DAS GEHEIMNIS DER CHINESISCHEN NELKE - Louis Weinert-Wilton - E-Book

DAS GEHEIMNIS DER CHINESISCHEN NELKE E-Book

Louis Weinert-Wilton

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Der Mann mit der Blume im Knopfloch sagt: "Das ist eine chinesische Nelke - und sie ist fünfhundert Pfund wert!" Kurze Zeit später wird dieser Mann in einer dunklen Gasse des Londoner Hafenviertels gefunden: tot... Ist die Nelke wirklich so wertvoll? Oder wusste er zu viel? Der Krimi-Klassiker DAS GEHEIMNIS DER CHINESISCHEN NELKE (erstmals im Jahr 1936 veröffentlicht) von Louis Weinert-Wilton erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX CRIME. 1964 wurde der Roman unter der Regie von Rudolf Zehetgruber verfilmt – in den Hauptrollen: Paul Dahlke, Olly Schoberova, Dietmar Schönherr, Brad Harris, Horst Frank und Klaus Kinski.

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LOUIS WEINERT-WILTON

DAS GEHEIMNIS DER

CHINESISCHEN NELKE

Roman

Apex Crime, Band 42

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

DAS GEHEIMNIS DER CHINESISCHEN NELKE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Epilog 

 

Das Buch

Der Mann mit der Blume im Knopfloch sagt: »Das ist eine chinesische Nelke - und sie ist fünfhundert Pfund wert!«

Kurze Zeit später wird dieser Mann in einer dunklen Gasse des Londoner Hafenviertels gefunden: tot...

Ist die Nelke wirklich so wertvoll?

Oder wusste er zu viel?

Der Krimi-Klassiker Das Geheimnis der chinesischen Nelke (erstmals im Jahr 1936  veröffentlicht) von Louis Weinert-Wilton erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX CRIME.

1964 wurde der Roman unter der Regie von Rudolf Zehetgruber verfilmt – in den Hauptrollen: Paul Dahlke, Olly Schoberova, Dietmar Schönherr, Brad Harris, Horst Frank und Klaus Kinski.

Der Autor

Louis Weinert-Wilton.

(* 11. Mai 1875, † 05. September 1945).

Louis Weinert-Wilton (eigentlich Alois Weinert) stammte aus einer gutbürgerlichen böhmischen Familie und besuchte nach seiner Schulzeit die k.u.k.-Marine-Akademie in Pola (heute Kroatien). Aus gesundheitlichen Gründen verließ er Akademie und Militär im Rang eines Oberleutnants. Er heiratete und ließ sich mit seiner Ehefrau in Prag nieder. Dort wirkte er ab 1901 als Redakteur beim Prager Tagblatt, dessen Chefredakteur er später wurde.

1921 berief man Weinert zum kaufmännischen Leiter des Neuen Deutschen Theaters in Prag. Schon als hauptberuflicher Redakteur verfasste Weinert zahlreiche Bühnenstücke. 1929 schrieb er unter seinem Pseudonym Louis Weinert-Wilton seine ersten beiden Kriminalromane. 1936 verließ er das Theater, um fortan in Prag als freier Schriftsteller zu leben. Von Weinert-Wilton erschienen zwischen 1929 und 1939 elf Kriminalromane im Leipziger Goldmann Verlag.

Weinert-Wilton, der ganz in der Tradition seines berühmten Kollegen Edgar Wallace konstruierte Krimis in der Londoner Unterwelt schrieb, starb 1945 in einem tschechoslowakischen Konzentrationslager für Deutsche in Prag. In den 1960er Jahren entstand im Zuge der erfolgreichen Edgar-Wallace-Filme eine eigenständige Louis-Weinert-Wilton-Kriminalfilmreihe bestehend aus: Der Teppich des Grauens (1962), Die weiße Spinne (1963), Das Geheimnis der schwarzen Witwe (1963) und Das Geheimnis der chinesischen Nelke (1964).

DAS GEHEIMNIS DER

CHINESISCHEN NELKE

Erstes Kapitel

Es war am 23. Dezember, zwischen zehn und elf Uhr vormittags, als in dem Schicksal der schönen, aber arg bemakelten Miss Maud Hogarth und einiger anderer, weniger anziehender, dafür aber höchst geachteter Persönlichkeiten durch das Zusammentreffen verschiedener kleiner Zufälle plötzlich eine entscheidende Wendung herbeigeführt werden sollte.

Die Sache fing damit an, dass ein sehr gut und sehr jugendlich aussehender Gentleman, der sich Donald Ramsay nannte, diesen Londoner Wintermorgen völlig hoffnungslos fand. Die Welt vor den Fenstern des unscheinbaren Hauses nahe der Westminster-Brücke in Lambeth steckte in einem dicken schmutzig-gelben Dunst, und der Gedanke, sich durch diese triefende Finsternis hindurchtasten zu müssen, hatte gar nichts Verlockendes.

Also stemmte der junge Mann die Füße wieder gegen den wärmenden Kamin und nahm nochmals die Times auf.

Aber erst auf der wappengeschmückten Seite mit den Personalnachrichten und sonstigen Anzeigen blieben seine lebhaften Augen plötzlich auf einer Stelle haften, und dann spitzten sich die bartlosen Lippen zu einem dünnen Pfiff. »Das lässt sich hören...«, murmelte er und las die Ankündigung noch ein zweites Mal.

Sie betraf das Weihnachtsessen des Piccadilly-Hotels am 25. Dezember um 8 Uhr abends, das Gedeck zu sechs Guineen. Für diese Kleinigkeit gab es neunzehn erlesene Gänge.

»Imperial Pfahlaustern - Marinière - fein...«, wiederholte der Gentleman, nachdem er mit dem Studium der Speisenfolge zu Ende war, und zog entschlossen das Tischtelefon heran, um die wichtige Angelegenheit sofort zu erledigen. Das Gespräch mit der Hotelleitung gestaltete sich kurz und ergab keine Schwierigkeiten.

»Nein, besondere Wünsche wegen des Platzes habe ich nicht«, erklärte Ramsay, und als ihm daraufhin ein Vorschlag gemacht wurde, war er ohne weiteres damit einverstanden. »Gut, also Nummer 28, äußerste Reihe rechts. Die Tischkarte wird noch im Laufe des heutigen Tages abgeholt werden. - Danke.«

Der junge Mann legte den Hörer auf und warf einen Blick auf die Uhr. Da diese eben ein Viertel vor zehn zeigte, klingelte er.

Bereits in der nächsten halben Minute tauchte nach einem schüchternen Klopfen Mrs. Machennan auf. Sie war eine zierliche, immer noch recht hübsche Frau mittleren Alters, aber das Anziehendste an ihr war die Sanftmut, die sich in ihrem ganzen Wesen offenbarte. Sie hatte geradezu rührend sanfte Rehaugen, eine sanfte, sehr angenehm klingende Stimme, und um den etwas üppig geratenen kleinen Mund spielte ewig ein gewinnendes Lächeln.

Donald Ramsay empfing sie mit einem freundlichen Nicken, und Mrs. Machennan schlug verschämt die sanften Rehaugen nieder. Dann atmete sie tief auf und ließ ihre angenehme Stimme hören.

»Ich hoffe, dass alles nach Ihren Wünschen ist, Mr. Ramsay«, sagte sie. »Leider konnte ich in der Eile...«

»Es ist alles ganz nach meinen Wünschen, und ich fühle mich bei Ihnen sehr behaglich«, versicherte der neue Hausgenosse lebhaft, und das Lächeln um den Mund der Frau wurde geradezu glückselig. »Machen Sie also meinetwegen keine weiteren Umstände. Die Nachbarschaft könnte sonst vielleicht aufmerksam werden, und das wäre mir nicht angenehm.«

Mrs. Machennan lächelte unentwegt und schüttelte den Kopf. »Die Nachbarschaft kümmert sich nicht um uns, Mr. Ramsay«, erklärte sie. »Ich habe gar keinen Verkehr, und das Mädchen ist etwas menschenscheu und sprechfaul. Außerdem benützen wir stets den Ausgang durch den Hof, und dort gibt es nur Kontor-Gebäude.«

»Das ist mir lieb«, sagte Donald Ramsay. »Im Übrigen werde ich in einigen Stunden aufs Land fahren und erst übermorgen Nachmittag zurückkehren. - Ja - und am Abend werde ich dann das Weihnachtsessen im Piccadilly mitmachen.«

Mrs. Machennan, die sehr aufmerksam zugehört hatte, neigte den kokett frisierten Kopf. »Da werden Sie also den Frack benötigen; ich werde alles zurechtlegen. Wünschen Sie auch eine Blume fürs Knopfloch, Mr. Ramsay? - Und was für eine?«

Der junge Mann hob die Oberlippe und zeigte seine kräftigen tadellosen Zähne. »Donnerwetter, Sie denken doch wirklich an alles, liebe Mrs. Machennan. Natürlich eine Blume. Aber was für eine - jawohl... Das ist sehr wichtig... Sagen wir also eine...«

Der Gentleman überlegte mit großer Gründlichkeit. »Ja - also sagen wir: eine chinesische Nelke. Sie verstehen mich? Nicht eine gewöhnliche Gartennelke, sondern eine richtige Chinesen-Nelke. Vielleicht können Sie so etwas auftreiben?«

»Oh, sicher werde ich sie bekommen«, erwiderte Mrs. Machennan und wurde mit einem Mal gesprächig. »Zufällig weiß ich genau, wie solch eine chinesische Nelke aussieht, man kann mir daher nicht etwas anderes aufhängen«, erklärte sie. »Ich habe nämlich diese Blume bei der aufregenden Verhandlung gesehen, die vor einigen Monaten in Old Bailey gegen Miss Maud Hogarth stattfand, weil die junge Dame einen Offizier erschossen haben sollte. Die Sache war sehr geheimnisvoll, und es haben dabei gerade solche chinesischen Nelken eine gewisse Rolle gespielt. Deshalb hat auch ein ganzer Strauß davon vor dem Richter gestanden, und die Leute haben sich um die Blumen förmlich gerauft, als das Urteil gesprochen war. - Leider ist der rätselhafte Fall nicht aufgeklärt worden, und Miss Hogarth wurde nur freigesprochen, weil die Geschworenen keine Beweise hatten... Ja.«

Mrs. Machennan brach etwas unvermittelt und verwirrt ab, denn ihr zerstreuter Zuhörer sah mit sichtlicher Ungeduld wieder nach der Uhr.

»Es dürfte nun bald ein Mann kommen«, sagte er.

»Der Mann ist bereits hier«, lispelte Mrs. Machennan mit ihrem allersanftesten Lächeln. »Ich habe ihn allerdings auf den Hof geschickt, damit er sich die Schuhe gründlich reinigt. Ich werde ihn sofort heraufbringen.«

Als sich die Tür hinter der geschäftigen Frau geschlossen hatte, sah sich Donald Ramsay veranlasst, die kurze Anzeige von der Chinesen-Nelke zum dritten Male zu überfliegen.

»›DIE CHINESISCHE NELKE‹ hat neue Blüten getrieben. Wenn sie ins Haus kommt, hat man genau fünf Tage Zeit, nochmals die Wahl zu treffen«, las er halblaut Wort für Wort vor sich hin und wurde so nachdenklich, dass er diesmal das schüchterne Klopfen völlig überhörte.

»Der Mann...«, meldete Mrs. Machennan und griff hinter sich, um eine schwerfällige Gestalt mit sanfter Gewalt ins Zimmer zu schieben. Hierauf verschwand sie lautlos, und der Besucher ließ einen tiefen Schnaufer der Erleichterung vernehmen. Er trug die wetterfeste verschossene Kleidung der Leute vom Hafen, aber seine derben Stiefel glänzten äußerst feiertäglich. Auch sonst hatte er offenbar für seinen äußeren Menschen ein Übriges getan, und dabei waren einige Hautstreifen von den lederartigen Wangen und dem Bulldoggenkinn am Rasiermesser hängengeblieben.

Peter Owen sah weder nett noch sonderlich vertrauenerweckend aus, aber Ramsay nickte befriedigt und schob sogar einladend einen der behaglichen Clubsessel zurecht.

»Setzen Sie sich und zünden Sie sich eine Zigarre an«, sagte er freundlich und dämpfte dann seine Stimme, so dass sie eben nur bis zum Ohr des Besuchers reichte. »Ich habe gehört, dass Sie sehr zuverlässig sind und allerlei Winkel Londons kennen, die man nicht so leicht zu sehen bekommt. Vielleicht lässt es sich machen, dass Sie mich in der nächsten Zeit ein bisschen herumführen und mir auch sonst in Verschiedenem an die Hand gehen?«

Er sah den vierschrötigen Mann erwartungsvoll an, aber dieser vermochte noch immer nicht, ins Gleichgewicht zu kommen. Er drehte den dicken Glimmstängel unschlüssig zwischen den noch dickeren Fingern, schielte scheu nach der Tür, durch die Mrs. Machennan davongeschlüpft war, und ließ die Zigarre schließlich mit einem bösartigen Knurren in der Tasche verschwinden. Dann tastete er mit der Zungenspitze verzweifelt im Munde herum, begann mit den gewaltigen Kiefern zu mahlen, und erst, als die saftige Verwünschung, die ihn würgte, hinuntergeschluckt war, kam Peter Owen endlich zur Sache.

»Natürlich lässt es sich machen, Sir«, erklärte er bereitwillig. »Sie müssen mir nur so beiläufig sagen, was Sie sehen wollen.« In seinen Augen lag eine gespannte Frage, und um den breiten zerschundenen Mund spielte ein verschlagenes Lächeln.

Der junge Gentleman betrachtete sehr angelegentlich das Lichterspiel in dem kristallenen Kronleuchter. »Ich möchte zunächst einmal unter recht viele Leute kommen«, bemerkte er ausweichend. »Besonders auch unter ausländisches Volk. Das weitere wird sich dann vielleicht ergeben.«

Peter kraulte sich nachdenklich das rostbraune struppige Kalbfell auf dem wuchtigen Schädel. »Recht viele Leute und ausländisches Volk... Das wäre also einmal Tims feine Bude draußen im Dockwinkel«, überlegte er halblaut. »Da gibt es alles, was in der Welt auf zwei Beinen herumläuft. Aber mancher der Jungens sieht aus, als ob sein Vater und seine Mutter noch auf den Bäumen spazieren geklettert wären. Vielleicht ist das wirklich das, was Sie suchen, Sir, nur...«

Er schnitt eine nachdenkliche Grimasse, und der Blick, mit dem er sein Gegenüber aus verkniffenen Augen musterte, verriet, was er sagen wollte. Er war für solche Führerdienste immer zu haben und nahm es selbst mit einer ganzen Hölle voll tückischer Teufel auf, aber wenigstens ein bisschen musste sein Begleiter sich seiner Haut doch auch allein wehren können, wenn es not tat. Er hatte schon mit verschiedenen Leuten zusammengearbeitet, aber da hatte man auf den ersten Blick gesehen, dass sie für solche Möglichkeiten das nötige Handwerkszeug bei sich hatten. Dieser Gentleman hingegen schien blutjung, und mit den langen schmalen Händen, die er über dem aufgezogenen Knie gefaltet hatte, konnte man wohl kaum ein ordentliches Nasenbein kaputt schlagen oder einen Magen ins Schaukeln bringen. Das war schlimm, weil...

Weiter kam Peter in seinen Erwägungen nicht, denn der andere schnellte plötzlich mit einem federnden Sprung auf die Beine.

»Schön, abgemacht - beginnen wir also mit Tims feiner Bude«, sagte er unternehmend. »So bald wie möglich. Vielleicht schon am...«

Während Ramsay schlüssig zu werden suchte, erkannte Peter, dass die jugendlichen Züge ihn bisher getäuscht hatten. Der Gentleman musste weit älter sein, als er bei der ersten flüchtigen Betrachtung erschien. Nun, da das volle Licht des Lüsters auf das gebräunte Gesicht fiel, traten um die Mundwinkel scharfe Linien hervor, und auf dem dichten dunkelblonden Haar schimmerte hier und dort bereits ein leichter Reif.

Mit einem Mal gab es dem Manne vom Hafen einen gewaltigen Ruck, und er polterte unter ziemlichem Lärm in die Höhe, um sich krampfhaft in Positur zu stellen.

»Ja«, schreckte Donald etwas verwundert auf - »also vielleicht am zweiten Weihnachtsfeiertag? Da wird es dort gewiss einen besonders großen Betrieb geben.«

»Zu Befehl, Sir«, brüllte Peter mit seiner heiseren Stimme und stand steif wie ein Stock. Dann schnappte er aufgeregt nach Luft und ging in ein gedämpftes Krächzen über. »Vor acht Jahren, Sir, wenn Sie sich zu erinnern belieben... Bootsmaat Peter Owen. Auf...«

Ramsay fuhr blitzschnell mit der Hand an Peters offenem Mund vorbei, als ob er nach einer Fliege haschte. »So«, sagte er freundlicher, aber mit Nachdruck, »damit wäre diese Sache endgültig erledigt. Und am zweiten Weihnachtstag können Sie mich so um die neunte Abendstunde hier abholen. Nehmen Sie in Zukunft immer den Weg durch den Hof. Mrs. Machennan wird ihn Ihnen zeigen.«

Er machte Miene, den Klingelknopf zu drücken, aber Peter Owen geriet so außer Rand und Band, dass er jeglichen Respekt vergaß und dem anderen in den Arm fiel.

»Tun Sie's nicht, Sir«, stieß er ängstlich hervor, »ich finde den Weg schon allein. Wo der Hof ist, weiß ich bereits. Sie hat mich ja dreimal mit der Bürste hinausgeschickt, weil ihr meine Stiefel nicht blank genug waren. Es wird vielleicht besser sein, wenn ich einfach immer vor dem hinteren Eingang auf Sie warte, Sir... Es ist nämlich wegen des Priems«, erklärte er auf den verwunderten Blick Ramsays etwas verlegen und gallig. »Ich muss so was im Mund haben, wenn ich auf dem Damm sein soll, aber die Lady hat gesagt, dass ein Teppich kein Themsewasser ist, und dass man es nachher im ganzen Haus riecht. Als ob unsereiner keine Manieren hätte und fortwährend nur so wild 'rumspuckte! Das hab' ich ihr auch gesagt, aber sie hat mich sehr freundlich angelächelt und hat gesagt: ›Geben Sie das Ding heraus.‹ Ich aber habe darauf ebenso freundlich gesagt: ›Nein‹, und da ist sie mir auf einmal mit einem Kochlöffel, den sie hinter dem Rücken versteckt hatte, blitzschnell zwischen die Zähne gefahren und hat mir den Priem einfach herausgefischt. Er war gut einen halben Finger lang und gerade frisch...«

»Die sanfte Mrs. Machennan?«, fragte Ramsay mit einem ungläubigen Lächeln.

Peter verzog bedenklich den linken Mundwinkel, besann sich aber noch rechtzeitig auf den Teppich und auf seine guten Manieren.

»Sie ist eine Schottin, Sir, was ich sofort gehört habe. Das hat immer den lieben Gott auf der Zunge und den Teufel im Leib. Wie gesagt, ich werde nächstens lieber draußen warten. Von acht Uhr an bin ich zur Stelle. Und vielleicht wird es gut sein, wenn Sie sich so herrichten, dass Sie zu mir passen. Es kommen ja manchmal auch feiner angezogene Leute in den ›Durstigen Stockfisch‹ aber da gibt es dann immer ein albernes Hälserecken und Tuscheln. Besonders seitdem die Geschichte mit dem Mann passiert ist, der behauptet hatte, dass so eine lumpige chinesische Nelke fünfhundert Pfund wert sei...«

»Wie?« entfuhr es Ramsay, und Peter blickte ihn ganz verdutzt an, weil die kurze Frage gar so scharf geklungen hatte.

»Natürlich ist das Unsinn«, glaubte er sich rechtfertigen zu müssen, »aber der Mann hat es wahrhaftig gesagt. Vielleicht hatte er schon ein bisschen zu viel getrunken, obwohl man ihm davon nichts anmerkte. Er hat nur schrecklich protzig getan, und deshalb hat sich sofort eines der aufgetakelten Barmädchen zu ihm gesetzt. Und weil diese diebischen Weiber immer erst mit Kleinem anfangen, wollte sie ihm zunächst einmal die Blume ziehen, die er im Knopfloch stecken hatte. Aber da hat ihr der Mann auf die Finger geklopft, dass es nur so klatschte, und hat ganz laut geschrien: ›Davon lass deine Pfötchen, mein Kind, das ist nichts für dich. Das ist eine chinesische Nelke, die gut ihre fünfhundert Pfund wert ist.‹ - Tja, dabei wäre natürlich weiter nichts gewesen, aber zwei Stunden später hat eine Polizeipatrouille den Mann in der nächsten Gasse mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden. - Und wenn wir schon davon reden«, schloss der vorsichtige Peter Owen, indem er sich wieder einmal geräuschvoll das Kalbfell kratzte, »möchte ich sagen, dass es auch gut wäre, wenn Sie etwas Sicheres zu sich steckten, Sir...«

»Soll geschehen«, erwiderte Donald Ramsay etwas zerstreut, denn seine Gedanken waren bei der chinesischen Nelke, von der er in der letzten Stunde von drei Seiten so verschiedene Dinge vernommen hatte.

Auch Maud Hogarth hatte die Ankündigung von der chinesischen Nelke gelesen, und kaum eine Stunde später war ein großer Strauß dieser ihrer Lieblingsblumen ohne jede Begleitzeile für sie abgegeben worden.

Wenn sie noch im Zweifel gewesen wäre, ob die Botschaft in der Times wirklich ihr gelte, so musste ihr diese Aufmerksamkeit von unbekannter Seite darüber volle Gewissheit bringen. Aber Maud war sich über den Sinn und Zweck der Anzeige bereits von dem Augenblick an im Klaren, da sie sie zu Gesicht bekommen hatte. Und sie nahm sie umso ernster, als man nicht einmal den Weg der Öffentlichkeit gescheut hatte, um der Aufforderung besonderen Nachdruck zu geben.

Nach kurzem Aufatmen sollte also für sie der unheimliche Kampf von neuem beginnen; ein Kampf um eine Sache, die für sie alles bedeutete, und gegen einen geheimnisvollen Gegner, der vor keinem Mittel zurückschreckte. Sie hatte das bereits einmal erfahren, und sooft sie daran dachte, schien es ihr geradezu ein Wunder, dass sie in der tückisch gestellten Schlinge nicht wirklich hängengeblieben war.

Immerhin aber hatte sie einen hohen Preis zahlen müssen. Die Gesellschaft, von der sie bisher umschwärmt und verwöhnt worden war, hatte sie plötzlich fallen lassen, und es war recht einsam um sie geworden. Maud empfand das zwar nicht allzu hart, aber das Verhalten ihrer Bekannten empörte ihren Stolz.

Diese Erbitterung spiegelte sich in ihrer ganzen Persönlichkeit wider. Sie trug die ohnehin mehr als mittelgroße Gestalt hoch aufgerichtet, der rassige Kopf mit dem leicht gewellten tiefbraunen Haar war zurückgeworfen, in dem dunklen Gesicht stand zwischen den seidig schimmernden Brauen eine scharfe Falte.

Alles das mochte es wohl bewirken, dass die ungewöhnliche Schönheit der kaum zwanzigjährigen Lady kalt und herb wirkte.

›Hoheitsvoll und streitbar‹ hatte sie ein Reporter in seinem Bericht über die Gerichtsverhandlung genannt. Es waren aber auch Stimmen laut geworden die von einer ›vollendeten Komödiantin in wohlberechneter Pose‹ gesprochen hatten, von einer ›geradezu zynischen Art, die bei einem jungen Mädchen von solcher Herkunft und Erziehung doppelt unfassbar erscheinen muss‹.

Maud hatte allen Grund, sich dieser und anderer noch weit üblerer Dinge heute lebhafter denn je zu erinnern. Sie wusste nur zu gut, dass die an sie gerichtete neuerliche Aufforderung keinen bloßen Schreckschuss bedeutete, sie wusste aber auch, dass ihr die Möglichkeit einer Wahl genommen war. Mit dem, was man forderte, durfte und wollte sie ihre Ruhe nicht erkaufen. Wenn man glaubte, dass die vielfachen Foltern der letzten Monate sie furchtsam und mürbe gemacht hätten, sollte man sich getäuscht sehen. Vorläufig konnte sie nichts anderes tun, als die weiteren Dinge abwarten, um zu erfahren, woher die neue Gefahr drohte.

Trotz dieser beklemmenden Gedanken vermochte Maud äußerlich ihre Gelassenheit zu bewahren. Sie war sogar imstande, sich mit den unheilverkündenden Blumen völlig unbefangen zu beschäftigen und sie in einer Vase zu ordnen.

Mrs. Adelina Derham, die noch immer bei ihrem ersten Frühstück saß, verfolgte das Tun ihrer Nichte mit scheuen Augen. Sie kannte zwar die Bedeutung des Straußes nicht, aber Nelken, ob nun chinesische oder nichtchinesische, waren ihr seit der schrecklichen Geschichte furchtbar unheimlich. Hatte sie doch wegen dieser Blumen Aufregungen durchmachen müssen, die ihr angeborenes und überdies noch in volle hundertvierundneunzig Pfund gebettetes Phlegma arg ins Wanken gebracht hatten. Sie brauchte nun wirklich Ruhe, und Maud ließ sie nicht dazu kommen. Das Kind hatte ewig irgendwelche unmöglichen Einfälle. Wie eben jetzt wieder dieses Weihnachtsdinner.

Tante Ady war darüber so bekümmert, dass ihr nicht einmal das Frühstück so recht munden wollte. Sie löffelte das dritte Ei nur aus, weil es eben da war, aber dann seufzte sie sehr tief und hörbar. »Du solltest dir die Sache doch noch einmal überlegen, Maud«, begann sie zaghaft, und ihre müde Stimme klang geradezu flehend. »Es würde schrecklich werden. Wenn ich daran denke, dass...«

Die kurze, eigenwillige Kopfbewegung des jungen Mädchens ließ sie mutlos abbrechen.

»Es wird nicht schrecklich werden, Tante Ady, und es bleibt dabei«, erklärte Maud sehr bestimmt. »Eine bessere Gelegenheit kann sich nicht ergeben. Wir werden so ziemlich alle unsere lieben Freunde und Bekannten von einst beisammen finden und nicht mehr auf zufällige Begegnungen angewiesen sein, um ihnen zu zeigen, wie wenig wir uns aus ihnen machen.«

»Entsetzlich...«, hauchte Mrs. Derham.

»Warum entsetzlich?« brauste Maud auf. »Schämst du dich etwa meinetwegen? Oder fürchtest du dich vor den Leuten, die uns mit alberner Frechheit anstarren werden? Ich, die es ja vor allem angehen wird, fürchte mich nicht. Im Gegenteil, ich freue mich, denn was sie sehen werden, dürfte ihnen wenig behagen. Aber ich verlange, dass auch du Haltung bewahrst. Du bist trotz deiner zweiundvierzig Jahre noch immer eine Frau, die sehr gut wirkt, und du bist sogar das, was man eine majestätische Erscheinung nennt.«

Es war einiges in diesem energischen Zuspruch, was der wirklich sehr stattlichen Mrs. Derham ganz angenehm klang, aber der Gedanke an das unausbleibliche Spießrutenlaufen war für ihr wenig kriegerisches Gemüt gar zu fürchterlich. Sie machte daher noch einen letzten verzweifelten Versuch, das Schreckliche durch mehr praktische Bedenken abzuwenden.

»Die beiden Gedecke werden zwölf Guineen kosten, Maud«, rechnete sie dieser vor. »Für dieses viele Geld könnten wir doch ganz etwas anderes haben. Das Menü ist allerdings ausgezeichnet und reichlich«, gab sie etwas schwankend zu, »aber ich werde kaum die Hälfte von all diesen guten Dingen...«

»So wird eben die andere Hälfte stehen bleiben«, schnitt ihr die hartnäckige Nichte auch diesmal wieder das Wort ab. »Im Übrigen werde auch ich nicht die ganze Speisekarte herunteressen, aber doch so viel, dass die Leute sehen, wie wenig sie mir den Appetit verdorben haben.«

Damit setzte Maud die Vase mit den chinesischen Nelken so nachdrücklich in die Mitte des Tisches, dass die empfindsame Mrs. Derham ganz erschreckt zusammenfuhr und schleunigst aus der Nähe der ihr so widerwärtigen Blumen rückte. Sie dachte nicht daran, noch weiter zu widersprechen. Das unberechenbare Kind hatte offenbar wieder einmal einen seiner eigensinnigen Tage, und da war mit ihm nichts anzufangen.

Das sollte auch Mr. William Gardner erfahren, der als einziger Besucher um die Mittagsstunde in dem vornehmen, hinter einer hohen Mauer und dichten Baumkronen versteckten Haus in Notting Hill vorsprach. Maud Hogarth war von seinem Kommen unangenehm überrascht, und ihre Begrüßung fiel äußerst kühl aus.

Dabei durfte der gepflegte und korrekte Mann eigentlich auf einen freundlicheren Empfang Anspruch erheben, denn er hatte ihr in dem Gerichtsverfahren als Anwalt zur Seite gestanden.

Mauds Wahl war auf ihn gefallen, weil er sich ihr als erster und mit besonderem Eifer angeboten hatte, als bekannt geworden war, dass sie aus irgendeinem Grund die Verteidigung durch den berühmten Sir Thomas Hamerton abgelehnt hatte. Dieser völlig unverständliche Schritt war damals zu Ungunsten der Angeklagten ausgelegt worden. Sir Thomas war mit Mauds verstorbenem Oheim und Vormund eng befreundet gewesen und galt als ein Mann von strengen Rechtsanschauungen, die er auch seinen Klienten gegenüber vertrat. Man schloss also, dass Miss Hogarth Dinge zu beichten haben mochte, die sie sich scheute, einer ihrer Familie nahestehenden Persönlichkeit von solcher Denkart anzuvertrauen.

Der kaum dreißigjährige Gardner war bis dahin ein unbekannter Anwalt gewesen, aber der Fall Hogarth hatte mit einem Schlag die Aufmerksamkeit der großen Öffentlichkeit auf ihn gelenkt, obwohl ihm in der Verhandlung eigentlich keine besondere Rolle zugefallen war. Die Angeklagte hatte ihre Verteidigung fast ganz allein geführt, und ihr Rechtsbeistand hatte sich damit begnügen müssen, die Schwächen der Anklage möglichst eindrucksvoll aufzuzeigen. Bei der Lage der Dinge war dies jedoch eine ziemlich schwierige Aufgabe gewesen, denn es gab einige wichtige Punkte, über die Maud Hogarth einfach jede Aussage verweigerte.

So schwieg sie vor allem hartnäckig auf die Frage, was die flüchtig hingeworfenen Zeilen zu bedeuten hätten, die in der Schreibunterlage des ermordeten Majors Foster gefunden worden waren:

Die Andeutung hat großen Eindruck gemacht. M. H. kommt heute Abend zu mir, um sich selbst zu überzeugen. Sobald...

Außer dieser unvollendeten Mitteilung ohne Anschrift wies das Briefblatt nur noch eine mit Farbstift vermerkte Zahl auf, und der junge ehrgeizige Inspektor Travers von Scotland Yard hatte auch diesen winzigen Anhaltspunkt aufgegriffen. Er vermutete, dass Foster das Schreiben vielleicht deshalb nicht beendet hätte, weil er eine telefonische Verständigung vorzog, und tatsächlich stellte sich heraus, dass die notierte Zahl mit der Telefonnummer des bekannten ›Clubs der Globetrotter‹ in Chelsea übereinstimmte. Irgendwelchen praktischen Erfolg zeitigte aber diese Entdeckung nicht. Major Foster war weder Mitglied des Clubs gewesen noch dort überhaupt bekannt, und bei der großen Zahl der täglichen Gespräche ließ sich auch nicht ermitteln, ob und wen er an dem betreffenden Tag vielleicht angerufen hatte.

Das Geheimnis dieser Sätze konnte während des ganzen Gerichtsverfahrens nicht gelüftet werden. Maud Hogarth gab lediglich zu, was sie nicht in Abrede stellen konnte: dass sie sich zu einem gewissen Zwecke in Fosters Wohnung begeben hätte und dass die Waffe, aus der der tödliche Schuss abgegeben worden war, ihr gehöre. Sie gab sogar weiter zu, dass es zwischen ihr und dem Major zu einer heftigen Auseinandersetzung, ja zu einem förmlichen Handgemenge gekommen sei, wobei ihr vom Mantel die drei chinesischen Nelken abgerissen wurden, die man in der verkrampften Hand des Toten gefunden hatte. Aber sie bestritt mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit, den Schuss abgefeuert zu haben. Sie habe ihn auch nicht gehört, da sie nach der stürmischen Unterredung die vier Stockwerke des Hauses in großer Erregung und fluchtartiger Eile hinabgestürzt sei.

Diese Aussage musste im Wesentlichen als unglaubhaft angesehen werden, da sich sonst zu dem einen unlösbaren Rätsel des Falles noch ein zweites gesellt hätte. Kaum zwei Minuten, nachdem die verstörte junge Dame an dem verwunderten Pförtner, der im Tor stand, vorbeigeschlüpft war, hatte nämlich Oberst Wilkins die Portierloge angerufen und ersucht, Major Foster zu verständigen, dass er ihn verabredungsgemäß in etwa einer Viertelstunde abholen werde. Das Telefon in der Wohnung des Majors scheine nicht in Ordnung zu sein, hatte Wilkins hinzugefügt, da er keine Verbindung erlangen könne.

Da der Pförtner bestimmt wusste, dass Foster gegen sieben Uhr heimgekommen und seither nicht mehr ausgegangen war, hatte er zunächst versucht, die Mitteilung durch das Haustelefon weiterzugeben, war aber ebenfalls ohne Antwort geblieben. Das erschien dem Mann auffallend, und er fuhr daher mit dem Lift in das vierte Stockwerk, nachdem er vorher wegen der späten Stunde - es war bereits ein Viertel vor zehn - rasch noch das Haustor versperrt hatte. Vor der Tür des Majors angelangt, bemerkte er dann sofort, dass diese nicht ganz geschlossen war, da sich ein Zipfel des Korridorläufers zwischen die Flügel geklemmt hatte. Diese Entdeckung veranlasste ihn, nun ohne weiteres in die Wohnung zu stürzen, wo er Foster mit einer Schusswunde im Hinterkopf leblos vorfand. Einige Schritte von der Leiche lag auf dem Teppich ein kleiner Browning, und neben dem Schreibtisch das Telefon, das aus der Kontaktdose gerissen war.

Der entsetzte Mann hielt sich nur etwa eine Minute auf, dann verständigte er von seiner Loge aus die Polizei. Diese erschien fast gleichzeitig mit Oberst Wilkins, der in seinem Wagen vorfuhr.

Aus diesen klaren und bestimmten Angaben des Portiers ging hervor, dass nach Maud Hogarth niemand mehr unbemerkt das Haus verlassen konnte. Einen anderen Ausgang als das vom Pförtner versperrte Haupttor gab es nicht, und eine Flucht über eine Feuerleiter oder über die Dächer kam, wie ein eingehender Lokaltermin erwiesen hatte, überhaupt nicht in Frage.

Damit brach eigentlich die Verteidigung Maud Hogarths völlig zusammen, und der gewissenhafte Richter unterließ es auch nicht, die Geschworenen in seinem Schlusswort auf alle Umstände aufmerksam zu machen: auf das verstockte Schweigen der Angeklagten über gewisse Punkte, wofür sie wohl sehr triftige Gründe haben müsste; und auf die Ergebnisse der Untersuchung, die einen Selbstmord Major Fosters unbedingt ausschlössen.

Noch mit demselben Atemzug aber sprach der erfahrene Richter plötzlich davon, dass selbst die belastendsten Indizien trügen können, da zuweilen der Zufall mit geradezu unheimlicher Tücke am Werke sei; und dass es Seelenkonflikte von so tragischer Art gebe, dass sie sich der Beurteilung nach gemeingültigen Ansichten und Begriffen entzögen.

Und dann hatte der würdevolle Richter unter atemloser Stille der hundertköpfigen Zuhörerschaft auch noch von dem ihm zustehenden Recht Gebrauch gemacht, seine persönliche Ansicht zu äußern.

»Ich stehe nicht an, zu erklären«, hatte er gesagt, »dass es mir trotz allem schwerfällt, an die Schuld der Angeklagten zu glauben. Es fällt mir schwer, weil die Menschenkenntnis, die ich mir an dieser Stelle in vielen Jahrzehnten erworben habe, gegen die Schuld spricht. Und es fällt mir schwer, an die Schuld zu glauben, weil es mir einfach unfassbar erscheint, dass ein junges Mädchen von so sorgfältiger Erziehung und so makellosem Lebenswandel plötzlich einer solchen Tat fähig sein sollte; oder dass es, wenn es schon durch irgendwelche unseligen Umstände dazu getrieben wurde, nicht wenigstens den Mut fände, seine Schuld freimütig zu bekennen. Das widerspräche zu sehr dem Geist des ererbten Blutes, das sich, wie wir hier gehört haben, in schwerer Zeit durch Heldenhaftigkeit und andere außerordentliche Leistungen für das Gemeinwohl hervorgetan hat.«

Diese eindrucksvolle Andeutung des Richters bezog sich auf die Feststellung, dass Mauds Vater wie auch ihr Onkel Derham im Kriege gefallen waren, und sie bezog sich vor allem auch auf den erst kürzlich verstorbenen Bruder ihrer Mutter, Sir Herbert Bexter, der während des Krieges eine sehr bedeutende Rolle gespielt hatte. Wenn auch nicht Soldat, sondern Gelehrter, war seine Tätigkeit doch in ungezählten Fällen von entscheidendem Einfluss auf die Geschehnisse gewesen. Sir Herbert war nämlich ein Mann, dem zu seinem erstaunlichen Sprachentalent noch das Talent gegeben war, Geheimschriften mit derselben Leichtigkeit zu entziffern, mit der manche Leute Rätsel lösen. Die kürzeste Zeit genügte ihm, um auf das System zu kommen, und dann machte er sich in einem förmlichen Taumel mit unfehlbarer Sicherheit an die Arbeit. Das Büro, das man ihm im Hause der Admiralität eingeräumt hatte, war Tag und Nacht von einem Doppelposten bewacht, und niemand konnte ohne Angabe eines besonderen Losungswortes Zutritt erlangen. Für diese wertvollen Dienste war Sir Herbert mit den höchsten Auszeichnungen und Ehren bedacht worden, und auch nach dem Krieg war er für Downing Street eine wichtige und geschätzte Persönlichkeit geblieben.

Er war aber auch ein Mann von großer Herzensgüte gewesen, und seit dem vor einigen Jahren erfolgten Ableben ihrer Mutter hatte die nun völlig verwaiste Maud in ihm einen zärtlichen und fürsorglichen Vormund gefunden. Dafür liebte sie ihn geradezu abgöttisch, und sein jäher Tod hatte ihr eine schwere seelische Erschütterung gebracht.

Die Schlussworte des Richters waren während der martervollen Tage auch die einzige Gelegenheit gewesen, bei der Maud Hogarth für einige Augenblicke ihre bewundernswerte Fassung verloren hatte. Sie war plötzlich mit einem Wehlaut zusammengebrochen, und ein verzweifeltes Schluchzen hatte ihren ganzen Körper geschüttelt. Aber gerade, als die Geschworenen sich anschickten, sich zur Beratung zurückzuziehen, war sie ebenso plötzlich wieder aufgeschnellt, und ihre dunkle Stimme hatte die Jury zurückgehalten:

»Ich schwöre, dass ich es nicht getan habe - obwohl...«

Man erwartete in höchster Spannung irgendwelche Sensation, aber sie blieb aus. Die Angeklagte warf wieder einmal den Kopf zurück und presste die Lippen zusammen, wie sie es so oft getan hatte. Und manche fanden, dass sie durch dieses seltsame Verhalten die wohlwollende Äußerung des gütigen Richters bedenklich abgeschwächt habe.

Vielleicht war es wirklich so gewesen, denn der Spruch der Geschworenen brachte kein eindeutiges ›Nicht schuldig‹. Lediglich dem ›Mangel an Beweisen‹ hatte Maud Hogarth ihren Freispruch zu verdanken.

Mr. Gardner allerdings gab Maud Hogarth mit großer Selbstgefälligkeit und zudringlicher Ausdauer immer wieder zu verstehen, dass vor allem seine Verteidigung sehr wesentlich zu diesem glücklichen Ausgang beigetragen habe. Das machte ihr den Mann, der in seiner strohblonden Sauberkeit wie ein frisch geschrubbtes Riesenbaby aussah, doppelt unangenehm. So unangenehm, dass sie ihn dies bei jeder Gelegenheit merken ließ. Aber die rosige Kinderhaut des Anwalts war dick. Er fand allwöchentlich irgendeinen Vorwand, um vorzusprechen, und in dieser Woche kam er nun sogar bereits zum zweiten Male.

Maud machte aus ihrem Missvergnügen kein Hehl, obwohl der bekümmerte Ernst in Gardners rundem Gesicht diesmal auf etwas Besonderes deutete.

Zunächst aber starrte der Anwalt mit seinen etwas gestielten wasserblauen Augen fast erschrocken auf den Nelkenstrauß, dann schüttelte er sorgenvoll den peinlich gestriegelten Kopf, und das ungeduldige junge Mädchen traf ein vorwurfsvoller Blick.

»Ich bin wirklich sehr beunruhigt, Miss Hogarth«, begann er endlich. »Wenn Sie mir schon nicht Ihr Vertrauen schenken wollen, sollten Sie wenigstens vorsichtig sein. Es wäre gewiss nicht zu Ihrem Besten, wenn die alte Geschichte, aus der wir Sie so glücklich herausgebracht haben, plötzlich irgendwie wieder aufgerührt werden sollte...«

Maud ahnte sofort, worauf er anspielte, aber ihr Misstrauen gegen den Mann ließ sie auf der Hut sein. »Wovon sprechen Sie eigentlich?«, fragte sie mit geradezu verletzender Schärfe.

»Davon!« Gardner holte mit übertriebener Umständlichkeit eine Zeitung hervor, faltete sie bedächtig auseinander und tippte dann mit dem fleischigen Zeigefinger auf eine Stelle. »Ich bin nämlich überzeugt, dass diese Anzeige von der chinesischen Nelke entweder Ihnen gilt oder aber von Ihnen ausgegangen ist. Und alle, die den Prozess verfolgt haben, dürften das gleiche vermuten. Das Kennwort ist zu außergewöhnlich, um nicht in diesem Sinn gedeutet zu werden, denn vor Ihrem Prozess hat man von dieser Blumenart hierzulande kaum etwas gewusst. Und die Fassung der Zeilen erinnert daran, dass verschiedene Dinge ungeklärt geblieben sind. Sie können sich denken, dass es da ein begieriges Rätselraten geben wird. Ich gestehe offen, dass ich mich auch damit beschäftigt habe weil ich es geradezu für meine Pflicht hielt, aber ich bin aus der Sache nicht klug geworden. Ich habe nur das Gefühl, dass Sie sich noch immer in irgendwelchen Schwierigkeiten befinden und eines ehrlichen Beraters bedürfen. Deshalb bin ich gekommen. Worum es sich auch handeln mag, Miss Hogarth, ich würde bestimmt alles, was Sie bedrückt, ein für alle Mal in aller Stille und zu Ihrem Besten aus der Welt schaffen. Von meiner Ergebenheit für Sie sollten Sie doch schon überzeugt sein.«

Der rosige und rundliche Mr. Gardner war immer eindringlicher und wärmer geworden und um seiner Ergebenheit noch beredteren Ausdruck zu geben, legte er nun auch noch Seine gepolsterte Rechte auf die schlanken Finger, die krampfhaft die Lehne des Sessels umklammert hielten.

Diese Berührung ließ Maud jäh auffahren.

»Sie meinen also, dass man auf die Vermutung kommen könne, ich selbst hätte die Anzeige aufgegeben?«

»Gewiss, auch das.« Der Anwalt nickte nachdrücklich und erging sich darüber mit großer Wichtigkeit. »Man kann annehmen, dass Sie auf irgendjemanden einen Druck ausüben wollen, um etwas zu erreichen, was Ihnen damals vielleicht nicht gelungen ist. Oder man kann auch vermuten, dass Sie ein Interesse daran haben, gewisse geheimnisvolle Umstände anzudeuten, um die seinerzeitigen Ereignisse in einem andern Lichte erscheinen zu lassen. Das eine wäre ein sehr gefährliches Spiel, Miss Hogarth, das andere aber völlig zwecklos. Das Urteil ist nun einmal gesprochen, und...«

»Danke«, fiel Ihm Maud ins Wort, und es konnte kein Zweifel bestehen, dass sie die Unterredung damit für beendet hielt. Gardner war sichtlich betroffen, gab aber nicht alle Hoffnung auf.

»Überlegen Sie sich also meinen Vorschlag«, drängte er. »Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung. Aber rufen Sie mich nicht zu spät. Ein zweites Mal würde es wohl unmöglich sein...«

Maud Hogarth hob ungeduldig die Hand. »Ein zweites Mal«, sagte sie mit unheimlicher Ruhe, »dürfte alles viel einfacher und klarer sein, Mr. Gardner. Denn das nächste Mal - wenn es dazu kommen sollte - werde ich wahrscheinlich wirklich das tun, wessen man mich das erste Mal beschuldigt hat...«

Der Anwalt war über diese Antwort so bestürzt, dass seine ausdruckslosen Augen sekundenlang starr auf der hoch aufgerichteten Mädchengestalt hafteten. Das hatte bedenklich entschlossen geklungen, und Gardner überkam plötzlich das unbehagliche Gefühl, dass seine Aufgabe sich nicht nur sehr schwierig, sondern sogar höchst gefährlich gestalten konnte.

  Zweites Kapitel

 

 

So gegen Mitternacht fand Mr. Gardner Gelegenheit, sich darüber im ›Club der Globetrotter‹ auszusprechen.