Das Geheimnis von Schloss Rosenhag - Melanie Lindorfer - E-Book
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Das Geheimnis von Schloss Rosenhag E-Book

Melanie Lindorfer

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Beschreibung

Eine vergessene Liebe, ein dunkles Familiengeheimnis und ein Schloss, das mehr als nur Erinnerungen birgt
Der fesselnde Roman über zwei Frauen, deren Schicksale miteinander verbunden sind

Februar 1930. Die fünfzehnjährige Theres erhält eine Anstellung als Hausmädchen auf dem Schloss Rosenhag. Dort verdient sie sich Vertrauen und Zuneigung des kinderlosen Fürsten und begegnet unverhofft der Liebe. Doch anstelle einer glanzvollen Zukunft erwarten Theres düstere Zeiten voller Entbehrungen: Eine Welt zwischen Krise und Krieg, ein Leben zwischen Liebe und Verantwortung.

Fast neunzig Jahre später begibt sich die Geschichtsstudentin Evelyn auf Spurensuche in die Vergangenheit ihrer Familie. Dabei stößt sie auf tragische Schicksale und ein Schloss, das vom Erdboden verschwunden ist, aber immer noch seine Schatten auf die Gegenwart wirft. Wird sie die Wahrheit ans Licht bringen, die irgendwo zwischen den Trümmern der Vergangenheit verborgen liegt?

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Das Erbe von Schloss Rosenhag

Erste Leser:innenstimmen
„Ein Familienroman voller spannender Geheimnisse und Wendungen – absolute Empfehlung!“
„Sehr authentischer und gut recherchierter historischer Liebesroman.“
„Mitreißend, gefühlvoll und wunderschön!“
„Ich liebe Romane mit verschiedenen Zeitebenen und war auch hier von Beginn an gefesselt!“
„Ein liebevoll erzähltes Familiengeheimnis und wunderbares Lesevergnügen.“

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Seitenzahl: 470

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Über dieses E-Book

Februar 1930. Die fünfzehnjährige Theres erhält eine Anstellung als Hausmädchen auf dem Schloss Rosenhag. Dort verdient sie sich Vertrauen und Zuneigung des kinderlosen Fürsten und begegnet unverhofft der Liebe. Doch anstelle einer glanzvollen Zukunft erwarten Theres düstere Zeiten voller Entbehrungen: Eine Welt zwischen Krise und Krieg, ein Leben zwischen Liebe und Verantwortung.

Fast neunzig Jahre später begibt sich die Geschichtsstudentin Evelyn auf Spurensuche in die Vergangenheit ihrer Familie. Dabei stößt sie auf tragische Schicksale und ein Schloss, das vom Erdboden verschwunden ist, aber immer noch seine Schatten auf die Gegenwart wirft. Wird sie die Wahrheit ans Licht bringen, die irgendwo zwischen den Trümmern der Vergangenheit verborgen liegt?

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Das Erbe von Schloss Rosenhag

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe Juni 2023

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-527-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-537-5

Copyright © 2021, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2021 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Das Erbe von Schloss Rosenhag. (ISBN: 978-3-96817-000-8).

Covergestaltung: Anne Gebhardt Unter Verwendung von Motiven von www.shutterstock.com: © Dmytro Balkhovitin, © Triff, © StockWithMe, © Kriengsuk Prasroetsung, © Alex Andrei stock.adobe.com: © phatthanit, © alexdndz Lektorat: Mona Dertinger

E-Book-Version 13.10.2023, 10:48:55.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Das Geheimnis von Schloss Rosenhag

Für Peter

Kapitel 1

Salzburg, Ende Juni 2019

Allmählich leerte sich der Hörsaal im Kellergeschoss der Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät. Evelyn erhob sich widerstrebend von ihrem Platz. Für ihr Zögern gab es einen Grund: In der anhaltenden Hitze der letzten Tage nutzte sie jede sich bietende Chance zur Abkühlung, selbst wenn sie dafür eine interdisziplinäre Vorlesung über Kunstpolemik ertragen musste. Das Quecksilber fiel derzeit nicht einmal nach Sonnenuntergang in den angenehmen Bereich. Im Gegenteil: Selbst an Orten über tausend Metern Seehöhe herrschten nachts noch tropische Temperaturen. Hitze, Sonne, Trockenheit – ein Rekordjuni in jeder Hinsicht.

Dafür war das Semester endlich geschafft! Die letzte Lehrveranstaltung, bevor es in die Sommerpause ging. Nächstes Jahr zur gleichen Zeit hätte Evelyn vielleicht schon ihren Master in Geschichte in der Tasche.

Drückende Schwüle empfing sie vor den Toren. Die Luft flirrte über den Betonplatten. Evelyn suchte den Schatten einer mächtigen Sommerlinde und ließ sich zu deren Wurzeln nieder. Ihr Blick glitt über das moderne Universitätsgebäude, das sich mühelos in das historische Ambiente der Mozartstadt einfügte. Darüber thronte die Festung Hohensalzburg, vergoldet von der Abendsonne. Evelyn benetzte gerade ihre Lippen mit dem letzten Schluck Wasser aus ihrer Trinkflasche, als ein Pfeifen an ihr Ohr drang.

Sammy!

Evelyn rappelte sich auf und rannte zu ihrer Kommilitonin, die sich aus einer Gruppe von Studenten gelöst hatte, um ihr entgegenzukommen. Sie umarmten sich zur Begrüßung.

„Wir gehen noch zum Zirkelwirt. Kommst du mit?“

Evelyn schmunzelte beim Gedanken an den letzten Besuch und an die ausgelassene Stimmung unter den Freundinnen, einer Truppe von fünf Studentinnen, die sich seit dem Beginn ihres Geschichtsstudiums in Salzburg kannten. Mittlerweile hatten sie sich in unterschiedlichen Kernfächern vertieft, sahen sich an der Uni seltener und auch sonst nicht mehr regelmäßig, ihrer Freundschaft tat das aber keinen Abbruch. Evelyn konzentrierte sich auf Kulturgeschichte und jüngere Ereignisse der Vergangenheit, die beinahe das komplette zwanzigste Jahrhundert umfassten. Sammys Interesse galt dem Altertum.

Ein Spezialgebiet teilten die jungen Frauen allerdings: Sie verstanden es zu feiern. Der Zirkelwirt war in den letzten Jahren zu ihrem Stammlokal geworden, in dem viele Ausgehabende ihren Anfang gefunden hatten.

Schon oft war Evelyn dabei in den Sinn gekommen, wie gut sie es doch hatten. Manchmal gewann sie während der Vorlesungen den Eindruck, ihre Generation wäre die erste, der es vergönnt war, das Leben zu genießen. Als hätte das Leid ihrer Ahnen das der Nachfahren vorweggenommen. Eine Last, die nicht aufzuwiegen war.

Evelyn schüttelte den Gedanken ab und erinnerte sich lieber an den schnuckeligen Kerl, der beim letzten Besuch beim Zirkelwirt mit ihr geflirtet hatte.

Mit einem Fingerschnippen vor ihren Augen holte Sammy sie in die Gegenwart zurück wie ein Hypnotiseur seine Versuchskaninchen aus der Trance.

„Normalerweise liebend gerne. Aber heute geht es nicht. Ich habe noch eine Tour.“

Evelyn verdiente sich neben dem Studium ein Taschengeld als Tourist-Guide. Einen besseren Studentenjob konnte sie sich für sich nicht vorstellen. Die Geschichten, die sich hinter den historischen Gemäuern der Stadt ereignet hatten, übten eine kaum zu beschreibende Faszination auf sie aus. Und mit dieser Begeisterung steckte sie die Touristen an – was sich herumsprach. Sie war gut gebucht und hatte schon oft das Lernen für Prüfungen auf die lange Bank geschoben, um stattdessen eine Gruppe durch die Altstadt Salzburgs zu führen. Dort war sie viel näher dran an der Geschichte, als sie es in einem Seminar oder einer Vorlesung hätte sein können. Dort berührte die Vergangenheit die Gegenwart – für jeden sichtbar, der ein Auge dafür hatte.

„Schade, dann sehen wir uns nicht mehr, bevor ich nach Rom reise.“

Sammy wollte die Ferien bei einer Tante in Italien verbringen.

„Stimmt! Ich stoße später noch dazu, versprochen!“

Jetzt musste sich Evelyn beeilen. Es war bereits kurz vor zwanzig Uhr. In einer Dreiviertelstunde sollte sie sich mit ihrer Gruppe treffen. Zum Glück lag ihr WG-Zimmer am Fuße des Kapuzinerberges nur gut zehn Gehminuten von ihrem Treffpunkt beim Schloss Mirabell entfernt. Aber erst musste sie es in die Wohnung schaffen. Sie schwang sich auf ihr klappriges Fahrrad und wählte ihre übliche Route durch das Kaiviertel. Am Mozartsteg überquerte sie die Salzach und folgte anschließend dem Radweg entlang des Ufers. Eine Radgruppe posierte ein Stück weiter, fing ein beliebtes Postkartenmotiv für ein Erinnerungsfoto ein. Eines, das Evelyn in ihrem Gedächtnis nachzeichnen konnte, weil die Kulisse sie selbst immer noch verzauberte, obwohl sie längst zu ihrem Alltag gehörte. Die Kuppeln und Türme der Altstadt lugten hinter den hohen Gebäuden am Rudolfskai hervor und schmückten den Himmel mit ihren unterschiedlichen Formen und Farben. Ganz hinten, kaum noch zu sehen, Stift Nonnberg mit seinem roten Häubchen. Grün bis zartblau die Kupferdächer des Doms. Im Kontrast dazu die dunkle Kuppel der Kollegienkirche. Den Rahmen bildeten die grünen Hänge der Salzburger Hausberge und die schroffen Felsen der umliegenden Gebirgszüge. Evelyn bog rechts ab, ließ das ehemalige Wohnhaus Mozarts und die Dreifaltigkeitskirche hinter sich. Fünf Minuten später war sie am Ziel, einem alten Eckhaus mit Türmchen.

Sie sprintete die Treppe zur Wohnung hinauf, die sie sich mit zwei anderen Studentinnen teilte, die beide ausgeflogen waren. Zum Glück! So hatte sie das Bad für sich.

In der Dusche entfuhr ihr ein spitzer Schrei, als der eiskalte Wasserstrahl ihre Zehen traf. Zappelnd ertrug sie die Erfrischung, die schließlich für eine Weile anhalten musste.

Sie schlüpfte in kurze Shorts und ein pinkfarbenes Shirt, auf dessen Rücken die Aufschrift Salzburg Romantic Tours prangte. Die Vorderseite zierte ein Herz, in dem die Skyline der Stadt zu sehen war. Darunter der Slogan LOVE at first SIGHT. Fürs Föhnen reichte die Zeit nicht mehr. Aber ihre dunkelblonden Haare würden an der Luft schnell trocknen und sich zu sanften Wellen zusammenziehen. Evelyn mochte es gerne unkompliziert und trug ihr Haar deshalb lang, bis zu den Schulterblättern. Einmal durchkämmen und fertig. Schon konnte es losgehen.

Beim Schloss angekommen, sah sich Evelyn nach ihren Kunden um. Normalerweise interessierten sich vor allem Pärchen für die romantische Tour. Diesmal sollte es eine Gruppe sein, so viel wusste sie aus der knappen E-Mail ihres Chefs. Mit wem hatte sie heute Abend wohl das Vergnügen? Mit den drei Seniorinnen in Dirndln oder der Horde von Schülern im Teenageralter? Die E-Mail hatte nur den Namen der Ansprechperson enthalten, keine Angabe zur Größe der Gruppe.

In diesem Moment löste sich eine der Dirndlträgerinnen von den anderen und kam auf Evelyn zu.

„Frau Breitenfellner?“, vergewisserte sich die Frau mit der etwas zu violett geratenen Dauerwelle.

„Richtig“, bestätigte Evelyn. „Freut mich, Sie kennenzulernen! Können wir starten? Sind schon alle da?“

„Ja, wir sind nur zu dritt.“

„Das passt gut, dann haben wir später in einer Kutsche Platz. Wie romantisch!“

Evelyn zwinkerte der alten Lady zu, woraufhin diese ein kehliges Lachen ausstieß und den anderen zurief: „Kommts Mädels!“

„Guten Abend die Damen. Mein Name ist Evelyn. Ich darf Ihnen heute meine Lieblingsplätze in Salzburg zeigen und …“

Die Anführerin der drei fiel ihr ins Wort.

„Ich bin die Moni! Und das sind die Berta und die wilde Wilma.“

Letztere holte mit ihrer Handtasche aus und schlug Moni damit auf den ausladenden Hintern. „Du bist unmöglich!“, rief sie und die Frauen stimmten ein gackerndes Gelächter an.

Evelyn spielte mit. „Die wilde Wilma also? Darauf hat mich mein Chef aber nicht vorbereitet. Das schreit ja geradezu nach einer Gefahrenzulage.“

„Nicht nötig“, erklärte Moni. „Nur die Mannsbilder müssen sich in Acht nehmen. Wilma ist nämlich wieder auf dem Markt.“

Da Evelyn nicht ins Fettnäpfchen stolpern wollte, verzichtete sie darauf nachzufragen, doch Wilma gab von sich aus bereitwillig Auskunft.

„Nach achtundvierzig Jahren Ehe …“

„Das tut mir leid“, entgegnete Evelyn und erhielt eine eindeutige Reaktion.

„Das muss es nicht!“

Wieder kreischten die Freundinnen. Die Passanten, die aus dem Mirabellgarten strömten, drehten sich schon nach ihnen um. Hoffentlich hatten Wilma und ihre Wingwomen Evelyns Stadtführung nicht mit dem Service einer Dating-Agentur verwechselt. Das passierte gelegentlich. Der zweideutige Slogan hatte bereits andere Sehnsüchtige in die Irre geleitet – sehr zum Vergnügen von Evelyns Kolleginnen im Büro. Evelyn wollte die drei gerade aufklären, da meldete sich Moni zu Wort.

„Keine Sorge, wir sind nicht auf Beutezug. Oder, Berta? Wir sind froh, wenn wir unsere Männer mal ein paar Stunden vom Hals haben. Wie heißt es so schön? Görls tschast wona hef fann.“

Und der Spaß war ihnen ganz offenbar garantiert, auch ohne Evelyns Zutun. Sie freute sich auf einen quietschfidelen Abend mit der Dreierbande.

„Na gut! Dann legen wir mal los.“ Sie drängte sich in die Mitte der Frauen und legte ihre Arme in einer ausladenden Bewegung um die Schultern von Moni und Wilma. Berta bekam sie nicht mehr zu fassen, aber diese hakte sich schon bei Wilma unter.

Die Tour startete beim Schloss Mirabell, das einst für Salome Alt, die heimliche Ehefrau des Fürsterzbischofs Wolf Dietrich von Raitenau, erbaut worden war. Sie besichtigten die Gartenanlage, die noch bis zum Einbruch der Dunkelheit geöffnet war. Evelyn erklärte die Symbolik der vier Skulpturengruppen, die symmetrisch um den zentralen Springbrunnen angeordnet waren. Auf zwei davon ging sie näher ein: auf Paris, der die schöne Helena mit ihrem Einverständnis nach Troja entführte, und auf den gewaltsamen Raub der Persephone durch Hades. Für Evelyn versinnbildlichten die Figuren die Dramen der Liebe und fehlgeleiteter Leidenschaft. Wie immer war sie beeindruckt davon, wie ein in Stein gehauenes Kunstwerk eine solche Dynamik verkörpern konnte. Als wären die Figuren aus der griechischen Mythologie eben erst erstarrt. Als rührten die feinen Risse auf der Oberfläche daher, dass darunter Bewegung herrschte, etwas lebendig war. Sie streiften weiter durch den Garten. Auf den Balustraden im Lindenhain trafen sie auf die Gottheiten der Antike. Von der Venusstatue, die einen kleinen Amor an der Hand führte, erbaten sich die Frauen Liebesglück. Nur halb zum Spaß, wie es schien. Ihr Lachen klang diesmal jedenfalls etwas aufgesetzt.

Anschließend verließen sie den Mirabellgarten und überquerten die Salzach auf dem Makartsteg. Die Brücke spannte sich in einem Bogen über den Fluss. Ihr Gittergeländer schmückten unzählige Liebesschlösser in bunten Farben. Evelyn fischte drei weitere aus ihrer Umhängetasche.

„Normalerweise lasse ich den Pärchen an dieser Stelle etwas Zeit für Zweisamkeit und um ihr Liebesandenken am Steg zu befestigen.“

Moni griff nach einem Schloss und bat Evelyn um einen Stift.

„Mädels, ich sag euch was. Wir hängen auch eins auf. Ich schreibe unsere Namen drauf. Ihr seid mir sowieso die Liebsten.“

„Ohhh …“ Wilma und Berta liefen auf Moni zu und schlangen ihre Arme um sie. Sie tauschten Küsschen auf die Wangen. Evelyn lächelte beim Anblick dieser rührenden Szene und dachte dabei an ihre eigenen Freundinnen. Wie schön es doch wäre, wenn sie sich in fünfzig Jahren immer noch so verbunden fühlen würden.

Sie schlug den drei Damen vor, ein Foto von ihnen zu machen, und verewigte den Moment mit der Kamera, damit sie etwas mit nach Hause nehmen konnten, während das Symbol ihrer Freundschaft in Salzburg blieb. Eigentlich war es unnötig. Am wichtigsten war doch, dass die Frauen einander hatten.

In der Altstadt angelangt, konnte von gemütlichem Bummeln in der Getreidegasse keine Rede sein. Wie gewöhnlich schoben sich die Touristen am Geburtshaus des Salzburger Wunderkinds Mozart vorbei. Mittlerweile war es dunkel geworden, aber die Gasse war hell erleuchtet. Das warme Licht, in dem die Fassaden mit den schmiedeeisernen Zunftzeichen erstrahlten, zauberte eine märchenhafte Atmosphäre.

Am Alten Markt blieb Evelyn vor einem Juwelierladen stehen. Wenn sie die Tour mit Verliebten machte, erlaubte sie sich an dieser Stelle immer den gleichen Scherz. Dazu erkundigte sie sich, ob bei einem der Paare ein Antrag ausständig wäre, und verwies mit einer theatralischen Geste auf das Schmuckgeschäft. Halblaut, aber so, dass es dennoch alle hören konnten, flüsterte sie daraufhin jemandem aus der Gruppe ins Ohr: „Ich lebe von der Provision. Als Guide verdient man einen Hungerlohn.“

Meist erntete sie damit Lacher und Applaus ihres Publikums, denn fast immer war mindestens ein Paar dabei, das seit Jahren in wilder Ehe lebte, weil es noch nicht zum Kniefall gekommen war.

Diesmal wandte sie sich gleich der eigentlichen Attraktion zu. Das Juweliergeschäft befand sich in einem Häuschen, das nur gut einen Meter vierzig in der Breite maß und eineinhalb Geschosse in die Höhe reichte. Eingezwängt zwischen zwei bestehende Häuser, behauptete es sich dennoch und stand hier als Wahrzeichen für eine große Liebe.

„Über dieses Haus erzählt man sich in Salzburg eine Geschichte. Ein junger Mann, der nicht viel mehr besaß als die Kleider an seinem Leib, soll einst um die Hand einer Kaufmannstochter angehalten haben. Deren Vater hat ihn ausgelacht und fortgeschickt. Aber der junge Mann gab nicht so einfach auf, er hat immer wieder gefragt. Eines Tages verlor der Kaufmann die Geduld und stellte dem Verehrer seiner Tochter eine Bedingung, die er niemals würde erfüllen können. Erst wenn er in der Lage wäre, ihr ein eigenes Dach über dem Kopf zu bieten, würde der Kaufmann einer Heirat zustimmen.“

„Er hat es geschafft!“, rief Berta freudestrahlend.

„Wenn man der Legende Glauben schenkt, ja. Ich persönlich möchte gerne daran glauben. Und wir lernen noch was aus der Geschichte …“

Die Frauen sahen sie gespannt an. Bevor ein Grinsen über Evelyns Pokermiene siegte, spielte sie ihren Trumpf aus. „Wenn man jemanden wirklich liebt, kommt es nicht auf die Größe an.“

Der Scherz verfehlte seine Wirkung nicht. Monis Lachen entlud sich in einem beinahe hysterischen Aufschrei und steckte ihre Freundinnen an.

Herrlich! Und dafür bekam Evelyn sogar Geld. Sie liebte ihren Job wirklich.

„Vielen Dank für die fantastische Führung“, bedankte sich Moni nach der abschließenden Fiakerfahrt, als sie sich mit einer Umarmung voneinander verabschiedeten. „Beim nächsten Mal komme ich mit meinem Walter. Vielleicht lernt er auf seine alten Tage noch etwas über Romantik!“ Bevor sie sich abwandte, drückte Moni Evelyn noch ein weiteres Mal und flüsterte ihr ins Ohr: „Deine Oma ist bestimmt unheimlich stolz auf dich!“

„Danke“, antwortete Evelyn, wobei ihr das Lächeln auf ihren Lippen entglitt. Ohne es zu wissen, hatte Moni mit dem sicher lieb gemeinten Kompliment einen wunden Punkt berührt. Evelyn hatte keinerlei Kontakt zu ihrer noch lebenden Großmutter. In Evelyns Kindertagen hatte ihre Mutter diesen unterbunden, und später war ihr selbst anderes einfach wichtiger gewesen. Irgendwann war sie gar nicht mehr auf die Idee gekommen, ihrer Oma einen Besuch abzustatten. Mit einem Mal wurde ihr schmerzlich bewusst, dass ihr dafür möglicherweise nicht mehr viel Zeit bliebe.

Dieser Gedanke drückte Evelyns Stimmung sogar während des letzten Abends mit Sammy und ließ sie später kaum in den Schlaf finden. Am Wochenende war sie mit ihrer Mutter zum Frühstück verabredet, um den Start der Sommerferien zu feiern. Vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, um neben Vollkornbrötchen und Marmorkuchen dieses heikle Thema anzuschneiden. Andererseits gab es wahrscheinlich keinen passenden Moment. Nicht umsonst wurde seit Jahren totgeschwiegen, was zwischen ihrer Mutter und Großmutter vorgefallen war.

Kapitel 2

Dieser Geruch von frischer, kühler Luft – wie hatte sie ihn vermisst. Evelyn schloss für einen Moment die Augen, sog den Atem tief ein, um jeden Winkel ihrer Lunge damit auszufüllen. Sie genoss den Fahrtwind auf ihrer Haut und das klamme Gefühl, das er auf ihren Wangen hinterließ.

Der Sauerstoff löste eine Kettenreaktion in ihrem Körper aus. Die Trägheit der letzten Tage fiel von ihr ab. Es war, als hätte jemand in ihrem Kopf die Fenster aufgerissen. Sie nahm alles wieder viel bewusster wahr. Die Bewegung ihrer Beine, die in die Pedale traten. Das Zwitschern der Vögel, das sie vor der Stadt begrüßte. Die Schattenmuster, auf die Erde gemalt vom wolkenbehangenen Himmel und den Kronen der alten Eichen entlang der Hellbrunner Allee. Sie folgte dem grünen Band, das sich über gut zweieinhalb Kilometer zwischen dem gleichnamigen Schloss und der Altstadt Salzburgs erstreckte.

Um kurz nach acht Uhr war Evelyn an diesem Samstagmorgen von ihrer Wohnung aus aufgebrochen und hatte noch einen Umweg über ihren Lieblingsbäcker gemacht, um frisches Gebäck zu holen. Sie hatte sich gleich ein Brötchen stibitzt und während der Fahrt verdrückt. Trotzdem grummelte ihr Magen, verlangte nach mehr. Gleich war sie am Ziel. Sie ließ die Allee hinter sich und umfuhr den Schlosspark in südliche Richtung. Kurz darauf erreichte sie das kleine Reihenhaus am Ende einer Sackgasse, das ihren Eltern gehörte. Ihr Vater war allerdings ein seltener Gast in seinem eigenen Zuhause. Die Heimat des Piloten waren die Lüfte, sein ganzes Leben praktisch eine einzige Reise. Evelyn hatte sich schon häufiger gefragt, wie die Ehe ihrer Eltern das aushielt, aber sie stellte keine Fragen. Nicht einmal, als ihre Mutter Conny sie gebeten hatte, während ihres Urlaubs das Haus zu hüten. Einem Urlaub, den Conny mit ihrer besten Freundin anstelle von Evelyns Vater Richard verbringen würde.

Die Haustür stand offen. Evelyn hob einen Brief auf, der auf der Fußmatte lag, ohne ihn näher zu betrachten. Sie hörte ihre Mutter in der Küche mit Geschirr klappern, das Röcheln der Filterkaffeemaschine, welche die letzten Tropfen aus dem Wassertank sog. Das Aroma des Kaffees vermischte sich mit einem anderen Geruch, der bei Evelyn Kindheitserinnerungen weckte. Ihre Mutter holte gerade den Marmorkuchen aus dem Backofen, als Evelyn den Raum betrat.

„Das nenne ich Timing!“, sagte Conny mit einem strahlenden Lächeln. Ihre Hände steckten in zwei Grillhandschuhen und hielten die Kuchenform in Evelyns Richtung, als wäre sie ein Präsent. Die Lesebrille saß auf ihrer Nasenspitze, beschlagen von der warmen Luft im Ofen.

Evelyn legte den Brief und die Tüte mit den Brötchen auf die Anrichte, schlang einen Arm um den Hals ihrer Mutter und drückte ihr einen Kuss auf die mehlbestäubte Wange.

„Hi Mama, der Kuchen duftet köstlich.“

„Er muss noch auskühlen, aber nimm dir schon einen Kaffee.“

Evelyn nippte an der Tasse, während ihre Mutter Schnittlauch für einen Aufstrich schnippelte. Das tat sie wie immer in einer Geschwindigkeit, bei der Evelyn in ihrer Vorstellung schon das Blut spritzen sah. Natürlich hatte ihre Mutter alles bestens im Griff. Das mulmige Gefühl, sie könnte einen unschönen Unfall alleine durch ihre Gedanken heraufbeschwören, ließ Evelyn dennoch schnell das Thema wechseln.

„Ich gehe mal meine Geschwister begrüßen“, merkte sie an und schnappte sich zwei Karotten aus dem Korb neben der Spüle.

„Du sollst sie nicht so nennen.“ Ihre Mutter hielt in ihrer Geschäftigkeit inne und sah Evelyn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Ich will dich nur ein bisschen aufziehen. Um ehrlich zu sein, sind sie mir sogar lieber als echte Geschwister.“ Die Karotte knackte, als Evelyn hineinbiss. „Im Übrigen könnten wir mit den Leckereien, die du vorbereitet hast, bereits eine halbe Fußballmannschaft verpflegen. Komm, setzen wir uns in den Garten!“

„Ich will nur noch schnell den Geschirrspüler einräumen …“

„Ich helfe dir.“

„Nein, lass. Mach es dir ruhig schon gemütlich. Du bist heute mein Gast.“

Evelyn betrat die gepflegte Rasenfläche, die von einem Zaun aus Lärchenholz und verschiedenen Sträuchern gesäumt war. An der Seite, welche der Terrasse gegenüberlag, stand ein Schuppen aus Holz. Daneben blühten weiße Rispenhortensien. Ein roter Hasenstall mit blauem Rahmen lehnte sich an die Bretterwand der Hütte. Dahinter erhob sich, nur einen Steinwurf entfernt, das schroffe Massiv des Untersbergs.

Evelyn brach die Karotte in zwei Teile und steckte Jerry und Larry jeweils eine Hälfte zur Begrüßung durch das Hasengitter. Dann setzte sie sich vor ihrem Stall auf den Boden, lauschte dem Schaben der Zähne und beobachtete die wackelnden Kaninchennäschen.

Eine weitere Möhrenlänge später war ihre Mutter noch immer nicht im Garten aufgetaucht. Evelyn ging hinein, um nochmals ihre Hilfe anzubieten.

Sie hatte gerade einen Fuß über die Schwelle der Terrassentür gesetzt, da sah sie ihre Mutter an der Arbeitsfläche stehen, vertieft in den Brief, den Evelyn beim Hereinkommen mitgenommen hatte.

Als Conny ihre Tochter bemerkte, ließ sie das Schreiben in einer hektischen Bewegung hinter ihrem Rücken verschwinden.

„Entschuldigung, dass ich dich so lange warten lasse. Ich komme gleich zu dir.“

Evelyn wusste, es hätte keinen Sinn, ihre Mutter auf den Brief anzusprechen. Was mochte wohl darin stehen, dass sich Conny so ertappt gefühlt hatte und ihn sogar vor ihr versteckte? Schon bereute Evelyn es, keinen Blick auf den Absender geworfen zu haben, als sie das Kuvert vom Boden aufgelesen hatte.

Sie zog sich auf die Terrasse zurück und beobachtete anschließend ihre Mutter, die den Brief nun in den Papierkorb hinter der Küchentür warf.

„So!“ Conny trat in den Garten und knetete ihre Hände, während ihr Blick über den gedeckten Frühstückstisch wanderte.

„Mama, es ist wirklich alles da. Komm, wir essen!“

Ihre Mutter nickte und schob die Lesebrille in ihr kinnlanges, lockiges Haar, nachdem sie sich gesetzt hatte. Sie rückte mit dem Stuhl näher an den Tisch und griff nach der Kaffeekanne, um Evelyn nach- und sich selbst einzuschenken. Conny setzte zum Trinken an, ließ die schwarze Flüssigkeit aber sofort wieder in die Tasse zurücklaufen.

„Der Kaffee ist kalt!“ Sie stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte und war schon halb vom Plastiksessel aufgesprungen, als Evelyn sie sanft am Arm zurückhielt.

„Setz dich, Mama! Ich mach das, du hast dir eine Pause verdient.“

„Danke, mein Schatz.“

Conny stieß ein Seufzen aus. Langsam wich die Hektik aus ihren Bewegungen und sie sank zurück in den Sessel. Während sie eine Zeitung aufschüttelte, um darin zu lesen, ging Evelyn mit der Kanne in die Küche. Sie wechselte den Filter, füllte frisches Wasser und Pulver in die Maschine und ließ den Kaffee durchlaufen. Mit einem Blick in den Garten vergewisserte sie sich, dass sie unbeobachtet war, bevor sie den Brief aus dem Müll fischte. In der Garderobe steckte sie ihn in ihre Umhängetasche und suchte danach die Toilette auf, mehr, um einen Vorwand für den Ausflug in den Flur zu haben, als aus Notwendigkeit.

Zurück in der Küche, war der Kaffee fast fertig. Sie schnitt sich ein Stück von dem noch warmen Kuchen ab und verspeiste es, während sie wartete. In ihrem Kopf spukte ein Gedanke herum, der sie nicht mehr losließ. Hatte ihre Mutter vielleicht eine Affäre? Aber wer schrieb denn heutzutage noch Briefe? Und auch wenn sie die Vorstellung mitten ins Herz traf, musste Evelyn sich eingestehen, dass sie Verständnis dafür gehabt hätte. Seit sie zu Beginn ihres zweiten Semesters in die WG gezogen war, lebte ihre Mutter fast immer alleine im Haus. Damals waren Jerry und Larry bei ihr eingezogen. Jetzt tat Evelyn der Scherz über ihre Nagergeschwister leid, den sie so achtlos ausgesprochen hatte. Sie war wirklich nicht auf die Idee gekommen, dass sie ihre Mutter damit kränken könnte. Ihr Plan, Conny auf die Großmutter anzusprechen, war jetzt auf jeden Fall gecancelt.

„Freust du dich schon auf den Urlaub?“, fragte Evelyn, als sie zurück am Tisch war.

„Sehr! Endlich komme ich wieder mal raus. Manchmal beneide ich deinen Vater darum, dass er sich die Welt anschauen kann. Aber nur manchmal. Ich könnte es mir niemals vorstellen, ständig unterwegs zu sein …“

Stört es dich, dass er es ist?, hätte Evelyn am liebsten gefragt. Stattdessen biss sie in ein Vollkornbrötchen mit Butter. „Mmh …“ Sie nickte. „Kroatien gefällt dir bestimmt richtig gut. Hast du schon alles gepackt?“

Die Reise würde ihre Mutter erst am Montag antreten. Trotzdem stand der Koffer sicher schon irgendwo fast fertig in einer Ecke, auch wenn Conny im letzten Moment noch einmal alles übereinanderdrehen und quasi von vorne beginnen würde.

„So gut wie.“ Conny strich Erdbeermarmelade auf ihr Brötchen. „Du kommst hier wirklich zurecht?“

„Mama, ich bin doch kein kleines Kind mehr. Eine Woche werde ich es schon schaffen, aufs Haus aufzupassen. Und bevor du mich wieder fragst – nein, mir macht es wirklich nichts aus.“

Tatsächlich freute sie sich regelrecht auf die Tage allein in ihrem alten Heim. Sie wollte auf dem Dachboden nach Erinnerungsstücken stöbern und ihre alten Lieblingsplätze rund um das Haus besuchen. Das Domizil ihrer Eltern lag zwar nur eine gute halbe Stunde Fahrt mit dem Fahrrad von ihrer WG in Salzburg entfernt, trotzdem verschlug es Evelyn eher selten hierher. Meist traf sie sich mit ihrer Mutter in der Stadt.

„Was hast du denn Schönes vor?“

„Ich weiß noch nicht. Nicht viel. Das Übliche.“

Alle ihre Freundinnen waren entweder im Ausland oder für ein Praktikum, das Evelyn bereits absolviert hatte, in einer anderen Stadt. Sie hatte sich für diesen Sommer um keine Stelle bemüht, weil sie mit den Touren durch Salzburg gut ausgelastet wäre.

Nachdem sie noch einige Belanglosigkeiten ausgetauscht hatten, räumten sie den Tisch ab.

„Willst du mich nachher begleiten? Die Polarwölfe haben Nachwuchs.“

Conny arbeitete ehrenamtlich als Tierpflegerin im Zoo, der Teil des historischen Schlossparks war.

„Wirklich? Ja, gerne! Ich bringe nur schnell meine Sachen auf mein Zimmer.“

Evelyn holte die Umhängetasche, in der sich ihre Zahnputzsachen befanden, aus der Garderobe. Mehr brauchte sie nicht. In ihrem Kleiderschrank im Kinderzimmer stapelten sich noch immer die Klamotten, die sie damals nicht in die WG nach Salzburg mitgenommen hatte. Auch sonst war alles unverändert. Der Duft des frisch bezogenen Bettes empfing sie beim Hereinkommen. Sie legte sich auf die akkurat gefaltete Bettdecke und ließ ihren Kopf in das weiche, kühle Kissen sinken. Arme und Beine streckte sie von sich und schloss die Augen. Herrlich! Kurz erwog sie die Möglichkeit, ihrer Mutter abzusagen und noch ein Vormittagsschläfchen einzuschieben. Schließlich hatte sie Ferien. Doch die Aussicht auf die kleinen Polarwolfwelpen war zu verlockend.

„Sind die süß!“, rief Evelyn, als sie die scheuen Wolfswelpen hinter einem der Bäume entdeckte. „Wie alt sind die?“

„Wir schätzen einen Monat. Anastasia hat sie in ihrem Bau zur Welt gebracht. Wir haben es erst bemerkt, als wir ihre Lockrufe gehört haben.“

Was für ein Gewinn für den Zoo! Die erwachsenen Wölfe waren im März des Vorjahres in ihrem Hellbrunner Gehege eingezogen, wusste Evelyn von ihrer Mutter.

„Die beiden Rüden beteiligen sich an der Aufzucht. Sie bewachen den Höhleneingang, wenn sich die Mama weiter von den Jungen entfernt.“ Conny zeigte auf eines der männlichen Tiere, welches sein silbrig schimmerndes Fell putzte. „Das hier ist Isegrim, der Papa der Kleinen.“

Evelyn hätte sich auch gewünscht, dass ihr eigener Vater präsenter gewesen wäre. Aber anders als die Wölfe konnte man ihn nicht einsperren. Er wäre zugrunde gegangen, wenn er sich dauerhaft an einem Ort hätte niederlassen müssen. Daran änderte selbst eine Familie nichts.

Conny zeigte Evelyn auch die Gepardenbrüder, die kürzlich aus einem holländischen Safaripark nach Hellbrunn gekommen waren. Danach gingen sie gemeinsam zu den Kattas in den Afrika-Bereich. Conny verbrachte ihre Zeit im Zoo im Moment hauptsächlich damit, den Lemurenäffchen Manieren beizubringen – zu deren eigener Sicherheit. Die Tiere durften sich in dem Areal frei bewegen. Diese Freiheit nutzten sie für die Suche nach Leckerbissen, die leider nicht immer artgerecht oder besonders verträglich für ihre Bäuchlein waren. Nicht selten stibitzten sie sich Babykekse aus Kinderwägen oder schwatzten den Besuchern Futter ab. Das aber war höchst gefährlich, teilweise sogar lebensbedrohlich für die Tiere. Conny versuchte ihnen also beizubringen den Verlockungen von ungeeigneten Nahrungsmitteln zu widerstehen.

Evelyn musste schmunzeln. Ihre Mutter konnte selbst nicht die Finger von Süßem lassen. Als Evelyn noch ein Kind gewesen war, hatte Conny sie oft zu einem Eis überredet, nur um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen.

Sie beobachtete, wie liebevoll ihre Mutter mit den Äffchen umging, die um sie herum sprangen, auf ihren Kopf kletterten und sich auch sonst als ziemlich freche Schüler erwiesen. Conny hatte Evelyn eine glückliche Kindheit beschert, ihr stets das Gefühl von Geborgenheit gegeben. Daran hatte sich bis heute nichts geändert. Doch nun war Evelyn älter und es schmerzte sie, dass sie in der Tochterrolle gefangen war. Lieber hätte sie sich als eine Vertraute ihrer Mutter gesehen, die eindeutig Geheimnisse hatte. Geheimnisse, die sie nicht mit ihrer Tochter teilen wollte.

Als Conny sie anstrahlte, umringt von Lemuren, die an ihren Locken zogen, lächelte Evelyn zurück. Doch während ihre Mundwinkel nach oben gingen, senkte sich Schwermut auf ihr Herz. Die Enge in ihrem Brustkorb ließ sie schwer schlucken.

„Hast du noch länger hier zu tun?“, fragte sie ihre Mutter.

„Eine Weile. Macht es dir was aus?“

„Nein, nein. Bleib ruhig da. Ich gehe schon einmal nach Hause. Soll ich uns was zu essen machen?“

„Ich habe noch gar keinen Hunger.“

„Ich auch nicht. Es ist ja noch genug vom Frühstück da. Sparen wir uns das Kochen.“

„Gute Idee.“

Evelyn verabschiedete sich mit einem Kuss von ihrer Mutter und spazierte alleine, aber verfolgt von trüben Gedanken zum Haus zurück.

Kapitel 3

Evelyn hatte es nicht gewagt, den Brief zu lesen, solange ihre Mutter im Haus war. Kurz war sie in Versuchung gekommen, als sie etwas früher vom Zoo zurückgekehrt war, hatte es aber doch gelassen. Wie hätte sie ihrer Mutter gegenübertreten sollen, wenn das Schreiben sich tatsächlich als Nachricht eines Verehrers herausgestellt hätte?

Sie hatte sich also entschlossen abzuwarten, bis Conny in den Urlaub abgereist war. Das war nun geschehen. Trotzdem zögerte Evelyn. Des Rätsels Lösung schlummerte verborgen in ihrer Umhängetasche, die sie nun schulterte. Wenn sie den Umschlag öffnete, änderte das vielleicht alles. Das Bild, das sie von ihrer Mutter hatte, wäre womöglich für immer zerstört. Einen Kratzer hatte es alleine schon durch Evelyns Vermutung erlitten, ein anderer Mann als ihr Vater könnte im Spiel sein. Das bedeutete allerdings, dass sie den Brief sogar öffnen musste! Andernfalls würde sie nie herausfinden, ob sie ihrer Mutter Unrecht tat.

Vorerst schob sie das Unvermeidliche vor sich her. Zum einen wollte sie die Ferien noch ein wenig genießen, ein paar Ausflüge in die Umgebung unternehmen. Zum anderen musste sie sich gedanklich auf den schlimmsten Fall vorbereiten, der eintreten konnte. Eine Stimme in Evelyns Innerem ergriff Partei für ihre Mutter, fand bereits Entschuldigungen für das vermeintlich ungebührliche Verhalten. Sie wünschte sich, dass die Beziehung zu ihr davon keinen Schaden nähme, wusste aber auch, dass so ein Vertrauensbruch für sie nur schwer zu verwinden wäre.

In der Küche packte sich Evelyn noch einen Apfel und das letzte Stück vom Marmorkuchen in die Tasche. Sie füllte ihre Wasserflasche und steckte sie ebenfalls ein.

Als sie das Haus verließ, war es erst kurz nach acht Uhr. Sie wollte die noch milden Temperaturen am Vormittag nutzen. Ab der Mittagszeit waren wieder über dreißig Grad angesagt.

Das sanfte Rauschen des Baches, dessen Bett unter Bäumen und Büschen verborgen lag, drang an ihr Ohr. Sie winkte der Nachbarin, die im Vorgarten Wäsche aufhängte, über die Eibenhecke zu und durchquerte die Sackgasse.

Wenig später bog Evelyn in einen Feldweg ein. Links und rechts davon breiteten sich zwischen zwei Wäldern weite Wiesenflächen und Äcker aus. Es schien, als verliefe der Weg mitten hindurch, geradewegs auf die Gebirgskette vor Evelyn zu. Vereinzelt standen Bäume, als hätte sie jemand aus Versehen vom Himmel geworfen und dabei Felder und Äcker getroffen. Bei der Anlage der Schlossallee, welche den Weg kreuzte, hatte man hingegen nichts dem Zufall überlassen. Ihr Grün zeichnete die Linie des Horizonts nach, über der sich die Berge erhoben.

Die Allee endete kurz vor einem Weiher, von dessen Ufer sich eine Brücke zum Wasserschloss Anif spannte. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte der damalige Besitzer es nach Vorbild der englischen Tudorschlösser umbauen lassen. Davon zeugten unter anderem die Zinnenmauern mit den kleinen roten Türmchen.

Leider war das Schloss für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Hohe Mauern und Bäume versperrten die Sicht. Deshalb blieb Evelyn auf dem Feldweg und folgte ihm bis zum Waldbad, das an diesem Vormittag wie verlassen wirkte.

Das lag vor allem daran, dass es noch nicht geöffnet hatte. Evelyn ließ sich in einer versteckten Bucht nieder und streifte ihre Kleidung ab. Ihren Bikini hatte sie bereits zu Hause angezogen. Am Rand der Rasenbank blickte sie in den See, in dem sich das Grün der Bäume widerspiegelte. Die Wurzel einer Erle erleichterte ihr den Einstieg ins Wasser.

„Huh.“ So kalt! Evelyn lachte vergnügt und schob das Wasser in fließenden Bewegungen zur Seite. Tauchte ab, hielt Ausschau nach Fischen, bis sie die Luft nicht mehr anhalten konnte. Kehrte zurück an die Oberfläche und schwamm zu dem Floß in der Mitte des Sees. Sie stemmte sich hoch und ließ den Oberkörper nach vorne kippen, damit sie hinaufklettern konnte. Die treibende Insel schwankte unter Evelyns Gewicht. Die legte sich flach auf den Rücken und schloss die Augen, doch die Sonne schien ihre Lider zu durchdringen. Wie ein sanfter Kuss legte sich ihre Wärme auf Evelyns Lippen. Und dann spürte sie wieder seinen Mund auf ihrem. Seine Zungenspitze, die sie neckte. Frech und doch zärtlich. Fühlte den klatschnassen Stoff seiner Bermudas auf den Schenkeln, schwebte einen Moment in der Schwerelosigkeit. Wie lange war das her? Eine Ewigkeit schien vergangenen zu sein seit dem gestohlenen Kuss. Ja, sogar die Trennung von Alex lag schon über zwei Jahre zurück. Es hatte sich herausgestellt, dass sie nicht zusammenpassten. Sie liebte die Vorstellung von ihnen beiden, die Realität war allerdings ernüchternd gewesen. Trotzdem breitete sich beim Gedanken an ihn ein Kribbeln in ihrem Bauch aus. Wahrscheinlich war sie schon zu lange alleine. Seit Alex hatte es keiner geschafft, ihr Herz höher schlagen zu lassen. Jedoch hatte Alex inzwischen geheiratet, ein Mädchen aus dem Dorf. Erst hatte Evelyn ihrer Mutter nicht geglaubt. So schnell? Aber das Foto aus der Zeitung, das als Beweis vorgelegt worden war, ließ keine Zweifel daran. Evelyn erstickte die aufkeimende Enttäuschung mit einem Sprung ins Wasser. Sie schwamm zurück zum Ufer und kletterte an Land. Dort nahm sie das kleine Handtuch, welches sie über die Umhängetasche geschlagen hatte. Eilig trocknete sie sich damit ab, denn sie hörte beim Eingang bereits Stimmen, und schlüpfte in das weite T-Shirt, auf dem sich sofort nasse Flecken abzeichneten. Weil sie unbemerkt verschwinden wollte, blieb sie in der Deckung der mehrstämmigen Erlen, die den See säumten. Eine Engstelle zwang sie dicht ans Ufer, wobei sich der Riemen ihrer Tasche an einem störrischen Ast verhedderte. Evelyn riss und zerrte daran und hätte um ein Haar ihr Gleichgewicht verloren. Während sie noch nach Halt suchte, platsche an ihrer Stelle etwas anderes ins Wasser. Ihre Tasche!

„Mist, Mist, Mist!“, fluchte Evelyn und suchte verzweifelt nach einem Stock, mit dem sie nach dem Treibgut fischen könnte. Weil ihr auf die Schnelle kein passender ins Auge fiel, der Versuch, einen der Äste abzubrechen, misslang und die Tasche mittlerweile aus ihrer Reichweite trieb, blieb ihr nichts anderes übrig, als erneut ins Wasser zu gleiten.

Sie stieß sich vom Grund ab und machte – mit der Anmut eines Tölpels – einen Satz nach vorn, um ihre Habseligkeiten vor dem Untergang zu retten, was ihr immerhin gelang.

Gescheitert war allerdings das Vorhaben, kein Aufsehen zu erregen. Die Menschen am Eingang setzten sich bereits in Bewegung. Aber bis sie den See umrundet hätten, wäre Evelyn längst weg.

Niemand schien ihr gefolgt zu sein, trotzdem versicherte sich Evelyn noch einmal mit einem Blick über die Schulter, ehe sie im Gehen die Klappe ihrer Tasche aufschlug und nach ihrem Handy kramte. Dabei stießen ihre Finger unversehens an etwas, an das sie gar nicht mehr gedacht hatte. Etwas, das sie nun abrupt stehenbleiben ließ: Der Brief aus dem Müll …

Sie holte das labbrige Kuvert heraus. Der Absender war nicht mehr lesbar. Hoffentlich war das Schreiben noch zu retten! Äußerst behutsam öffnete Evelyn den Umschlag, zog das Papier hervor und faltete das Blatt auseinander. Dann begann sie zu lesen.

Als sich ihr der Inhalt des Briefes erschloss, füllten sich ihre Augen unvermittelt mit Tränen.

Bitte verzeih mir, flehten die Worte. Es lag so viel Kummer zwischen den Zeilen. Die verlaufene Tinte malte das Bild eines traurigen Lebens. Evelyn fühlte sich davon ergriffen. Das lag vor allem daran, dass die Verfasserin mit ihr zu tun hatte, obwohl sie ihr ganz und gar fremd war. Der Brief stammte von Evelyns Großmutter. Ludmilla.

Kapitel 4

Wieder und wieder hatte Evelyn den Brief ihrer Großmutter gelesen, war daraus aber nicht unbedingt schlau geworden. Ludmilla entschuldigte sich darin und bat um Vergebung. Das Schreiben enthielt jedoch keine Anhaltspunkte, was zwischen den Frauen vorgefallen war, das sie entzweit hatte.

Wie groß musste die Kluft zwischen ihnen sein, dass Conny dieselbe Nachricht, die Evelyn zu Tränen rührte, einfach im Müll entsorgt hatte?

Ihre Mutter war nicht so. Diese Gefühlskälte schockierte Evelyn, aber sie wusste ja nicht, was zu dem Streit geführt hatte und welchen Anteil ihre Großmutter daran trug.

Evelyn hatte ihre Mutter nie über sie schimpfen gehört, aber auch sonst war kein Sterbenswörtchen über sie gefallen. Es war immer gewesen, als existierte für Evelyn keine Oma.

Nur einmal war Ludmilla kurz zum Gesprächsthema im Hause Breitenfellner geworden, bevor es schnell wieder unter den Teppich gekehrt worden war. Evelyn hatte als Zehnjährige nach versteckten Weihnachtsgeschenken gesucht und war in einem alten Schrank im Keller auf ein Album gestoßen. Darin hatte sie ein Foto ihrer Großmutter entdeckt und in kindlicher Euphorie gefragt: „Besuchen wir sie?“

„Irgendwann vielleicht. Sie wohnt weit weg.“

„Kann sie nicht zu uns kommen?“

Ihre Mutter hatte das Album daraufhin an sich genommen und damit den Raum verlassen.

„Es gehört deiner Mama, du darfst es nicht einfach nehmen.“ Die Rüge ihres Vaters klang noch heute in Evelyns Ohr. Sie erinnerte sich daran, wie sie spät in der Nacht das Schluchzen ihrer Mutter vernommen hatte. Der Glaube, sie hätte ihre Mama zum Weinen gebracht, indem sie ihre Sachen angeschaut hatte, ohne zu fragen, hatte Evelyn damals nicht schlafen lassen.

Das Herz, das sie ihr in dieser Nacht aus roter Pappe und mit viel Glitzer gebastelt hatte, hing heute noch auf der Abdeckung des Verteilerkastens.

Jetzt lag sie wieder wach, dachte an ihre Mutter. Das Licht der Straßenbeleuchtung drang durch die Plisseejalousie und warf einen schwachen Schimmer auf Evelyns Bett. Die Laterne hatte ihr früher das Nachtlicht ersetzt.

Evelyn schlug die Decke zur Seite und rieb sich die Augen.

Irgendwo musste dieses Fotoalbum noch sein. Den alten Schrank hatte ihre Mutter mittlerweile entsorgt. Bei den Familienalben in der Kommode unter dem Fernseher brauchte sie nicht nachzusehen. Gut möglich, dass die Erinnerungen zusammen mit dem Schrank auf dem Sperrmüll gelandet waren.

Aber Evelyns Gefühl drängte sie dazu, weiterzusuchen. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Conny alle Verbindungen zu Ludmilla gekappt hatte.

Draußen auf dem Gang blieb sie abrupt stehen und blickte nach oben.

Der Dachboden.

Dort verschwanden alle Sachen, von denen man sich nicht endgültig trennen konnte, oder? Auch das Album?

Im Abstellraum entdeckte sie die Stange zum Öffnen der Deckenluke an der gewohnten Stelle. Sie fädelte den Haken ein und zog kräftig mit beiden Armen. Die Klappe ging auf und brachte eine Metallleiter zum Vorschein, auf der Evelyn nach oben gelangte. Sie sah sich um. Nur ihr Kopf ragte aus der Öffnung im Boden, auf dem sich der Staub vieler Jahre gesammelt hatte und die vertrockneten Körper hunderter Fliegen verstreut lagen. Einige davon zerbröselten unter Evelyns Tritten, als sie sich schließlich weiter vorwagte. Das Licht der schwachen Glühbirne verwandelte das Dachfenster in einen Spiegel, in dem sich Evelyns Gestalt vom schwarzen Nachthimmel abhob. Eine Wespe nahm zum wiederholten Male Anlauf, um durchs geschlossene Fenster zu gelangen. Ihr Surren und Brummen erfüllte den ganzen Raum. Tapfere Kämpferin.

Evelyn schob einen Stuhl unter das Fenster und ließ die Wespe frei.

Ein kühler Luftzug streifte Evelyns Haut, drang in den stickigen Dachboden wie frischer Atem.

An einem Querbalken hing immer noch der Karabiner, an dem früher ein Hängesessel befestigt gewesen war.

Als Zwölfjährige hatte Evelyn den Dachboden einen Winter lang für sich beansprucht. Es war eine Zeit des Übergangs gewesen. Vom alten in ein neues Jahr. Vom Kind, das alles mit seiner Mutter teilte, zum Mädchen, das plötzlich Raum für sich brauchte. Zeit, um zu verstehen, was da mit ihr vor sich ging. Zeit, um zu begreifen, warum sich ihre beste Freundin nun lieber mit anderen traf, weil die schon mit den Jungs in der Klasse Flaschendrehen spielten.

Jeden Tag nach der Schule war sie hier heraufgekommen. Sie hatte sich in eine dicke Wolldecke eingemummelt, weil es unter dem Dach kaum wärmer war als draußen, und gelesen oder Tagebuch geschrieben.

Jetzt ging Evelyn zielstrebig zu der gemauerten Säule des Zusatzkamins, der nie angeschlossen worden war. Sie öffnete das Türchen zum Schacht, griff hinein und streckte den Arm bis zur Beuge nach oben aus. Mit den Fingern tastete sie den rauen Schamottstein und schließlich Stoff. Wieder wanderten ihre Finger, fanden den Kopf des massiven Nagels, um den sie den Henkel einer Tasche gehängt hatte.

Als Mädchen hatte Evelyn eine spezielle Technik entwickelt, die verhindert hatte, dass der Beutel im Schacht nach unten fiel. Dazu hatte sie ein Stück Pappe zugeschnitten, das sie durch das Türchen schob, bevor sie ihr Tagebuch aus dem Versteck holte.

Sie befreite das kleine Notizbuch aus dem Stoff und schlug es auf. Ohne die Zeilen wirklich zu lesen, überflog sie die kindliche Schrift. Ein Blick auf die Seite – das Schriftbild, eine Zeichnung am Rand des Blattes – genügte und die Erinnerungen waren zurück.

Wo verbarg ihre Mutter die Erinnerungen an ihre Vergangenheit?

Evelyn ließ den Blick schweifen. Plötzlich ahnte sie aus unerfindlichen Gründen, wo sich das Fotoalbum befand.

Versteckt im dunkelsten Winkel unter der Dachschräge entdeckte sie den Violinenkasten. Sein schlanker Hals lugte hinter einigen Kisten mit Schallplatten hervor. Sie kniete sich davor, schob die Holzboxen zur Seite und nahm den Instrumentenkoffer an sich. Vorsichtig hob sie ihn am Griff hoch und fühlte sein Gewicht in ihrer Hand.

„Ach, Mama“, seufzte sie. Denn Evelyn wusste, dass die Violine verstummt war. Sie schwieg schon ein Menschenleben lang. Zumindest konnte sich Evelyn nicht daran erinnern, ihre Mutter jemals darauf spielen gehört zu haben. Dass sie es früher leidenschaftlich gerne getan hatte, wusste sie nur aus einem Streitgespräch, das sie zwischen den Eltern belauscht hatte.

„Wenn du dich so schlecht fühlst, dann spiel doch wieder. Das hat dir einmal so viel gegeben. Vielleicht bist du dann wieder zufriedener.“

„Du weißt, das kann ich nicht. Die Violine, sie erinnert mich …“

„Dann wirf sie doch endlich weg. Immerzu flennst du mir die Ohren voll. Ein Glück, dass ich morgen nach Singapur fliege. Dieses Gejammer hält doch keiner aus.“

Evelyn steckte das Tagebuch hinten in den Hosenbund ihrer Pyjamashorts und kletterte mit dem Koffer in der Hand die Leiter hinunter.

Sie legte beides auf die Matratze und zögerte einen Moment, ehe sie den Koffer öffnete. Mit einem Klicken sprangen die Verschlüsse auf. Vorsichtig hob sie den Deckel an. Darin lag die Geige ihrer Mutter, gebettet auf schwarzem Samt – wie in einem Sarg, in dem Conny ihre Sehnsüchte und Träume begraben hatte. Evelyn strich mit den Fingerspitzen über das glänzende Holz, über die Wölbung des Klangkörpers. Behutsam nahm sie das Instrument heraus und legte es zur Seite.

Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie in den Hohlraum sah. Es war wirklich dort. Das Album. Genau wie sie es geahnt hatte.

Ein kalter Schauer überfiel Evelyn. Jetzt, da sich ihre seltsame Vorahnung erfüllt hatte, wusste sie nicht, ob sie dankbar sein oder sich fürchten sollte.

Vielleicht wäre es besser, das Album erst bei Tageslicht zu sichten. Allerdings würde ihr das unheimliche Gefühl zweifellos unter die Bettdecke folgen. Besser also, sie sah ihren Ängsten ins Auge. Es waren nur ein paar alte Fotos. Was sollte daran schon Schlimmes sein?

Trotzdem war ihr wohler dabei, ins Wohnzimmer überzusiedeln. Sie schaltete den Fernseher ein und regulierte die Lautstärke nach unten. Die amerikanische Sitcom war ideal, um ihre Nerven zu beruhigen. Im Publikum der Show erklang Gelächter, als machte es sich über Evelyn lustig.

Da sich im Kühlschrank weder Wein noch Bier befand, schwenkte Evelyn um und entschied sich für einen Schlummertrunk aus warmer Milch und Honig. Sie schnupperte daran und erinnerte sich an die Abende, die sie bei ihrer Mutter auf der Couch hatte verbringen dürfen, wenn sie nicht schlafen konnte. Jedes Mal hatte sie sich vorgenommen, den Viertel-nach-acht-Film zu Ende zu sehen. Jedes Mal war sie schon nach wenigen Minuten eingeschlafen.

Evelyn überkam der Gedanke, wie schön es wäre, ihre Mutter jetzt hier zu haben, um sich das Album mit ihr gemeinsam anzusehen. Stattdessen schlich sie um das Ding herum, als läge ein Fluch darauf.

Sie ließ sich in die weiche Polsterung der cremefarbenen Couch fallen und verordnete dem Prinz von Bel Air eine Sendepause. Es war wirklich zu schade, dass kein Wein da war, denn Evelyn hätte sich allzu gerne ein bisschen Mut angetrunken. Stattdessen nahm sie endlich das kleinformatige Album in beide Hände und strich mit dem Daumen über den weichen Ledereinband. Er hatte einige Dellen und Kratzer abbekommen, als hätte die Zeit der Zurückweisung Narben darauf zurückgelassen.

Ehrfürchtig schlug sie das Album auf. Der Umschlag gab ein knarrendes Geräusch von sich, als wollte er Widerworte geben.

Für meine Tochter Constanze stand als Widmung auf der ersten Seite. Evelyn blättere um. Seidenpapier verhüllte das Bild, das mittig auf dem nächsten Bogen platziert worden war. Raschelnd löste sich das Trennblatt und gab das Foto frei, das in Evelyns Erinnerung haften geblieben war.

Die hoch aufragende Villa im Hintergrund hatte die Anmutung eines Jagdschlösschens. Auf dem Foto hatte es den Anschein, als wäre es umringt von Bäumen. An einer Ecke wuchs ab der Mitte ein zweigeschossiger Erker mit schmalen Fenstern aus dem Mauerwerk. Er trug ein Dach wie einen spitzen Hut und wirkte damit auf den ersten Blick wie ein Türmchen.

Im Rasen vor dem Haus saß eine Mutter mit ihrem Kind. Vergeblich suchte Evelyn die Züge der Erwachsenen auf dem Bild nach etwas Vertrautem ab. Diese Frau war ihre Großmutter, das lag auf der Hand, allerdings war das Foto etwas unscharf geraten und außerdem aus der Distanz aufgenommen worden. Das Baby – Evelyns Mutter – saß plump auf einer Decke. Ludmilla war Conny zugewandt, als redete sie mit ihr. Gleichzeitig schienen beide die Katze zu beobachten, die sich ins Bild geschlichen hatte.

Wer hatte wohl hinter der Kamera gestanden, um diesen liebevollen Moment einzufangen? Conny war ohne Vater aufgewachsen, so viel wusste Evelyn – mehr auch nicht.

Sie hatte keine Ahnung, ob ihre Mutter ihren Erzeuger kannte. Vielleicht fänden sich im Album weitere Hinweise auf ihn.

Evelyn studierte die folgenden Seiten. Doch auf den weiteren Fotos war ausschließlich Conny zu sehen. Bei der Einschulung, der Erstkommunion. Ein paarmal waren andere Kinder mit ihr auf den Bildern. Keine Mutter. Kein Vater.

Als sie etwa zur Hälfte mit dem Album durch war, wechselte das Erscheinungsbild der Seiten.

Jemand anderes hatte es fortgeführt, vermutlich Conny selbst. Waren die Fotos zuvor in akkurater Form mit Bleistift bezeichnet gewesen, stachen Evelyn jetzt wilde Notizen an den Blatträndern ins Auge. Zwischen Fotos klebten Postkarten, getrocknete Blüten und Zeitungsausschnitte. Einer davon zeigte Conny als Teenager am Rande einer Gruppe von Erwachsenen. Es handelte sich dem Text zufolge um die Eröffnung eines Naturlehrpfades, an dessen Gestaltung sich Conny beteiligt haben musste. Daneben klebte ein Foto von Evelyns Mutter, die gerade einen Nistkasten an einen Baum hängte. Auch von der Violinistin Conny gab es Fotos.

Das letzte Bild im Album ließ Evelyn stutzen. Es zeigte ihre Mutter im Profil. Sie saß auf einer Schaukel, hielt sich mit beiden Händen an den groben Seilen fest. Ihr Blick schien nachdenklich, war in die Ferne gerichtet. Die offenen Haare reichten ihr, trotz Dauerwelle, bis über die Schultern und sie trug ein leichtes Sommerkleid. Aber was war das? Unter dem Stoff mit dem auffälligen Blumenmuster zeichnete sich ganz eindeutig die Wölbung eines Bäuchleins ab. Das war doch nicht möglich, oder doch?

Die Conny auf dem Bild war jung. Jünger als damals, als sie mit Evelyn schwanger gewesen war. Zu diesem Zeitpunkt hatten Richard und Conny schon die Hoffnung aufgegeben gehabt, jemals Eltern zu werden. Bis es doch noch geklappt hatte. Bei Evelyns Geburt war Conny bereits in einem für damalige Verhältnisse fortgeschrittenen Alter gewesen.

Das also war der Grund für die vielen Tränen gewesen! Das markerschütternde Schluchzen in jener Nacht, als Evelyn das Album im Keller gefunden hatte.

Evelyn presste die Hand auf ihren Mund. Ihre Augen wurden feucht. Mit einem Mal war ihr ihre Mutter fremd geworden. Sie wusste rein gar nichts über sie. Nichts von den wichtigen Dingen. Warum sagst du mir nie, was dich quält?

Evelyn schüttelte entschieden den Kopf. Es war nur natürlich, dass ihre Mutter nicht mit ihr darüber gesprochen hatte. Sie hatte ein Kind verloren. Mein Gott!

Evelyn drückte das Album an ihren Körper, umarmte es an Connys Stelle und schloss die Augen. Sie konnte den Schmerz dieses Verlustes kaum erahnen, trotzdem fühlte sie sich von ihrer Traurigkeit für einen Moment wie gelähmt.

Ein Gedanke ließ sie daraus ausbrechen. Es sollte nicht noch ein Mensch für immer aus Connys Leben verschwinden. Nicht, bevor sie sich mit ihm versöhnt hatte. Evelyn fasste einen Entschluss: Wenn ihre Mutter aus dem Urlaub zurück war, würde sich Evelyn auf eine Reise begeben. Und die führte sie an den Ort, dem Conny drei Jahrzehnte zuvor den Rücken gekehrt hatte.

Kapitel 5

Linz, 6. Februar 1930

Dichter Nebel umhüllte Theres. Der trübe Schleier verwandelte die mächtigen Buchen am Wegrand in schaurige Gestalten. Ihre kahlen Äste durchbrachen kaum das milchige Grau. Die Zweige der niedrigeren Sträucher streiften das Mädchen beim Vorbeigehen. Dieses konzentrierte sich jedoch alleine auf seine Schritte, das Knirschen unter seinen Füßen. Die Frostschicht, die das tote Laub und die Wurzeln überzog, hielt sich an diesem Morgen hartnäckig. Theres musste aufpassen. Ein unbedachter Schritt konnte ihr und anderen zum Verhängnis werden. Rechts von dem schmalen Pfad fiel das Gelände steil ab. Achtlos losgetretene Steine verwandelten sich unversehens in gefährliche Geschosse.

Theres kannte den Weg. Oft war sie ihn zusammen mit ihrem Onkel gegangen, um die gewaschenen Laken ins Schloss zu bringen. Der Königsweg verlief in einer stetig ansteigenden Linie quer über den Steilhang hinauf. Er war gefestigt von den vielen tausend Schritten, welche die Menschen seit Jahrhunderten darauf hinterließen.

Gleich würde sie die Anhöhe erreichen. Das dumpfe Schlagen aus dem Steinbruch in der Felswand hörte sie immer deutlicher. Der Dunst löste sich allmählich auf und der Wald lichtete sich.

Theres trat aus dem Schatten der Bäume auf die Wiese, die sich nun vor ihr ausbreitete. Auf dem Plateau siegte die Sonne endgültig über den Nebel. Sie ließ die Halme in ihrem Licht funkeln, erweichte die Eiskristalle darauf, bis sie als dicke Tropfen abfielen. Es roch nach Frühling, obwohl erst Anfang Februar war.

Theres nahm ihr Kopftuch ab und bückte sich, um ein Schneeglöckchen zu pflücken. Dabei fiel ihr der lange, dunkelblonde Zopf über die Schulter.

Sie dachte an den harten Winter des Vorjahres, spürte wieder die eisige Kälte, die sogar die Donau zufrieren lassen hatte. An manchen Stellen hatte man den Fluss auf der dicken Eisdecke überqueren können.

Plötzlich riss eine bekannte Stimme sie aus den Gedanken.

„Theres, du bist das! Hab ich mich nicht getäuscht.“ Gustav, ein hünenhafter Bursche aus dem Dorf, kam auf sie zu. „Wo willst du denn hin, Mädchen? So schnell, wie du rennst, könnte man meinen, du läufst davon.“ Seine breite Hand drückte ihre Schulter. „Komm, wir gehen ein Stück gemeinsam.“ Als er Anstalten machte, den Arm um sie zu legen, rückte sie von ihm ab.

„Ich geh wirklich fort von daheim. Man erwartet mich im Schloss.“

„So?“ Gustav griff nach dem Riemen seines Rucksacks, um ihn abzustellen. Da erkannte Theres, dass er einen Korb auf dem Rücken getragen hatte, aus dem nun ein Gackern erklang.

„Könnens dich daheim nicht mehr brauchen?“, fragte er.

„Wohl, das schon. Aber dort nutze ich ihnen mehr. Was ist mit dir? Lichtmess ist vorbei, will dich kein Bauer haben?“

Die Verwegenheit ihrer Antwort trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Wann hatte sie gelernt so auszuteilen? Gustav konnte es vertragen. Er steckte es locker weg, schien den Schlagabtausch zu genießen, wie sein breites Grinsen verriet.

„Ich bin unterwegs zum Markt. Die Braune kann ich nicht mitnehmen zum Schlagerbauern. Schade drum, sie ist die beste Legehenne, die ich je hatte.“

„Dann bekommst du hoffentlich gutes Geld dafür.“

„Das wäre recht. Der Lohn hat nicht lange vorgehalten.“

Vermutlich hatte Gustav diesen bereits beim Wirt umgesetzt. Viel bekamen die Knechte ohnedies nicht. Der eine oder andere beanspruchte schon während des Jahres Vorschüsse, sodass am Ende kaum etwas übrig blieb.

„Sei froh, dass dir der Fürst Arbeit gibt. Er ist ein guter Herr.“

Theres nickte verhalten. Hörte sie da Neid in seinen Worten? Froh war sie wirklich darüber. Ihre Familie konnte das Geld gut gebrauchen. Vor allem jetzt, da wieder Nachwuchs unterwegs war. Der Vater schund sich Tag für Tag im Steinbruch, die Mutter verdiente mit Näharbeiten etwas dazu. Trotzdem reichte das Geld kaum zum Leben. Vor allem nicht in Zeiten wie diesen. Theres war glücklich bald etwas beisteuern zu können.

Gustav bot an, sie den restlichen Weg zum Schloss zu begleiten, aber sie lehnte dankend ab. Was gäbe das für ein Bild, wenn sie dort in männlicher Begleitung aufkreuzte? Außerdem wollte sie sich noch einen Moment nehmen, um sich von ihrer Heimat zu verabschieden.

In ihr Elternhaus würde sie künftig nur mehr als Besucherin zurückkehren, denn ihre Anstellung als Hausmädchen gebot, dass sie auf dem Schloss blieb.

Sie stellte sich an den Rand des Abgrundes, wo ein kleiner Vorsprung sonst den Blick hinab ins Dorf ermöglichte.

Heute lagerte der Nebel im Tal wie ein stürmisches Meer. Er verschluckte die kleinen Häuser, die sich an den Hang schmiegten. Als hätten sie niemals existiert.

Theres schloss für einen Moment die Augen und beschwor die Bilder ihrer Erinnerung herauf. Vor ihren Augen tanzten die Laken. Der Wind blähte sie auf wie Segel, ließ den nassen Stoff schnalzen. Sie hingen an Leinen, die sich zwischen den Häusern über den kompletten Hang spannten, damit die Sonne sie trocknete und bleichte. Reihe für Reihe verhüllten sie in ihrer großen Zahl den Berg bis hinauf zu der Stelle, wo das Wäldchen begann. Dazwischen schimmerte, unmittelbar vor der ersten Häuserreihe, bleiern das Band der Donau.

Mit einem wehmütigen Seufzer drehte sie sich um und setzte ihren Weg fort. Ihre Gedanken galten ihrer Mutter und dem ungeborenen Kind. Die Schwangerschaft war schwierig, ihre Mutter nicht mehr die Jüngste. Theres fragte sich, ob der Fürst es gutheißen würde, wenn sie ihrer Mutter bei der Niederkunft beistand. Sie hatte mit ihrer Tante abgemacht, dass sie jemanden schicken würde, um Theres zu holen, wenn es soweit war.

Theres erreichte die Bergkuppe und hielt inne. Ihr Herz pochte vor Aufregung. Schloss Rosenhag mit seinen runden Ecktürmen erhob sich auf dem gegenüberliegenden Hang oberhalb des Hirschgrabens, der sich wie eine Furche durch den Berg zog. Die mächtige Steinmauer des Schlossparks wurde überwuchert vom Grün der Kletterpflanzen und Baumkronen. Im Hintergrund war der Meierhof zu erkennen, der sich direkt an das Herrschaftshaus angliederte.

Wenig später durchschritt sie den Torbogen auf der Nordseite.

„Still gestanden, Eindringling! Wo willst du hin?“

Ein kleiner Junge, vielleicht zehn oder elf Jahre, saß auf einer Kanone, die im Eingangsbereich stand, und reckte das Kinn. Einen Arm stemmte er in die Seite, in der Rechten hielt er ein Schwert aus Holz und zielte mit der Spitze auf Theres.

Diese spielte mit, schwang ihr Kopftuch in der Luft. „Habt Erbarmen! Ich komme in friedlicher Absicht und will Eurem Herrn dienen.“

„Meinem Herrn? Ich bin keinem Herren Untertan.“

Der Junge grinste frech, sprang in den Stand und balancierte an die Spitze des Kanonenrohrs. „Du siehst nett aus, darum will ich dich verschonen.“

„Dann habe ich noch einmal Glück gehabt. Wie ist Euer Name, edler Herr?“

„Nenn mich …“