitze. Na super, sie ist besetzt. Das ist wieder Mal typisch! Wenn der Tag schon bescheiden beginnt, wird es kaum jemals besser.

Missmutig suche ich mir einen freien Rasenflecken und breite meinen Regenmantel auf dem noch leicht feuchten Gras aus. Wenigstens lässt sich die Sonne blicken. Ihre milden Strahlen stimmen mich versöhnlich, als ich mich setze und kurz die Augen schließe, um die wohlige Wärme auf meinem Gesicht zu genießen.

Wie in jeder Mittagspause nehme ich anschließend meinen Skizzenblock aus der Tasche und blättere zum nächsten leeren Blatt. Ich lege einen Stift bereit und stelle den Timer von meinem Handy auf fünfundzwanzig Minuten. Fünfundzwanzig Minuten ergeben einen Promodoro. Eine Zeitspanne, in der man vieles erledigt bekommt, wenn man sich ranhält und wie gefordert, auf nur eine einzige Sache konzentriert. Danach bleiben mir noch genau fünf Minuten, um mein Sandwich zu verdrücken, während ich zur Arbeit zurückhetze.

„Kann es sein, dass du diese Zeitmanagementtechnik irgendwie falsch verstanden hast?“, hat mich Edie unlängst gefragt. „Geht es bei der Promodoro-Methode nicht darum, dass man viel produktiver ist, weil man regelmäßig kurze Pausen macht? Du dagegen quetscht immer noch mehr Arbeit in deinen Tag.“

„Ist doch egal“, gab ich mit einer wegwerfenden Handbewegung zurück. „Dann arbeite ich eben nach der Ketchup-Methode. Solange es funktioniert …“

Ketchup passt doch immer und überall rein, oder?

Aber so langsam kommen mir Zweifel, ob ich meinen Kreativprozess damit wirklich optimiert habe. Heute fühle ich mich jedenfalls leer – wie eine Ketchupflasche aus der nur mehr Furze und unkoordinierte Kleckser entweichen. Das kann ich doch besser!

Ich starre auf meinen Entwurf und überlege, warum er mir nicht gelingen will. Am Anfang hat das doch gut funktioniert: Einfach drauf los zeichnen, nicht auf die Muse warten, sondern sie zu einem Spiel einladen, ein wenig flirten und kokettieren. In letzter Zeit zeigt sich die Gute allerdings ziemlich launisch. Kein Wunder, wenn man da mies drauf ist, oder? Edie kann das nicht verstehen. Wie auch? Wir beide sind zu verschieden. Da trifft die Bescheidenheit eines Zen-Meisters auf die Mentalität eines Zehnkämpfers. Welche Rolle mir dabei zukommt, ist nicht schwer zu erraten. Wobei ich bedauerlicherweise nicht behaupten kann, dass sich meine körperliche Fitness auch daran messen lässt. Vermutlich hätte ich Edies Vorschlag, sie zum Yoga zu begleiten, nicht ausschlagen und sie permanent damit aufziehen sollen. Manchmal wundere ich mich regelrecht, wie aus uns beiden so dicke Freundinnen werden konnten. Dabei ist Edie die beste Freundin, die man sich überhaupt wünschen kann. Ob das im Umkehrschluss auch auf mich zutrifft?

Noch vor wenigen Tagen – um genau zu sein, vor heute Morgen – hätte ich diese Frage eindeutig bejaht. Vielleicht hätte ich gedacht: Na ja, die beste mag ein bisschen hochgegriffen sein, aber solide acht von zehn Punkten hätte ich mir ohne mit der Wimper zu zucken zugestanden. Und jetzt?

Mit einem tiefen Seufzer lasse ich den Stift sinken und hefte den Blick auf die gepflegte Parkanlage vor mir.

Die Princess Street Gardens überdecken einen dunklen Schandfleck in der Geschichte der Stadt, sozusagen einen der Abgründe der Menschheit: Wo sich heute Einheimische und Touristen tummeln, erstreckte sich noch bis zum späten 18. Jahrhundert das sogenannte Nor Loch. Das hat mir Edie bei unserem ersten Besuch hier erzählt. Leider hat sie meine romantische Vorstellung davon schnell zunichte gemacht. In Wirklichkeit hatte das Gewässer zu jener Zeit mehr mit einer stinkenden Kloake gemein, musste es doch als Auffangbecken für die Abwässer der Old Town und den Inhalt diverser Nachttöpfe herhalten. Auch als letzte Ruhestätte einiger bedauerlicher Geschöpfe. Um sie der Hexerei zu überführen, hat man im Mittelalter wehrlose Frauen an einen Stuhl gebunden und ins Nor Loch getaucht. Jene, die sich wie durch ein Wunder über Wasser halten konnten, erwartete ein anderer, aber nicht weniger qualvoller Tod.

Diese abartige Praktik war zu jener Zeit in ganz Europa groß in Mode. Und Edie bezichtigt mich, ein Arschloch zu sein …

Oder ist das etwa auch eine Art Test? Ist diese Lachnummer mit dem Flugblatt am Ende eine Bewährungsprobe? Diese Vorstellung macht mich, gelinde gesagt, fuchsig. Vor allem deshalb, weil so eine Aktion überhaupt nicht zu Edie passt. Also echt! Hätte sie nicht einfach mit mir reden können? Wir sind doch verdammt noch mal erwachsen! Je länger ich darüber nachdenke, desto unwohler wird mir bei der Sache und der Ärger weicht einem flauen Gefühl in der Magengegend. War ich wirklich so ein Scheusal ihr gegenüber? Vielleicht etwas gereizter als sonst. Natürlich hat Edie es nicht verdient, meine üble Laune abzubekommen. Ihre Reaktion ist trotzdem reichlich drastisch. Genau genommen ist ihr Verhalten sogar ziemlich feige, und erst recht nicht fair! Wenn sie etwas stört, soll sie es mir gefälligst ins Gesicht sagen! Die Gelegenheit dazu wird sie gleich heute Abend bekommen.

3 Dumme Verwechslung

Einige Stunden später ist mein Ärger noch nicht verraucht, als ich mich mit dem Bus auf den Weg in den schmucken Vorort im Nordwesten der Stadt mache, in dem Edies Familie lebt. Warum hat sich heute alles und jeder gegen mich verschworen? Selbst die Fahrgäste scheinen mich zu meiden. Der Platz neben mir bleibt leer, was mich zunächst nicht sonderlich kratzt. Persönlich nehme ich es erst, als ein wirklich süßer Typ mich mit seinem Blick streift, aber dann dem Rentner vor mir den Vorzug gibt.

Nachdem ich ausgestiegen bin und der Bus schnaubend anfährt, muss ich mich erst einmal sammeln. Und orientieren. Nur ein einziges Mal habe ich Edie zuvor in ihr Elternhaus begleitet, um einige ihrer Habseligkeiten in unsere Wohnung zu übersiedeln.

Die grobe Richtung stimmt schon einmal. An das hier kann ich mich erinnern: Beiderseits der Straße säumen schier endlose Hecken die Grundstücke, teilweise schirmen dichte Blätterkronen die Sicht auf die vornehmen Häuser ab. Beinahe komme ich mir vor wie in einem Labyrinth und langsam fühle ich mich darin verloren. Jetzt nur nicht falsch abbiegen, sonst lande ich am Ende noch in Hogwarts oder so.

Lieber vertraue ich mich einer höheren, allwissenden Macht an: Google hat mich schließlich noch nie im Stich gelassen, wenn ich vom Weg abgekommen bin. Und auch diesmal lotst mich der Routenplaner zuverlässig zum gewünschten Ziel. Ich finde das Schlupfloch im Kirschlorbeer und folge der schmalen Gasse, die kaum genug Platz für einen Kleinwagen bietet, bis zu einem breiten, schmiedeeisernen Tor, dessen prunkvolle Verzierungen einen kleinen Vorgeschmack auf das dahinter liegende Anwesen bieten.

Auf der Zufahrt parkt ein Firmenbus mit der Aufschrift Let's get Murry!, darunter prangt das Foto eines Reinigungstrupps, welches Männer und Frauen in gespielt sinnlichen Posen zeigt. Einer davon presst sich einen nassen Schwamm an die Brust. Ein anderer pustet über das Rohr eines Laubbläsers und sieht mit den verirrten Blättern in seinem Haar äußerst verwegen aus. Dass es sich dabei um eine Parodie auf Christina Aguileras Dirrty handelt, ist mir nur deshalb bewusst, weil ich den dazugehörigen Clip und Firmensong kenne.

„Das ist ja so was von peinlich!“, hat Edie damals vor dem Laptop gejammert und dabei den Kopf in den Händen vergraben. „So was kann auch nur meinem Dad einfallen! Hör dir den Text an! Den hat meine Mum beigesteuert. Ich muss adoptiert sein. Ganz sicher stamme ich nicht von diesen Verrückten ab.“

Obwohl ich durchaus Mitleid mit meiner Freundin hatte, fand ich es einfach nur köstlich – wie viele andere auch.

„Sieh mal, der Beitrag hat schon fünfhundert Likes. Der geht durch die Decke, das sag ich dir!“, wies ich Edie tags darauf hin.

Der Song war ein Ohrwurm. Er ging mir nicht aus dem Kopf und so konnte ich auch nicht verhindern, dass mir der einprägsame Refrain immer wieder über die Lippen kam. Wie ein Zwang, den ich nicht abstellen konnte, obwohl Edie mich mit ihren Blicken am liebsten abgemurkst hätte. Ihrem Vater kann ich zu der Nummer übrigens nur gratulieren. Sie hat ihn quasi über Nacht zur lokalen Berühmtheit gemacht und das Geschäft der Murrys – ein ohnehin schon sehr erfolgreiches Facility Services Unternehmen – ist seither in aller Munde.

Vom Arbeitseifer der Crew kann ich mich gleich selbst überzeugen. Vor dem Eingang lehnt eine hohe Leiter, auf der sich ein Arbeiter im Overall streckt und in alle Richtungen verrenkt, um das bunte Rosettenfenster zu putzen.

Der Groll auf Edie hat mich hierhergetrieben, aber jetzt zieht mich etwas in die entgegengesetzte Richtung. Das mulmige Gefühl nimmt mir den Wind aus den Segeln, lässt meine Schritte auf dem knirschenden Kies langsamer werden.

Was, wenn sie gar nicht hier ist? Davon bin ich einfach ausgegangen, ohne es genauer zu hinterfragen. Wo sonst sollte sie sein, als bei ihren Eltern? Ob sie ihnen von unserem Streit erzählt hat?

Der Arbeiter nimmt indes keine Notiz von mir. Die Vehemenz, mit der er das Buntglas bearbeitet, hat fast etwas Zwanghaftes. Er rubbelt, jagt den Sprühnebel über die Scheibe, lässt daraufhin wieder den Lappen quietschen, murmelt und knurrt.

„Entschuldigung?“, unterbreche ich ihn zögerlich. Und werde ignoriert.

Ich räuspere mich und hebe meine Stimme. „Entschuldigen Sie!“

Die Person über mir schnappt hörbar nach Luft und fährt dabei erschrocken herum, sodass ich befürchte, sie könne jeden Moment neben mir auf den Boden knallen. Reflexartig schnappe ich die Leiter, die mir gefährlich zu wanken scheint.

„Großer Gott!“, ruft sie aus und klatscht sich dabei die Hände an die Brust, während sie sich rücklings an die Sprossen lehnt.

Nein, leider nur ich. Und offenbar bin auch ich einer Verwechslung erlegen. Vor mir steht kein einfacher Fensterputzer, sondern Edies Mutter. Eindeutig erkenne ich jetzt ihr buschiges rotes Haar, das sich kaum von dem blauen Käppi bändigen lässt. Auf den Fotos, die mir meine Freundin gezeigt hat, sticht dieses Detail immer als Erstes ins Auge. Und nun steht Mrs Murry mir leibhaftig – und glücklicherweise ohne Blessuren oder Frakturen, die ich verschuldet hätte – gegenüber.

„Teufel, haben Sie mir einen Schrecken eingejagt!“, sagt sie, während sie die Leiter herunterklettert.

„Es tut mir furchtbar leid! Das wollte ich nicht. Ich habe gerufen, aber Sie haben mich nicht gehört …“

Sie schüttelt den Kopf. Daraufhin zieht sie an einem Kabel neben ihrem Hals und fummelt einen weißen Ohrstöpsel aus ihrer dichten Mähne. „Smetana …“

Ich ziehe die Stirn kraus, weil ich nicht verstehe, was genau sie mir sagen will.

„Tut mir leid, ich spreche kein Gälisch“, gebe ich zurück. Ich muss ziemlich dumm aus der Wäsche schauen, denn nun bedenkt sie mich mit einem milden Schmunzeln.

„Das ist nicht Gälisch. Smetana ist ein tschechischer Komponist.“ Sie zieht den Reißverschluss des Overalls nach unten und holt ihr Handy aus der Innentasche. „Auf meiner Playlist darf der gute Bedřich nicht fehlen.“

„Muss ich auch mal probieren. Vielleicht putzt es sich dann leichter“, erwidere ich und grinse.

„Unter Garantie … Aber nun sagen Sie mir doch: Was führt Sie hierher? Wenn Sie das Haus von J. K. Rowling suchen, müssen Sie …“

„Nein“, winke ich ab und erinnere mich wieder, dass Edie ihre berühmte, entfernte Nachbarin einmal erwähnt hat. Ob ich wohl deshalb dieser Harry-Potter-Fantasie erlegen bin? „Ihretwegen bin ich nicht hier, sondern wegen Edie.“ Ich strecke ihr die Hand zur verspäteten Begrüßung hin. „Ich bin Jessy, Edies … Mitbewohnerin.“

Wow, ich bringe es nicht über mich, das Wort „Freundin“ auszusprechen, weil ich nicht sicher bin, ob Edie dem noch zustimmen würde. Ihre Mutter mustert mich länger als mir lieb ist, und beschwört damit ein Gefühl von Unwohlsein in mir herauf. Unwillkürlich frage ich mich, was sie über unseren Zwist weiß. Sieht sie in der Fremden, die ich eben noch war, nun gar eine fiese Schnepfe, die auf den Gefühlen ihrer Tochter herumgetrampelt ist, sodass diese sich gezwungen gesehen hat, ins elterliche Heim zurückzukehren? Doch dann erlöst sie mich.

„Ich bin Charlotte“, stellt sie sich vor und drückt kurz meine Hand. „Schade, dass du den Weg umsonst gemacht hast. Edie ist leider nicht zu Hause. Sie trifft sich mit ein paar Freundinnen.“

Dieser eine Satz versetzt mir einen Stich wie glühendes Eisen, und in meinem Bauch krümmt sich etwas zusammen. Denn mit einem Mal wird mir schmerzlich bewusst, dass Edie hier Anschluss hat. Ein Netz, das sie auffängt. Nur ich bin allein.

„Ach so“, antworte ich kleinlaut. „Ich wollte nur …“ Das Druckgefühl in meiner Brust lässt mich stocken. Ich starre auf den Kies und blinzle, weil mich meine Gefühle übermannen. Noch nie habe ich mich dermaßen fehl am Platz gefühlt. „Ich schätze, dann ist es wohl besser, ich gehe wieder. Auf Wiedersehen, Mrs Murry.“

Ohne sie richtig anzusehen, hebe ich die Hand zum Abschied. Einige Schritte weiter bin ich schon fern der Realität. Alles um mich herum verschwimmt und ich fasse einfach nicht, was mir da passiert.

„Jessy! Moment noch!“ Charlottes Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Sie kommt mir hinterher und mustert mich besorgt. „Möchten Sie vielleicht hier auf sie warten? Ich habe zwar keine Ahnung, wann sie zurück sein wird, aber sie ist schon eine Weile weg, also …“

Sie sucht meinen Blick und lächelt mir aufmunternd zu. Beinahe kommen mir die Tränen bei so viel mütterlicher Fürsorge. In Gedanken gehe ich kurz meine Möglichkeiten durch. Am liebsten würde ich mich jetzt in unserer Wohnung verkriechen, aber was dann? Alles, was mich dort jemals aufgeheitert hat, wenn ich niedergeschlagen war, war Edie.

Vielleicht sollte ich mich betrinken? Fieberhaft überlege ich, ob wir irgendwo noch Vorräte gebunkert haben. Aber dann wird mir klar, dass sich unsere Meinungsverschiedenheit damit auch nicht aus der Welt schaffen lässt und mein Entschluss steht fest.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht?“

„Nicht im Geringsten. Vor allem dann nicht, wenn Sie sich ein wenig nützlich machen. Hier!“ Sie drückt mir einen feuchten Lappen in die Hand. „Dann wird Ihnen bestimmt nicht langweilig.“

Sie zwinkert mir zu und ich bin ihr insgeheim dankbar für diesen Auftrag. Mit mehr zu tun hat man weniger Zeit zum Grübeln.

Als ich mich eine Stunde später geschafft in die Hollywoodschaukel im Vorgarten der Murrys fallen lasse und Charlotte mir ein Glas Eistee reicht, ist Edie immer noch nicht zurück.

„Ich denke, ich sollte nun wirklich aufbrechen, sonst verpasse ich den letzten Bus“, kündige ich an. „Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen Mrs Murry.“

„Charlotte!“, korrigiert sie mich.

„Charlotte“, wiederhole ich. „Sie haben ein sehr schönes Haus und unglaublich viele Fens …“

Ich verstumme, denn plötzlich steht Edie vor mir. Versteinerte Miene, verkniffener Mund. Nein, sie freut sich offensichtlich nicht, mich hier zu sehen. Ich schrumpfe auf meinem Sitzplatz zusammen.

Ich bin ein Verräter, schießt es mir durch den Kopf. Ich hänge hier mit ihrer Mutter ab, wie muss das auf Edie wirken? Das sieht ja ganz so aus, als wolle ich ihre Familie infiltrieren, um auf diese Weise an sie heranzukommen. Als würde ich mich einschleimen, um Bonuspunkte zu sammeln. O mein Gott! Das trifft irgendwie sogar zu. Ich meine, ich habe fünfeinhalb Fenster geputzt. So viele am Stück hab ich davor nie geschafft, das war mir immer zu mühsam.

„Edie …“, piepse ich.

„Was willst du hier?“, fragt sie barsch.

Hilfesuchend wende ich mich zu Charlotte um und bereue es sofort. Was soll das? Ich kann mich doch jetzt nicht auch noch mit ihrer Mutter verbünden. Mein Kopf fährt wieder herum und ich treffe auf Edies feindseligen Blick.

Kurz schließe ich die Augen, um meine Standfestigkeit zurückzuerlangen. Es gibt überhaupt keinen Grund, unsicher zu sein. Das ist doch nur Edie. Meine Freundin, die mir niemals lange böse sein kann. Die unter der Funkstille nach einem Streit immer am meisten leidet. Bestimmt ist sie in Wirklichkeit froh darüber, dass ich das Gespräch suche. Sie will mich nur zappeln lassen. Und das mit dem Flugblatt? Sicher war es am Ende nur eine dumme Verwechslung.

„Ich bin hier, um mit dir zu reden“, sage ich und kämpfe mich aus der Polsterung auf.

„Und wenn ich das nicht will?“ Edie verschränkt die Arme vor der Brust.

Aus dem Augenwinkel bekomme ich mit, wie Charlotte sich diskret zurückzieht.

„Komm schon, Edie. Was soll das? Was bitte schön habe ich denn so Schlimmes getan? Wir konnten doch immer über alles reden.“

„Pff“, entgegnet sie. „Das hört sich jetzt so ausgewogen an. Als wären wir bei solchen Dingen jemals gleichberechtigt gewesen.“

Ich kneife die Augen zusammen, schüttle den Kopf und starre sie dann fassungslos an. Was werden denn da für neue Töne angeschlagen? Ist das wirklich noch Edie?

„Argh!“ Meine Freundin reißt die Augen auf, wirft die Arme nach oben und krümmt in ihrem Zorn die gespannten Finger in der Luft. Entweder sie steht kurz vor ihrer Verwandlung zum Hulk oder sie will mir schlicht und ergreifend den Hals umdrehen.

„Wozu erzähl ich das überhaupt? Du merkst es ja doch nicht. Ist ja kein Wunder. Alles dreht sich nur um dich, dich, dich!“

Ein Keuchen entfährt mir. „Jetzt aber mal halblang“, sage ich, um mir Zeit zu verschaffen, denn in Wirklichkeit bin ich so verdattert, dass mir Hören und Sehen vergeht. „Du pflaumst mich hier an und schimpfst mich eine Egoistin, dabei bin ich nur wegen dir hier!“

Sie schnaubt und lacht gehässig auf. „Tatsächlich? Du bist also nur wegen mir hier? Und das soll ich glauben?“ Sie fixiert mich mit ihrem Blick und schürzt die Lippen. „Na gut. Dann beweis es!“, sagt sie spitz und macht eine einladende Geste in Richtung Hollywood-Schaukel. Zögerlich setze ich mich wieder und lasse Edie dabei nicht aus den Augen. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen läuft sie wie ein Feldwebel vor mir auf und ab und bleibt nur stehen, um das Wort oder strenge Blicke an mich zu richten.

„Was ist meine Lieblingsspeise?“

„Wie bitte? Was wird das jetzt, ein Verhör? Oder einer von diesen schwachsinnigen Tests? Wie gut kennt dich deine BFF?“

„BFF? Also hör mal, Jessy. Das hier ist kein Witz! Und aus dem Alter sind wir längst heraus.“

„Was soll dann der Quatsch?“

„Beantworte einfach die Frage!“ Edie brüllt beinahe und so merke ich, dass es ihr ernst ist.

„Okay. Schon gut. Ich bin unentschlossen: Pizza Funghi oder Chicken Tikka Masala?“

„Weder noch. Die Pizza bestellen wir immer, weil du sie am liebsten magst. Und auf Curry reagiere ich allergisch!“

„Seit wann denn das?“

Ein bisschen fühle ich mich nun selbst wie kurz vor dem anaphylaktischen Schock. Meine Kehle schnürt sich zu und mir ist plötzlich ganz heiß. Wie ist es möglich, dass ich nicht einmal die essenziellsten Dinge von ihr weiß?

„Du kannst dich daran wirklich nicht erinnern, oder? Beim letzten Mal wurde mir ganz schlecht, ich hatte Kopfweh und hing die halbe Nacht über der Kloschüssel.“

„Herrgott, Edie!“, brause ich auf. „Was kann der arme Inder dafür, wenn du jeden Bissen seines Hühnchens mit einem Maul voll Wein runterspülst? Wenn du auf etwas allergisch reagierst, dann nicht auf Curry, sondern auf Chardonnay.“

Mein Blick bohrt sich in ihren, in der Erwartung, so etwas wie Einsicht darin aufflackern zu sehen. Aber darauf kann ich lange warten.

„Und du weißt ja alles besser!“

Obwohl ich immer noch der Meinung bin, dass ich mit meiner Antwort zumindest zu zwei Dritteln richtig liege, mache ich gute Miene zu diesem abgekarteten Spiel.

„Stell mir die nächste Frage. Diesmal weiß ich die Antwort bestimmt.“

„Das hat doch alles keinen Sinn! Du redest dich nur wieder raus. Weißt du was? Mir reicht es jetzt, ich gehe rein.“

Meine Güte, wie kann man nur so stur sein! Eins ist mir mittlerweile klar: Edie will mich nicht verstehen! Soll ich das gnädige Fräulein jetzt beknien oder was? Einen Moment lang überlege ich, es tatsächlich zu tun. Verfahrene Situationen erforderten schließlich unkonventionelle Lösungen, oder? Aber Edie gibt mir erst gar nicht die Chance dazu und rauscht an mir vorbei in Richtung Haus. Ich will ihr hinterher, schaffe es aber nicht so schnell aus der Hollywoodschaukel, die zwar bequem, aber außerdem ein hinterhältiges Miststück ist, und mir zu guter Letzt noch einen Stoß in die Wade versetzt.

„Jetzt warte doch!“, rufe ich meiner Freundin hinterher. „Gibt es denn gar nichts, das ich tun kann? Ich übernehme den Putzdienst für den nächsten Monat, versprochen! Die nächsten zwei“, verdopple ich meinen Einsatz. „Wenn du wieder kommst, habe ich die Wollmäuse aus unserer Wohnung verscheucht und die Armaturen im Bad werden nicht einmal mehr wissen, was Kalk überhaupt ist.“

Edie ist schon bei der Tür und schüttelt matt den Kopf. „Mach dir keine Mühe, Jessy. Das ist deine Sache und es kümmert mich nicht länger, ob du dich an den Putzplan hältst.“

„Was soll das heißen?“, frage ich geschockt.

„Kann sein, dass ich wieder hier bei meinen Eltern einziehe. Das ist sowieso praktischer, wegen der Arbeit und so.“

„Aber das kannst du doch nicht machen!“, kreische ich. „Wie soll ich mir die Wohnung allein leisten?“ Neunhundertfünfzig Pfund im Monat kann ich nie und nimmer zusammenkratzen.

Eine resignierte Traurigkeit macht sich auf Edies Gesicht breit. Sie seufzt hörbar.

„Es tut mir leid, Jessy. Aber ich denke, es ist besser so.“

Mit diesen Worten zieht sie die Tür hinter sich zu.

4 Komplexe Gleichung

Während der Rückfahrt mit dem Taxi stelle ich mich mental auf ein Leben hart an der Armutsgrenze ein. Bestimmt hat es auch seine Vorteile, wenn man jeden Penny zweimal umdrehen muss. Zum Beispiel gehören überhastete Fehlkäufe damit endgültig der Vergangenheit an. Sofort fällt mir da der brasilianisch geschnittene Bikini in meiner Kommode ein. Er war so ein Fall. Und nein, er lässt sich keinesfalls unter „Investition in die persönliche Entwicklung“ verbuchen. Nicht, wenn die Motivation, in das Teil hineinpassen zu wollen, noch spärlicher ausfällt als das knappe Höschen.

Wer hätte außerdem gedacht, dass ich einmal zu einem regelrechten Ass im Kopfrechnen werden würde? Mein Mathelehrer in der Oberstufe ganz gewiss nicht. Endlich bekomme ich die Gelegenheit zum Üben. Ich überschlage, wieviel mir nach dieser überteuerten Taxifahrt - abzüglich der wöchentlich fälligen Miete und sonstiger Ausgaben - noch zum Leben bleibt. Das Ergebnis versetzt mir einen Schock.

Keine Panik, so schlimm ist es bestimmt nicht, versuche ich mich zu beruhigen. Ich tippe die Gleichung in die Taschenrechner-App auf meinem Handy ein. Eins plus für die einwandfreie Lösung, doch vor dieser steht ein fettes Minus – leider kein Vorzeichenfehler.

Beim Blick auf das Taxameter komme ich nun endgültig ins Schwitzen und fühle mich in einen Hollywood-Blockbuster versetzt, in dem die Fahrgäste wissentlich auf einer Bombe sitzen. Der Fahrpreis auf der Anzeige sprengt schon jetzt mein Budget, trotzdem rasen die roten Ziffern unaufhaltsam weiter.

Ich beginne, in meiner Tasche zu wühlen. Irgendwo muss hier noch Kleingeld sein. Ein paar verirrte Münzen wenigstens. Aber es ist wie immer in solchen Fällen: Man findet nur das, was man nicht braucht – ein benutztes Taschentuch und ein Kondom mit prähistorischem Ablaufdatum.

„Bitte halten Sie da vorne!“, fordere ich den Fahrer auf.

Er dreht den Kopf zu mir. „Aber Sie wollten doch …?“

„Hab’s mir anders überlegt.“

Den Rest der Strecke lege ich zu Fuß zurück. Wieder ein Vorteil: Ausreichend Bewegung hält mich fit und gesund.

Doch der Versuch, mir eine positive Weltanschauung zuzulegen, scheitert gründlich. Was mache ich mir vor? Mein Leben ist ein einziges Desaster!

Als ich den Schlüssel in die Haustür stecke, krampft sich mein Herz zusammen. Es hat keinen Zweck, es zu verleugnen. In der leeren Wohnung lauert die unumstößliche Tatsache: Nichts und niemand wartet hier auf mich. Nichts, außer den Andenken an meine geplatzten Träume. Und die Beweise für mein Scheitern.

Irgendwo scheine ich doch ein paar Karmapunkte gesammelt zu haben, denn jetzt entdecke ich das Päckchen, das der Bote hinter der Topfpflanze neben dem Eingang versteckt hat. Ein Care-Paket von meiner Mama. Ein wenig Liebe ohne Gegenleistung, denn wenn ich ehrlich bin, hab ich in letzter Zeit nicht viel dazu beigetragen, mir ihre Zuwendung zu verdienen. Im Gegenteil: Ich habe sie auf Abstand gehalten. Ihr gerade genug Einblicke in mein Leben gewährt, um zu verhindern, dass sie sich in den Flieger setzt und zur Stippvisite bei mir aufkreuzt. Und jetzt? Jetzt wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass meine Mutter mit mir auf der Couch sitzen würde.

Behutsam öffne ich die Schachtel auf meinem Schoß und wühle meine Hände in die Styroporflocken. Sonst ziehe ich sie damit auf, aber heute rührt mich die Sorgfalt, mit der sie ihre Geschenke an mich verpackt, beinahe zu Tränen. Alle ihre Sendungen erhalten das Etikett „Vorsicht zerbrechlich“, dabei könnte man mit ihnen Cricket spielen, bei dem ganzen Füllmaterial, das sie hineinstopft. Meine Hände ertasten etwas Vertrautes. Etwas, das Mama noch nie vergessen hat. Meine Lachgummis.

Wie immer sind es zwei Tüten. Eine für mich, eine für Edie. „Weil ich doch weiß, wie sehr ihr beide die mögt.“

Das ist der Moment, in dem ich nicht mehr an mich halten kann, mein Widerstand gegen die Tränen ist zwecklos. Es raschelt, als ich die Packung an mich drücke, in die Kissen sinke und hemmungslos heule.

Als die Kopfschmerzen unerträglich werden, wische ich mir mit dem Ärmel über Augen und Nase und stehe dann auf, um mir eine Tablette zu holen. Ich spüle sie hinunter, spüre die Schläfen hämmern und die Verzweiflung an mir nagen.

Am liebsten würde ich jetzt meine Mutter anrufen. Sie zählt zu den Menschen, die wie die Detektive in alten Filmen einen Telefonanschluss direkt neben dem Kopfkissen haben. Trotzdem zögere ich. Es ist spät. Und irgendwie fürchte ich auch ihren Spürsinn, der mich entlarven würde, noch bevor ich den ersten Satz beendet hätte. Außerdem will ich um jeden Preis vermeiden, dass mein Vater etwas von dem Gespräch mitbekommt, also vertage ich es auf morgen.

Stattdessen nehme ich eine der Tüten, die mir nun wie Mogelpackungen vorkommen, weil es am Ende doch nur gewöhnliche Weingummis sind, die leere Versprechungen und zu viele Kalorien bereithalten. Wenigstens auch ein paar Vitamine. Trotzdem ist es erbärmlich. Genauso, wie ich mich gerade fühle. Am meisten jedoch quälen mich die vielen schönen Erinnerungen, die ich damit verbinde. Die Monopoly-Abende mit Edie, bei denen die Fruchtgummis als weiche Währung herumgereicht wurden. Geradezu inflationär haben wir sie verwendet, die süßen Früchte bei jeder Gelegenheit in Umlauf gebracht. Mit Edie war gut Kirschen essen, weil sie mir ihre immer anstandslos überlassen hat. Und was hat sie im Tausch bekommen?

Ich lasse mich auf die Couch fallen und begreife nun endlich, was Edie gemeint hat. Ausgewogen ist unsere Freundschaft tatsächlich nie gewesen. Es ist ein schreckliches Gefühl, die ungeschönte Wahrheit zu erkennen. Vor allem, wenn man selbst das Biest ist.

Zweihundert Gramm Fruchtgummis wandern daraufhin zurück in den Karton. Mein Herz fühlt sich unendlich schwer an, als ich die Schachtel zuklebe, meinen Namen durchstreiche und stattdessen Edies Adresse draufschreibe.

Gleich am nächsten Tag bringe ich das Päckchen zur Post. Ein mehr als armseliger Versuch, mich zu entschuldigen. Vielleicht auch eine kleine Bestechung. Doch was bleibt mir anderes übrig? Meine Worte prallen an Edie ab. Sie hat mich aus ihrem Leben ausgesperrt. Für alles, was ich ihr sagen will, bleibt nur mehr der Postweg. Meine Anrufe blockt sie weiterhin ab. Bei dem Gedanken klopft auch das schlechte Gewissen gegenüber meiner Mutter wieder an. Sie hat bei Gott genug Erfahrung darin, ignoriert zu werden. Schande über mich, Schande über meinen Vater.

In meiner aktuellen Situation bewundere ich sie für die stoische Gelassenheit, mit der sie es hinnimmt. Aber ist das wirklich so? Oder hat sie nur gelernt, ihre Kränkung so gut zu verbergen, weil es ansonsten noch mehr wehtun würde? Vermutlich ist es einfacher, seine Gefühle herunterzuspielen, als es auszuhalten, wenn andere darauf herumtrampeln – oder noch schlimmer: über sie hinwegsehen.

Auf der Herdplatte steht noch die Kanne, in der seit dem Morgen zwei Teebeutel dümpeln. Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass die Brühe nun ungenießbar ist, schütte ich sie in die Tasse, die mir Edie geschenkt hat, und nehme einen Zug. Scheiße, ist das bitter! Aber der Weg der Selbstläuterung ist eben hart und steil, und im Moment mag ich mich nicht genug, um mir einen frischen Tee zu kochen. Ich mag mich auch nicht genug, um mir das Toastbrot zu toasten oder mit Butter zu bestreichen. Außerdem schmeckt mir sowieso nichts.

Dafür ringe ich mich durch, meine Mutter anzurufen. In meinem Magen kribbelt und rumort es, während ich dem Freizeichen lausche, was ich nicht allein auf den Hunger schieben kann.

„Jessica!“, ruft sie begeistert. „Wie schön, dass du dich meldest. Ich habe gerade an dich gedacht.“

Eine Floskel, aber im Fall meiner Mutter mit größter Wahrscheinlichkeit nicht gelogen.

„Hast du mein Päckchen bekommen?“

„Ja, hab ich. Ist alles heil“, betone ich, bevor sie mich danach fragt. „Ich ruf an, um mich dafür zu bedanken.“

„Doch nicht dafür …“

„Doch, doch. Das muss einmal gesagt werden.“ Nach dieser Aussage bin ich ein wenig stolz auf mich. Klappt doch ganz gut mit der Reue, finde ich.

„Och, Jessica …“ Fast fühle ich, wie meine Mutter am anderen Ende der Leitung rot anläuft. „Das mach ich doch gerne. Aber genug von mir. Wie geht es dir denn? Es ist ewig her, dass wir miteinander telefoniert haben! Wie läuft es mit deinem Label? Kommst du gut zurecht?“

Tja, mein Label. Wo soll ich anfangen? Vielleicht damit, dass es in Wirklichkeit überhaupt kein Label gibt. Im Grunde existiert davon im Moment nur ein unvollständiges Brainstorming, das der Namensfindung hätte dienen sollen. Edie hat mich dabei tatkräftig und wortgewandt unterstützt. Die besseren Vorschläge sind ihre ureigene Schöpfung, trotzdem konnte ich mich bisher nicht dazu durchringen, einen davon auszuwählen. Vermutlich tue ich mich damit schwer, weil mir noch die richtige Vision fehlt. Es gibt zu viele lose Fäden, die sich nicht zusammenfügen wollen, so sehr ich mich auch anstrenge. Ich hab mich darin verheddert, muss ich gestehen. Noch komplizierter ist es, sich nicht in den zahlreichen Lügen zu verstricken, die ich meiner Mutter aufgetischt habe, um ihr – stellvertretend für meinen Vater – zu beweisen, dass meine Entscheidung die einzig richtige war. Meine Mutter ist wohl der einzige Mensch auf der Welt, der glaubt, dass ich kurz vor dem großen Durchbruch stehe. Mir tut das Herz weh, wenn ich daran denke, ich könnte sie enttäuschen. Trotzdem bringe ich es heute nicht über mich, sie anzuflunkern.

„Ach, weißt du. Ich habe gerade ein kleines Motivationstief.“

Das ist zwar die reinste Untertreibung, aber zumindest keine Lüge.

„Man kann eben nicht pausenlos arbeiten, Kleines. Das predige ich deinem Vater auch immer. In dieser Hinsicht bist du genau wie er.“

Ich rolle mit den Augen. Mit meinem Vater verglichen zu werden, zählt nicht unbedingt zu meinen obersten Zielen, selbst wenn meine Mutter ihn im besten Licht präsentiert.

„Du hast seine Willensstärke geerbt.“

Böse Zungen würden eher von Starrköpfigkeit sprechen.

„Und du gehst immer mit einem solchen Elan an die Dinge heran. Genau wie er.“

Ich reibe meine Stirn und würde mich am liebsten vor Scham irgendwo verkriechen. Mir fallen auf Anhieb einige Situationen ein, in denen ich mir die berüchtigte Faust-auf-den-Tisch-Mentalität meines Vaters zu eigen gemacht habe. Etwas subtiler zwar, aber trotzdem. Die Leidtragende dieser – meiner! – Szenen ist zumeist eine bestimmte Person gewesen: Edie.

Jetzt verspüre ich das Bedürfnis, zu beichten.

„Diesmal hab ich es übertrieben, fürchte ich.“

Am anderen Ende der Leitung wird es seltsam ruhig.

„Wie meinst du das?“