Das Geheimnis der Mitternachtstöchter - Tanja Wekwerth - E-Book
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Das Geheimnis der Mitternachtstöchter E-Book

Tanja Wekwerth

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Beschreibung

Sie suchen einander schon ein Leben lang: Der Familiengeheimnis-Roman »Das Geheimnis der Mitternachtstöchter« von Tanja Wekwerth als eBook bei dotbooks. Das Band, das uns für alle Zeit verbindet … England in den 20er Jahren: In einer abgelegenen Pension an der Küste bringt eine junge Frau Zwillinge zur Welt – und verschwindet bald darauf. Die kleine April wird zur Adoption freigegeben, während ihre Schwester May in der Obhut der liebevollen Pensionswirtin aufwächst. Ohne voneinander zu wissen, haben die beiden Zwillinge ihr Leben lang das Gefühl, dass ihnen etwas fehlt. Selbst die Wirren des zweiten Weltkriegs und die Zeit des Neubeginns vermögen es nicht, diese Sehnsucht verblassen zu lassen. Aber gibt es für die Schwestern nach Jahrzehnten der Trennung wirklich noch die Chance auf ein Wiedersehen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: der gefühlvolle Roman »Das Geheimnis der Mitternachtstöchter« von Tanja Wekwerth. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 463

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Über dieses Buch:

Das Band, das uns für alle Zeit verbindet … England in den 20er Jahren: In einer abgelegenen Pension an der Küste bringt eine junge Frau Zwillinge zur Welt – und verschwindet bald darauf. Die kleine April wird zur Adoption freigegeben, während ihre Schwester May in der Obhut der liebevollen Pensionswirtin aufwächst. Ohne voneinander zu wissen, haben die beiden Zwillinge ihr Leben lang das Gefühl, dass ihnen etwas fehlt. Selbst die Wirren des zweiten Weltkriegs und die Zeit des Neubeginns vermögen es nicht, diese Sehnsucht verblassen zu lassen. Aber gibt es für die Schwestern nach Jahrzehnten der Trennung wirklich noch die Chance auf ein Wiedersehen?

Über die Autorin:

Tanja Wekwerth lebt und arbeitet in Berlin. Neben dem Schreiben widmet sie sich der Fotografie.

Bei dotbooks veröffentlichte Tanja Wekwerth ihre Romane »Die Zeit der Magnolien« und »Das Haus der Hebamme«.

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe November 2019

Dieses Buch erschien bereits 2009 unter dem Titel »Mitternachtsmädchen« bei Knaur Verlag, München, und 2014 bei dotbooks GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2009 Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Helen Hotson / mubus7 / sambhtharu / STILLFX

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95520-652-9

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Tanja Wekwerth

Das Geheimnis der Mitternachtstöchter

Roman

dotbooks.

Für Braelyn und Tegan

Prolog

Ein Mädchen ging über den Strand, weiter hinaus als jemals zuvor, um aus dem Blickfeld der anderen, der Ballspieler, Sonnenbadenden und Muschelsammler, zu gelangen. Es hatte etwas Wichtiges zu erledigen. In beiden Händen trug es eine Flasche – sorgsam –, sie durfte nicht zerbrechen, und immer wieder überprüfte es den versiegelten Korken. Im Inneren der Flasche befand sich ein zusammengerolltes beschriebenes Stück Papier, das mit selbstgemalten Blüten, Fischen und roten Sonnen verziert war.

»England, Küste von Kilborough, Sommer 1936

Liebe Schwester,

ich hoffe, Du hattest nicht zu viele Schwierigkeiten, die Flaschenpost zu öffnen. Das Wachs einer ganzen Kerze habe ich benutzt, damit mein Brief Dich trocken erreicht.

Du wirst Dich sicher wundern, auf diese Weise von mir zu erfahren, aber es erschien mir sinnvoll, das Meer, das uns trennt, als Transportmittel zu benutzen. Findig nennt mich Miss Moseley, meine Klassenlehrerin, aber sie meint es nicht nett. Die Sache mit der Flaschenpost ist wirklich ausgesprochen findig, würde sie sagen, wenn sie davon erführe. Aber selbstverständlich weiß sie es nicht. Niemand weiß davon. Außer Dir und mir. Und es wird nicht das erste von vielen Geheimnissen sein, meinst Du nicht auch? Ich habe Dir so viel zu erzählen.

Bist Du auch findig, liebe Schwester? Weißt Du auch oft im Voraus, was die Leute gleich sagen werden? Magst Du die Farbe Violett und Pavlova-Torte mit Erdbeeren? Welche sind Deine Lieblingstiere? (Meine Wale und Affen.) Hast Du oft schlechte Träume? Trägst Du Dein Haar lieber offen oder geflochten? Ich wette, offen.

Haha! Ich möchte zu gern das Gesicht von Miss Moseley sehen, wenn sie uns das erste Mal erblickt. Wir werden das Gleiche anziehen. Es wird nur noch uns beide geben und die anderen. Niemand wird uns jemals mehr trennen.

Ich habe eine Brosche aus Strass, die ich in einem der Zimmer fand. Sie funkelt wunderschön, und ich möchte sie Dir gern schenken.

Bitte melde Dich.

Ich warte auf Dich im Old Inn.

In Liebe, Deine Schwester May«

May sah sich noch einmal um, dann holte sie aus und schleuderte die Flasche so weit sie konnte hinaus aufs Meer. Sie hoffte auf die berüchtigte Strömung an dieser Stelle. Das Baden war hier gefährlich, und die Flaschenpost würde mitten hineingezogen werden in die Nordsee, würde auf Wellen reitend eine lange Zeit unterwegs sein und dann, eines schönen Tages, womöglich früh an einem sonnigen Morgen, die Schwester erreichen.

Voller Zuversicht drehte sich das Mädchen um. Es legte den Kopf in den Nacken und beobachtete lächelnd die Möwen. Zur selben Zeit löste sich ein Brocken Wachs vom Flaschenhals. Salziges Wasser begann den Korken zuzusetzen, dem die Kinderhand nicht genügend Halt gegeben hatte. Die ersten Tropfen gelangten zum Brief und verwischten die mit roter Tusche gemalten Sonnen. Mit der nächsten Welle sprang der Korken ab. Munter tanzte er auf den Wellen, während die Flasche voll mit Wasser auf der Stelle versank.

»England, Küste von Kilborough, Sommer 1941

Liebe Schwester,

dies ist die dreizehnte Flaschenpost, die ich Dir schicke.

Dreizehn soll eine Unglückszahl sein. Ich glaube nicht an diese Art von Unglück. Und Du? Ich kenne das Unglück besser. Es versteckt sich nicht in Zahlen oder schwarzen Katzen. Mit solchen Kleinigkeiten hält es sich nicht auf. Wenn es über einen kommt, dann wie ein Himmel aus Stahl, wie dieser Krieg, wie unsere Trennung.

Unsere Mutter erzählt mir immer die Geschichte von uns beiden. Inzwischen nicht mehr so oft, denn ich kenne sie zu gut. Wie wir gemeinsam im Brotofen lagen, Kopf an Kopf, und noch so viel Zeit brauchten, um zu wachsen, und wie wir beinahe verbrannt wären. Das nächste Mal werde ich Dir schreiben, warum wir die ›Mitternachtsmädchen‹ sind.

Klingt es nicht alles wie ein wunderschönes Märchen?

Ich vermisse Dich sehr, mit jedem Tag mehr. O bitte, erhalte diesen Brief und komm bald zu mir.

Ich warte auf Dich im Old Inn.

In Liebe, Deine Schwester May«

ERSTER TEIL

Kristall

Der sogenannte Speisesaal des Old Inn war bekannt für seinen atemberaubenden Ausblick aufs Meer, weniger für seine Küche, in der viel mit Mayonnaise und Frittiertes hergestellt wurde. Doch jeder Gast, der durch die schmalen, knarrenden Korridore des uralten Gemäuers in den strahlend hellen Raum gelangte, sollte im Voraus für versalzenes Mischgemüse und nicht steif genug geschlagene Sahne entschädigt werden.

Es grenzte an einen Augenblick wahren Zaubers, den Saal zu betreten, der einige Gäste an ein Stück vom Crystal Palace erinnerte, phantasievollere Menschen jedoch an eine Raumkapsel, über blauer Unendlichkeit schwebend.

Das strahlende Weiß von Tischdecken und Geschirr, das Leuchten von Silberbesteck, Wein- und Wassergläsern, das Funkeln eines mächtigen Kristall-Lüsters, der wie eine glimmende Qualle über allem hockte, bei stürmischem Wetter sacht hin und her schwankte und bei Sonnenschein Prisma-Funken wie Giftpfeile durch die Luft schoss, und dahinter das Blau des rauschenden Meeres, so nah wie eine majestätische Allmacht – für manch eine eintretende Seele war es einfach zu viel unerwartete Schönheit am Rande des Abgrunds.

Einmal, Molly konnte sich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen, war eine junge Frau in Ohnmacht gefallen, nachdem sie aus dem dunklen Flur in dieses Gleißen gekommen war. Vielleicht hatte es auch daran gelegen, dass die Sonne genau in dem Moment aus den Wolken gebrochen war, als sie ahnungslos den Raum betreten hatte, und als hätte jemand einen Schalter betätigt, begann alles gleichzeitig zu leuchten – das Geschirr, die Tischdecken, die Gläser. Der Kristall-Lüster schien geradezu in weißen Flammen zu stehen, während das tiefe Blau der Nordsee, einer Welle von Licht gleich, in den Speisesaal flutete und die junge Frau nur noch »O mein Gott!« rief und dann zu Boden sank.

Dort hatte sie einen Moment gelegen, um ihren Kopf ein Wirrwarr von Perlenketten und blonden Locken. Auf ihrer Stirn prangte wie ein Triumph des Kristalls ein zitternder, in allen Regenbogenfarben schillernder Abdruck eines vom Lüster abgeschossenen Pfeils. Dann war schon der Ehemann herangeeilt, mit erschrockenem Gesicht, und Molly hinterher, ein Glas Wasser in der Hand. Die junge Frau hatte sich aufrichten lassen und einen Schluck Wasser genommen, verlegen gelächelt, sich durch das Haar gestrichen und die Perlen geordnet. Alles war wieder gut, doch Molly war seit diesem Tag fest davon überzeugt, dass der Speisesaal des Old Inn tatsächlich ein ganz besonderer Ort war, an sonnigen Tagen sogar ein magischer.

Vornehmlich Kinder schienen empfänglich dafür. Wie Bienen brummten sie über den honigfarbenen Parkettboden und blieben immer wieder an den hohen Fenstern hängen und starrten sekundenlang aufs Meer hinaus, als wollten sie diesen Anblick niemals vergessen, als würden sie Kraft für den Rest ihres Lebens tanken. Dann lösten sie sich lachend von den blitzenden Scheiben, hinter denen Möwen kreischten, und hinterließen klebrige Fingerabdrücke, die Molly am Ende des Tages abwischen würde.

Etwas Originelleres als Old Inn hätten sich die Inhaber vor über zweihundertfünfzig Jahre wohl einfallen lassen können, dachte sie oft, und während sie fettige Spuren von plattgedrückten Nasen und toffeeverschmierten Händen mit Essiglauge entfernte, kamen ihr Namen wie Pension am Meer und Meeresjuwel in den Sinn (und einmal, nachdem sie mit Paul, dem Koch, den Rest einer übrig gebliebenen Sektflasche getrunken hatte, sogar Blaues Paradies), doch nichts schien das zu treffen, was Molly eigentlich ausdrücken wollte. Einen letzten Blick auf das dunkel gewordene Wasser werfend, musste sie zugeben, dass es den Begründern des Old Inn wohl genauso gegangen war und dass der Name aus diesem Grund auch der richtige war.

An einem sonnigen Vormittag im Spätsommer 1920 betrat ohne eine erkennbare Reaktion zu zeigen ein junger Mann den Speisesaal, kniff die Augen zusammen, sah sich kurz um und setzte sich dann mit dem Rücken zur Fensterfront an einen Tisch, der für eine Person gedeckt war.

»Bedienung!«, rief er, und Molly, die ihn beobachtend hinter einer Säule gestanden hatte, deren Nutzen sich keiner im Old Inn erklären konnte, trat hervor, strich sich die leicht gerüschte weiße Schürze glatt und brachte ihm voller Verachtung die Speisekarte.

»Guten Tag, Sir«, sagte sie ohne ein Lächeln. »Es ist noch ein wenig früh.«

Ohne sie anzusehen nahm er ihr die Karte ab. Molly spürte, wie sie rot vor Ärger wurde. Dieser Mann, Mr. Stocks, bewohnte seit einigen Tagen eines der vier Gästezimmer des Old Inn. Er hatte sich bereits mehrfach beschwert – über das zu harte Bett, einen Fleck an der Wand, die Zugluft und vor allem über die fehlende Aussicht.

»Ein Hotel am Meer und ein Blick in den mickrigen Garten!«, hatte er geschimpft und sich gar nicht vor Molly geniert, als er im Unterhemd, das Gesicht voller Rasierschaum, vor ihr stand, nachdem er ohne Unterlass geläutet hatte und sie deswegen die Frühstücksgäste vernachlässigen musste.

»Es gibt im Old Inn nur einen Raum mit Blick aufs Meer«, hatte sie mit vor Empörung zitternder Stimme gesagt und an ihm vorbei auf den Fleck an der Wand gesehen, »und das, Mr. Stocks, ist der Speisesaal.«

»Das sollten Sie dann aber auch in Ihren Katalog schreiben«, entgegnete er aufgebracht und deutete mit dem Rasierpinsel zum Fenster.

Es kam vor, dass sich Gäste über die fehlende Aussicht beschwerten.

»Es ist doch nicht so, dass die Aussicht fehlt«, sagte Molly dann jedes Mal sanft. »Sie haben einen wundervollen Blick in den Garten.«

Tatsächlich gingen alle Zimmer des Old Inn nach hinten in einen Garten hinaus, der von einer niedrigen Mauer aus Schiefersteinen umgeben war. Rosen und Wicken blühten im Sommer darin, und eine Holzbank stand unter einem Maulbeerbaum. Dahinter erstreckten sich grüne Weiden mit weißen Schafen und karamellfarbenen Kühen darauf, und ein Teil des Friedhofs war zu sehen und in seiner Mitte eine winzige graue Kirche, die Molly an eine versteinerte Muschel erinnerte.

Es war durchaus kein schlechter oder gar ein fehlender Ausblick. Es war lediglich nicht das Meer, das jeder, sobald er es gewittert hatte, für sich zu beanspruchen schien. Allerdings beruhigten sich die unzufriedenen Gäste in dem Moment, in dem sie den Speisesaal entdeckt hatten. Mit verträumtem Blick löffelten sie dann friedfertig ihre Suppen, verspeisten Konservengemüse und trockenes Rindfleisch und ließen sich nach dem Essen ein abschließendes Glas Portwein bringen, um noch ein wenig bleiben zu können und um, wie Molly es hinter der Säule stehend bezeichnete, die blaue Stunde willkommen zu heißen. Wenn der Tag in die Nacht floss und auch sonst alles zu fließen begann – das Gestern ins Morgen, die Erinnerung ins Vergessen, der dickflüssige Wein die Kehle hinab –, dann dämpften sich wie von selbst die Stimmen.

Mr. Stocks aber schien immun zu sein gegen den Zauber des Speisesaals, und deswegen begann Molly ihn aus tiefstem Herzen zu hassen. Dass sie der Grund für seine Aufenthalte sein könnte, darauf wäre sie nie gekommen. Beharrlich reiste er zwei- bis dreimal im Jahr für genau zehn Tage an, schimpfte über die Weiden und den Garten, missachtete das Meer, verschmähte die Nachspeisen und liebte Molly mit jedem Mal nur umso leidenschaftlicher.

Während er da war, krachte an einem stürmischen grauen Nachmittag eine Möwe gegen eines der Fenster des Speisesaals und hinterließ ein schmales Rinnsal Blut. Auf dem winzigen Rasenstreifen, der das Old Inn von den steil abfallenden Klippen trennte, fand Molly den toten Vogel. Schluchzend sank sie neben ihm in die Knie, richtete seinen merkwürdig verdrehten Kopf und strich immer wieder über das strahlend weiße Gefieder, bis es erkaltet war. Dann wickelte sie die Möwe in ihre Schürze und beerdigte sie im Garten unter dem Fenster von Mr. Stocks, dem sie unsinnigerweise die Schuld an diesem Drama gab und der noch am selben Abend abreiste, um nie wiederzukommen.

Er blieb der einzige Gast, auf den der Speisesaal des Old Inn keine Wirkung zeigte. Ein paar Monate (oder waren es Jahre?) gingen dahin, Paul wurde durch einen anderen Koch ersetzt und dieser wiederum durch einen anderen. Nur Molly blieb. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, woanders zu sein. Jeden Tag säuberte sie die vier Gästezimmer, bewirtete die Gäste im Speisesaal, putzte am Abend die Fensterfront und legte sich gegen Mitternacht in ihrer engen Kammer zur Ruhe, um am nächsten Morgen wieder aufzustehen und genauso weiterzumachen. Dass sie älter wurde, schien ihr nicht aufzufallen, vielleicht war es ihr auch noch nicht wichtig.

Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, als sie bemerkte, dass einige der Damen, die ab und zu nach ihr läuteten, um sich Korsetts schnüren oder das Collier im Nacken schließen zu lassen, sehr viel Aufhebens um ihr Äußeres machten. Auf den vier identischen Toilettentischen, die jeweils in den Zimmern unter dem Fenster standen, reihten sich Töpfchen und Tiegel aneinander, gefüllt mit nach Rosen duftender Creme. Tuben mit Wangenrouge und schwarze Tuschesteine lagen herum, dazwischen Puderdosen mit dicken Quasten und gläserne Parfumflakons.

Während die Damen mit ihren Ehemännern nach dem Frühstück einen Spaziergang am Strand unternahmen, schnupperte Molly an all diesen Dingen. Zaghaft berührte ihre Zeigefingerkuppe die rosafarbene Hautcreme, die sie, kaum vorhanden, auf ihrem Handrücken verteilte, und einen Augenblick nachdenklich verharrend wartete sie auf ... Sie wusste es selbst nicht, vielleicht auf ein Wunder. Doch nichts geschah mit ihrer Hand, sie duftete nur zart nach Blüten, und sobald die Gäste abgereist waren, waren auch die Frisiertische wieder leer geräumt und wurden von ihr gründlich abgewischt. Sie entfernte liegengelassene Muscheln und daraus rieselnden Sand, ein paar lange Haare und Talkumpuderreste, weiß wie Schnee, damit neue Gäste eintreffen und ihre Habseligkeiten abstellen konnten. Und diese dauernde Abfolge von An- und Abreisen, von gedeckten und abgeräumten und wieder gedeckten Tischen kam Molly wie ein Sinnbild des ewigen Lebens vor. Menschen kamen, Menschen gingen, wie Ebbe und Flut, nur Molly blieb, und manchmal fühlte sie sich deswegen unsterblich.

Sie wusste, dass sie etwas Besonderes war, nicht nur, weil ihre Mutter es ihr immer wieder gesagt hatte, sie wusste es einfach, und auch die Tatsache, dass sie an einem so wundervollen Ort wie dem Old Inn leben durfte, bestärkte sie in dieser Überzeugung – sie war gesegnet.

»Kleine Molly Linda Victoria Steward, du bist ein Segen!« Diesen Satz hatte sie in ihrer Kindheit täglich gehört, während die nicht mehr junge Mutter ihr immer wieder über die rötlichen Haare strich.

1899 geboren zu sein hätte alles anders gemacht, aber ein kleines Mädchen, das am ersten Januar 1900 wenige Minuten nach Mitternacht mit engelhaften Locken und einem Lächeln auf die Welt gekommen war, erschien Mrs. Steward wie eine Himmelsbotschafterin, ein segenbringendes Geschöpf, das über den Verlust des Ehemannes hinwegtrösten würde.

Mollys Vater war an einem stürmischen Nachmittag mit seinem Fischerboot an die Klippen von Enderby Rocks geschmettert worden. Sein Leichnam wurde eine Woche später an den Strand gespült. Acht Monate danach kam Molly auf die Welt. Sie wuchs in einer kleinen Hütte am Meer auf, nicht weit entfernt von der Stelle, wo der ertrunkene Mr. Steward gefunden worden war.

Stets unendlich viele Schattierungen von Blau, Grau und Grün vor Augen und das Branden der auf nassem Sand leckenden Wellen, all das ersetzte Molly auf verschwommene, diffuse Weise den Vater, und so vermisste sie ihn nie. »Horch«, sagte die Mutter jede Nacht, »das Meer spricht.«

Es gab nicht viel Geld. Mollys Mutter ging jeden Tag im benachbarten Manor House die Fußböden scheuern und verkaufte auf den Wochenmärkten der umliegenden Dörfer selbstgehäkelte Topflappen und Kopfbedeckungen. Beides sah sich erstaunlich ähnlich. Molly besuchte eine kurze Zeit die Schule.

Dann kam der Krieg. Mollys Mutter wirkte plötzlich alt und müde. Eines Wintermorgens legte sie sich ihren dunkelblauen Wollumhang um die Schultern, verließ die Hütte und machte sich auf den Weg zum Old Inn. Dabei stemmte sie sich mit aller Kraft gegen den eiskalten, salzigen Wind, der versuchte, sie an den Haaren zurückzureißen, und wütend nach ihrem Umhang griff. Wenig später erreichte sie das alte Gemäuer, das wie ein dunkles Tier auf den Felsen hockte. Sie stellte sich kurz an das Feuer, das in der Eingangshalle brannte, dann sprach sie mit Mr. und Mrs. Mill, den Eigentümern des Old Inn. Sie hatte lange im Voraus um dieses Gespräch gebeten, und man wurde sich schnell einig. Molly sollte noch in der kommenden Woche als Stubenmädchen (den Begriff »Mädchen für alles« ersparten die Mills der frierenden alten Frau) ihre Arbeit im Old Inn aufnehmen und ein kleines Gehalt beziehen. Sie würde dort wohnen und täglich eine warme Mahlzeit zu sich nehmen. Außerdem hatte ihre Mutter noch auf zwei Tassen Tee am Nachmittag bestanden, bevor sie sich erleichtert verabschiedete. Und damit hatte sie wohl all ihre Aufgaben auf dieser Welt erfüllt, hatte genug Topflappen und Häkelhütchen produziert und Molly auf den richtigen Weg gebracht. Sie starb auf die stille und bescheidene Weise, in der sie auch gelebt hatte.

Ihr blieben die Zeppelinangriffe der Deutschen erspart und all die schauerlichen Details um die Seeschlacht am Skagerrak, die sie sehr bewegt hätten. Leider konnte sie auch ihre einzige Tochter in gestärkter weißer Schürze im sonnigen Speisesaal Suppe servierend nicht mehr erleben. Dieser Anblick hätte sie sicherlich mit Stolz erfüllt, doch ihre Zeit war vorüber, und das hatte sie erkannt.

Molly war gerade erst fünfzehn Jahre alt geworden, als sie eine Handvoll Erde in das offene Grab ihrer Mutter fallen ließ, das neben dem ihres Vaters lag. Vier Frauen aus dem Dorf waren zur Beerdigung gekommen. Sie standen wie stumme, vom Wind zerzauste Krähen auf dem Friedhof, der sich voll mit grün angelaufenen Kreuzen und Steintafeln dem aufgewühlten Meer zuneigte. Eine rote Rose ließ Molly noch auf den Sargdeckel fallen, dann griff der Totengräber schon nach seiner Schippe, schaufelte zügig das Grab zu, trat die Erde fest, machte ohne seine Kopfbedeckung abzunehmen eine Verbeugung vor ihr und ging.

Die Dorffrauen legten stumm einen selbstgewundenen Kranz aus Weidenruten nieder, dann schüttelten sie ihr mit langen Gesichtern die Hand und folgten dem Totengräber. Die Zeremonie war beendet. Hoch in der Luft schrie eine Möwe. Kurz fühlte Molly, dass sie unter der Wucht des Schmerzes zusammenbrechen wollte, doch dann stieg sie den schmalen Pfad vom Friedhof über Hunters Weiden an den Klippen vorbei hinauf zum Old Inn, wo das Ehepaar Mill bereits wartete, um sie hastig einzuweisen und anschließend trotz der Kriegsgefahr sofort wieder nach London zurückzukehren. Die kränkliche Mrs. Mill vertrug den Wind so schlecht.

Von der Beerdigung ihrer Mutter kommend, nahm Molly mit fünfzehn Jahren am fünfzehnten Januar 1915 ihre Arbeit im Old Inn auf.

Den Bombenangriff auf London vier Tage später überlebten die Mills nur knapp, sonst wäre vielleicht alles anders gekommen, aber so blieb es wie von Mollys Mutter arrangiert, und da sich die Mills nur selten blicken ließen, fühlte sich Molly schon bald als die eigentliche Besitzerin des Old Inn, eine rothaarige Prinzessin am Meer.

Sie war gesegnet.

Stimmen

Mary Freeman war die Sorte von Frau, die sofort den Frisiertisch mit Kosmetikartikeln vollstellen und beim Betreten des Speisesaals entzückt eine Hand vor den Mund schlagen würde. Ihren Tee würde sie pünktlich um sechzehn Uhr nehmen wollen, ohne Gebäck. Molly glaubte all das bereits zu wissen, während sich das Ehepaar Freeman ins Gästebuch eintrug – Bryan und Mary.

Er schrieb mit links, sie tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und schob ihren feuchten Hut, der sie zu stören schien und der mit einer Nadel an ihrem aufgesteckten Haar befestigt war, ein wenig aus der Stirn.

Sie neigt zu Kopfschmerzen und wird sich bald ein Aspirin bringen lassen, dachte Molly amüsiert, und als sie beobachtete, wie das Ehepaar Freeman hintereinander (er mit den Koffern voran, sie immer noch ihren Hut malträtierend) wortlos die Treppe nach oben stieg, war sie davon überzeugt, dass die beiden, obwohl noch jung, schon lange verheiratet waren und blütenweiße Laken hinterlassen würden.

Es wurde nach Molly geläutet, als sie gerade einem früh zu Abend essenden Herrn im Speisesaal eine Fischsuppe servierte.

Ah, das Aspirin, hatte sie gedacht.

Es gab im Haus nur diese drei Gäste, denn es war November, kühl und bewölkt. Das Meer schien gereizt. Molly machte sich sofort auf den Weg über den leicht abschüssigen Korridor – einmal hatten Kinder dort ihre gläsernen Murmeln hinunterrollen lassen und gar nicht genug bekommen von diesem merkwürdigen Spiel –, stieg die drei ausgetretenen, ihr so wohlbekannten Stufen hinab und erreichte nach einer kaum merklichen Linkskurve den Korridor, von dem die vier Gästezimmer abgingen. Die Türen waren mit den Zahlen Drei, Vier, Fünf und Sechs versehen. Warum gerade diese Zahlen gewählt worden waren – warum nicht einfach Eins, Zwei, Drei, Vier? –, war immer ungeklärt geblieben. Man hatte es so übernommen, und als vor einigen Jahren die Türen gestrichen worden waren, hatte der Maler die Messingzahlen abgeschraubt und sie nach Beendigung seiner Arbeit sorgfältig wieder angebracht.

Molly lauschte kurz, dann klopfte sie, und als sich die Tür mit der Nummer Drei öffnete, sah sie sich dem kleinwüchsigen Mr. Freeman gegenüber. Sie war ein wenig beschämt, denn er trug einen seidenen Morgenrock, der oben offenstand und eine üppige dunkle Brustbehaarung preisgab. Deshalb blickte Molly rasch über seine Schulter hinweg in den Raum hinein. Auf dem Frisiertisch sah sie goldene Ovale leuchten, die sie kurz für Ohrringe hielt, doch es waren eindeutig Manschettenknöpfe, und daneben lagen sein Binder und eine Handvoll hingeworfener Zigarren. Die gesamte Tischplatte schien dominiert von diesen wenigen männlichen Gegenständen, die in merkwürdigem Widerspruch zu Mrs. Freemans Tuben, Tiegeln, Hutnadeln und Perlenketten standen.

Ohne sich umzudrehen saß Mrs. Freeman mit kerzengeradem Rücken auf einem kleinen Hocker vor dem Frisiertisch und rauchte. Plötzlich trafen sich die Blicke der beiden Frauen im Spiegel, und Molly erschrak, denn ihr wurde bewusst, dass sie für Sekunden beobachtet worden war. Mrs. Freeman musste ihren ausweichenden Blick über die Schulter ihres zu klein geratenen Mannes, das blitzschnelle Zucken ihrer Augen über die Gegenstände auf dem Toilettentisch und schließlich ihr zaghaftes Eintreten, den Knicks, womöglich auch das Feuerwerk ihrer Gedanken im Spiegel zur Kenntnis genommen haben, und ohne dass sie es verhindern konnte, lief Molly dunkelrot an. Sie fühlte sich ertappt, daran war sie nicht gewöhnt. Wenn sie Schubladen öffnete, um blitzschnell mit flinken, sauberen Fingern ihre Inhalte durchzusehen, hinterließ sie stets alles auf den Millimeter so, wie sie es vorgefunden hatte. Sie überflog Tagebücher, während die Verfasser ahnungslos im Garten unter dem Maulbeerbaum saßen, und Briefe, deren Adressaten gerade am Strand spazierten oder die Ruinen des mittelalterlichen Klosters in den Dünen besichtigten.

Endlich drehte sich Mrs. Freeman um. Auch sie trug wie ihr Mann einen Morgenrock, doch der ihre war nicht blau-schwarz kariert, sondern mit bunten Blumen übersät. Sie stand auf, zog noch einmal an ihrer Zigarette, dann sah sie Molly in die Augen.

»Wir möchten auf dem Zimmer essen«, sagte sie Rauch ausstoßend, nicht unfreundlich, aber auch nicht herzlich. »Lachs mit Reis und Erbsen, wie es auf der Karte steht, und eine Karaffe französischen Weißwein dazu.« Molly verschlug es die Sprache. Noch nie hatte jemand freiwillig darauf verzichtet, im Speisesaal zu essen, höchstens eine kranke Person, die nach Haferschleim und warmem Kamillentee verlangte und untröstlich gewesen war. So krank musste man sein, wenn man sich den Speisesaal entgehen ließ.

»Sehr wohl«, flüsterte Molly, und als sie beim Verlassen des Zimmers bemerkte, wie zerwühlt das Bett war, musste sie erschüttert zugeben, dass sie mit ihren Einschätzungen gründlich danebengelegen hatte. Sie stolperte den Korridor entlang, konnte nicht aufhören, den Kopf zu schütteln, vergaß die leer gelöffelte Suppenschale des einsamen Herrn im Speisesaal abzuräumen und stürzte in die Küche, wo der Koch Rupert gerade Lammkoteletts briet.

»Wo steckst du?«, fragte er und sah erstaunt in ihr immer noch rot glühendes Gesicht.

»Zweimal Lachs mit Reis und Erbsen aufs Zimmer«, rief Molly empört, und als wäre das Trinken eines französischen Weins an englischer Küste der Gipfel an Unverfrorenheit, musste sie sich kurz setzen, bevor sie auch diese Bestellung an den Koch weitergeben konnte. Ihr Herz schlug heftig.

Etwas war geschehen, etwas war übers Meer gekommen oder über die Wiesen, vielleicht auch vom Friedhof, war hereingeweht ins Old Inn, und Molly vermochte nicht zu sagen, ob es ein Verhängnis oder etwas Gutes war, doch sie vermutete Ersteres.

Der geduldig wartende Herr im Speisesaal, der lange die bräunlichen Reste der im Suppenteller antrocknenden Fischsuppe beobachtet und hungrig den Duft der bratenden Lammkoteletts wahrgenommen hatte, hieß Walter Ronald Scott. Wenn er reiste, führte er in seinem Gepäck stets Sir Walter Scotts Werk Ivanhoe mit sich, und in törichter Anwandlung ließ er es auf seinem Nachttisch liegen oder spazierte, das Buch sichtbar unter den Arm geklemmt, durch die Gegend. Vorschnell machte er sich mit allen möglichen Leuten bekannt. Damit hoffte er, in Verbindung mit dem großen schottischen Schriftsteller gebracht zu werden, den er bewunderte, und es erschien ihm mehr als ein Zufall, dass er denselben Namen trug, zwar ohne Titel, aber immerhin.

»Lassen Sie mich mich vorstellen«, sagte er eines Tages sogar zu einer Metzgerin, als er in ihrem Geschäft einige Blutwürste bezahlen wollte und dafür Ivanhoe umständlich auf dem Tresen abgelegt hatte. »Walter Scott.«

»Macht einen Shilling, Mr. Scott«, erwiderte die Frau freundlich und legte das Paket mit den Würsten auf Sir Walter Scotts Roman, was den leibhaftigen Mr. Scott vor Schreck und jäh aufflammender Wut erbeben ließ. Ungebildetes Fleischersweib, dachte er, und mit diesen unfreundlichen Gedanken verließ er im Laufschritt den Laden, das Wurstpaket zurücklassend, Ivanhoe ans Herz gedrückt, um am Nachmittag hungrig und verzweifelt ein Gedicht über den Verfall der englischen Kultur zu verfassen.

Er schrieb täglich Gedichte, und sogar einen Roman hatte er begonnen, in dem es um eine schöne Frau ging, die arm und verlassen im Wald lebte und sich in einen Ritter verliebte, der manchmal sein Pferd an ihrem Brunnen tränkte. Die Gebieterin des Waldes hatte er diesen seinen ersten Roman genannt, und er war bereits dabei, die hundertste Seite eines Heftes zu beschreiben.

Unverheiratet lebte Walter Scott gut von der Erbschaft seiner Eltern. Er bewohnte allein ein recht unbescheidenes, geräumiges Haus in Devon und konnte sich aus diesen Gründen ganz seiner Liebe zum Schreiben widmen. Einige Gedichtbände hatte er bereits auf eigene Kosten in blassblaues Leinen binden lassen. Er betete – und das tat er tatsächlich, denn er war ein gläubiger Mann –, dass Die Gebieterin des Waldes ihm zu seinem schriftstellerischen Durchbruch verhelfen würde.

Hoffnungsvoll war er ins Old Inn gekommen. Freunde hatten ihm diesen Ort empfohlen, »sehr inspirierend« hatten sie gesagt und von den Klippen geschwärmt. Hier würde er alle Voraussetzungen finden, weitere hundert Seiten zu verfassen, hier würde er sich der düster gestimmten Natur aussetzen, um sich in ebendieser Gemütsverfassung zu versenken, denn er plante, die Gebieterin des Waldes, der er den Namen Rowena gegeben hatte, sterben zu lassen. In seinem gemütlichen Haus war ihm das jedoch bisher nicht gelungen. Die Worte klangen alle falsch. Eine herausgerissene Seite nach der anderen war zusammengeknüllt ins knisternde Kaminfeuer zu seinen Füßen geworfen worden, bis Walter das Gefühl bekommen hatte, nie mehr schreiben zu können. Aus seiner Feder flossen nur noch Banalitäten, und er war in tiefe Trauer gefallen.

Aus dieser Trauer hoffte er nun erlöst zu werden. Abwartend saß er im Speisesaal, allein, noch immer recht hungrig, denn die Fischsuppe hatte ihn nicht gesättigt, und blickte sich eine Weile um in diesem hohen, luftigen Raum. Dann schob er den Suppenteller von sich, trommelte mit den Fingerspitzen auf der weißen Tischdecke und überlegte gerade, ob er sich in irgendeiner Form bemerkbar machen sollte, denn es könnte ja sein, dass man ihn vergessen hatte, da war Molly an ihm vorbei in die Küche geeilt. Wie verhext hatte er sie angestarrt. Sie hatte es gar nicht bemerkt, war nur mit rot angelaufenem Gesicht weitergerannt, und dass es wahrhaftig nicht ihre Art war, Gäste im Speisesaal vor nicht abgeräumtem Geschirr und Essensresten sitzenzulassen, das konnte Walter nicht wissen. Trotzdem war er hingerissen von Molly.

»Zweimal Lachs mit Reis und Erbsen aufs Zimmer!«, hörte er sie aus der Küche rufen, und erschüttert fragte er sich, warum er den Liebreiz ihrer Gestalt nicht viel früher bemerkt hatte, bereits als sie ihm den Zimmerschlüssel Nummer fünf überreicht und wenig später seinen Lunch serviert hatte. Er konnte es sich einfach nicht erklären.

Kurz darauf stand sie wieder vor ihm, strahlend schön wie eine Rose, räumte das benutzte Geschirr ab und brachte ihm seine Lammkoteletts, die ein wenig zu scharf angebraten waren, aber Walter bemerkte es gar nicht. Er aß geistesabwesend, und immer, wenn er die Küchentür klappen hörte, fuhr sein Kopf in die Höhe. Er bestellte sich noch eine Flasche Bier und wenig später eine weitere und ein Stück Butterscotch-Kuchen (Rupert war ein Koch, der sich auf Nachspeisen verstand), und jedes Mal versuchte er Molly ein paar Worte abzuringen, doch sie schien mit den Gedanken woanders zu sein. Nachdem er sich eine Tasse Kaffee hatte kommen lassen, stopfte er sich seine Dublin-Pfeife und gab sich eine Weile dem Genuss seiner persönlichen Tabakmischung hin. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er, wie die duftenden hellen Rauchschwaden aufstiegen und wie Federn auseinanderglitten.

Spät in derselben Nacht, als Walter schlaflos im Bett lag, beschrieb er in seinem Tagebuch ausführlich, wie »betörend« die rötliche Flut von Mollys Haar, das Grün ihrer Augen und ihre Sommersprossen auf ihn gewirkt hatten, und dann konnte er überhaupt nicht mehr schlafen, was auch seinem völlig überforderten Magen zuzuschreiben war.

Auch Molly lag in dieser Nacht wach. Sie sah immer wieder Mrs. Freeman in ihrem geblümten Morgenrock vor sich, dessen Muster sie an einen Teekannenwärmer erinnerte. Sobald sie die Augen schloss, erschienen wieder der Frisiertisch mit den unterschiedlichsten Sachen, das zerwühlte Bett, der Tiegel Trumper's Haarpomade auf dem Fußboden neben einer schwarzen Herrensocke und Rauch, jede Menge Rauch.

Molly hatte diesem merkwürdigen Paar, von dem sie inzwischen annahm, dass es gar nicht verheiratet war, jedenfalls nicht miteinander, das Abendessen auf einem Tablett serviert und war dann noch einmal wiedergekommen, um eine Weinkaraffe und zwei Gläser zu bringen.

»Wann möchten Sie morgen frühstücken?«, hatte sie gefragt und sich bemüht, ihrer Stimme einen desinteressierten Klang zu geben.

»Wir werden sehen«, antwortete Mr. Freeman abweisend. »Wenn wir so weit sind, läuten wir.« Dann hatte er die Tür hinter ihr geschlossen.

Nun lag Molly im Bett und dachte darüber nach, was er gemeint haben könnte. Warum wollten sie läuten? Sie könnten doch einfach hinunter in den Speisesaal kommen, dem Duft von Kaffee und gebratenen Eiern folgen, wie es all die anderen Gäste sonst auch immer taten.

Molly lauschte in die Nacht. Der Wind hatte sich davongeschlichen und eine merkwürdige Ruhe hinterlassen. Das Rauschen der Wellen klang wie verlangsamt an ihr Ohr. Im Haus war alles ruhig. Diese Stille reizte sie dermaßen, dass sie sich erhob und ohne sich etwas überzuwerfen ihre Kammer verließ.

Mit nackten Füßen schlich sie in den Speisesaal. Dort stellte sie sich an die Fensterfront. Ein halber Mond schwamm über dem Meer, das wie eine träge Masse quecksilbrig vor ihr lag. Kaum Wellenschlag, nur kalte Lichtstreifen und Gleichgültigkeit. Weit hinten glaubte Molly die Silhouette eines Schiffes zu erkennen, doch sie war sich nicht sicher. Es hätte auch ein Ungeheuer sein können, das aus den Tiefen heraufgekommen war.

Als sie sich umdrehte, sah sie auf dem Tisch, an dem der einsame Herr so lange gesessen hatte, noch dessen Pfeife liegen, im dunklen Raum nicht mehr als ein undeutlicher Fleck, doch sie erkannte die Umrisse sofort. Die Pfeife von Mr. ... Wie hieß er noch gleich? Mr. Scott. Merkwürdiger Kauz, war trotz des feuchten und kühlen Wetters hinausgegangen. Recht stattlich sah er aus – groß gewachsen, das dichte graue Haar zurückgekämmt, ein gepflegter Schnauzbart im Gesicht, und seine wässrigen hellblauen Augen blickten durch eine rundliche Brille. Er war am Vormittag angereist, hatte wenig später mit einem Buch unter dem Arm den Speisesaal betreten und war, obwohl die Sonne nicht schien, voller Bewunderung zusammengezuckt. Nachdem er eine Weile am Fenster gestanden und aufs graue Meer geblickt hatte, so wie es meist nur die Kinder taten, hatte er sich seufzend – fast war es ein Stöhnen – umgedreht und an dem runden kleinen Tisch Platz genommen, direkt unter dem Kronleuchter, wo einst immer Mr. Stocks gesessen hatte.

Mit der Pfeife in der Hand stand Molly frierend in der Dunkelheit, und wohl wissend, dass es ein jämmerlicher Vorwand war, sich mitten in der Nacht den Gästezimmern zu nähern, um einem vergesslichen Gast seine Habseligkeiten hinterherzutragen, tat sie es.

Sie schlich den schrägen Korridor entlang, stieg die drei Stufen hinunter, bog lautlos links ab und stand kurz darauf vor dem Zimmer Nummer fünf, in dem sich schlaflos Mr. Walter Scott befand. Molly lauschte kurz. Alles war still, wie erwartet.

Dann tat Molly das, wonach sie sich die ganze Nacht gesehnt hatte – sie ging ein paar Schritte zurück und legte ihr Ohr an die Tür Nummer drei. Sie hörte ein knarrendes Geräusch – jemand lief über die Dielen –, und dann fiel Licht unter dem Türspalt hindurch, direkt auf ihre nackten Füße. Molly schreckte zurück, aber nichts weiter geschah.

Sie hörte die Stimme von Mr. Freeman, die erregt klang, obwohl er offenbar versuchte, sie zu dämpfen. Molly konnte nicht verstehen, was er sagte. Vor Anspannung begann sie zu zittern, und dann vergaß sie ihre Würde und bückte sich – ihre Hände umklammerten noch immer die Pfeife von Mr. Scott –, um durch das Schlüsselloch zu spähen und den ersten nackten Mann ihres Lebens zu sehen.

Vor dem Frisiertisch stand splitternackt, als wäre nichts dabei, Mr. Freeman und strich sich über seine behaarte Brust. Voller Entsetzen fuhr Molly in die Höhe. Nur mit großer Mühe unterdrückte sie einen Schrei, und bei dem Versuch, sich beide Hände vor den Mund zu pressen, ließ sie die Pfeife fallen, die polternd zu Boden ging.

Panisch ergriff Molly die Flucht. Sie rannte den dunklen Flur hinauf, durch den Speisesaal hindurch, zurück in ihre Kammer neben der Küche, wo sie die Tür hinter sich zuknallen ließ, sie verschloss und aufschluchzend in ihr Bett kroch. Der arme Mr. Freeman, dachte sie immerzu, der arme Mr. Freeman. Was für ein abscheuliches Gebilde ihm gewachsen war. Es war kein Wunder, dass er, dermaßen gestraft, sein Zimmer nicht verlassen wollte. Doch noch während all diese Gedanken durch Mollys Kopf wirbelten und durch ihr Fenster der allererste, kaum merkliche Hauch des neuen Tages fiel, wusste sie tief in ihrem Innersten, dass mit Mr. Freeman alles in Ordnung war und dass das, was sie durch das Schlüsselloch gesehen hatte, keineswegs entartet war, sondern männlicher Natur entsprach.

Molly konnte in dieser windstillen Nacht nicht mehr schlafen, so sehr schämte sie sich für das, was sie gesehen hatte, für Mr. Freeman, für sich selbst und für die ganze Welt. Und für ihre Mutter, schoss es ihr durch den Kopf, denn mussten all diese unaussprechlichen Dinge von Wucherungen und Löchern im Leib nicht miteinander zusammenhängen? Molly keuchte vor Ekel, und als hätte es nicht bereits genug Schrecknisse gegeben, fiel ihr die Pfeife wieder ein, die, zerbrochen wahrscheinlich, noch immer vor der Tür der Freemans liegen musste. Molly konnte keinen klaren Gedanken fassen, nur den, dass sie um nichts in der Welt noch einmal zu dieser verfluchten Zimmertür zurückkehren würde, hinter der ein schamloser nackter Mann herumlief und gewiss sonderbare Dinge anstellte, womöglich mit der verderbten Frau, die unschuldige Leute in Spiegeln beobachtete und die vielleicht in genau diesem Augenblick ebenso triebhaft miaute und sich ihren Bauch am Fußboden rieb wie die Katzen, die in unseligen Nächten wie diesen um die Müllkübel des Old Inn schlichen, nicht nur, um dort die Fischabfälle zu fressen.

Als Rupert um sechs Uhr früh in den Speisesaal trat, hatte Molly bereits das gesamte Silber poliert. Nur eine dünne Schicht hatte sich auf den Tee- und Kaffeekannen befunden, und dennoch hatte Molly sie alle energisch gerieben, war wieder und wieder mit dem Lappen über die Tüllen und dicken Bäuche gefahren und hatte sich dann das Besteck vorgenommen.

Rupert trug zwei Körbe. In dem einen befanden sich Eier, Brote und Weißkohl, der andere war bis zum Rand gefüllt mit Austern.

»Morgen, Molly«, grüßte er freundlich.

Doch Molly war noch zu verstört, um zu antworten. Sie hielt den Kopf gesenkt, da sie wusste, dass sie Rupert auf die Hose starren würde, denn auch er war ja ein Mann. Darüber hatte sie noch nie nachgedacht. Auch Mr. Mill war einer und der Milchmann und – hier schloss sie kurz die Augen – der Pastor.

»Pfui!«, stieß sie hervor. »Pfui, pfui, pfui!«

Achselzuckend ging Rupert in die Küche und machte sich seine eigenen Gedanken. Erst als die Tür hinter ihm zufiel, blickte Molly auf.

»Guten Morgen, Rupert«, flüsterte sie versöhnlich in Richtung Küchentür. Schließlich konnte er ja nichts für sein Geschlecht, wenn er ihr auch entsetzlich leid dafür tat.

Rupert ahnte nichts von Mollys wilden Gefühlen, und gutgelaunt begann er Eier aufzuschlagen.

Als Mr. Scott zwar müde, aber mit dem Herzen eines Zwanzigjährigen in den Speisesaal kam, roch es bereits nach gebratenem Speck und Kaffee. Darüber schwebte der köstliche Duft des Meeres, den die Menschen, die an den Küsten lebten, wohl gar nicht mehr wahrnahmen. Auf Walter Scott wirkte dieser Duft höchst inspirierend, appetitanregend, stimulierend. Seine Freunde hatten recht gehabt. Es war gut gewesen, hierherzukommen, selbst wenn der Himmel wolkenverhangen war. Etwas wie zitternde Erwartung lag in der Luft, die Walter das letzte Mal als kleiner Junge kurz vor Weihnachten erlebt hatte. Er wusste nichts von Mollys nächtlicher Entdeckung und dass er keinen schlechteren Zeitpunkt für die Offenbarung seiner zärtlichen Gefühle hätte wählen können. So setzte er sich in aufgeräumter Stimmung an seinen Tisch unter dem Kristall-Leuchter und wartete. Aus der Küche klangen zischende Geräusche. Walter lehnte sich auf dem Stuhl zurück, schloss die Augen, um sich diesem herrlichen Wirrwarr an Gerüchen, Geräuschen und Gefühlen hinzugeben, und als er sie wieder öffnete, blickte er direkt in das sommersprossige Gesicht von Molly, die abwartend vor ihm stand.

»Guten Morgen, Sir«, sagte sie höflich, ohne zu lächeln. »Was möchten Sie frühstücken?«

Walter bestellte gebratene Eier mit Würstchen, Bohnen und Speck, gebutterten Toast und gegrillte Tomaten. Schon lange hatte er nicht mehr einen so großen Appetit verspürt, und außerdem wollte er ein angenehmer Gast sein, und als kurz darauf der üppig gefüllte Teller von Molly vor ihn hingestellt wurde, hätte er beinahe vor Freude gejubelt, so perfekt erschien ihm die Anordnung der Speisen auf dem weißen Porzellan, so gelb leuchteten die Eidotter, so rostbraun der Speck.

»Wunderbar, wunderbar!«, rief er und rieb sich die Hände, während er auf den Teller blickte, als wäre er ein Kunstwerk. Molly nickte verwirrt. Es gibt Momente im Leben, die sind magisch, dachte Walter selig und spießte eine Bohne auf seine Gabel. Und dieser hier war zweifelsohne einer. Molly brachte eine Kanne Kaffee, und bevor sich Mr. Scott auch darüber begeistern konnte (immerhin war die Kanne gerade erst überaus gründlich poliert worden), verschwand sie schnell wieder in der Küche, wo sie mit Rupert zu streiten begann, weil er nicht bereit war, zum Zimmer der Freemans zu gehen und nach den Frühstückswünschen zu fragen.

Unterdessen aß Walter genussvoll. Zwischen den Bissen blickte er aufs Meer hinaus und wischte sich immer wieder mit der Serviette über den Schnurrbart. Es wäre ihm unerträglich gewesen, mit Molly (die er auf eine kleine Autofahrt entlang der Küste einladen wollte) zu sprechen und dabei Eigelbreste oder Kaffeetropfen in den Schnurrbarthaaren hängen zu haben. Also öffnete er seinen Mund übertrieben weit, balancierte auf der Gabelspitze winzige Häppchen hinein und versuchte mit geschürzten Lippen zu trinken, was sich als schwierig – und vor allem zu lautstark – erwies.

Molly hatte sich hinter die Säule gestellt und wartete ungeduldig auf das Eintreffen der Freemans oder auf ein Läuten, doch nichts geschah, nur Rupert fluchte in der Küche. Mr. Scott, so beobachtete sie erstaunt, machte merkwürdige Grimassen beim Essen, als täte ihm etwas weh. Dann begann ganz sacht der Kronleuchter zu schwingen. Der Wind war zurückgekehrt. Beunruhigt blickte Walter in die Höhe. Über ihm klirrte es bedrohlich. Er hatte zu viel gegessen, und der fette Speck lag ihm schwer im Magen.

»Würden Sie ...«, quoll es aus seinem Mund, denn er hatte Sorge, dass Molly wieder verschwinden würde, sobald sie sein Geschirr abgeräumt hatte, doch noch stand sie vor ihm, seinen säuberlich leer gegessenen Teller in der einen, seine Tasse in der anderen Hand haltend, »... mit mir und dem Automobil fahren wollen?« Ungläubig hörte er seine ungeschliffenen Worte widerhallen. Molly starrte auf einen Krümel, ein Brotkrümel musste es sein, der sich in Walters Schnauzbart verfangen hatte.

»Ich habe Arbeit«, sagte sie abweisend, doch auf einmal rührte sie dieser vorwitzige kleine Krümel, der wie ein leuchtender Sonnenkäfer in grauem Gestrüpp saß und neben der Tatsache, dass sie noch nie in ihrem Leben in einem Auto gefahren war, dazu beitrug, dass sie es sich innerhalb von Sekunden anders überlegte und errötend hinzufügte: »Aber zwischen zwei und drei Uhr am Nachmittag hätte ich frei.«

Walter, der schon enttäuscht den Kopf hatte sinken lassen, zuckte zusammen, erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl und verneigte sich vor Molly. Er war fast doppelt so groß und breit wie sie.

»Ich freue mich sehr!«, rief er feierlich, und seine sonore Stimme bebte wie Glockenklang in ihren Ohren. Anstatt zu gehen, setzte er sich wieder. Der Stuhl unter ihm ächzte. Gerade stahl sich ein Hauch Sonnenlicht durch die dünner gewordene Wolkendecke und verlieh der Oberfläche des Meeres einen silbrigen Schimmer.

Kaum war Molly mit dem Geschirr in die Küche zurückgekehrt, bereute sie ihre so schnell gegebene Zusage bereits. Was würde Mr. Scott nur von ihr halten? Sie hatte einen leichtlebigen Eindruck hinterlassen, davon war sie überzeugt. Doch nun war es zu spät, und der Gedanke an die bevorstehende Autofahrt tröstete sie über ihr unschickliches Verhalten hinweg. Plötzlich erklangen Stimmen.

»Da sind ja deine Leute«, sagte Rupert grinsend und wies mit dem Kinn zur Tür.

Nun hatte Molly die Reaktion der Freemans auf den in stumpfen Zinn- und Silbertönen flimmernden Speisesaal verpasst, und das ärgerte sie ungemein, denn damit fehlte ihr ein wichtiger Mosaikstein in dem Bild, das sie sich von diesen auffälligen Gästen machen wollte. Durch den Türspalt konnte sie sehen, wie sich Mr. Scott schon wieder erhob, und sie bangte um den Stuhl unter ihm.

»Walter Scott«, dröhnte seine Stimme durch den Raum.

»Bryan Freeman«, entgegnete sein Gegenüber mit einem Kopfnicken.

Molly zog heftig die Luft durch die Zähne, als sie Mr. Freeman wiedersah. Er trug eine dunkle Tweedjacke von geradem Schnitt und graue Flanellhosen und wirkte überaus elegant in seinen schwarzen Oxford-Schuhen und der dezent getupften Krawatte aus Kaschmir. Für Molly war er immer noch nackt. Er hatte die Ausstrahlung eines Tieres, und während sie, das halbe Gesicht noch im Türspalt, darüber nachdachte, welches Tier das sein könnte, ein Tiger, ein Wolf, ging Mrs. Freeman im Speisesaal herum und sah sich alles genau an. In einem himmelblauen Kleid huschte sie auf flachen Schuhen lautlos von Tisch zu Tisch, hob eine Kaffeekanne vor ihr Gesicht, als wollte sie sich darin spiegeln, und rückte kurz darauf an einer Gabel. Als sie sich der Küchentür näherte, trat Molly schnell zurück.

»Sind Sie mit dem Schriftsteller Sir Walter Scott verwandt?«, wollte Mr. Freeman gerade von Walter wissen, der vor Freude dunkelrot anlief. Was für ein wundervoller Morgen, dachte er euphorisch, und nachdem Mrs. Freeman endlich am benachbarten Tisch neben ihrem Mann Platz genommen hatte, holte er tief Luft, um Antwort auf diese ihm überaus willkommene Frage zu geben. Mit gesenktem Kopf war Molly herangetreten.

»Nur Marmelade und Brötchen für mich«, bestellte Mrs. Freeman und schaute an Molly vorbei hinaus aufs Meer. Walter schloss enttäuscht den Mund und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

»Ich nehme ein englisches Frühstück.« Mr. Freeman lächelte Molly an. Er ist ein Panther, schoss es ihr durch den Kopf. Kein Wolf, kein Tiger, sondern ein dunkler, rätselhafter Panther. Unberechenbar.

»Sehr richtig«, beeilte sich Walter Scott zu bemerken, denn er fühlte sich diesem kultivierten Herrn am Nebentisch verbunden, und außerdem brannte er darauf, wieder mit ihm ins Gespräch zu kommen. »Das englische Frühstück gibt Kraft für den ganzen Tag. Gestatten Sie mir, Ihre Frage von eben zu beantworten ...«

»Ich fand dies hier ...«, ertönte schon wieder die Stimme von Mrs. Freeman. Leise, aber schneidend, so empfand Molly sie, die gerade nach Tee- und Kaffeewünschen fragen wollte, nervend erschien sie Walter, da sie immer im falschen Moment erklang. »... vor unserer Zimmertür«, beendete Mrs. Freeman ihren Satz, und den Blick auf die verzweifelnde Molly gerichtet, hielt sie Walters Dublin-Pfeife in die Höhe. In der vergangenen Nacht hatte sie ein polterndes Geräusch hinter ihrer Zimmertür vernommen, sogar davonfliegende Schritte von nackten Füßen.

»Nur eine Maus«, hatte Bryan gemurmelt und ihren Morgenrock mit einem einzigen Ruck wie einen Theatervorhang weit geöffnet.

»Meine Pfeife!«, rief Walter Scott erstaunt. Er hatte sie noch gar nicht vermisst, und obwohl ihm die Angelegenheit rätselhaft erschien, war er nicht geneigt, das Thema zu wechseln.

»In gewisser Weise bin ich mit Sir Walter Scott verwandt«, sagte er, die Pfeife achtlos in seiner Reverstasche verstauend, und beugte sich auf seinem Stuhl weit nach vorn, um Mr. Freeman näher zu sein. »Seelenverwandt.«

»Mein Mann meint, eine Maus habe die Pfeife vor die Tür getragen«, fuhr Mrs. Freeman unbeirrt fort. Walter fühlte, dass er zornig auf diese Frau wurde, die zwar sehr schön war, aber eine aufdringliche Art an sich hatte und gerade den silbernen Deckel eines Zigarettenetuis auf- und wieder zuspringen ließ.

»Kaffee oder Tee?«, rief Molly verzweifelt. So schreckliche Gäste hatte es noch nie im Old Inn gegeben, noch nie, und plötzlich glaubte sie zu erkennen, dass Mrs. Freeman der dunkle, grausame Panther war, nein, schlimmer noch, eine Pantherin mit böse glänzenden Augen, und die Maus in dieser ganzen unheilvollen Geschichte, die Maus, dachte Molly schaudernd, war Mr. Freeman.

Mit dieser Erkenntnis verlor das Männliche, das Molly in der vergangenen Nacht gerade erst entdeckt und das sie so sehr erschreckt hatte, schlagartig seine Bedrohlichkeit. Es schien zu schrumpfen und nahm in ihrem Kopf das Bild eines harmlosen, etwas jämmerlichen rosa Nagetiers an. Dieses Umdenken verschaffte Molly zwar Erleichterung, doch sie erkannte mit einem dumpfen Gefühl des Bedauerns auch, dass die bereits wieder verblassende Vorstellung von lanzenhafter Gefährlichkeit durchaus eine gewisse Faszination in ihr geweckt hatte.

»Tee«, sagte Mr. Freeman, und während Molly zurück in die Küche ging, verschmolzen die Begriffe Mann und Maus unwiderruflich zu einer etwas armseligen Einheit, die sie zwar zukünftig ruhig schlafen lassen, sie aber niemals wieder in diesen zerrissenen, leidenschaftlichen Zustand von Abgestoßensein und Erregung versetzen würde.

Schmollend saß Walter Scott noch einen Moment auf seinem knirschenden Stuhl. Er fühlte sich um sein Lieblingsthema betrogen. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Mrs. Freeman die Hälfte eines weißen Brötchens mit dunkelroter Konfitüre bestrich und dabei pausenlos redete, und da sie den Kopf nicht hob, sah es aus, als spräche sie zu dem Brötchen. Mr. Freeman stach derweil die Zinken seiner Gabel in ein Eigelb, ganz langsam, dann drehte er sie plötzlich herum, zerriss mit brutaler Geste die Eihaut, und gelbes Dotter floss über weißes Porzellan in gekrümmte Speckstreifen hinein. Walter wurde ein wenig übel, als er dies sah. Seufzend erhob er sich. Die Freemans aßen weiter, ohne ihn zu beachten, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzubrechen. Schließlich hatte er viel Arbeit, und er beschloss, einen Spaziergang am Strand zu unternehmen. Die frische Luft würde seiner Verdauung auf die Sprünge helfen. Derartig in Gedanken versunken, grüßte Walter flüchtig in Richtung Nebentisch und wanderte, die Hände auf dem Rücken verschränkt, aus dem Speisesaal.

Wenig später sah Molly ihn unter einem großen braunen Regenschirm das Haus verlassen. Er sieht aus wie ein Champignon auf Beinen, dachte sie, und ein überreiztes Kichern entschlüpfte ungewollt ihrem Mund. Oder war es ein Schluchzen gewesen? Diese Leute brachten sie ganz durcheinander. Und seit Tagen nur Regen, Regen. Plötzlich musste sie an ihre Mutter denken, und sie begann sich selbst ein wenig leidzutun, wie sie dort so verloren am Fenster stand und Tränen und Regentropfen gleichermaßen flossen. Eine Schwester gibt es auch nicht, keine Tante, keine Großmutter, keine Cousine. Niemand, der mir raten kann. Niemand, in dem auch nur ein Tröpfchen desselben Blutes fließt wie in mir. Nicht einmal eine Freundin habe ich, dachte sie lautlos weinend.

All diese Erkenntnisse waren Molly nicht neu, aber so bewusst wie in diesem verregneten Augenblick waren sie ihr noch nie begegnet. Regen, Regen, Regen. Ein mürrisches graues Meer und darüber ein Himmel aus Stein.

Die Freemans hatten ihre Mahlzeit unterdessen beendet, sich vom Tisch erhoben und waren auf ihr Zimmer zurückgekehrt. Dort blieben sie eine Viertelstunde. Molly war gerade dabei, in Walter Scotts Zimmer zu fegen, und hatte seinen Wecker im Auge, weswegen sie wusste, dass es genau fünfzehn Minuten dauerte, bis sich die Tür der Freemans wieder geöffnet hatte und die beiden aus dem Haus gegangen waren.

Nun schien das Old Inn wieder Molly allein zu gehören. Sie fand Walter Scotts Tagebuch unter dem Kopfkissen und setzte sich damit auf das hastig gemachte Bett. Sie brauchte einen Moment, um zu entziffern, was ihr vor Augen tanzte. Das war einmal etwas anderes als all die langweiligen Aufzählungen genossener Speisen und Klagen über die Finanzen, die sie sonst zu lesen bekam. Von »Apfelbrüstchen« war hier die Rede und einem Mund, dem er bei Nacht zu begegnen wünschte, um sich von ihm aussaugen zu lassen. Molly schmunzelte. Noch hatte sie nicht begriffen, wer das zierliche grünäugige Persönchen sein sollte, dem Walter zu gerne die Röcke gehoben hätte, »um niederzuknien und rötlichen Meeresschaum anzubeten«. Sie schlussfolgerte allerdings richtig, dass dieser Mann schwer verliebt war.

Bevor sie weiterlesen konnte, wurde an der Haustür geläutet. Molly zuckte zusammen, schob das Tagebuch hastig unter das Kopfkissen zurück, zog die Decke glatt und eilte zur Vordertür, um dem Fischhändler zu öffnen. Sie kaufte ihm zehn Heringe ab, dann blickte sie eine Weile auf die krumme Straße, die nach links in das winzige Dorf Kilborough führte und nach rechts, steil abfallend, zum Strand. Diese Straße, die Robin Street, auf die gerade Regen fiel, schien sich im Laufe der windigen Jahre genauso verkrümmt und gebeugt zu haben wie die knorrigen Holunderbäume, Ginsterbüsche und dornigen Hecken und wie der Rücken manch einer alten Frau, die auf ihren Stock gestützt über den Fischmarkt humpelte. So wie sie selbst es eines Tages auch tun würde, fiel ihr mit einem kleinen Schrecken ein.

Kilborough bestand aus einem Gewirr schmaler, ständig nach Fisch riechender und zugiger Gassen, die alle, einige allerdings über unsinnige Umwege, auf den kreisrunden Marktplatz führten. Dort boten die Frauen der Fischer zweimal in der Woche lautstark die Fänge ihrer Männer an. Sie wetteiferten untereinander, wobei sie doch alle die gleiche Ware vor sich liegen hatten. Meistens waren es Schellfische, Schollen, ein paar Muscheln. Doch welche Frau machte die besten Preise, welche nahm die Fische am gründlichsten aus, welche schrie am lautesten? All das unterschied sie dann doch.

Früher hatte auch Mollys Mutter hier gestanden, stumm allerdings, mit ihren Häkelwaren. Und die Großmutter, fragte sich Molly auf einmal, die Mutter ihrer Mutter, deren Vornamen sie trug? Hatte die auch schon hier gestanden? War es ein ewiger Familienkreislauf an Frauengenerationen, die in Kilborough geboren wurden, eine Zeitlang mit Fischen, Topflappen und Kochlöffeln hantierten, Sand aus ihren Häusern fegten und dann starben, nachdem sie an Stöcken über den Wochenmarkt gehumpelt waren, auf dem neuerdings Honig in gelben Blecheimerchen verkauft wurde?

Ab und zu kam ein Käsehändler aus Ipswich. Bei ihm gab es köstliche Sorten von Cheddar, Bonchester und Stilton, Gläser mit Chutney und ein Fass gesalzener Butter. Einmal hatte eine Verrückte aus dem Ausland sich auf den Markt gestellt und Schokolade angeboten. Niemand hatte etwas gekauft, nicht einmal probieren wollte man die braunen Bröckchen, die auf einem silbernen Tablett auslagen. Die Frau – die Leute im Dorf mutmaßten, dass sie aus Belgien herübergekommen war – versuchte es nur dieses eine Mal, dann wurde sie nie wieder gesehen.

Sie hätte zäher sein müssen, dachte Molly nun, und sie bedauerte plötzlich mit unerwarteter Heftigkeit, dass sie damals nicht einmal eine Kostprobe genommen hatte. Sie, Molly Steward, hätte den mutigen Anfang machen sollen, vielleicht hätte es etwas verändert. Vielleicht hätte ein Stückchen belgischer Schokolade tatsächlich irgendetwas verändert, dachte Molly.

Noch immer stand sie in der offenen Tür des Old Inn und starrte in den Regen. Die nassen dunklen Pflastersteine der Robin Street schimmerten wie Miesmuschelschalen.

Plötzlich hielt Molly den Atem an. Gerade bog von rechts Walter Scott um die Ecke. Mit ihm hatte sie nicht so schnell wieder gerechnet. Er hatte auf dem Weg zum Strand kehrtgemacht. Der Regen fiel immer stärker, so dass schwere Wassertropfen in seinen Hemdkragen gelaufen waren, und seine Schuhe schienen undicht zu sein. Kurz, Walter Scott hatte genug, und als er das Old Inn wieder sah, fühlte er eine Woge des Glücks in sich branden, für einen Moment glaubte er sogar, Mollys kleines Gesicht hinter einer beschlagenen Fensterscheibe gesehen zu haben, und er stemmte seinen Schirm gegen den salzigen Wind und beschleunigte seinen Schritt.

Molly flüchtete derweil über den Korridor und schloss mit stark klopfendem Herzen die Zimmertür der Freemans auf. Bevor sie hineinging, atmete sie tief ein und aus, dann nahm sie einen merkwürdigen Geruch wahr. Er ließ sich schwer definieren, weil er sich aus so vielem zusammensetzte – den Fisch- und Gemüseresten, die sich noch auf den herumliegenden Tellern und Platten befanden, kaltem Zigarettenrauch, wachshaltiger Schuhpolitur, säuerlichen Weißweinresten und süßlichem Parfum, das vor kurzem versprüht worden war. Molly schloss die Tür hinter sich. Dann machte sie sich auf die Suche.

Sie wusste selbst nicht genau, wonach, denn weder Mr. Freeman noch seine Begleiterin würden Tagebücher oder private Post herumliegen lassen, davon war Molly überzeugt, aber sie hoffte irgendetwas zu finden, das ihr die Augen bezüglich dieser Leute öffnen würde. Ihr Blick wanderte über den Toilettentisch. Die Manschettenknöpfe waren verschwunden.