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Ausgezeichnet mit dem "Gold Dagger" – der renommiertesten literarischen Krimi-Auszeichnungen der Welt! Sie besteht aus massivem Gold und ist von unschätzbarem Wert. Doch seit fast zweitausend Jahren gilt die legendäre Menora, der große, siebenarmige Leuchter und das Sinnbild des Judentums, als verschollen. Bis eines Tages ein uraltes Schriftfragment auftaucht, das neue Hinweise auf den möglichen Fundort liefert. Von der israelischen Regierung beauftragt, macht sich der junge britische Archäologe Caspar Laing sofort auf die Suche nach dem Heiligtum. Aber er ist nicht der Einzige, denn eine Kopie der Schriftrolle ist in die Hände skrupelloser Jordanier gefallen, und auch sie wollen sich um jeden Preis in den Besitz des goldenen Leuchters bringen. Für Laing beginnt ein fieberhafter Wettlauf mit der Zeit...
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Seitenzahl: 389
Veröffentlichungsjahr: 2014
Lionel Davidson
Das Geheimnis der Menora
Roman Ins Deutsche übertragen von Dörte und Frieder Middelhauve
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "A long Way to Shiloh" Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2014 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-583-3
Was noch nicht geschehen ist(Jesaja 46.10)
Ich kam im Norden heraus, wohlgemerkt, im Norden, und wandte mich nordwärts: mit zehn Männern, zwanzig Lasttieren und dreißig Tagesrationen.
Wir aßen spärlich, und jeder hoffte, mit einem Rest seines Proviants zurückzukehren. Zweifellos hatten alle noch das frühere Mal in Erinnerung, als sogar Vogeldung als Nahrung gehandelt werden mußte – zehn Schekel für ein Viertel, wie die Geschichte überliefert und wie betont werden muß.
Wir marschierten nachts, die Fracht gleichmäßig aufgeteilt: Jedes Tier trug hundert Kilogramm, bei einer Gesamtlast von zweitausend Kilo, alles in Barren, ein geheimes Gut.
Was den Rest betraf, so trugen die Unteroffiziere das OEED und die Feldwebel die Ausrüstung. Die gemeinen Soldaten trugen das Werkzeug: Schaufeln, Hacken und Brechstangen.
Nach einhundertfünf Kilometern, wohlgemerkt, erreichten wir den Ort und vergruben das OEED. Aus Gründen strengster Geheimhaltung nahmen an dieser Operation nur die gemeinen Soldaten und ich selbst teil. Andere Zeugen gab es nicht. Und hier liegt es: In einer Tiefe von, genau gesagt, zwei Metern, gut verschnürt, bedeckt mit einer Schicht blauer Marmorbrocken und mit Holzbohlen gesichert: Die Vorkehrungen entsprachen den gesondert erteilten schriftlichen Anordnungen.
Die Barren liegen anderswo; ohne dergleichen Vorkehrungen wurden sie, entsprechend den gesondert erteilten Anordnungen, auf verschiedene Orte verteilt.
Nach all der Mühe kehrten wir um, genauer gesagt: ich, zwei Offiziere, zwei Unteroffiziere, zwei Feldwebel und vier gemeine Soldaten. Bei der ersten Rast riefen die Offiziere und Unteroffiziere die Soldaten paarweise beiseite und erwürgten sie.
Beim nächsten Halt, während der Fütterung der Tiere, wurden die beiden Feldwebel getrennt zur Arbeit geschickt und von den zwei Unteroffizieren gemeinsam erwürgt. All dies geschah vorschriftsmäßig mit Stricken, und das Begräbnis fand mit allen dazugehörenden Ehren statt.
Nachts im Lager, während sie schliefen, waren die beiden Unteroffiziere an der Reihe. Die Offiziere, die dies zu zweit erledigten, töteten sie mit Messern; alles geschah den Vorschriften entsprechend, mitsamt Begräbnis und dazugehörenden Ehren.
Die beiden Offiziere waren vereidigt. Sie trifft keinerlei Schuld.
Sobald die Arbeit getan war, brachen wir das Lager ab und marschierten weiter. Gegen Mitternacht jedoch wurden wir im Dunkeln überrascht und zum Anhalten gezwungen: Ein berittener Trupp, ein größerer Trupp war aufgetaucht. Ihr Anführer – ein Hauptmann, wie unsere eigenen Offiziere feststellten – war eindeutig vom Nordkommando und legte uns ordnungsgemäß unterschriebene Befehle vor, mit denen wir ersucht wurden, ihn zu seinem Hauptquartier zu begleiten.
Sollte ich falsch gehandelt haben, dann aus Gründen mangelnder Kenntnisse und um die Sicherheit zu gewährleisten. Niemand hatte mich davon unterrichtet, daß das Nordkommando an diesem Unternehmen beteiligt war, und ich konnte mir wahrhaftig keinen Grund denken, warum dieses Kommando beteiligt sein sollte. Der junge Offizier konnte mir auch keinen nennen. Überdies lauteten seine Anweisungen, unser ganzes Unternehmen, die Fracht und die Männer, seien dem Nordkommando zu übergeben, was inzwischen gar nicht mehr möglich war, dabei war doch alles genau den Vorschriften gemäß ausgeführt worden.
Deshalb weigerte ich mich, die Autorität des jungen Offiziers anzuerkennen, und wurde unverzüglich unter Arrest gestellt. Und so marschierten wir weiter, bis wir um zwei Uhr nachts eine Biwakstelle zwischen Felsen erreichten, wo wir das Lager aufschlugen.
Der junge Offizier verhielt sich äußerst korrekt, ihn trifft keine Schuld. Er verlangte nicht von mir, bei den gemeinen Soldaten zu schlafen, obwohl er natürlich Wachen für mich aufstellte. Die Wachen ihrerseits erwiesen mir allen Respekt und gestatteten mir, während der Nacht hinter einen Felsen zu gehen, wo die Tiere lagen, um meine Notdurft zu verrichten. Ich kletterte hinauf und entkam.
Sie schlugen sogleich Alarm und verfolgten mich, doch meine genaue Kenntnis dieses schwierigen Geländes ermöglichte mir, ihnen zu entkommen. Im Schutze der Dunkelheit verfolgte ich eine ganz einfache Strategie: ich stieg wieder hinab, jagte die Tiere in eine Richtung und machte mich selbst in die andere davon.
Die Verfolgung wurde ordnungsgemäß durchgeführt, niemand ist dafür zu tadeln. Von einem hochgelegenen Versteck aus beobachtete ich das Geschehen. Gegen Mittag wurde die Verfolgung abgeblasen, die Männer kehrten zurück, brachen das Lager ab und machten sich auf den Weg.
Ich hatte weder Nahrung noch Wasser.
Ich wartete die Dunkelheit ab, ehe ich mich rührte.
Die Strapazen hatten mich geschwächt, ich stürzte und brach mir den Arm. Der gesplitterte Knochen trat durch das Fleisch.
Ich hatte Fieber, und mein Zustand verschlechterte sich. Ich sah keinerlei Möglichkeit zurückzukehren, also wandte ich mich in Richtung der Wasserstelle, wo die Leute mich kannten.
In geschwächtem Zustand stieg ich hinab, voller Angst, angegriffen zu werden. Sie hatten Wachtposten aufgestellt, aus Furcht vor Partisanen.
Ich blieb liegen, bis ich mich sicher fühlte, und betrat heimlich die Siedlung. Ich bewegte mich auf ein Licht zu und sah zu meiner Freude, daß es die alte Parfümerie war. Der Wachposten dort achtete auf den Kessel.
Er kannte mich von früher, ein guter Kerl, nicht ungebildet, und genau der Richtige. Ich beschwor ihn, mich einzulassen, und er ließ mich ein. Wenn ich etwas Ungesetzliches getan habe, so trifft ihn keine Schuld.
Er hat gesagt, ich sollte es aufschreiben, an dem Tag, an dem er stirbt, damit sie es erfahren. Es war vier Tage, nachdem er gekommen ist, am 22. März, da ist er gestorben. Er hat gesagt, er würde mir sagen, was ich tun soll, wenn ich ihn beerdige, hat er aber nie getan. Er phantasierte, und so habe ich ihn nachts in den Blütenkorb gelegt und oben hinter der Quelle begraben.
Ich sagte ›Friede deiner Seele‹ und ›Gott sei dir gnädig‹. Er war ein guter Mensch, ein Priester.
Er ließ nicht zu, daß ich Hilfe holte, als sein Arm zu stinken anfing, er verbot mir, es irgend jemandem zu erzählen, aber ich sagte es dem Priester, der bei mir das Blumenöl holt, und der hat gesagt, ich hätte, als ich ihn beerdigte, die richtigen Worte gesprochen, und das hoffe ich sehr, allerdings ist er kein richtiger Priester.
Ich habe, was er geschrieben hat, ein zweites Mal abgeschrieben, ich habe mein Bestes getan. Er hat gesagt, er würde mir sagen, was ich damit tun soll. Ich habe eins zu den Curtains gebracht, zweihundert Meter hoch, zu dem Felsen, den man von hier aus nicht sehen kann, dem abgewandten. Es liegt im ersten Loch, wenn man vom Gipfel herunterkommt. Das zweite habe ich weiter unten, am Fuß des Abhangs versteckt, unter dem Weg, den man geht.
Nichtiger Gottesdienst(Jeremias 10.8)
Als ich ankam, war niemand da, niemand außer Birkett und seiner Frau, was ich als besondere Strafe empfand. Er aß Trauben und eine Selleriestange und unterbrach sich nicht, als er mich sah, sondern nickte nur und fuhr fort, langsam und bedächtig zu kauen. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover aus irgendeinem dünnen Material, wahrscheinlich Nylon, der ihm gemeinsam mit seinen eng zusammenstehenden Augen, von denen eines größer war als das andere, und den hohen, dämonisch wirkenden Wangenknochen das Aussehen eines verrückten alten Ballettänzers verlieh.
Seine Frau war am selben kleinen Eichentisch mit einer ähnlichen Mahlzeit beschäftigt gewesen; nun nahm sie ihren Teller hoch, sagte: »Entschuldigen Sie mich einen Moment«, und verließ damit den Raum. Er kaute weiter und nickte, um anzudeuten, daß sein Mund bald leer sein würde, und so war es. Er beendete seine Mahlzeit nicht; er hatte nur den Mundvoll fertiggegessen und saß nun ganz unbeteiligt da.
Ich sagte: »Ich fürchte, ich komme zu früh.«
Er widersprach mir nicht, sondern sah mich nur auf seine ernste, leicht überspannte Art an und sagte: »Dadurch haben wir die Gelegenheit, miteinander zu reden.«
»Wir müssen Ihnen gratulieren«, sagte seine Frau, die zurückkam, mit ihrem dünnen, verkniffenen Lächeln auf dem Gesicht.
»Natürlich«, sagte Birkett würdevoll. »Das wollte ich schon seit längerem.«
»Dr. Laing ist ein junger Mann, dessen man schwer habhaft wird. Iß zu Ende, Liebling. Sie trinken doch sicher einen Schluck, Dr. Laing?«
Dies war eher eine Feststellung als eine Frage, mit der sie auf ihre seltsam zweideutige Art auf ein paar meiner besonderen Charakterzüge anzuspielen schien, wie zum Beispiel Zügellosigkeit, Gier und Opportunismus.
Ich lehnte mich, bereits entnervt, zurück. Mir fiel auf, wie sie meine Schuhe betrachtete. Die Wildlederschuhe waren mir für die exzentrischen Leute, die heute abend hier zu erwarten waren, passend erschienen. Außerdem trug ich ein kariertes Flanellhemd und eine alte Tweedjacke; ganz der nüchterne Laing. Ich hätte nicht gewaltiger danebengreifen können, wenn ich in Frack und Zylinder erschienen wäre. Ihre Art von Nüchternheit war dermaßen ausgefeilt, daß alles andere, die Wildlederschuhe einbezogen, wie schrille Affektiertheit wirken mußte. Unter dem Tisch sah ich Birketts schmale, elegante Füße in schwarzen Turnschuhen in zweifellos entspannter Yoga-Stellung nebeneinanderstehen. Die Beine darüber steckten in gebleichten Jeans. Seine Frau trug ein Gymnastiktrikot, braune Strümpfe und Sandalen. Ihre massige Gestalt durchquerte in diesem Aufzug den Raum, brachte mir einen Drink und schaffte es gleichzeitig anzudeuten, es handele sich dabei um eine Art medizinische Notversorgung für jemanden, der ohne das Zeug nicht leben kann.
Sie gab mir ein Glas, das ungefähr zehn Zentiliter Whisky ohne Wasser oder Soda enthielt, nur die pure Substanz. Sie war wirklich ein ziemlich widerwärtiges Weib.
»Ich hoffe, Sie mögen ihn so.«
»Danke sehr.«
»Ich meine mich zu erinnern, daß Sie auch rauchen. Die Zigaretten sind möglicherweise etwas trocken. Bei uns finden sie keine Verwendung.« Mit einer Porzellandose kam sie vom Büffet zurück.
»Dann ziehen sie besser durch.«
»Ziehen besser durch«, wiederholte sie und setzte sich mit verkniffenem, mißtrauischem Lächeln hin, während sie den Scherz auf Fallen und Doppelsinnigkeiten abklopfte. Ich zündete eine Zigarette an und beschloß, das Scherzen zu lassen. Hier war es gefährlich, Scherze zu machen. Es war gefährlich, überhaupt etwas zu sagen. Ich nippte am Whisky und spürte, wie ich nervös wurde; mein Schädel brummte noch leicht vom morgendlichen Kater.
»Sie machen eine turbulente Zeit durch, Dr. Laing.«
»Nun, die Leute sind außerordentlich liebenswürdig.«
»Zu Erfolgreichen ist man immer liebenswürdig.«
»Da haben Sie sicher recht«, sagte ich. Es war besser, das hier hervorzuheben.
»Ihr Erfolg ist in hohem Maße verdient«, sagte sie barsch. »Das steht außer Frage. Dennoch überrascht es, daß man einem Mann Ihres Alters die Professur angeboten hat.«
»Es gibt nicht viele in dieser Disziplin.«
»Mag sein«, sagte sie vorsichtig. »Möglicherweise erfreut sich diese Disziplin derzeit auch einer gewissen modebedingten Aufmerksamkeit und zusätzlich scheinbar nahezu unbegrenzter Geldmittel. Dies alles zu erwähnen bedeutet natürlich nicht, Ihre Leistung schmälern zu wollen.«
Natürlich war das ihre Absicht. Sie hatte gesehen, wie meine Deckung ins Wanken geriet, und war blitzartig vorgestoßen; eine geübte und erfahrene Kämpferin. Sie war wirklich gut, dieses Biest. Die Euphorie der letzten Wochen verflog im Nu. Ich trank noch einen Schluck Whisky und spürte direkt, wie sie verschwand.
Lächelnd saß sie da, die Hände im Schoß. Nun war sie im richtigen Fahrwasser und läutete prompt die nächste Runde ein.
»Bestimmt tat der Abschied dennoch weh.«
»Ja. Nach drei Jahren.«
»Die anerkannten Disziplinen einer alten Universität hinter sich zu lassen, um etwas ganz – Neues anzufangen?«
»O ja, natürlich. Ganz sicher.«
Hier war nichts zu holen, sie spürte es. Gierig fuhr sie fort. »Wir haben kürzlich Ihren Aufsatz gelesen, worin Sie Professor Gordon von Brandeis unterstützen.«
»Sie meinen den über die Hethiter-Kreter.«
»Äußerst brillant und eigenwillig formuliert (›effekthascherisch, marktschreierisch‹).« – »Soweit ich Sie verstanden habe, stehen Sie auf dem Standpunkt, daß die kretische und die hellenische Kultur gemeinsamen Ursprungs mit jener der Nordsemiten sind.«
»Nun, Gordon sieht das so. Ich vermochte lediglich ein paar Erkenntnisse über mein auserwähltes Volk hinzuzufügen.«
»Ihr auserwähltes Volk?«
»Die Nordsemiten.«
»Ah, so. Das sind Juden, nicht wahr?«
»Juden, vorjüdische Völker, Syrer, Phönizier, diese Gruppe.«
»Ah, diese Gruppe«, sagte sie mit einem äußerst milden Lächeln. »Nun, ich muß gestehen, daß ich Ihrer schmissigen und unterhaltsamen Darstellung (›Clown! Possenreißer!‹) weit besser folgen konnte als der sehr anspruchsvollen Arbeit von Professor Gordon. Obwohl diese Meinung, soweit ich gehört habe, nicht allgemein anerkannt ist.«
»Nein. Das heißt, die Stellungnahmen sind alle recht zurückhaltend, wissen Sie? Die Dummheit kommt früh genug ans Tageslicht. Von Neulingen wie mir wird einfach erwartet, daß sie durch die Weltgeschichte reisen und wilde Vermutungen anstellen. Hin und wieder könnte sich dann eine davon als berechtigt erweisen.«
Diese Bescheidenheit besänftigte und verärgerte sie in ungefähr gleichem Maße. Ihre Hände bewegten sich ruhelos auf dem Schoß. Sie wollte eine Herausforderung, und alles, was ich ihr darbot, war meine schmale, wendige Schulter; eine zu kleine Zielscheibe.
Sie sagte: »Vielleicht sollten wir jetzt nicht darüber diskutieren. Ich weiß, daß Birkett mit Ihnen darüber sprechen möchte.«
Birkett sprach im Augenblick mit niemandem; außer vielleicht mit sich selbst. Fasziniert beobachtete ich ein kaninchenhaftes Zucken seiner Oberlippe, nicht ganz im Takt mit seinen Kaumuskeln. Dies konnten sowohl vorgeschriebene Übungen aus dem Bhagavadgita als auch unwillkürlich ablaufende Stoffwechselvorgänge sein. Falls er etwas von dem Gerede mitbekommen hatte, das da vonstatten ging – was zweifelhaft war –, dann war ihm dessen unterschwellige Feindseligkeit sicherlich entgangen. Ein komischer Vogel, entnervend spleenig, sein Gesicht eine einzigartige Mischung aus überarbeitetem John Stuart Mill und Picasso auf dem Totenbett – alles in allem ein höflicher, sanfter und leidenschaftsloser Mann, außer in seinen Ansichten, von denen er selbstverständlich leben mußte. Er hatte es noch nicht zum Lehrstuhl für Englische Literatur gebracht, nach dem seine Frau so dürstete, und er würde es wohl auch nie schaffen. Ein entschieden seltsamer Vogel inmitten eines Klüngels zweifellos ebenfalls seltsamer Vögel, für die ich heute abend die Schuhe, Hemd und Jackett trug.
Er war fertig mit seinem Essen, trank ein Glas Wasser, ging hinaus, während er sich kräftig räusperte, und fing im Nebenraum an zu pinkeln. Offenbar tat er dies gleich hinter der Tür, er pinkelte endlos, exakt in die Mitte der Schüssel. Wir saßen da und lauschten, wobei das Gesicht seiner Frau völlig ausdruckslos blieb. Alles war hörbar in bester gesundheitlicher Ordnung.
»Und was genau«, fragte sie gedehnt, »werden Sie jetzt als nächstes tun?«
Ich erklärte ihr, was ich als nächstes tun würde.
»Ach, ja. Ich hörte, daß Sie auf Schwierigkeiten gestoßen sind.«
»Erwartete Schwierigkeiten. Eine Menge von dem Zeug wird nicht mehr aufgelegt, und ich muß es ausfindig machen.«
Der Lärm hinter mir hielt unvermindert an. Ich begann mir Sorgen zu machen, der erstaunliche kleine Teufel könnte sich selbst aus purer Unachtsamkeit ganz und gar davonpinkeln.
»Wann werden Sie sich also in Beds niederlassen?«
»Ende Januar.«
»Aber das ist doch erst in zwei Monaten?«
»Ja. Ich werde nicht ständig hier sein. Ich werde eine kleine Rundreise zu den privaten Bibliotheken unternehmen.«
Hinter mir kam Birkett zu meiner Erleichterung zu einem zögernden, melodischen Finale und ein paar Sekunden später zum endgültigen Schluß.
»Das wird wohl für einige Zeit Ihr letzter Ausflug sein, nehme ich an?«
»Das denke ich auch.«
»Ich kann mir vorstellen, daß Sie das in gewisser Hinsicht vermissen werden. Ein Mann Ihres Temperaments ist gern draußen an der Front.«
»Man kann nicht alles tun.«
»Sicher nicht. Nicht, ohne zu pfuschen, und das dürfen Sie nicht riskieren. Ich nehme an, Sie werden sich eine Frist von drei oder vier Jahren setzen, in denen Sie die Abteilung aufbauen werden.«
»Ungefähr so lange.«
»Ich bin sicher, Sie werden sich Ihre gute Nase bis dahin erhalten.«
Man konnte sie nie wirklich abwehren. Sie schlug ständig zu, suchte ununterbrochen nach Angriffspunkten für ihre Aggression; sehr gut im Clinch, verfügte sie über erstklassige Schlagkraft in beiden Fäusten. Wenn sie einen einmal in der Ecke hatte, konnte man nur noch hoffen, ihre Hiebe abzudämpfen, wenn sie zuschlug. Jetzt landete sie präzise Haken.
»Ich erinnere mich, irgendwo gelesen zu haben, daß es auf Ihrem Forschungsgebiet zwei unterschiedliche Typen gibt, den intuitiven und den deduktiven, wobei der erste früh und sozusagen sprunghaft aktiviert wird und der zweite viel später, zu einem kritischen Zeitpunkt der Wissenserlangung. Ähnlich wie bei einem Atompilz«, witzelte sie.
»Oder bei einem Komposthaufen«, ich lächelte zurück, um ihr zu zeigen, wie lässig wir ausgeschlafenen Jungs mit dieser Frage nach wissenschaftlichem Spürsinn, seiner Periodizität und Dauer umzugehen wußten. Sie hatte das ganz sicher bei irgend jemandem gelesen, das Miststück, wahrscheinlich bei mir.
Der Wasserhahn pfiff, als Birkett sich die Hände wusch, und einen Augenblick später trat er wieder ein – nicht im geringsten dünner geworden, wie ich überrascht feststellte. Seine Frau stand auf und ging hinaus – um, wie ich schon erschrocken glaubte, ihr eigenes Pinkelritual zu absolvieren. Doch das blieb aus. Den Geräuschen nach zu urteilen, holte sie für die erwarteten Gäste Gläser, und kurz darauf, um neun, nicht um halb neun, wie ich gedacht hatte, trafen sie nach und nach ein.
Gegen zehn, nachdem ich die Mixtur verdünnt und nachgefüllt hatte, zeigte der Whisky seine belebende Wirkung, und die Partygäste waren freundlich, zurückhaltend oder interessant, ganz, wie es die Situation erfordert; alles wie gehabt in diesem turbulenten Monat. Diese Leute entsprachen nicht im geringsten meinen Erwartungen. Mit erstaunlicher Aufmerksamkeit hatten die Birketts Leute eingeladen, die ich mochte oder gern kennenlernen wollte und die zugleich auch mich mochten oder kennenlernen wollten; ein eher seltenes Zusammentreffen. Den Ruf eines Wunderkindes zu haben birgt ein gewisses Risiko. Diese Leute hier schienen richtig nett zu sein. Keiner von ihnen war übermäßig unsympathisch. Die Stimmung im Raum war wohltuend entspannt. Ich drehte mich um, taxierte die Runde, und mein Blick fiel auf eine wohlproportionierte, ansehnliche junge Blondine, die mich betrachtete.
»Nun, Professor Laing, wie geht's uns so?«
»Sehr gut, Lady Liz. Ich bin aber augenblicklich nicht im Dienst.« Ein plötzlicher Schmerz, die Erinnerung an vergangene Leidenschaft durchfuhr mich.
»Auf jeden Fall freue ich mich, Sie noch auf den Beinen zu sehen. Ich hörte, man hat Sie gestern betrunken gemacht.«
Sie besaß das Talent, mit ihrer kehligen Stimme gerade das Ohr des Zuhörers zu erreichen, und sonst niemanden.
»Man hat es versucht.«
»Ich war nicht eingeladen.«
»Niemand war eingeladen. Es waren nur ein paar Leute, die irgendwann einmal unter mir gearbeitet haben.«
Diese Bemerkung registrierte sie mit dem schwachen Heben einer Augenbraue. Die Klassifizierung schloß sie keineswegs aus.
Sie sagte: »Dann bin sicher auch ich unter Ihrer Würde.« Auch diese Bemerkung war rein privater Natur, wie ihre Augenbraue verriet.
Ich antwortete: »Das können Sie jederzeit herausfinden.«
»Ich würde nach Bedford umziehen müssen, nicht wahr?«
»Sehr idyllisch dort.«
»Ziemlich überlaufen, wie ich hörte.«
»Ich denke, wir könnten noch eine Freiwillige dazwischenschieben.«
»Vermutlich hätte ich Konkurrenz.«
Zwischen uns funkte es, zwischen dieser aufregenden jungen Lady und mir, was wir genossen, bis eine schafsgesichtige wachsame Freundin von ihr sie, wie ein Lehrer seinen Zögling, auf ihr unschickliches Benehmen hinwies. Sie hatte prompt die Tonart gewechselt. Das war bereits ein paar Minuten her, und ich hatte ihre Freundin seither nicht mehr gesehen. Etwas in ihren letzten Worten hatte mir das Gefühl gegeben, der veränderte Tonfall könne nicht nur an ihrer schafsgesichtigen Freundin liegen.
Ich fragte: »Was tun Sie hier?«
»Ich studiere bei Birkett.«
»Fleißig, wie ich hoffe.«
»Ich führe ein ausgewogenes Leben.«
»Das dachte ich mir.«
»Sie auch, wie ich höre.«
Das hatte ihr sicher das Schafsgesicht erzählt. Der Verdruß legte sich, übrig blieb nur schieres Verlangen.
Ich fragte: »Haben Sie am Sonntag schon was vor?«
»Ja.«
»Etwas Wichtiges?«
»Ziemlich wichtig.«
»Das klingt relativ.«
»Alles ist relativ, Herr Professor.«
»Sind Sie zu Hause, wenn ich um vier anrufe?«
»Möglich.«
»Caspar!«
Ich fuhr herum. Das ist, nebenbei gesagt, mein Vorname. Es gibt nur einen Menschen, der ihn nach orientalischem Basar klingen lassen kann; noch dazu ein Mensch, der durchaus fähig war, aus dem, was sich zu einem ordentlichen Zweier zu entwickeln schien, einen stilvollen Dreier zu machen.
Ich sagte ohne Begeisterung: »Hallo, Uri.«
Er war spät dran, hatte es aber geschafft, sich auf dem Weg ein Glas zu sichern, das er in der schimmernden, behandschuhten Hand hielt. Sein melancholisches Lächeln strahlte mild, und seine hervortretende Gesichtsnarbe stand ihm gut.
»Geschäftlich hier?«
»Nur, um meine Wertschätzung auszudrücken.«
»Wem?« Er hatte die Augen noch keinen Moment von dem Mädchen abgewandt.
»Dir natürlich.« Seine Stimme war sehr dunkel, und seine Züge blieben unbeweglich wie die eines tragischen Clowns; eines weltgewandten, ausgezeichnet gekleideten, tragischen Clowns. Sein Haar war zurückgebürstet und duftete schwach nach Haarwasser. »Ich bin ehemaliger Student von Birkett. Er weiß, wie sehr ich dich schätze.«
»Ja, schon gut. Elizabeth, das ist Uri Namir, Krieger, Büchernarr und Langweiler.«
»Wie reizend«, sagte Uri ungerührt.
»Uri ist ein Held. Aus dem israelischen Unabhängigkeitskrieg. Uri ist Israeli.«
»Hallo.«
»Und das ist Elizabeth Longrigg.«
»Bin entzückt.«
»Lady Elizabeth Longrigg.«
»Außerordentlich entzückt.« Sein Interesse stieg noch um eine Nuance, falls das möglich war. »Sind Sie das wirklich? Eine Lady?«
»Jederzeit«, erwiderte Elizabeth. Sie betrachtete seinen Handschuh mit unverhohlenem Interesse. Dieses Mädchen brachte mein Blut schon wieder ungeheuer in Wallung. Mich faszinierte die Art und Weise, wie sie alles mit unverhohlenem Interesse betrachtete, was sie nun mal unverhohlen interessierte.
Brüsk sagte ich: »Uri, wir müssen noch miteinander reden, bevor du gehst.«
»Wissen Sie«, sagte Uri, »Sie sind die erste Lady, der ich begegne – die erste wirklich adlige Dame. Ungewöhnlich, nicht wahr? Schließlich bin ich schon seit ein paar Jahren hier. Im Ausland denkt man, England sei voller Lords und Ladies. Ich erzähle allen, daß mir noch nie ein echter Lord oder eine Lady begegnet sei. Und jetzt treffe ich doch eine.«
»Was tun Sie in London, Mr. Namir?«
»Ich arbeite an der Botschaft.«
Ich sagte: »Er ist auf der Suche nach Büchern für einen anderen bekannten Krieger, Büchernarren und Langweiler.«
»Ach, das. Das war nur einmal der Fall. Hören Sie nicht auf ihn, Lady Longlegs.« Er hatte ihren Namen ganz sicher von Anfang an richtig verstanden; er beherrschte diesen Trick, der Schuft, die Konversation auf zwei Ebenen gleichzeitig zu führen, um sein Interesse an einem Thema zu signalisieren, das gerade nicht Gegenstand des Gesprächs war.
»Bei welcher Gelegenheit war das?« Sie lächelte ihn an.
»Oh, mir wurde mal die Aufgabe übertragen, für Ben Gurion einige Bücher aufzustöbern. Er ist ein großer Büchernarr und war damals auf Stippvisite hier.«
Ich sagte: »Ist das nicht auch heute noch deine Aufgabe?«
Er wollte gerade etwas anderes sagen, brach aber abrupt ab und sagte statt dessen: »Ja, stimmt. Da fällt mir ein, Caspar, ich muß mit dir reden.«
»Ich muß sowieso jetzt los«, sagte Elizabeth.
Ich sagte: »Warten Sie ...«
»Ich muß weg. Nur für einen Augenblick.«
»Ich möchte Sie Wiedersehen.«
»Gut.«
Sie wandte sich ab und ging davon.
»Die ist verrückt nach dir«, sagte Uri.
»Weißt du, allmählich wirst du zum allgegenwärtigen Ärgernis.«
»Die ist verrückt, nach etwas ganz Bestimmtem«, stellte Uri fest.
Elizabeth war schon an der Tür, wo sie sich angeregt mit einem Philosophiedozenten unterhielt, der sich dort aufgebaut hatte.
»Du bist hier wirklich zu beneiden«, sagte Uri. »Hier herrschen traumhafte Verhältnisse. Als Professor, mein Gott – da stehen dir die jungen Dinger doch scharenweise zur Verfügung. Wann machst du dich auf?«
Ich erzählte es ihm.
»Und wie sieht dein Zeitplan aus?«
Auch das sagte ich ihm.
»Und du hast niemanden, der dir hilft, das Zeug zu finden?«
»Ich hab' denen geschrieben, was ich suche. Wenn Leute verfügbar sind, werden sie mir helfen.«
»Ich meine Leute mit Ahnung.«
»Dazu wird der Etat nicht reichen.«
»Was, genau, suchst du?«
Er hatte gute Grundkenntnisse auf literarischem Gebiet, daher erklärte ich es ihm. Ich mußte in den letzten Tagen zuviel getrunken haben, denn ich hörte das Echo meiner eigenen Stimme.
»Und in welchen Bibliotheken rechnest du dir die besten Chancen aus?«
Während ich sprach, wurde mir bewußt, daß es nicht am Widerhall meiner Stimme lag. Ich hatte ihm das alles bereits erzählt. Ich hatte es ihm – wann? – am Montag erzählt. Heute hatten wir Donnerstag. Anläßlich eines anderen Empfangs hatte ich ihm davon berichtet. Und er hatte mir gesagt, er stöbere nach ein paar Büchern für Ben Gurion. Deshalb hatte ich angenommen, er sei heute abend geschäftlich unterwegs. Er betrachtete mich kritisch, den gebürsteten Kopf zurückgelehnt, genau wie beim ersten Mal, und beobachtete, wie bei mir der Groschen fiel.
Ich sagte: »Uri, haben wir das alles nicht schon durchgekaut?«
»Ich habe etwas außerordentlich Interessantes für dich, Caspar.«
»Bücher?«
»Es wäre mir sehr lieb, wenn du dir den Sonntag freihalten könntest. Den kommenden Sonntag.«
»Da bin ich leider beschäftigt.«
»Muß das sein, Caspar?«
»Leider ja.«
»So beschäftigt, daß du dich trotzdem mit Lady Lulu verabreden kannst?«
Der Dreckskerl hatte gelauscht.
Er sagte: »Caspar, tu's nicht, triff für Sonntag keine Verabredungen. Halt dir den Tag bitte frei. Ich rufe dich an. Irgendwann im Laufe des Tages.«
»Tu das«, sagte ich und sah mich um.
»Sie ist weg«, sagte Uri.
»Was?«
»Vor ein paar Minuten gegangen. Sie hat gewinkt. Sie hat gesehen, daß du beschäftigt bist.«
Er ging ein paar Minuten später, und innerhalb der nächsten halben Stunde verabschiedeten sich auch die meisten anderen. Ich blieb noch. Birkett hatte mich untergehakt, und ich redete von griechischen und hebräischen Höllen.
Am nächsten Morgen saß ich in die Betrachtung eines Glases versunken, in dem ein paar Alka Seltzer zischten. Mir ging es gar nicht gut. Das hatte ich nun davon. Ich hatte zuviel getrunken. Und zwar mehr als alle anderen, gestern nacht und die Nächte zuvor. Das hatte seinen Grund, dachte ich, während ich den Tabletten beim Zischen, Hüpfen und Schäumen zusah.
Das taktlose Miststück gestern abend hatte nicht unrecht gehabt. In meiner Disziplin gab es wirklich zweierlei Typen. Die Wunderkinder mußten auf der Hut sein. Ihre Themen kamen und verschwanden wie der Blitz. Es hatte mit Kathleen Kanyon angefangen, die zuerst in Jericho an die Öffentlichkeit gegangen war, dann in Megiddo. Es ist keine Frage des Wissens, obwohl man natürlich auch darauf angewiesen ist, und zwar in ungeheurem Maße: auf ganze Bibliotheken voller erdrückender Massen von Wissen, um die verwitterte Schale und den verwitterten Kern zu knacken, um darin die lebendige Orchidee zu finden. Dazu gehörte viel, viel mehr, und gleichzeitig auch so lächerlich wenig: Dieser plötzliche Augenblick des Erkennens durch die Jahrtausende hindurch, zwischen dir und ihm, der das Fundstück verfaßt hatte. Dieses Aufblitzen der Vorstellungskraft, dieses metaphysische Zwielicht, in dem das verlorengegangene Fundobjekt mit seinem verlorenen Benutzer ohne formalen Denkprozeß in dem erhebenden Moment des Findens die richtige Verbindung eingeht.
Es hatte natürlich etwas mit den Synapsen, jenen Assoziationspunkten im Gehirn, zu tun; und über die wußte man wenig. Entweder blitzten sie auf oder eben nicht, durch Zufallsverknüpfungen. Wenn es passierte, dann passierte es frühzeitig, wie das Miststück richtig gesagt hatte. Man mußte es immer wieder versuchen und darauf ankommen lassen. Aber wie?
Glücklicher Michael Ventris, der mit achtundzwanzig Linear B entziffert hatte und mit dreißig gestorben war. Mit dreißig übernahm ich den Lehrstuhl.
Ein faseriger, schaumiger Niederschlag hatte sich am Glas abgesetzt. Ich schüttelte es, damit der Schaum sich setzte, und zog meinen Morgenmantel enger. Ich saß in der sibirischen Kälte des Badezimmers auf der Toilette.
Düstere Wolken der Verdrossenheit hatten mir den Schlaf geraubt und zogen heute früh auch im Badezimmer auf. War ich auf diese Erziehungsaufgabe überhaupt vorbereitet? Das war die Frage, eine große, reichlich späte Frage. Um ein guter Lehrer zu sein, brauchte man wahrscheinlich einen gewissen Drang dazu: Man mußte den Wunsch verspüren, anderen etwas zu erklären, vorzugsweise allen alles zu erklären. Ich verspürte diesen Drang nicht. Mein Sehnen war ein anderes. Wenn ich etwas begriffen hatte, reagierte ich, indem ich darüber den Mund hielt. Wenn ich etwas entdeckt hatte, reagierte ich darauf, indem ich es wieder an seinen Platz legte, genau so, wie es zuvor gelegen hatte.
Das war natürlich nur die erste Reaktion, auf die weitere folgten. Vielleicht neigte ich in meinem verborgenen Geltungsbedürfnis zur Übertreibung und glänzte deshalb mit dem, was der weibliche Drachen meine »brillante und eigenwillige Formulierung« genannt hatte. Trotzdem trieb mich eine anfängliche Neugier und kein pädagogisches Interesse.
Das hieß nicht unbedingt, überlegte ich, während ich mich matt und verschlafen auf dem Plastiksitz bewegte, daß ich ein schlechter Lehrer war. Man hatte mir immerhin einen Lehrstuhl angeboten. Das war schon etwas, ganz ohne Zweifel. Meine Vorlesungen zogen immer ein paar aufmerksame Zuhörer an, die Kurse waren gut besucht. Zu gut besucht. Seit dieser blödsinnige junge Araber in Qumran seine dummen Finger nicht von dieser Jesaja-Schriftrolle hatte lassen können, wollte jeder mit dabeisein. Zu mir kamen Priesterzöglinge, Werbeagenten, Debütanten; ehrgeizige Nervensägen jeglicher Couleur. Was hatten sie mit den Wirrungen von Talmud, Mischna, Targum und Sohar zu schaffen? Was interessierte sie an dem Leben, das die damaszenischen und alexandrinischen Schriften beschrieben? In welcher Weise konnten der Zorn, die Geschäfte und die Religion der Völker, die akkadisch, syrisch, ugaritisch, hebräisch und aramäisch sprachen, sie bereichern? Und wenn dies der Fall war, sollte es erlaubt sein? Die ganze Sache war ein Affront und konnte zum öffentlichen Ärgernis werden. Literatur von über zweitausend Bänden war durch das groteske, blühende Interesse an Schriftrollen bereits entstanden. Es gab sogar einen Fernlehrgang: »Lernen Sie im Selbststudium das Entziffern der Schriftrollen des Toten Meeres«!
Viel zuviel Wissen wurde angesammelt, und es würde zweifellos noch schlimmer kommen. Die Berufung an die Universität Bedfordshire war nur ein weiteres Indiz dafür. Kaum entwickelte man an einer speziellen Disziplin der akademischen Welt ein Experteninteresse, schon befand man sich in der Position eines Pädagogen, der andere ausbildete. Die Sache uferte aus. Es war absurd. Was wollten die mit all diesem Wissen? Was führte man damit im Schilde? Es war eitles Gehabe. Und ich befand mich in einer Position, von der aus ich der Eitelkeit Vorschub leistete, indem alte Intimitäten ans Licht gebracht und alte Attraktionen der Öffentlichkeit preisgegeben wurden. Sie alle sollten sich lieber darauf beschränken, sich den fundamentaleren Bedürfnissen ihrer eigenen Gesellschaft zu widmen; ein Gedanke, der über eine einfache logische Kette zu einem meiner eigenen fundamentalen Bedürfnisse führte: dem alten Adam.
Warum war das aufreizende Mädchen gestern abend gegangen, statt zu mir zurückzukommen? Sie hatte doch gesagt, sie würde zu mir zurückkommen. Oder hatte sie das nicht gesagt? Wenigstens hatte sie gewinkt, wie Uri sagte; eine Geste, die vermutlich eher mir als ihm gegolten hatte. Was mochte diese Geste bedeutet haben?
Die Tabletten hatten sich aufgelöst, der Schaum hatte sich abgesetzt. Ich trank nachdenklich.
Vielleicht hieß es, oder vielleicht auch nicht, daß sie sich weiter, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, mit mir treffen wollte. Aber das Mädchen war gerissen; da konnte man nicht sicher sein. Beispielsweise hatte sie sich für Sonntag um vier nicht festgelegt, sie hatte nur »vielleicht« gesagt. Gab sie mir einen ermutigenden Wink, oder hielt sie mich zum Narren? Der alte Adam, im Augenblick vielleicht träge, wurde zum Tyrannen, wenn sein Zeitpunkt kam; er würde mich dazu zwingen, es herauszufinden. Diese Aussicht war nicht sehr tröstlich. Nichts war heute tröstlich.
Freitag und Samstag verstrichen, es kam der Sonntag. Um elf saß ich über meinen Frühstückskrümeln, rauchte und schrieb gerade, als das Telefon klingelte.
»Hallo?«
»Caspar?«
»Ich sehe mal nach, ob er noch da ist«, sagte ich im Tonfall eines Mitbewohners, der zufällig gerade hereingekommen ist. »Ich habe gehört, wie er hinunterging.«
»Schon gut, mein Bester.«
Er hängte ein, bevor ich es tat.
Dieser schlaue Hund. Was konnte er im Schilde führen? Alles mögliche; sehr wahrscheinlich hatte es mit Jordanien zu tun. Es ärgerte die Israelis ungeheuer, einen Großteil ihrer alten Schriften in Jordanien verstreut zu wissen, außer Reichweite und, zumindest für einen nicht sehr reichen Staat, unbezahlbar. Sie konnten natürlich nicht ohne Mittelsmänner kaufen. Hin und wieder schafften sie es über eine internationale Agentur, an etwas zu gelangen; aber auch das erwies sich als teuer, wenn es keine Schenkung war, eine von dreißig Schillingen pro Quadratzentimeter aufwärts. Sie mußten sich vergewissern, was sie kauften und was sonst noch verfügbar war. Leute wie Uri mußten sich über die internationale Gerüchteküche auf dem laufenden halten. Sollte er das doch zu einer passenderen Zeit tun.
Ich war um halb zwei zum Essen verabredet und ging um eins los, um einen Aperitif einzunehmen. Um drei war ich wieder zurück, irgendwie unruhig. Ich warf einen Blick in das Buch, um zu sehen, ob jemand angerufen hatte.
13.10 Gespräch für Dr. Laing, ein Herr.
13.15 Gespräch für Dr. Laing, eine Dame.
Welche Dame? Welcher Herr? War nichts hinterlassen worden? Warum gab es keine weiteren Einzelheiten? Heiliger Zorn überkam mich. Die Handschrift von Mrs. Lewin! Ein ewiger Kampf. Die einfältige Mrs. Lewin, die nie etwas notierte, hielt wohl gerade ihr Mittagsschläfchen. Ich suchte sie auf.
»Mrs. Lewin!«
»Hm? Was? – Was ist los?«
Ich mäßigte mein lautes Hämmern.
»Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Mrs. Lewin.«
»Wie? – Einen Augenblick.«
In ihrer muffigen Bude quietschte und raschelte es. Meine Wut verrauchte glücklicherweise.
»Ich sah gerade, daß ein paar Anrufe für mich angekommen sind.«
»Ja. Ich komme schon.«
»Und ich finde die hinterlassenen Nachrichten nicht.«
»Einen Augenblick. Ich bin sofort ...«
»Deshalb fragte ich mich natürlich, wo Sie sie hingelegt haben mögen.«
Die Tür öffnete sich. Mrs. Lewins aschgraue Wangen zuckten noch vom Zurechtrücken der falschen Zähne. Sie wirkte grimmig.
»Es gab keine!« sagte sie.
»Keine Nachrichten?«
»Nein. Ich habe gefragt. Der Mann sagte, es sei nicht wichtig. Er war Ausländer.«
»Und die Dame?«
»Auch sie nicht. Sie wollte nichts hinterlassen!« keifte Mrs. Lewis. Angst, Selbstmitleid und Wut rangen miteinander, und sie drückte ihre zitternde Hand an die Brust.
»Hat sie ihren Namen genannt?«
»Nein. Den wollte sie mir nicht sagen!«
Wenn dieser Trampel sie auch nicht danach fragte; sicher war sie in Gedanken schon bei ihrem verdammten Nickerchen gewesen.
»Haben Sie vielleicht die Stimme erkannt?«
»Nein! Es war keine von denen, die sonst ...«
Elizabeth also. Ganz sicher war es Elizabeth.
»Nun, es tut mir leid, Sie belästigt zu haben, Mrs. Lewin. Es ist nur so, daß ich ein dringendes ...«
»Derart an die Tür zu hämmern! Ich dachte, das Haus stünde in Flammen. Gerade war ich dabei einzunicken!«
Während ich wieder hinaufging, hörte ich, wie ihre Tür zuknallte.
Elizabeth. Wieso rief mich Elizabeth um ein Uhr fünfzehn an? Vielleicht sollte ich sie jetzt lieber anrufen. Das tat ich. Niemand meldete sich.
Hm. Frustration lag in der Luft. Der alte Adam würde bald ein wütendes Geheul ausstoßen. Aber schließlich hatte das Mädchen keine Nachricht hinterlassen. Das bedeutete wahrscheinlich, daß sie wieder anrief. Aber wann? Sicherlich vor vier Uhr, der verabredeten Zeit. Jetzt war es Viertel nach drei.
Ich nahm mir den »Observer« und vertiefte mich ins Lesen. Es schien sich um einen langen Artikel über das Fechten zu handeln. Das Telefon klingelte. Ich fiel fast aus dem Sessel, als ich danach griff.
»Hallo?«
»Caspar?«
Mein Atem ging heftig. »Du bist heute ein besonders hartnäckiger Schuft.«
»Immer ganz der Alte. Wie geht es dir?«
»Bin schwer krank.«
»Wo fehlt's denn?«
»Habe mir ein Bein gebrochen.«
»Ich komme und heitere dich auf.«
»Ich will gerade ausgehen. Tanzen.«
»Hör mal, mein Lieber«, sagte Uri, immer noch freundlich, aber mit einem Unterton, der deutlich machte, daß der Spaß vorbei war, »du bist um vier Uhr zu Hause.«
»Ich werde um vier nicht zu Hause sein.«
»Du hast keine Verabredung mit Lady Lulu.«
»Ich habe doch eine Verabredung mit Lady Lulu.«
»Die hast du nicht«, sagte Uri.
»Wie bitte?«
»Ich hab' sie angerufen. Sie mußte weg. Wenn sie es nicht bereits getan hat, wird sie dich noch anrufen.«
»Was, zum Teufel ...«
»Caspar. Alter Freund«, sagte Uri, und seine Stimme senkte sich um eine volle Freundschaftsoktave. »Würde ich dir das antun, wenn es nicht um eine Sache von äußerster Dringlichkeit ginge? Sei vernünftig. Und sei zu Hause − um vier. Ich rufe gerade aus einer Telefonzelle an. Ich werde dich mit einem Wagen abholen, mit dem ich dich nach London bringe. Du kannst um neun wieder zurück sein, wenn du das möchtest. Du vergibst dir nichts, hast aber viel zu gewinnen. Das ist mir jetzt sehr ernst.«
Das will ich für dich auch hoffen, dachte ich wütend.
»Caspar«, sagte er nach kurzer Pause.
»Ja.«
»Tut mir leid, Caspar. Aber, wie man so schön sagt, diese Sache ist wichtiger als wir beide zusammen. Du wirst sehen.«
»Also gut.«
»Ich überlaß es dir, du sagst mir dann, was ich tun kann.«
»Das kann ich dir auch sofort sagen. Fahr zur Hölle.«
»Ja, mein Lieber. Bleib, wo du bist. Bis um vier dann.«
Der Jugend Umsicht und Erkenntnis(Sprüche 1.4)
Die israelische Botschaft befindet sich in Palace Green, am einen Ende der Kensington Palace Gardens, dieser stillen, verträumten Promenade, die, fast vollständig abgeschnitten, zwischen Kensington und Bayswater liegt. Es war nach sechs und schon dunkel, als wir dort ankamen, was nicht unbeabsichtigt zu sein schien, und wir kamen von der Kensington-Seite her, auch dies war kein Zufall.
»Die Nachbarn auf der anderen Seite sind neugierig«, sagte Uri und bog in die Zufahrt ein.
Die Nachbarn auf der anderen Seite waren die Botschaften von Jordanien, dem Libanon und Saudi-Arabien. Bei ihnen rührte sich um diese Zeit jedoch keine Menschenseele. In dieser Straße schien sich überhaupt nichts zu rühren. Uri hatte seine schrullige Heimlichtuerei während der ganzen Fahrt strikt beibehalten, was in mir bereits die schlimmsten Vorahnungen geweckt hatte. Die ließen auch jetzt nicht nach, als er mit herrischer Geste das Tor der Botschaft öffnete und mich hineinscheuchte.
Die israelische Botschaft ist eine schöne Botschaft, sehr behaglich. Es herrscht dort eine demokratische, lockere Atmosphäre, mit einem Beigeschmack von Teestunde. Ein Mädchen durchquerte gerade mit einem Glas Tee die Halle, als wir eintraten, und Uri tauschte Schaloms und Bewakaschars mit ihr aus, während wir die Treppe hinaufgingen. Durch einen großen Raum gelangten wir in einen kleineren. Vier oder fünf Männer saßen dort und unterhielten sich. Einer von ihnen, stellte ich fest, war Agrot. Ich war ihm nie wirklich begegnet, aber von Buchumschlägen und Zeitungen her war mir sein Gesicht vertraut. Er löffelte Joghurt aus einem Glas, das er noch in der Hand hielt, als er sich erhob; ein großer Typ, mit Schnurrbart und leicht schiefer Nase, ähnlich wie Hunt, der Logistiker vom Everest.
Er sagte mit kräftigem Händedruck: »Schalom.«
»Schalom.«
»Schon lange wollte ich Sie einmal kennenlernen.«
»Ich wußte gar nicht, daß Sie hier sind.«
»Bin gerade angekommen. Entschuldigen Sie das hier«, sagte er. »Im Flugzeug konnte ich nichts essen. Ihre Arbeit über die Kreter hat mir gefallen.«
»Mir gefiel Ihr Bar Kochba.«
»Sie schmeicheln mir.«
Wir setzten uns, tauschten noch ein paar weitere Komplimente aus. Er löffelte weiter sein Joghurt. Irgendwann während des Gesprächs brachte mir jemand einen Drink. Ich verspürte dieses vage Unbehagen, das einen befällt, wenn man einen soeben angereisten Ausländer die eigene Muttersprache fließend sprechen hört und er dabei lebhaftes Interesse an verschiedenen Angelegenheiten zeigt, die eigentlich nur von lokaler Bedeutung sind. Die übrigen Gesichter verschwanden nach einer Weile, und nur Agrot, Uri und ich blieben übrig. Jetzt schien man zum Geschäftlichen zu kommen.
Im Plauderton fragte ich: »Und was führt Sie nun hierher, Professor Agrot?«
Er sagte: »Nun«, lutschte sich einen Joghurtklecks vom Daumen, griff in die Brusttasche und zog etwas hervor.
Es war ein kleiner Zettel, etwa zehn mal fünfzehn Zentimeter, offenbar ein Textfragment, grobe, hebräische Buchstaben, sehr schlecht geschrieben.
»Was halten Sie davon?« fragte er.
Abgesehen davon, daß einige der Wörter überraschend lang waren, so als hätte der Schreiber vergessen, Lücken zu lassen, konnte ich nichts damit anfangen. Einige hebräische Buchstaben, M und T zum Beispiel, unterschieden sich kaum voneinander – ungefähr wie etwa O und D in unserer Schrift. Wie das englische Wort ODD in undeutlicher Schrift auch als DDD, OOO, DOO oder ODO gelesen werden könnte, konnte ein handgeschriebenes hebräisches Wort, in dem M und T vorkamen, auch eine Reihe von Permutationen ergeben. Außerdem gibt es im Hebräischen keine Vokale. Eine Buchstabengruppe von drei Lettern, wie MTR, konnte daher als MOTOR, TUMOR, MATER oder AROMAT oder als Eigenname gelesen werden. Genausogut konnte sie ein Wort sein, das vor Jahrhunderten gebräuchlich und seitdem nicht wieder aufgetaucht war.
Sehr häufig konnte man sich dank der Stämme der semitischen Sprachen einen Reim auf den ungefähren Inhalt des Wortes machen und, falls man genügend solcher Wörter gefunden hatte, sie auch in sinnvollen Zusammenhang bringen. Hier waren es nicht genug, und einen bekannten Wortstamm konnte ich auch nicht entdecken.
Ich sagte: »Derjenige, der das geschrieben hat, scheint einen schlechten Tag gehabt zu haben.«
»Er war zu der Zeit ziemlich krank.«
»Hebräisch oder Aramäisch ist es jedenfalls nicht.«
»Wie gut ist Ihr Griechisch?«
Ich studierte den Zettel erneut.
»Besser als seines. Das ist kein Griechisch.«
»Versuchen Sie es rückwärts.«
Ich versuchte es rückwärts. Die Konsonantenbündel begannen plötzlich, vage vertraute Ahnungen in mir zu wecken.
»Hier«, sagte Agrot. »Eine grobe Übersetzung ins Englische von dem Abschnitt, den Sie in der Hand halten.«
Die Rohübersetzung lautete: An dieser Stelle [in dieser Gegend] von der Hand des Niedrigsten und ihm, der allein bezeugt [die gemeinen Soldaten und ich allein], damit sie es nicht im Munde führen [ohne Zeugen], ist das OEED in der Dunkelheit [vergraben].
»Interessant?« fragte Agrot.
»Sehr.«
»Was fallt Ihnen besonders ins Auge?«
»An diesem Invaliden, der in griechischer Sprache rückwärts dachte?«
»Er dachte natürlich nicht rückwärts. Er erstellte einen vorbereiteten Bericht für eine Autorität, die ihn verstehen würde.«
»Verstehe.« Seine selbstbewußte Behauptung machte deutlich, daß er von dem Zeug eine Menge mehr haben mußte.
»Sonst noch etwas?« fragte er.
»Dieses OEED meinen Sie?«
»Was glauben Sie, was es bedeutet?«
Ich sah es wieder an. Codenamen standen meist für etwas, das Priestern gehörte. In der Gegenüberstellung zu ›Dunkelheit‹ konnte es ›Licht‹ bedeuten.
»Licht?« fragte ich.
»Wir denken das gleiche.«
»In diesem Falle«, fuhr ich fort, »könnte man sich einen heiligen Gegenstand denken, ein Buch des Gesetzes oder der Propheten – irgend etwas, das im religiösen Sinn Licht auf etwas wirft.«
»Für den Transport dieses Gegenstands waren vier Männer nötig.«
»Ach.«
»Zusammen mit der dazugehörigen Ausrüstung.«
»Hm.«
»Fällt Ihnen dazu etwas ein?«
»Nicht vor dem zweiten Drink. Soviel Leistung gibt es nicht ohne Treibstoff.«
Uri stand auf und schenkte mir nach.
»Warum ist es Licht im übertragenen Sinne?«
»Wie meinen Sie das?«
»Was wirft im physikalischen Sinn Licht?«
»Ein Leuchter?«
»Bravo.«
Ich sah ihn an. »Sie denken doch hoffentlich nicht an ›den Leuchter‹?«
»Nun, das würde der Sache Pfiff geben, nicht wahr?«
»Pfiff geben.« Es schien sein voller Ernst zu sein. Ich fragte: »Haben Sie ein Datum für diese Geschichte?«
»Ein ganz exaktes Datum. März 67.«
»Dann war der Leuchter ja nicht lange vergraben.«
»Ach«, sagte Agrot. »Erklären Sie mir das.«
Er lehnte sich zurück und lächelte mild, die Nase deutete leicht nach Osten.
Ich brauchte ihm nichts zu erklären. Er wußte es, wohl besser als ich. ›Der Leuchter‹, der große, siebenarmige Leuchter, die Menora, war seit fast zweitausend Jahren das Sinnbild des Judentums; für Israel, sein Heimatland, war sie das seit etwa fünfzehn Jahren. Der römische Eroberer Titus stahl den Leuchter im August 70, als er den Tempel zerstörte. Eine Darstellung davon ist immer noch auf dem Triumphbogen in Rom zu sehen; in einem Triumphzug trägt eine Gruppe Römer das massiv goldene Objekt durch die Straßen Roms. Die Prozession hat der Historiker Flavius Josephus beobachtet und bis in kleinste Details festgehalten. Wenn Agrots Datum für ›den Leuchter‹ im Jahre 67 lag und Titus ihn 70 stahl, konnte er, wie ich gesagt hatte, nicht lange im Dunkeln geblieben sein.
»Weil Titus ihn gestohlen hat.«
»Wir fragen uns, ob er das wirklich getan hat.«
»Er hat ›den Leuchter‹ mitgenommen.«
»Er hat mit Sicherheit einen Leuchter mitgenommen«, sagte Agrot.
Ich sagte: »Ach. Hm«, und zündete mir eine Zigarette an. Außer vielleicht dem echten Kreuz und dem echten Leichentuch Jesu war die echte Menora der Gegenstand in der Geschichte, um den sich die meisten Märchen und Legenden rankten. Gestalt und Größe entsprachen selbstverständlich den Anweisungen Gottes an Moses – im ältesten Legendenwerk der Geschichte, dem Pentateuch –, bis sie schließlich im Tempel Salomons aufgestellt wurde. Dank dieser Entstehungsgeschichte hatten ihr die Gläubigen schon immer magische Kräfte zugesprochen, unter anderem auch die der Unzerstörbarkeit. Mir war nie zu Ohren gekommen, daß Agrot besonders gläubig sei, und er schien mir auch für Märchen nicht sonderlich empfänglich. Ich sah ihn an. Noch immer lächelte er mild.
»Was beschäftigt Sie?« fragte er.
»Das, wovon Sie glauben, daß es mich beschäftigt.«
»Also gut, betrachten Sie es einmal so. Wenn vorstellbar ist, daß jemand eine Kopie angefertigt hat – und das ist eine ziemlich alte Vorstellung, älter als Titus –, dann könnte man erwarten, daß man es zu jener Zeit versucht hat. Die Zeiten damals waren gefährlich.«
»Stimmt.«
»Und deshalb hat jemand das Original vergraben.«
»Und jemand hat es aus diesem Grunde geklaut, kaum, daß er es gefunden hatte.«
»Ah«, sagte Agrot. »Das beschäftigt Sie also. Verstehe. Aber wir glauben, daß sie dort, wo sie war, noch niemand gefunden hat. Wir halten es für durchaus denkbar, daß sie noch immer dort ist, wo man sie hingebracht hat.«
»Wieso?«
»Nun, es gibt Gründe dafür«, wich Agrot aus. »Aber um die zu erfahren, müssen Sie mit nach Israel kommen.« Plötzlich fiel mir ein, daß ich, wenn man mich nicht hierhergebracht hätte, um mir diese Anhäufung von Fabelzeug anzuhören, vielleicht schon mit Lady Longrigg im Bett läge. Ob diese Chance je wiederkehren würde?
»Sie sehen besorgt aus«, sagte Agrot.
»Er hat ein paar Probleme«, erklärte Uri.
Ich sagte: »Ja. Hören Sie, Professor Agrot, obwohl ich natürlich gerne ...«
»Man hat mir gesagt, Sie seien jetzt selbst Professor.«
»So ist es. Und ich muß diese Abteilung aufbauen. Es ist eine neue Universität, und daher muß ich ...«
»Dr. Silberstein besorgt die Bücher«, fiel Uri dazwischen.
»Wie?«
»Dr. Silberstein. Der König aller Bücherbeschaffer. Dr. Silberstein besorgt die Bücher.« Er sagte das sehr zuversichtlich.
Ich nahm einen Zug von meiner Zigarette und sah ihn an. Dr. Silberstein war wirklich der König aller Bücherbeschaffer. Wenn ein Buch überhaupt besorgt werden konnte, so erledigte das Dr. Silberstein. Ich hatte ihn schon in Anspruch genommen. Ich hätte ihn auch diesmal wieder in Anspruch genommen, aber Dr. Silbersteins Bücher waren immer etwas teurer. Bei ihnen fehlte allerdings auch nie die Seite 64, und alle relevanten Errata-Blätter waren eingeklebt, selbst wenn Dr. Silberstein sechs Ausgaben aus sechs verschiedenen Ländern besorgen mußte, um für Vollständigkeit zu sorgen.
Ich fragte: »Und wie kommt Dr. Silberstein an die Bücher?«
»Wie kommt Dr. Silberstein überhaupt an Bücher?« fragte Uri mit großen Augen.
»Wieso besorgt er meine Bücher? Was hat er mit der Sache überhaupt zu tun?«
»Ich habe ihn hinzugezogen«, sagte Uri. »Ich habe ihm alles berichtet, was du mir erzählt hattest. Was die Bücher angeht, so brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen.«
Mir fiel auf, daß dieser Schuft nicht nur ungeheuer raffiniert und hartnäckig war, sondern auch ungeheuer aufdringlich.
»Wer hat dich darum gebeten?« fragte ich.
Uri senkte respektvoll den Kopf.
»Ich«, sagte Agrot. »Natürlich im Einvernehmen mit der Altertumsabteilung des Ministeriums für Erziehung und Kultur.«