Die verbotene Heimat - Melanie Lindorfer - E-Book
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Die verbotene Heimat E-Book

Melanie Lindorfer

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Beschreibung

Anni ist achtzehn Jahre alt, als sie aus ihrer Heimat in Südböhmen vertrieben wird. Sie kehrt nie zurück an den Ort, den sie einerseits mit so viel Liebe und andererseits mit großem Leid verbindet. Als die ersten Anzeichen einer Alzheimer-Erkrankung auftreten, schreibt sie ihre Geschichte auf - bevor eintritt, was sie sich lange gewünscht hat: endlich zu vergessen.

Die 27-jährige Franzi führt ein Leben als moderne Nomadin. Als ihre Eltern den Hof der Familie im Ostallgäu verkaufen, stößt Franzi auf die unvollständigen Aufzeichnungen ihrer Großmutter und deren tragische Lebensgeschichte. Für Franzi steht fest: Sie muss herausfinden, was damals wirklich geschehen ist. Moritz, der neue Besitzer des elterlichen Hofes, will sie bei der Suche unterstützen. An Annis Stelle begibt Franzi sich auf eine Reise in den Böhmerwald und versucht dort wiederzufinden, was ihre Großmutter über siebzig Jahre zuvor zurücklassen musste.

Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26EpilogNachwort und Dank

Über dieses Buch

Anni ist achtzehn Jahre alt, als sie aus ihrer Heimat in Südböhmen vertrieben wird. Sie kehrt nie zurück an den Ort, den sie einerseits mit so viel Liebe und andererseits mit großem Leid verbindet. Als die ersten Anzeichen einer Alzheimer-Erkrankung auftreten, schreibt sie ihre Geschichte auf – bevor eintritt, was sie sich lange gewünscht hat: endlich zu vergessen.

Die 27-jährige Franzi führt ein Leben als moderne Nomadin. Als ihre Eltern den Hof der Familie im Ostallgäu verkaufen, stößt Franzi auf die unvollständigen Aufzeichnungen ihrer Großmutter und deren tragische Lebensgeschichte. Für Franzi steht fest: Sie muss herausfinden, was damals wirklich geschehen ist. Moritz, der neue Besitzer des elterlichen Hofes, will sie bei der Suche unterstützen. An Annis Stelle begibt Franzi sich auf eine Reise in den Böhmerwald und versucht dort wiederzufinden, was ihre Großmutter über siebzig Jahre zuvor zurücklassen musste.

Über die Autorin

Melanie Lindorfer, geboren 1986, lebt mit ihrer Familie in Oberösterreich. Sie ist fasziniert von den Relikten der Vergangenheit, von Dingen, die verborgen, vergessen oder aus der heutigen Zeit verschwunden sind. Inspiration für ihre Geschichten holt sie sich auch bei ihren Streifzügen durch den Böhmerwald und die geheimnisvolle Landschaft des Mühlviertels.

Melanie Lindorfer

Die verbotene Heimat

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze

Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © Alextov/GettyImages; © Андрей Глущенко/GettyImages; © Sandra Dombrovsky/GettyImages; © Likoper/GettyImages; © prill/GettyImages; © Elena Shutova/GettyImages; © zlotysfor/GettyImages

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-9515-0

be-ebooks.de

lesejury.de

Für meine Großeltern

Kapitel 1

Ostallgäu, Ende Juli 2019

Der Regen prasselte an die Scheibe, als wären es keine Tropfen, sondern wütende Geschosse, die das Glas zum Zerbersten bringen wollten. Die Niederschläge der letzten Tage hatten den Zufahrtsweg aufgeweicht. Schlammige Pfützen füllten die Schlaglöcher in der Erde.

Seltsam. Wenn Franzi auf Reisen war, störte sie der Regen selten. Sie erinnerte sich an den warmen Schauer in den Weinbergen der Toskana. An den Wolkenbruch, der sie in Singapur überrascht hatte. Innerhalb von Sekunden war sie bis auf die Haut durchnässt gewesen, und es hatte ihr nichts ausgemacht. Der peitschende Sturm, der beim Campen in den Pyrenäen an der Plane ihres Zeltes gerüttelt hatte, war ihr als ein guter Grund erschienen, sich eng an ihren Begleiter zu schmiegen.

Das Treiben vor dem Fenster draußen verhieß dagegen kein Abenteuer, keine Romantik. Franzi fröstelte.

Gleich musste sie wieder hinaus, um die letzten Möbel, die ihre Eltern mitnehmen wollten, in den Transporter zu laden.

Ihr Blick verweilte noch für einen Moment auf den grünen Weiden hinter ihrem Elternhaus, die durch den Schleier des Regens dunkel und schmutzig wirkten.

Die letzte Kuh hatten die Eltern schon vor einigen Wochen verkauft, jetzt hatte auch der Hof einen Abnehmer gefunden.

Dieser war nach dem Arbeitsunfall ihres Vaters zur Last geworden, die Landwirtschaft für ihre Mutter Irina allein nicht mehr zu bewältigen.

Schweren Herzens hatten sich die Eltern entschlossen, ihr Heim zu verkaufen. Franzis Geschwister lebten in der Nähe und waren an diesem Tag gekommen, um dabei zu helfen, das Haus auszuräumen. Sie selbst hatte ihren Aufenthalt in Amsterdam abgebrochen, um ihren Eltern daheim unter die Arme zu greifen.

Daheim.

Zu Hause fühlte sie sich hier längst nicht mehr, obwohl sie zwischen ihren Reisen häufiger auf dem Hof im Ostallgäu unterschlüpfte. Meist zog es Franzi bereits nach wenigen Tagen wieder fort. In die Fremde, in der sie ihre Sehnsucht nach Abwechslung und Abenteuer stillen konnte.

Der Drang nach Freiheit meldete sich auch jetzt wieder mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust. Sie atmete tief durch, konzentrierte sich darauf, wofür sie gekommen war.

»Sieh nach, ob du etwas behalten willst, der Rest kommt in den Container.« Mit diesen Worten hatte ihre Mutter Franzi in ihr altes Kinderzimmer geschickt.

Unten polterte es. Franzi hörte ihren Bruder fluchen und die Stimme ihrer Schwester, die ihn zurechtwies. Es roch nach gerösteten Zwiebeln, die in der Pfanne für ein deftiges Mittagessen brutzelten.

Franzi ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, der ihr nun klein und beengt vorkam. Als Kind hatte sie sich darin verloren gefühlt. Die Bettdecke bis zur Nasenspitze gezogen, hatte sie die Muster der Vorhänge betrachtet, die sich im Mondlicht in unheimliche Kreaturen verwandelten. Sie erinnerte sich, wie sie sich gezwungen hatte, die Augen zu schließen, und ängstlich den Geräuschen des Hauses gelauscht hatte, die ihr eigentlich vertraut waren – das Knacken des Gebälks, das Quietschen des kaputten Fensterladens im Wind. Wenn die Katze die Mäuse über den Dachboden jagte, drangen Laute wie von einem fernen Galopp zu ihr herunter. Damals hatte ihr Herz vor Aufregung gepocht.

Meistens war sie dann zu ihrer Schwester Sonja ins Bett gekrochen, die den nächtlichen Besuch jedes Mal mit einem Brummen kommentierte und Franzi in die Arme zog. Eingemummelt in das dicke Federbett, begleitet von Sonjas gleichmäßigen Atemzügen, war sie schnell in den erlösenden Schlaf gesunken.

Franzi musste schmunzeln. Heute wäre es sogar noch kuscheliger bei ihrer Schwester im Bett. Als Mutter von drei Kindern hatte sich die ehemals gertenschlanke Sonja ein paar Polster an den richtigen Stellen zugelegt. »Ein Notdepot für schlechte Zeiten«, beliebte sie zu scherzen. Wenn ihr die Jungs kaum Luft zum Atmen ließen, half eben nur Schokolade, verteidigte sich Sonja stets. »Du wirst schon noch sehen. Wenn du selbst Kinder hast, wirst du dich auch von deiner Kleidergröße sechsunddreißig verabschieden müssen.«

Franzi öffnete die Tür des Schranks und sah ein paar Stapel Klamotten durch, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hatten. Die Drohung ihrer Schwester kostete sie nur ein müdes Lächeln. Sie bewunderte Sonja für deren Stärke und Elan. Sie selbst empfand es als ungemein anstrengend, sich länger als eine Stunde mit ihren Neffen zu beschäftigen. Immer nörgelte einer, oder es gab Streit. Vielleicht war sie nicht dazu geschaffen, eine Mama zu sein.

Mit ihrem modernen Nomadendasein wäre ein Kind ohnehin nur schwer zu vereinbaren. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals darauf zu verzichten. Nicht, ohne einen Teil von sich selbst aufzugeben. Wahrscheinlich würde sie verrückt werden, sich eingesperrt fühlen.

Sie löste sich von ihren Gedanken und verließ das Zimmer. Darin befand sich nichts, das einen Wert für sie besaß. Im Moment hatte sie keinen festen Wohnsitz, und auf ihren Reisen wäre alles nur Ballast.

Sie nahm die erste Stufe, um sich wieder unter das arbeitende Volk im Erdgeschoss zu mischen. Etwas hielt sie zurück, ließ sie in der Bewegung erstarren.

Es war nur so ein Gefühl, dass sie noch etwas vergessen hatte.

Ihr Blick wanderte zu der Tür, hinter der die Wohnung ihrer Großmutter lag, die nun schon so viele Jahre ungenutzt war. Eine bescheidene Kammer und ein Bad mit Dusche hatten dieser vollkommen genügt, bis Alzheimer eine Rundumbetreuung nötig gemacht hatte. Vor knapp zehn Jahren war sie schließlich von ihrem Leiden erlöst worden.

Ein mulmiges Gefühl überkam Franzi, als sie die Räume betrat und ihr der Geruch ihrer Großmutter entgegenschlug.

Als wäre sie nie fortgegangen.

In dem kleinen Weihwasserbecken neben der Tür hatte sich Staub angesammelt. Ein Detail, das wohl beim Generalputz übersehen worden war. Franzi ließ die Fingerspitze über das fein säuberlich gemachte Bett gleiten. Die Nähmaschine ihrer Großmutter stand am Fenster. Franzi zog die unterste Schublade des massiven Unterschranks ruckelnd heraus. Sie waren immer noch da: eine Million bunter Knöpfe in den unterschiedlichsten Farben und Formen, gesammelt in einer großen Schüssel. Als Kind hatte sie das jedenfalls gedacht, sich fest vorgenommen, alle zu zählen. Fast sah sie ihre Großmutter schmunzelnd neben sich im Schaukelstuhl sitzen.

»Das hört sich nach einer Menge Arbeit an. Nur zu! Ich habe hier einen Berg Socken zu stopfen. Wenn wir fertig sind, mach ich uns Pudding.«

Franzi griff hinein und ließ die Knöpfe durch ihre Finger zurück in die Schale rieseln.

Wehmut überkam sie. Machte ihr die Aufgabe des Hofes doch mehr aus als gedacht?

An der Wand hing ein Foto von der kleinen Franzi. Sie musste etwa fünf Jahre alt gewesen sein, als es aufgenommen worden war. Ihre dunklen Augen blitzten zornig, die Lippen waren zu einem Schmollmund verzogen. Schuld war eine Haarspange gewesen, die ihr die Mutter für das Kindergartenfoto aufgezwungen hatte.

Franzi stellte fest, dass sie sich seit Kindertagen kaum verändert hatte. Ihre Gesichtszüge waren schmaler geworden, und ihr haselnussbraunes Haar trug sie immer noch schulterlang, nur kümmerte es heute niemanden mehr, ob sie sich morgens überhaupt kämmte. Manchmal entsprach sie mit ihrem Strubbel-Look sogar dem Trend, wichtig war ihr das allerdings noch nie gewesen.

Sie öffnete den niedrigen Bauernschrank, betrachtete die wenigen Kleidungsstücke darin. Es war ein sparsames Leben, das Anni geführt hatte.

Am Boden entdeckte sie das Nähkästchen, dessen Laden sich zu beiden Seiten stufenförmig ausziehen ließen. Auch damit hatte sie als Kind gespielt, es als Haus für Playmobilmännchen und Sammelfiguren aus Überraschungseiern genutzt. Ob sie eine darin vergessen hatte?

Beim Öffnen des Holzkastens wölbte sich ihr ein Bogen Papier entgegen. Eine Ecke hatte sich unterhalb der mittleren Etage verklemmt. Darauf bedacht, das Blatt nicht zu zerreißen, zog sie es heraus, und darunter kamen noch weitere Seiten zum Vorschein. Sie erkannte die Handschrift ihrer Großmutter. Noch während sie den ersten Satz las, wurde sie traurig.

Heute habe ich beim Eindecken die Löffel mit Gabeln verwechselt. Der besorgte Blick von Irina hat mir zu verstehen gegeben, dass mir so etwas in letzter Zeit häufiger passiert. Ich weiß, was das zu bedeuten hat, denn meiner Großtante mütterlicherseits ist es ebenso ergangen – auch wenn man damals noch keine Bezeichnung dafür kannte.

Das Vergessen ist nicht mehr aufzuhalten.

Vergessen. Die überwiegende Zeit meines Lebens wollte ich nichts anderes. Den Kummer. Den Schmerz. All das, was ich zurücklassen musste.

Noch ist die Alzheimerforschung nicht dahintergekommen, was genau diese Krankheit verursacht. Bestimmte Eiweißablagerungen spielen eine Rolle – so glaubt man. Ich habe eine andere Theorie:

Die Seele eines Menschen kann nur ein gewisses Maß an Leid ertragen. Ist dieses Maß voll, schaltet sich die Abwehr des Körpers ein. Wie das Immunsystem gegen Grippeerreger kämpft, verhindern andere Mechanismen den Zerfall der Seele – selbst wenn damit die Auslöschung aller Erinnerungen, die Zerstörung von Synapsen und Gehirnzellen einhergeht.

So ist es nun. Eine Entwicklung, die ich nicht aufhalten kann. Ich kenne die Verzweiflung und die Wut, so machtlos zu sein. Auch dieses Mal werde ich mich meinem Schicksal fügen.

Doch obwohl ich diesen Hof schon seit vielen Jahren mein Zuhause nenne, sehne ich mich noch immer nach daheim. Dem Böhmerwald.

Manchmal ist die Sehnsucht so groß, dass ich glaube, ein Teil von mir ist dortgeblieben. Ein Irrtum, denn alles, woran mein Herz hing, ist fort.

Den Ort, in dem ich aufgewachsen bin, gibt es nicht mehr. Nur die Kirche und den Friedhof – aus den Fängen der Wildnis befreit – stehen dort als stumme Mahnmale. So habe ich es gelesen. Ich selbst bin nicht mehr da gewesen. Auch nicht nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Der Stacheldraht ist weg, aber die Wunden werden niemals heilen. Die Zerrissenheit in mir lässt sich nicht flicken. Und doch will ich es versuchen. Die Fetzen aus meiner Erinnerung zusammenfügen, solange es mein Zustand noch erlaubt. Ehe alles in den dunklen Löchern meines Verstandes verschwindet.

Jetzt bin ich müde. Meine Enkelin spielt draußen im Hof. Durch das geöffnete Fenster dringt ihre feine Stimme. Sie singt ein Lied, das sie im Kindergarten gelernt hat. Immer wieder wiederholt sie eine Zeile, die sie wohl falsch aufgeschnappt hat.

»Für einen Elefanten ist es eine Hitz, zu balancieren auf dem Spinnennetz.«

Wenn ihre Mutter Irina sie verbessert, es heiße Hetz, streitet das Kind es vehement ab. Sie kann sich wohl nicht vorstellen, dass das einem Elefanten Spaß machen soll.

Das Mädchen hat einen starken Willen. Ich bete, dass ihm diese Eigenschaft niemals abhandenkommt.

Jetzt werde ich mich noch ein wenig ausruhen. Die Nachmittagshitze bekommt mir nicht.

Franzi schluckte. Die Worte ihrer Großmutter hatten sie gefangen genommen. Erinnerungen an ihren hilflosen Zustand, ihre Scham über die fortschreitende Verwirrtheit und den Tag, an dem sie ihre eigene Enkelin nicht mehr wiedererkannt hatte, überfielen Franzi. Sie kämpfte mit den Tränen, spürte einen bohrenden Druck in ihrer Brust.

Ihre Großmutter hatte nie über ihre Jugendzeit gesprochen. Der Krieg, natürlich! Manche Dinge ließ man lieber ruhen.

Nun, da sie diese Zeilen las, empfand Franzi ein tiefes Bedauern. Wie schrecklich musste es für ihre Großmutter gewesen sein, ihren Schmerz mit niemandem teilen zu können.

Für Franzi war das ein unvorstellbarer Gedanke. Wo auch immer auf der Welt sie sich gerade befand, sie wusste, dass irgendjemand aus ihrer Familie ein offenes Ohr für sie hatte. Sogar ihr Bruder, der sich sonst wenig um ihren Kram scherte. Aber wenn sie Probleme hatte, war er mittlerweile ihre erste Anlaufstelle. Nicht ihre Schwester Sonja, die dann zur Glucke mutierte. Auch nicht ihre Eltern, die sich nur unnötig Sorgen machen würden – vor allem ihre Mutter. Deren kräftige Stimme drang nun aus dem Erdgeschoss herauf.

»Franzi! Wo bleibst du? Wir brauchen dich hier unten.«

»Ich komme ja schon«, murmelte Franzi, die sich nicht gern herumkommandieren ließ. Was war das nur, dass sie sich in Gegenwart ihrer Eltern immer wie ein unmündiger Teenager fühlte? Mit ihrer Vorstellung vom Leben waren diese nicht wirklich einverstanden. Sie klammerten sich an die Hoffnung, Franzi käme irgendwann zur Vernunft. Sie wünschten sich mehr Beständigkeit für sie im Leben – und in der Liebe.

Manchmal, wenn sie ehrlich war, sehnte sie sich selbst danach. Nach etwas, das die Rastlosigkeit in ihr besänftigte. Nach keinem Ort, sondern einem Jemand, zu dem sie heimkommen konnte.

*

Der Lichtkegel der Taschenlampe schwenkte wie ein Suchscheinwerfer durch das sonst dunkle Zimmer. Einer ihrer Neffen kicherte.

»Wollen wir nicht endlich schlafen?«, jammerte Franzi. Ihre Glieder schmerzten vom Möbelschleppen, und sie war todmüde.

»Nö!« Die Antwort kam prompt. Fast gleichzeitig beugte sich Milo aus der oberen Etage des Stockbettes zu ihr herunter und richtete dabei die Taschenlampe auf sein Gesicht. Er verzerrte es zu einer gespenstischen Fratze und stieß ein diabolisches Gelächter aus.

»Das war ja klar.« Franzi legte eine Hand über die Augen. Wie hatte sie sich nur dazu überreden lassen können, bei den Jungs zu schlafen? Sonja hatte ihr sogar einen Ausweg geboten, nachdem sie sich in diesen Schlamassel hineingeredet hatte. Aber Franzi hatte das Angebot, im Gästezimmer zu übernachten, zurückgewiesen, weil sie die tolle Tante geben wollte, die die Jungs in ihr zu sehen schienen. Rückblickend war sie auf ihre ausgefuchsten Neffen hereingefallen. Die kleinen Biester hatten sie tatsächlich manipuliert! Na gut, Milo war immerhin schon acht. In diesem Alter durfte man sie nicht unterschätzen.

Insgeheim hatte sie gehofft, sich schon bald den Aufzeichnungen ihrer Großmutter widmen zu können. Während des Tages war dafür keine Zeit gewesen, obwohl ihre Gedanken sie fortwährend zu dem Papierbündel zogen, das sie aus der Kammer mitgenommen hatte. Am Abend hatte sich die Familie bei Sonja zur gemeinsamen Brotzeit versammelt. Wieder keine Gelegenheit.

Und jetzt dachten die kleinen Rabauken nicht daran zu schlafen. Nur einen hatte die Müdigkeit übermannt. Franzis jüngster Neffe Tim lag neben ihr wie ein gestrandeter Seestern. Sein rechtes Bein ruhte besitzergreifend auf ihrem Bauch. Eigentlich musste sie schon seit einer halben Stunde auf die Toilette. Aber sie wusste nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte, ohne ihn aufzuwecken. Also verharrte sie regungslos in ihrer Position. Wie lange dauerte es wohl, bis der Tiefschlaf eintrat? Wenn sie den richtigen Zeitpunkt erwischte, musste es möglich sein, sich aus der Umklammerung zu lösen.

Sie starrte an die Decke und verfolgte Milos Lichtsignale. Er übte das Morsealphabet! Kurz – lang – lang. Er war schon bei W, dann würde er das Licht hoffentlich bald ausknipsen. Sie war sich so sicher, da fing Milo wieder von vorn an.

Franzi klopfte an den Bettpfosten, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Dann übermittelte sie ihm auf diese Weise den Morsecode für Gute Nacht.

Endlich löschte Milo das Licht.

»Gute Nacht, Tante Franzi. Schlaf gut«, wisperte er.

»Du auch, kleiner Mann. Ich hab dich lieb!«

Als es im Zimmer ruhig geworden war und Tim vom Seestern in die Position des zusammengerollten Igels gewechselt hatte, schlich sie auf Zehenspitzen hinaus und über die Treppe ins Erdgeschoss. Nachdem sie sich erleichtert hatte, suchte sie nach ihrer Tasche. Diese lag auf der Sitzbank im Flur, darunter scharten sich Schuhe unterschiedlicher Größen.

In der Küche setzte sie den Teekessel auf. Sie wartete und lauschte, bis ihr ein leises Brodeln verriet, dass das Wasser zu sieden begann. Der Kessel fing schon zu singen an, also nahm sie ihn von der Platte, um nicht das ganze Haus aufzuwecken. Aus der gut bestückten Teebox wählte sie einen Darjeeling und hängte den Beutel in eine Jumbotasse mit verkniffenem Gesicht.

Sie kuschelte sich im Wohnzimmer mit einer Decke auf die Couch und knipste die Leselampe an. Anschließend holte sie die Aufzeichnungen ihrer Großmutter aus der Tasche und begann zu lesen.

Kapitel 2

Hüttenhof, Böhmerwald, Ende April 1943

Anni ließ die Sense durch das taunasse Gras auf dem Hang unterhalb ihres Elternhauses gleiten. Die Morgensonne blinzelte zaghaft hinter dem Hügel hervor, tauchte den Himmel zwischen den Zweigen der Obstbäume am Rande des Grundstücks in ein blassrosa Licht. Ihre Stämme versanken im milchigen Schleier des Morgennebels. Der Dunst verschluckte die dunklen Baumreihen, die dahinter lagen, ließ ihre Konturen verschwimmen, als wären sie nur ein gemaltes Abbild der Wirklichkeit.

Annis gleichmäßige Bewegung stoppte abrupt, als sich die Sense in einem kräftigen Grasbüschel verfing. Sie stöhnte, stützte sich auf den Holzstiel und schloss für einen Moment die Augen, um das Schwindelgefühl zu vertreiben, das sie hatte straucheln lassen.

Es gab einen Grund für ihre Erschöpfung: Ihrer Mutter ging es nicht gut. Die halbe Nacht hatte Anni an ihrem Bett gewacht, ehe sie schließlich selbst eingenickt war.

Ein lautes Muhen aus dem Stall hatte sie wenig später aus dem Schlaf gerissen. Die Kühe warteten darauf, gefüttert zu werden. Sie musste sie versorgen, verdrängte den eigenen Hunger, der in ihre Magengrube bohrte. Glücklicherweise milderte der Geruch nach frisch geschnittenem Gras das flaue Gefühl.

Anni sog die kühle Morgenluft ein und machte sich dann daran, die Halme mit dem Rechen zusammenzutragen und auf die Schubkarre zu verladen. Sie stemmte sich dagegen, um diese über das Steilstück hinauf zum Stall zu befördern. Eine Speiche war gebrochen. Es war niemand da, um sie zu richten, denn der Vater war schon vor Jahren gestorben. In der Werkstatt seiner Wagnerei fände sie alle notwendigen Werkzeuge, jedoch fehlten ihr die Kenntnisse, das Rad selbst zu reparieren.

»Ich bin ja schon da«, begrüßte sie Berta und Zenzi und erntete ein vorwurfsvolles Muhen von Berta, die die Ungeduldigere von beiden war. »Ja, ich weiß, ihr habt’s lange warten müssen. Kommt nicht wieder vor. Jetzt lasst es euch schmecken.«

Sie verteilte das Gras zu gleichen Teilen auf zwei Haufen, mistete die Box aus und bedeckte den Boden mit frischer Streu aus getrockneten Buchenblättern. Mit einem Klaps auf das Hinterteil gab sie Berta zu verstehen, sie solle zur Seite rücken. Anschließend hob sie ihren Rock an und ließ sich auf den Schemel nieder, um die Kuh zu melken. Danach schöpfte sie Rahm aus der Kanne, in der sie die Milch vom Vortag gesammelt hatte, um daraus ein Frühstück für sich und ihre Mutter zu bereiten.

Zurück im Haus legte sie einige Scheite im kleinen Holzofen nach und wärmte kurz ihre Finger über der Platte, bevor sie den Topf aufsetzte. Ihre nassen Strümpfe wickelte sie zum Trocknen um das Gestell über dem Ofen. Ehe die Milch aufkochte, gab sie Bröckchen eines hart gewordenen Kantens Brot hinein. Sie verfeinerte die Rahmsuppe mit etwas Kümmel und Salz und trug eine gefüllte Schüssel in die Kammer ihrer Mutter. Diese war bereits wach, starrte abwesend auf das Kreuz an der dem Bett gegenüberliegenden Wand und nahm kaum Notiz von Anni, als diese eintrat.

Anni schob die Bibel auf dem Nachttisch zur Seite, um Platz für das Frühstück zu schaffen, setzte sich auf die Bettkante und befühlte die Stirn ihrer Mutter. Deren Wangen waren noch gerötet vom Fieber, aber Gott sei Dank war die Temperatur gesunken.

»Wie geht es dir? Iss ein bisschen, damit du zu Kräften kommst.«

Die Mutter nickte und hob ächzend den Kopf. Anni half ihr dabei, sich im Bett aufzurichten.

»Soll ich heute lieber daheim bleiben?«, fragte Anni, während sie ihr das dicke Federkissen hinter den Rücken stopfte. »Die Kirchenwirtin hat sicher Verständnis dafür, wenn ich ihr erkläre, wie krank du bist. Ich gehe nur schnell nach Glöckelberg, um es ihr zu sagen.«

»Nein«, krächzte die Mutter. »Untersteh dich. Wenn ich nicht mehr bin, bist du froh um die Arbeit.« Sie faltete die Hände über der Brust und seufzte tief. »Der Herrgott wird mich in ein besseres Jenseits holen. Das spüre ich. Du musst dann ohne mich auskommen.«

Annis Augen wurden feucht. Für einen Moment presste sie die Lider aufeinander und schluckte den beklemmenden Schmerz hinunter. Die Worte der Ermunterung, die ihr auf der Zunge lagen und auch den Ärger, den sie nicht unterdrücken konnte. Es hatte ja keinen Sinn, etwas zu sagen! Die Freude am Leben hatte ihre Mutter längst verloren, und fast schien es, als hätte sie sich in den Kopf gesetzt zu sterben. Voller Hingabe zu leiden, zum Beweis für ihre Demut und die Bereitschaft, sich Gottes Willen zu unterwerfen.

Wie oft hatte Anni ihr schon gut zugeredet? Ja, beinahe gefleht, sie möge doch so etwas nicht sagen. Es nutzte nichts. Schwermut erfüllte die Stube, wann immer ihre Mutter darin weilte – im Winter die meiste Zeit, weil nur dieser eine Raum beheizt war. Manchmal nahm Anni die Verstimmung wie eine Anklage wahr, die drückend in der Luft hing, als wäre sie selbst für die Last auf dem Herzen ihrer Mutter verantwortlich. Dem kranken Herzen, das nach einer verschleppten Grippe geschwächt gewesen war und sich nie mehr vollständig davon erholt hatte. In der letzten Zeit war es besonders schlimm geworden. Ständig war ihre Mutter gesundheitlich angeschlagen oder einfach nur verdrossen, und fühlte sich außerstande, ihre Arbeit zu verrichten. So waren Anni die Wintermonate länger, die Tage noch düsterer vorgekommen.

Dabei hatte sie Gott mit einem vergleichsweise milden Wetter gesegnet, die großen Schneemassen, an die die Menschen im Böhmerwald sich gewöhnt hatten, waren ausgeblieben. Ebenso wie die furchtbare Kälte, die zwei Jahre zuvor sogar die Kartoffeln im Erdkeller hatte gefrieren lassen. Ihr Vorrat ging zwar zur Neige, und auch Kraut und Rüben setzten schon schwarze Stellen an, aber durch die Lebensmittelkarten war die Grundversorgung mit dem Wichtigsten in der Regel gesichert.

Anni wollte sich nicht beschweren. Jetzt im Frühling kämen auch wieder die Gaben der Wälder und Wiesen auf den Tisch. Sie nahm sich vor, Bärlauch für eine Brühe zu sammeln, die ihrer Mutter wieder auf die Beine helfen sollte – selbst, wenn die sich noch so sehr dagegen sträubte. Und in den klaren Bergbächen rund um ihren Heimatort wimmelte es von Forellen. Wenn das Anglerglück auf Annis Seite war, gäbe das einen Festtagsschmaus. Insgeheim hoffte sie jedoch darauf, die Wirtin würde ihr zu Ostern eine besondere Freude bereiten und ihr ein wenig Fleisch oder ein kleines Stück Speck einpacken. Aber im Grunde musste sie froh sein, dass man sie dort seit Kurzem als Aushilfe beschäftigte. Ein Umstand, den Anni allein ihrer Freundschaft mit der Wirtstochter Mina verdankte.

Ach, wie freute sie sich, die Mina endlich wieder zu sehen! Ihre Freundin absolvierte die Ausbildung zur Lehrerin im fünfzig Kilometer entfernten Krummau. Seit der Postautoverkehr nach Glöckelberg eingestellt worden war, um Benzin für den Krieg zu sparen, kam Mina nur noch selten heim. Ein Grund mehr, weshalb Anni beim Kirchenwirt willkommen war. Die Arbeit ging ihr niemals aus.

Nachdem sie Kartoffelsuppe für ihre Mutter vorgekocht hatte, frisierte Anni sich vor dem kleinen trüben Spiegel in ihrer Kammer. Sie drehte die dunklen Zöpfe am Hinterkopf ein, steckte sie mit Kämmen fest und machte sich dann zügig auf den Weg. Bis nach Glöckelberg war es ein Fußmarsch von einer knappen Stunde. Sie folgte dem Fahrweg entlang des schmalen, wasserführenden Kanals, der die Dörfer ihrer Heimat durchzog und noch an die goldene Zeit der Holzschwemme nach Wien erinnerte. Hunderte Männer waren damals jedes Jahr zur Schneeschmelze abgestellt worden, um den reibungslosen Ablauf des Schwemmbetriebes zu gewährleisten.

Kaum hatte sie das Dorf verlassen, hörte sie hinter sich ein Pferdefuhrwerk herannahen. Aus einem Reflex heraus drehte sie sich um und trat an den Rand des Weges. Da erkannte sie Mathias, einen jungen Holzarbeiter aus der Gegend.

Ihre Blicke trafen sich. Als er schon fast an ihr vorbei war, vernahm sie ein »Brr«, woraufhin die Pferde schnaubend zum Stehen kamen.

»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte er munter, mit dem Arm über der Lehne der Sitzbank zu ihr gedreht.

»Fährst du nach Glöckelberg?«

Er nickte. »Nach Oberplan, zur Forstdirektion. Komm, spring auf.« Er stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. Nach kurzem Zögern griff sie danach und setzte einen Fuß auf das Trittbrett, woraufhin er ihr mit einem kräftigen Ruck nach oben half.

Anni nahm neben ihm Platz und faltete die Hände in ihrem Schoß. Sie spürte die Hitze auf den Wangen und vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. Er macht meinetwegen einen Umweg, ging es ihr durch den Kopf. Konnte das sein? Warum sonst wählte er nicht die direkte Route? Ihr Blick streifte seine kantigen Knie, die kräftigen Hände, die locker die Zügel hielten. Überdeutlich nahm sie seine Nähe wahr, selbst die kleinste zufällige Berührung. Dass er nichts weiter sagte, ließ ihre Verlegenheit noch weiter steigen. Sie suchte nach einem Einstieg ins Gespräch.

»Wie geht’s bei der Arbeit?«, fragte sie mit einem Seitenblick auf ihn und bemerkte, wie sich ein Lächeln auf seine Lippen stahl.

»Ich bin froh, dass der Winter vorbei ist«, antwortete er schlicht.

Anni nickte, wohl wissend, wie gefährlich sich die Arbeit der Männer in der kalten Jahreszeit gestaltete. Den Rest des Jahres verbrachten sie damit, das Holz zu schlagen. Aber erst wenn eine dicke Schneedecke die Berghänge verhüllte, beförderten sie die Scheiter auf Hornschlitten aus den abgelegenen Gebieten hinab zu Verladestellen in den Tälern. Sogar zwanzig Meter lange Stämme wurden auf diese Weise transportiert.

Wenig später lupfte Mathias den Hut zum stillen Gruß, als sie an einem Gedenkstein vorbeikamen, der an das Schicksal eines jungen Mannes aus dem Dorf erinnerte. Dieser hatte im Wald sein Leben gelassen. Ein Stamm war bei der Abfahrt vom Schlitten gerutscht und hatte ihn erdrückt.

Auch heute bangten die Frauen um ihre Männer, die Mütter um ihre Söhne. Jedoch war kaum mehr jemand da, um den Wald zu bewirtschaften. Der Krieg forderte seinen Tribut. Die Sorge um die Soldaten in der Fremde war allgegenwärtig. In der Kirche wurde für jene gebetet, die gefallen oder verschollen waren.

Wann wird das alles ein Ende haben?, fragte sich Anni mit schwerem Herzen.

Erneut sah sie verstohlen zu Mathias, der sich jetzt durch das leicht widerspenstige, dunkelblonde Haar fuhr, bevor er den Hut wieder aufsetzte. Wenn sie sich recht erinnerte, war er zwei Jahre älter als sie. Siebzehn also. Das bedeutete, dass auch ihn bald das gleiche Los treffen würde wie so viele Burschen und Männer aus dem Dorf. Es sei denn, der Krieg wäre vorher vorbei. Leider sah es im Moment nicht danach aus.

»Du bist ziemlich nachdenklich«, stellte Mathias fest.

»Ich? Ach, ich bin nur mit dem Kopf schon bei der Arbeit.«

»Du hilfst beim Kirchenwirt aus, stimmt’s?«

»Ja«, erwiderte Anni überrascht und ebenso verlegen. Es schmeichelte ihr, dass er es bemerkt hatte. Immerhin war sie noch nicht lange dort. »Woher weißt du das?«

»Na ja, es spricht sich eben herum«, sagte er und grinste vielsagend.

»Tatsächlich?«

»Ja, man hört auch, dass der Stammtisch in letzter Zeit besonders gut besucht ist.«

Das sollte also an ihr liegen? Anni wurde wieder rot, obwohl ihr die interessierten Blicke natürlich nicht entgangen waren. Deswegen huschte sie meist so schnell wie möglich an der Wirtsstube vorbei. Glücklicherweise verrichtete sie ihre Arbeit vor allem im Hintergrund, in der zugehörigen Landwirtschaft oder der Waschküche. Die Aufmerksamkeit der Pfeife qualmenden älteren Männer war ihr zuwider.

»Ich sollte auch einmal vorbeikommen«, fuhr Mathias fort. Sein Zwinkern versetzte ihr einen Stich. Sicher foppte er sie nur. Wie damals, als sie noch jünger waren. Da hatte er ihr während der Messe an Mariä Himmelfahrt aufgeschlitzte Hagebutten in den Kragen geschoben. Automatisch begann ihre Haut beim Gedanken daran zu jucken. Sie kratzte sich im Nacken. Zum Glück waren die ersten Häuser von Glöckelberg schon in Sicht. Anni atmete unwillkürlich auf.

»Na, dann sehen wir uns ja bald wieder«, gab sie, um einen lockeren Ton bemüht, zurück. »Jedenfalls, danke fürs Mitnehmen.«

Er hielt den Wagen an, und sie stieg ab. Zum Abschied hob er erneut den Hut und schnalzte mit der Zunge, um die Pferde anzutreiben.

Anni blieb noch einen Moment unschlüssig stehen und versuchte, ihrer Verwirrung Herr zu werden. Ihr Blick wanderte zur Kirchturmuhr, aber die stand wegen eines defekten Werks bereits seit Ewigkeiten still. Da aufgrund der unverhofften Mitfahrgelegenheit die Zeit reichen würde, beschloss Anni, dem Grab ihres Vaters einen Besuch abzustatten. Der Herrgott hatte ihn vor knapp sechs Jahren zu sich geholt, nach einem Hitzschlag, den sich ihr Vater während der Heuernte zugezogen hatte. Anni nahm die schmalen Stufen, die hinab zur weiß getünchten Kirche führten und zum Friedhof, der das Gotteshaus umgab. Vor einem schlichten Grab mit einem schmiedeeisernen Kreuz kniete sie nieder und richtete den Blick zum Himmel. Wenn der Herr doch nur die Gebete ihrer Mutter überhören und sie stattdessen gesund werden ließe!

Ein durchdringendes hölzernes Klappern riss Anni aus ihren Gedanken. Die Dorfbuben zogen mit ihren Ratschen von Haus zu Haus, um die Mittagszeit zu verkünden. So wollte es der christliche Brauch, weil die Glocken am Gründonnerstag nach Rom flogen, wie es im Volksmund hieß, bis ihr Geläut zur Auferstehungsfeier wieder erklänge. Aber die Glocken von Glöckelberg würden nicht zurückkehren, sie waren schon lange fort. Für immer verstummt. Letztes Jahr waren sie ausgerechnet vor Ostern beschlagnahmt und abgeholt worden, nur das Sterbeglöckchen hatte man ihnen gelassen. Die Bronze sollte eingeschmolzen werden, weil der Rüstungsindustrie die Rohstoffe ausgingen. Anni schüttelte sich bei der Vorstellung, dass aus den Symbolen des Glaubens tödliche Granaten geschaffen wurden. Oder Kanonen. Die alten Männer im Wirtshaus stritten darüber. Jeder von ihnen fühlte sich im Recht und wusste seine Meinung lautstark zu vertreten, notfalls bekräftigt durch einen Fausthieb auf den Tisch.

Ein Verlust wog allerdings schwerer als jener der Glocken. Anni spürte einen Kloß im Hals und blinzelte die Tränen weg, die in ihr aufstiegen. Sie zeugten von der Enttäuschung und Wut über eine furchtbare Ungerechtigkeit. Pater Engelmar war von der Gestapo abgeholt worden. Wie lange war das her? Zwei Jahre schon? Es hieß, man hätte ihn ins KZ Dachau gebracht. Am schlimmsten aber war, dass jemand aus der Pfarrgemeinde ihn verraten haben musste.

Man soll dem Herrgott mehr gehorchen als den Mächten oder den Mächtigen.

So ähnlich hatte er es in seiner Predigt gesagt. An die genaue Formulierung konnte sie sich nicht mehr erinnern. Zu viele Münder hatten die Zeilen inzwischen wiedergegeben, für den Dorfklatsch ausgeschmückt oder gar böswillig verfälscht. Jedenfalls war ihm dieser Aufruf vermutlich zum Verhängnis geworden und hatte zu seiner Verhaftung geführt. Ihre Mutter hatte sich daraufhin wochenlang geweigert, die Kirche zu besuchen, aber ihre Frömmigkeit hatte sie dann doch wieder dazu bewogen. Wie es ihr wohl ging? Die Sorge trübte Annis Freude über das Wiedersehen mit Mina. Aber ihre Freundin würde sie mit Sicherheit auf andere Gedanken bringen. Sonst wäre es nicht Mina.

Von der milden Frühlingssonne war im Hof des Kirchenwirtes nicht allzu viel zu spüren. Es war die Arbeit, die Anni den Schweiß auf die Stirn trieb. Die Brauen zusammengekniffen, bearbeitete sie einen hartnäckigen Fleck in einem Tischtuch. Abwechselnd rieb sie die selbst gesiedete Seife aus Aschenlauge ins Gewebe, schäumte sie durch kreisende Bewegungen mit Wasser auf und fuhr dann kräftig mit der Borstenbürste darüber. Immer wieder musste sie dazwischen innehalten und durchschnaufen. Als sie das Tischtuch über die Wäscheleine hängte, damit die Sonne den zurückgebliebenen Schatten auf dem Stoff bleichte, legten sich von hinten Hände über ihre Augen. Der vertraute Geruch verriet ihr, wer es war. Sie zog die Hände vom Gesicht, drehte sich um und fiel ihrer Freundin um den Hals.

»Mina, endlich bist du da! Du glaubst ja gar nicht, wie du mir gefehlt hast!«

Mina drückte sie kurz, schob sie dann aber ein Stück an den Schultern von sich weg und musterte sie eingehend.

»Geh, Anni. Ist es wieder so arg mit ihr?«, fragte sie besorgt, weil sie von der labilen Gesundheit und Gemütslage ihrer Mutter wusste. Anni konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen, trotzdem antwortete sie: »Weißt du was? Reden wir nicht davon. Du bist endlich daheim und ich …« Noch einmal umarmte Anni ihre Freundin und drückte sie fest.

»Ist ja gut. Ich freu mich doch genauso. Aber, jetzt bitte. Ich krieg keine Luft!« Mina gab ein übertriebenes Krächzen von sich und entlockte Anni damit ein Kichern. »Nun lass uns an die Arbeit gehen, damit wir heute noch fertig werden.«

Während sie die restliche Wäsche erledigten, erzählte Mina auf ihre unverkennbare Weise, wie sie sich aufgrund ihrer Direktheit und dem vorlauten Mundwerk die Anerkennung der angehenden jungen Lehrerinnen verschafft, aber auch jede Menge Ärger mit den Ausbildern eingehandelt hatte. Für eine Weile vergaß Anni die Sorge um ihre Mutter. Schallendes Gelächter klang über den Hof. Von der Neugier getrieben, stattete einer der Stammgäste den Mädchen einen Besuch ab und meinte, mit ihnen schäkern zu können.

»Jessas, die Mina lasst sich wieder mal blicken. Und? Ham’s aus dir schon ein kultiviertes Fräulein gemacht?«

»Im Vergleich zu dir, Lois?« Mina hob kaum den Blick von ihrer Arbeit. »Allemal!«

Alois stimmte ein Lachen an, das sich zu einem Hustenanfall auswuchs. Er spuckte aus, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und sprach weiter, während er noch die Speichelspur auf dem Stoff betrachtete.

»Richtig gut schaust aus. Was gebn s’ denn euch Weibern in der Schul zu essen, dass ihr so prächtig gedeiht?«

Die Zähne zu einem anzüglichen Grinsen gebleckt, deutete er die Form von Minas üppiger Brust in der Luft an.

Schnell kaufte ihm Mina mit ihrer resoluten Art den Schneid ab. »Du siehst nicht aus, als würde es dir so viel schlechter gehen.« Mina wölbte ihren Bauch nach vorn und ahmte seine übertriebene Geste nach. »Schmeckt, das Bier, gell? Und jetzt mach, dass d’ weiterkommst und lass uns zufrieden.«

Lois schimpfte und wedelte mit dem Arm in der Luft, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen.

Nachdem er sich zeternd entfernt und sich dabei immer wieder erbost zu ihnen umgedreht hatte, krümmten sie sich vor Lachen. Anni japste nach Luft und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Komm, wir haben uns jetzt auch einen Schluck verdient. Stoßen wir an. Auf unser Wiedersehen und die nächsten Tage«, sagte Mina und verschwand im Keller, um eine Kleinigkeit für sie aufzutreiben. Anni setzte sich ins Gras, streckte sich genüsslich und verschränkte die Hände im Nacken. Mit geschlossenen Augen genoss sie die Sonnenstrahlen, die nun endlich in den Hof fanden und ihr ein herrliches Gefühl von Unbeschwertheit bescherten. Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Sie nahm an, Mina wäre mit dem versprochenen Getränk zurück, drehte sich lächelnd um und zuckte zusammen, als sie Mathias im Türrahmen lehnen sah. Er hielt einen Krug Bier in der Hand und schmunzelte.

»Was …?« Anni stockte.

»Was ich hier mache?«, half er ihr aus. »Ich muss mir doch das Mädchen ansehen, von dem alle sprechen.«

Unglaublich! Er verspottete sie schon wieder. Ärgerlich sprang sie auf, stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. »Na, dann kannst du jetzt ja wieder gehen, wo du mich gesehen hast.«

»Darf ich noch austrinken?« Offensichtlich amüsiert, hob er den Krug an.

Bitte! Nur zu, signalisierte sie ihm wortlos mit einer energischen Handbewegung. Er reizte sie bis aufs Blut, und ihr hatte es die Sprache verschlagen! Wäre sie doch nur so schlagfertig wie Mina, dann würde ihm das freche Grinsen schneller vergehen, als er bis drei zählen könnte! Aber sie musste ja erst alles zerdenken, im Kopf hin und her wälzen, bevor etwas Vernünftiges aus ihr herauskam. Meistens behielt sie es trotzdem für sich. Wen sollte schon interessieren, was sie zu sagen hatte? Ihre Mutter zumindest hatte ihren Ansichten nie viel abgewinnen können.

Mathias nahm einen Schluck Bier, stieß sich vom Türrahmen ab und kam auf sie zu. »Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du wieder mit mir zurückfahren willst. Aber wenn ich dich so ansehe, hab ich es mir wohl mit dir verscherzt.«

Seine Worte ließen Anni innehalten. Was hatte er gerade gesagt? Bedeutete das, er würde sich über ihre Gesellschaft freuen? Noch immer schmollend schürzte sie die Lippen und sah zu Boden, wo ihre Fußspitze Furchen in die Erde scharrte. Was sollte sie jetzt sagen, damit er sie nicht für ein Dummchen hielt, aber sie trotzdem mit ihm mitfahren konnte? Denn, wenn sie ehrlich war, wollte sie das nur allzu gern.

»Ich mach dir einen Vorschlag«, kam er ihr zuvor. »Ich versprech dir, dich nicht zu ärgern, dafür erzählst du mir bei der Fahrt ein bisschen mehr über dich. Einverstanden?«

Sie zögerte. Er streckte ihr die Hand entgegen und nickte auffordernd. Dann sah er sie mit einem so übertrieben treuherzigen Blick an, dass sie die ernste Miene nicht länger aufrechterhalten konnte.

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Na gut«, sagte sie, ergriff jedoch nicht die dargebotene Hand. »Aber nur, wenn das Gleiche auch für dich gilt.«

Er nickte. »Wollen wir?«

»Ich will mich nur …« Mathias stand mit dem Rücken zum Eingang und konnte deshalb nicht sehen, weshalb sie ihren Satz nicht beendete. Ein breites Grinsen auf den Lippen, wackelte Mina tadelnd mit dem Zeigefinger. Dann winkte sie Anni zum Abschied und zog sich ins Haus zurück.

Anni lächelte. »Ich hol nur schnell meine Sachen.«

Kapitel 3

Hüttenhof, Böhmerwald, Ende April 1943

So schnell wie an diesem Tag war die Zeit auf dem Heimweg noch nie verflogen. Zu schnell in Annis Augen, die Widerwillen verspürte, als sie von Mathias Abschied nehmen musste. Im Geiste rief sie sich sein Bild zurück ins Gedächtnis, während sie zur Haustür ging. Getragen von einem Gefühl der Leichtigkeit, in ihrem Glückstaumel geradezu losgelöst von der Erde.

Wie schnell man doch fallen konnte. Die Realität hatte sie beim Blick in die düstere Schlafkammer ihrer Mutter eingeholt. Da kauerte sie nun über deren Bett und hielt ihre Hand verschränkt in den ihren. Sie quetschte sie beinahe, als könne sie ihr dadurch zu neuer Kraft verhelfen, dabei hatte sie selbst längst der Mut verlassen.

Ihre Mutter nestelte am Knopf ihres Nachthemds. Dann stöhnte sie leise auf, schloss die Hand darum herum zur Faust und übte Druck auf ihren Brustkorb aus. Wieder und wieder.

Die Haut unter Annis Augen brannte vom vielen Weinen. Verstohlen wischte sie mit dem Ärmel darüber, danach über die Nase, um nicht schniefen zu müssen, unterbrach aber nicht ihr Gebet. Unaufhörlich murmelte sie die Verse des schmerzhaften Rosenkranzes, wie es ihr die Mutter aufgetragen hatte, die selbst kaum noch ein Wort hervorbrachte: »O Herr, gib ihr die ewige Ruhe. Und das ewige Licht leuchte ihr …«

Sie betete auch, um das Grauen zu übertönen, das ihr der Kampf der Mutter auf dem Sterbebett bereitete. Ein beinahe regloses Ringen mit geschlossenen Augen. Bereit für den Tod, der sich nicht einstellen wollte, obwohl die Last auf dem Herzen kaum noch auszuhalten war. Zentnerschwer.

Fast fühlte Anni es selbst, bei den gedehnten Seufzern, die ihre Mutter mit jedem ihrer Atemzüge ausstieß, um sich Erleichterung zu verschaffen, aber von Mal zu Mal verzweifelter klang.

»Himmelvater, lass mich endlich sterben. Ich mag nicht mehr. Ich …«

Erneut rang sie gierig nach Luft. Dann stieß sie den Atem mit einem flatternden Laut aus, und wimmerte, am Ende ihrer Kräfte.

Sie so leiden zu sehen, wurde für Anni mit einem Mal unerträglich. Die Schluchzer brachen in Stößen aus ihr heraus, schmerzvoll, als wäre ihre Kehle wund und ihr Herz dabei zu zerbersten.

»Mutter!«, jammerte sie. In ihrer Verzweiflung kroch sie zu ihr ins Bett und rollte sich neben ihr ein. Obwohl sie die ganze Zeit darauf geachtet hatte, die Beklemmung der Mutter nicht zu verstärken, und deshalb allzu viel Körperkontakt vermieden hatte, schmiegte sie nun den Kopf an ihre Seite. Sie schloss die Augen, ließ die Vorstellung los, ihr helfen zu können, und verfiel in einen erschöpften Dämmerzustand. Anni bemerkte kaum noch, wie ihre Lider zuckten, bevor es sie an einen dunklen Ort zog, wo selbst der größte Kummer zu etwas Belanglosem verschwamm.

*

Gott hatte ihre Mutter nicht zu sich geholt. Nachdem sie sich von den Anstrengungen erholt hatte, welche die Nacht auf Karsamstag mit sich gebracht hatte, zürnte diese dem Herrn. Anni versuchte, ihrer Wut mit besonders viel Mitgefühl zu begegnen, schließlich verstand sie selbst nicht, wieso er ihre Mutter mit solchen Qualen strafte, nur um sie am nächsten Tag aufstehen zu lassen, wie neu geboren. Wohl war sie noch geschwächt, aber die Nachricht, dass sie dem Tod noch einmal entronnen war, verbreitete sich in Windeseile. Die Nachbarn hatte Anni sogar von einem Osterwunder sprechen hören.

Weil es ihrer Mutter so viel besser ging und weil diese gerade deshalb in ihrem Elend gefangen war, erlaubte Anni sich auch wieder kurze Pausen. Kleine Fluchten – auf die Sonnenbank vor dem Haus, hinüber zu den Obstbäumen. Sie blieb in Reichweite, aber ihre Gedanken schickte sie fort. Zu Mathias.

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein seit ihrem Zusammentreffen. Sie zählte nach, weil ihr das Bangen um ihre Mutter das Zeitgefühl geraubt hatte, den Schlaf und auch das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit des Lebens. Zwei, nur zwei Tage waren es gewesen. Zwei Tage, die genügten, um den Funken von Glück in ihr zu ersticken. Ihre Mutter würde sie immer brauchen, das wusste Anni. Und sie musste für sie da sein, weil sie sie liebte wie keinen anderen Menschen auf der Welt. Ein Mathias hatte da nicht Platz, auch kein anderer.

Trotzdem ertappte sie sich tagsüber immer wieder dabei, wie sie die Worte, die er ihr vorgelesen hatte, im Geiste wiederholte. Nachdem sie am Freitag den Kirchenwirt gemeinsam verlassen hatten, hatte sie beim Aufsteigen ein Buch auf dem Kutschbock vorgefunden.

»Ja, sag einmal, wer hat denn das hier vergessen?«

Mathias war ihrem Blick mit hochgezogenen Augenbrauen begegnet, sichtlich beleidigt. »Du traust mir wohl nicht zu, dass es meins sein könnte?«

Anstatt sich, wie von ihm beabsichtigt, über sie zu unterhalten, hatten sie am Ende nur noch darüber geredet. Und Anni hatte gemerkt, wie sehr sie sich in dem jungen Holzhacker getäuscht hatte, der offensichtlich nicht nur für das Grobe zu haben war, sondern auch für die Worte eines Dichters, der aus dem nahen Oberplan stammte. Mathias hatte Anni die Zügel überlassen und ihr aus Adalbert Stifters Hochwald vorgelesen.

»Jetzt hör dir das an, Anni. Das hier schreibt er über den See am Plöckenstein. Wie einem nur so etwas einfallen kann …

Oft entstieg mir ein und derselbe Gedanke, wenn ich an diesem Gestade saß: – als sei es ein unheimlich Naturauge, das mich hier ansehe – tief schwarz – überragt von der Stirne und Braue der Felsen, gesäumt von der Wimper dunkler Tannen – drinn das Wasser regungslos, wie eine versteinerte Träne …«

Mathias klappte das Buch zu. »Unglaublich, was? Da bekommt man einen ganz neuen Blick auf die Heimat. Die alltäglichen Dinge. Seit ich es lese, begreife ich erst so richtig, wie schön wir es hier doch haben.«

Dann hatte er das Buch wieder aufgeschlagen und noch mehr vorgelesen. Anni hatte zunächst den wundervollen Worten gelauscht, bis sie sich nicht mehr darauf konzentrieren konnte. Ihr war das Leuchten in Mathias’ Augen aufgefallen, die Begeisterung, die in jeder seiner Gesten steckte, und das versonnene Lächeln, das seine Lippen umspielte, nachdem er ihr die Zügel wieder abgenommen hatte.

Noch heute schlug ihr Herz augenblicklich schneller, wenn sie daran dachte. Immer wieder träumte sie sich an seine Seite, schloss die Augen, um seine Stimme deutlicher zu hören. Und jedes Mal riss sie ein Gefühl von Wehmut in die Wirklichkeit zurück – in der Mathias keinen Platz hatte, kein Adalbert Stifter und auch nicht die Liebe. Was hätte es denn auch für einen Sinn, sich zu verlieben, mitten im Krieg?

Am Ostermontag fühlte sich Annis Mutter sehr viel besser und sogar dazu in der Lage, einen Umtrunk bei den Nachbarn zu besuchen, zu dem man sie am Vormittag eingeladen hatte. Um ihre Kräfte nicht zu überstrapazieren, hatte Anni ihr den langen Kirchgang nicht zugemutet, und sie war einverstanden gewesen, stattdessen vor einem nahen Wegkreuz zu beten. Auf dem Rückweg waren sie zu den Nachbarn gestoßen. Die Einladung schien eine Wohltat für das Gemüt der Mutter zu sein. Beim Mittagessen sprach sie von nichts anderem und suchte sogar ihre beste Bluse aus der Holztruhe vor dem Bett. Jene, die sie für ihre eigene Beerdigung aufgehoben hatte. Ein flüchtiges Triumphgefühl rührte sich in Anni, weil die Mutter ihren Willen nicht bekommen hatte und nun sogar wieder Freude am Leben zu finden schien. Das hatte sie sich immer für sie gewünscht! Sie erschrak selbst über den ungehörigen Gedanken: Schließlich war es diesmal wirklich schlecht um ihre Mutter bestellt, ihr Leben ernsthaft bedroht gewesen. Der Schock saß Anni noch tief in den Knochen. Es musste tatsächlich ein Wunder geschehen sein, und sie staunte, was dieses in ihrer Mutter bewirkte. Wenn Gott schon Gnade walten ließ, sollte man es wohl zu schätzen wissen, schien diese zu denken, und als leuchtendes Beispiel vorausgehen.

Dennoch stand Anni dem Hochgefühl ihrer Mutter skeptisch gegenüber, wusste sie doch, dass diese danach nur umso tiefer stürzen würde. Immerhin ermöglichte es Anni die Verschnaufpause, die sie dringend brauchte.

Nachdem ihre Mutter aus dem Haus war, schnappte sie sich den Haselnussstecken, der ihr mit einem Stück Schnur als Angel diente, den Eimer aus Drahtgeflecht, den sie sonst für die Kartoffelernte nutzte, und stieg den Wiesenhang in Richtung Wald hinauf. Gelächter ertönte, als sie am Haus der Nachbarn vorbeikam. Ihre Mutter unterhielt sich gut, das war beruhigend zu wissen. Anni stapfte weiter den Berg hinauf, duckte sich unter Fichtenzweigen und tauchte ein in die friedvolle Atmosphäre des Waldes. Bald darauf kam sie zu einem Bach, der von großen Granitbrocken gesäumt war. Gepolstert mit sattgrünem Moos lockten sie zur Rast. Bei ihrem Lieblingsplatz hielt Anni inne und sog die frische Luft tief in ihre Lungen. Den unverkennbaren Duft des Frühlings, der sich unter die erdigen Gerüche des Waldes mischte. Sie lauschte dem Plätschern des Wassers und dem Glucksen dazwischen, das entstand, wenn eine Forelle die Oberfläche durchbrach, um ihre Beute zu schnappen.

Anni dachte an ihren Vater, der ihr gezeigt hatte, wie man fischte. An die vergnügten Momente, die sie gemeinsam hier am Wasser verbracht hatten und oft klitschnass nach Hause gekommen waren, sehr zur Belustigung ihrer Mutter. Ihr Lachen fehlte Anni. Der Vater auch. Wann hatte sie es eigentlich zuletzt auf seine Weise versucht? Mit der bloßen Hand einen Fisch gefangen? Ewigkeiten war das her. Ob es ihr auch heute noch gelänge?

Sie krempelte den rechten Ärmel nach oben und kletterte am Ufer entlang über die Steine. An einer Stelle, wo sie unter einem Granitbrocken einen Unterstand der Forellen vermutete, kniete sie sich ins feuchte Moos und ließ die Hand ins Wasser schnellen. Prompt erwischte sie einen der schlüpfrigen Körper, packte fester zu und zog die Hand aus dem Wasser. Die Forelle wehrte sich. Anni fasste mit der zweiten Hand danach, aber der Fisch wand sich aus ihrem Griff und klatschte zurück in den Bach.

»Soll ich es einmal versuchen?«

Anni zuckte vor Schreck zusammen. Als sie sich aufrichten wollte, stieg sie auf den Saum ihres Rocks und ging wieder in die Knie. Sie verzog das Gesicht, während sie sich in Grund und Boden schämte. Ausgerechnet jetzt musste ihr Mathias über den Weg laufen! So ein Pech konnte auch nur sie haben. Sie drehte sich mit hochrotem Kopf um und funkelte ihn böse an, weil er schon wieder mit diesem frechen Grinsen dastand. Bevor sie sich erhob, wischte sie sich in der Hocke mit kräftigen Bewegungen Nadeln und Erde von den Knien. Ihr Selbstbewusstsein kehrte zurück: »Du glaubst, du kannst es besser, hm?« Wenn er sich da nur nicht täuscht