Das Leben ist ein Seidenkleid - Tanja Wekwerth - E-Book

Das Leben ist ein Seidenkleid E-Book

Tanja Wekwerth

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Beschreibung

Ein Kleid kann ein Leben verändern, sagt Maja. Jede Nacht sitzt sie allein an ihrer Nähmaschine und zaubert bestickte Mäntel oder raffinierte Röcke - die kaum jemand zu Gesicht bekommt. Dazu fehlt ihr der Mut. Bis sie sich mit Leonhard anfreundet, einem sanftmütigen älteren Herrn. Seit dem Tod seiner Frau Luise hat niemand mehr ihr Ankleidezimmer betreten dürfen, niemand außer Maja. Dort, zwischen Petticoats und Maßband, stellt sie mit Leos Hilfe bald fest, dass Lebensträume keinem Schnittmuster folgen.

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Seitenzahl: 315

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HarperCollins®

Copyright © 2018 by Tanja Wekwerth

Copyright Deutsche Erstausgabe © 2018 by HarperCollins Germany GmbH

Covergestaltung: bürosüd, München Coverabbildung: www.buerosued.de Redaktion: Anna Hoffmann E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959677295

www.harpercollins.de

WIDMUNG

Für Ian

the love of my life

Danke!

EINS

Mit den Fingerspitzen strich sie über den dunkelgrünen Samt. Erst in die eine Richtung, dann zurück. Immer wieder.

Glatt – rau – glatt – rau …

Ein und derselbe Stoff mit zwei so unterschiedlichen Eigenschaften, beide extrem reizvoll, und dann dieser Schimmer … konnte es etwas Schöneres geben?

Seide, kam Maja in den Sinn, Seide war auch wundervoll.

Mit Viskose, Jersey und Organza hatte sie auch schon genäht, sie hätte nicht sagen können, welches Material ihr das liebste war. Sie mochte die geerdete, warme Kraft von Wolle ebenso wie die zarte Transparenz von Chiffon, die sie an Segel feenhafter Märchenschiffe denken ließ.

Maja liebkoste noch immer den Samt. »Hmmm«, summte sie leise.

Man sollte mal einen Wollstoff mit solch einem himmlischen Samt kombinieren, dachte sie, und vor ihrem geistigen Auge schwebte ein Kleid empor: Es war gerade geschnitten, etwas schmaler in der Taille, mit langen Armen, aus grauem, nein, schwarzem Tweed, ein Pepita-Muster wäre vielleicht eine gute Idee. Ein smaragdgrüner Samtgürtel schlängelte durch die Luft und wickelte sich um die Mitte des Kleides. »Wunderbar«, murmelte Maja, sie kürzte in Gedanken noch rasch den Saum und stellte die Ärmel ein wenig aus. Fertig!

Ein Winterkleid, dachte sie verzückt, zu tragen mit derben Booties und einer Lederjacke oder mit High Heels und Brillantohrringen, na gut, Strass ginge auch. Ein Kleid für jeden Anlass, das seine Trägerin ohne viel Aufhebens zu einer Halbgöttin machen würde.

Maja lächelte. In diesem Kleid könnte man Verträge unterschreiben, seine Kinder in die Schule bringen oder schnell mal nach New York fliegen, es wäre bequem und trotzdem hinreißend. Den smaragdfarbenen Samtgürtel könnte man auch als Schal benutzen und …

Ein schauderhaftes Empfinden in der Herzgegend ließ Maja zusammenzucken. Es war der Pager, der in ihrer Brusttasche herumzappelte wie ein gefangener Fisch.

Die Abteilungsleiterin der Damenkonfektionsabteilung Hanneliese Rogsch hatte darauf bestanden, ihr Personal mit einem Pager auszustatten, damit sie es jederzeit zu sich rufen konnte. Und sie hieß tatsächlich Hanneliese. Maja kam einfach nicht darüber hinweg. Wer nannte sein Kind Hanneliese? Aber es passte irgendwie, Frau Rogsch war eine richtige Hanneliese: pedantisch, humorlos, kontrollsüchtig.

Das Kleid hatte sich in Luft aufgelöst, und Maja eilte über die Rolltreppe dorthin zurück, wo sie eigentlich hingehörte: in den zweiten Stock. Wenn es dort oben nicht mehr auszuhalten war, stahl sie sich manchmal davon, um einen Ausflug in die Stoffabteilung im Untergeschoss zu machen, wo sie zwischen den Ballen herumwanderte und sich kurz von den Schrecken der aktuellen Kaufhausmode erholte.

»Wo waren Sie denn, junge Frau?«, schallte es ihr auch schon entgegen.

Mit rudernden Armbewegungen kam Hanneliese auf Maja zu. Es sah aus, als schwömme sie durch die Luft. Sie war klein und mager, wie eine gealterte Ballerina. »Eine Kundin besteht auf Konfektionsgröße 42, dabei hat sie mindestens eine 46«, erklärte sie und schnaubte abfällig. »Sie müssen ein paar Nähte auslassen, Sie müssen ein paar Bahnen einnähen, Sie müssen …«

Ein Wunder vollbringen, beendete Maja den Satz in Gedanken.

Sie waren vor dem geschlossenen Vorhang einer Umkleidekabine angekommen. Raschelnde Geräusche drangen heraus.

»Sie sucht ein Kleid für eine Betriebsfeier«, zischte Hanneliese und verdrehte die Augen, »und sie will unbedingt eine Prinzessin sein.«

»Natürlich will sie eine Prinzessin sein«, erwiderte Maja ernsthaft.

»Das Kleid kostet siebenhundert Euro«, flüsterte Hanneliese, »sehen Sie zu, dass die Kundin es kauft.« Mit diesen Worten ließ sie sie stehen.

»Darf ich mal schauen?«, fragte Maja mit etwas lauterer Stimme in Richtung der Kabine.

Der Vorhang wurde zur Seite gezogen, und eine pummelige junge Frau mit gerötetem Gesicht trat in Erscheinung. Sie steckte in einem tief dekolletierten, lila Tüll-Kleid, das ihr ganz offensichtlich zu eng und außerdem viel zu lang war.

»Ich habe es zugekriegt«, japste sie.

»Aber Sie können nicht mehr atmen«, gab Maja sanft zu bedenken.

»Das geht schon.«

»Lassen Sie mal sehen.« Maja griff in den mehrlagigen Tüll hinein. »Das müsste um mindestens zwanzig Zentimeter gekürzt werden«, murmelte sie. Dann warf sie einen Blick auf das überbordende Dekolleté. »Hm«, machte sie skeptisch.

Die junge Frau drehte sich um die eigene Achse. »Es ist so schön, es ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe.«

»Es passt Ihnen nicht«, sagte Maja.

»Ihre Kollegin meinte eben, Sie könnten da was ändern.« Trotzig schob die junge Frau die Oberlippe vor. »Sie sind doch Schneiderin.«

»Darf ich Ihnen vielleicht eine Alternative vorschlagen?«

»Ich will aber dieses Kleid.«

Maja atmete tief ein und wieder aus. »Kommen Sie doch bitte mal aus der Kabine.«

Die Frau gehorchte, raffte die vielen Schichten Tüll, die sie umwogten, und trat hinaus.

»Ich heiße übrigens Maja«, sagte Maja und deutete wie zur Bestätigung auf ihr Namensschild.

»Hallo, Maja, ich bin Nadine.« Ihre helle Haut hatte in der Kaufhausbeleuchtung einen bleichen Glanz angenommen. Ihr Gesicht war inzwischen allerdings tomatenrot und voll wilder Entschlossenheit. Man sah ihr an, dass sie sehnlichst wünschte, Maja würde wieder verschwinden.

»Gehen Sie ein bisschen hin und her«, bat Maja, obwohl sie bereits wusste, dass sie nichts mehr tun konnte. Der Reißverschluss im Rücken spannte, die Träger schnitten der jungen Frau ins Fleisch.

Und davon abgesehen, dachte sich Maja, steht ihr Lila überhaupt nicht. Sie sieht aus wie ein absurder Blaubeer-Cupcake. Damit wird sie zum Gespött des Abends. Ich darf das nicht zulassen. Ich muss es ihr ausreden.

Nadine schien Majas zweifelnden Blick nicht zu bemerken. Strahlend rauschte sie den Gang auf und ab.

»Sieht super aus!«, rief Hanneliese Rogsch im Vorbeigehen. Sie reckte beide Daumen in die Höhe, dann war sie wieder verschwunden.

Maja stöhnte leise auf.

In diesem Augenblick stolperte Nadine über die zu langen Stoffmassen und fiel zu Boden.

»Ach, du meine Güte!« Maja eilte ihr zu Hilfe. »Haben Sie sich wehgetan?«

Wie ein exotischer Käfer lag Nadine in einem Meer von Tüll und starrte an die Decke.

»Nö«, erwiderte sie und kicherte. »Ich bin ja weich gelandet. Aber ich komme alleine nicht wieder hoch.«

»Geben Sie mir Ihre Hand.« Mit aller Kraft zog Maja sie nach oben.

»Sehen Sie«, rief sie atemlos, »dieses Kleid passt Ihnen nicht nur nicht, es ist sogar gefährlich.«

»Na ja, das liegt ja jetzt nur an der Länge. Das müssen Sie eben kürzer machen.« Schwer atmend ordnete Nadine den lila Tüll, den verdammten lila Tüll, wie es Maja durch den Kopf fuhr.

»Nein, es liegt nicht nur an der Länge«, widersprach sie, »es liegt daran, dass …« Sie holte kurz Luft, »dass Ihnen das Kleid zu klein ist. Außerdem steht Ihnen die Farbe nicht.«

Den dritten Grund würde Maja der Kundin erst gar nicht nennen: Sie war nämlich der Meinung, dass das Kleid überhaupt nicht zu Nadine wollte.

Es wäre wohl auf die Schnelle schwer zu erklären gewesen und hätte Maja nur jede Menge Ärger eingebracht, aber sie glaubte fest daran, dass Kleidungsstücke sich ihren Weg zu ihren Trägerinnen und Trägern selbst suchten. Vielleicht keine banalen T-Shirts, aber all die Lieblingsjeans, die Rollkragenpullover und Blusen, die einem so besonders gut standen, die Lederjacken, die man ein Leben lang trug – all das war in Majas Augen so etwas wie Bekleidungs-Karma.

Und dieses Tüllkleid wollte definitiv nicht mit Nadine zu einer Betriebsfeier, es wollte von einer beschwipsten Sechzehnjährigen auf einer Abschlussparty getragen werden. Es wollte womöglich sogar Zeuge hastiger sexueller Handlungen auf einer Autorückbank werden.

So ein Kleid war das.

»Was soll das denn heißen?«, rief Nadine ungehalten. »Die Farbe steht mir nicht?«

»Ein Pastellton wäre perfekt für Sie.« Suchend sah sich Maja um.

»Schauen Sie!« Sie hielt Nadine ein schlichtes hellblaues Kleid hin. »Das passt wunderbar zu Ihren Augen, und es hat auch keinen Tüll, es ist ein viel erwachseneres Kleid, wenn Sie verstehen, was ich meine, es ist …«

»Ich will aber Tüll!« Nadine stampfte mit dem Fuß auf. »Ich will genau dieses Kleid, und Sie machen jetzt einfach mal Ihre Arbeit.«

»Meine Arbeit ist es, Sie ehrlich zu beraten«, widersprach Maja mit klopfendem Herzen.

»Ich will Ihre ehrliche Beratung aber nicht!«, trompetete Nadine. »Alles, was ich will, ist dieses Kleid!«

Maja hörte ein paar Nähte knirschen. Oder waren es Nadines Zähne?

»Probleme?« Hanneliese war wieder da. Sie roch nach kaltem Rauch.

»Ihre Kollegin ist der Meinung, dass mir Lila nicht steht«, petzte Nadine.

»Tssss.« Tadelnd schüttelte Hanneliese den Kopf. »Was ist denn das für ein Unsinn?«

Maja biss sich auf die Unterlippe.

»Natürlich steht Ihnen Lila«, sagte Hanneliese, »und Tüll schmeichelt jeder Frau.«

»Ich schaue mal im System, ob wir das Kleid in Größe 46 nachbestellen können«, schlug Maja vor. Schadensbegrenzung war besser als nichts.

»Ich brauche das Kleid morgen Abend«, erwiderte Nadine mit abweisendem Gesichtsausdruck, »und außerdem ist mir 46 viel zu groß.«

Maja seufzte. Ihr fiel auf, dass sie in letzter Zeit oft seufzte.

»Sieht sie nicht aus wie eine echte Märchenprinzessin?«, schnurrte Hanneliese.

»Ja?« Nadines Augen leuchteten. »Wirklich?«

»Aber ja«, sagte Hanneliese.

Maja holte tief Luft. »Es ist nur schade, dass …«, begann sie, doch Hannelieses erhobene Hand ließ sie sofort wieder verstummen.

»Ich kaufe es!«, rief Nadine.

»Bingo!«, flüsterte Hanneliese.

»Dann lassen Sie es mich noch kürzen«, sagte Maja. »Ich bräuchte anderthalb Stunden, es ist ja eine Menge Stoff und …«

»Bemühen Sie sich nicht weiter. Ich werde besonders hohe Schuhe dazu tragen.« Nadine warf Maja einen bösen Blick zu, dann kehrte sie in die Umkleidekabine zurück.

»Ja, aber …«

»Die Kundin ist Königin.« Mit einem Achselzucken ging Hanneliese davon, wahrscheinlich auf die Terrasse, um eine weitere Zigarette zu rauchen.

Am liebsten wäre Maja gleich wieder in die Stoffabteilung geflüchtet, doch zweimal am Tag konnte sie sich das nicht leisten.

Sie beobachtete, wie Nadine wenig später mit dem leidigen Tüllkleid zur Kasse ging. Dort wurde sie noch einmal geschickt von Hanneliese abgefangen, die ihren Provisionsaufkleber auf das Preisschild klebte.

Und dann schwebte Nadine, eine enorme Plastiktüte an sich gepresst, mit der Rolltreppe in die Tiefe. Ihrer lila Zukunft entgegen. Dieses Kleid würde ihr nur Ärger machen, davon war Maja überzeugt. Nadine würde noch von Glück reden können, wenn sie sich darin lediglich ein paar Knochenbrüche zuziehen würde.

Maja fuhr sich über das Gesicht. Sie hatte sich wirklich alle Mühe gegeben.

Niedergeschlagen ordnete sie einen Stapel Norwegerpullover, und dann war es zum Glück neunzehn Uhr, und sie konnte nach Hause gehen.

Sie beschloss, zu laufen. Eine halbe Stunde Bewegung an frischer Luft würde ihr guttun. Doch die gedrückte Stimmung wollte nicht weichen. Maja ging der heimtückische Gesichtsausdruck von Hanneliese nicht aus dem Kopf, als diese sagte: »Tüll schmeichelt jeder Frau.«

Wenig später schloss Maja die Wohnungstür auf. »Wie eine echte Märchenprinzessin«, äffte sie den Tonfall ihrer Vorgesetzten nach. Was sollte das denn überhaupt sein, eine echte Märchenprinzessin? Gab es auch unechte Märchenprinzessinnen? Maja gab einen grunzenden Laut von sich.

Sie schaltete das Licht an und ließ die Tür schnell wieder hinter sich zufallen. Die Welt konnte jetzt da draußen tun und lassen, was sie wollte. Sie, Maja, würde das Haus heute nicht mehr verlassen.

Sie legte die Kette vor und zog ihre Schuhe aus.

»Puh«, machte sie. »Puh-hu.«

Die heiße Dusche hatte ihr gutgetan. Ein Granatapfel-Shampoo hatte den Ärger des heutigen Tages aus ihren langen kastanienbraunen Haaren gewaschen und sie mit einem herrlichen Duft versehen.

Einen Frottee-Turban auf dem Kopf und in einen Bademantel gehüllt, saß Maja nun in der Küche, vor sich eine heiße Tasse Tee und ihr Skizzenbuch, in das sie gerade das Winterkleid mit dem smaragdgrünen Samtgürtel zeichnete. Als sie fertig war, blätterte sie zurück.

Es gab bereits viele Zeichnungen in ihrem Buch: herbstliche Capes, Sommerkleider, lange Seidenröcke, kurze Jeansröcke, Frühlingsmäntel. Sie hatte eine Kollektion bunter Rucksäcke entworfen und paillettenbestickte Satinbeutelchen für den Abend.

Nun also Winterkleider. Wozu eigentlich? fragte sich Maja. Warum tat sie das immer wieder? Sie trank einen Schluck Tee und schaute aus dem Küchenfenster. Weil sie nicht anders konnte.

Durch die kahlen Äste einer alten Kastanie hindurch leuchteten einige Fenster von gegenüber. Es war kalt und windig. Novemberwetter. Vielleicht würde es bald schneien? Maja liebte es, wenn der erste Schnee fiel. Es war so märchenhaft, als würde die Welt einfach von einer dicken Schicht Puderzucker bedeckt werden.

Im Wohnzimmer klingelte das Telefon. Maja ließ den Anrufbeantworter anspringen.

»Hallo!«, hörte sie die muntere Stimme ihrer besten Freundin Nora. »Hast du dein Handy wieder ausgeschaltet? Also, wir gehen gleich in den Cookie-Club und vorher etwas vorglühen in der Mango-Bar. Willst du nicht mitkommen? Maja … ich weiß doch, dass du neben dem AB stehst. Ich höre dich förmlich atmen.«

Maja lachte auf, nahm aber trotzdem nicht ab. Sie hatte keine Lust auszugehen.

»Majaaa«, rief Nora, »es ist Freitagabend, lass uns ein bisschen Spaß haben.«

Maja schüttelte den Kopf und kehrte in die Küche zurück.

Sie mochte weder Clubs noch Bars.

Irgendwie schien sie etwas aus der Art geschlagen, ihre Art von Spaß sah ganz anders aus. Sie liebte das Glücksgefühl, das sich in ihr ausbreitete, wenn sie durch die Alte Nationalgalerie schlenderte und sich an der Schönheit der Marmorstatuen und Ölgemälde berauschte. Sie liebte lange Spaziergänge die Spree entlang oder durch den Grunewald.

Sie liebte eine gute Tasse Tee an ihrem Küchentisch, und sie konnte sich stundenlang auf YouTube die Modenschauen von Alexander McQueen anschauen. Seine traumhaften Visionen von Opulenz und ungezügelter Schönheit raubten ihr jedes Mal aufs Neue den Atem und trieben ihr die Tränen in die Augen.

Fantastische Fabelwesen glitten zu sphärischen Klängen über die Laufstege: schwarz gewandete Hohepriesterinnen, indische Herrscherinnen, gefiederte Engel, Feuergöttinnen, maskierte Zauberinnen, Regengeister und Punk-Prinzessinnen.

McQueens Schaffenskraft schien unermesslich und endete abrupt mit seinem Selbstmord im Jahr 2010. Bis zum heutigen Tag war Maja tief erschüttert darüber.

Sie zeichnete noch ein wenig in ihrem Skizzenbuch herum, dann ging sie wieder ins Wohnzimmer und legte eine DVD ein. Die Chroniken von Narnia mussten es jetzt sein. Mal wieder.

Gut, dass Nora nicht sehen konnte, was Maja gerade tat. Sie würde bestimmt die Augen verdrehen und sagen: »Den Film hast du doch schon hundertmal gesehen.«

Was auch stimmte. Aber was machte das schon? Wenn Maja Narnias Reich betrat, fühlte sie sich so leicht und unbeschwert wie selten.

Sie machte es sich auf dem Sofa bequem und freute sich auf ein Wiedersehen mit dem Faun Mr. Tumnus, doch schon bald waren ihr die Augen zugefallen.

Mit einem Lächeln im Gesicht versank Maja in Traumwelten, in denen es keine lila Tüllkleider von der Stange gab, keine Pager und vor allem keine Hanneliese Rogsch mit einem Atem wie Asche.

ZWEI

»Die ersten sechs wie gehabt, Nummer sieben ist neu.«

Maja nickte und nahm die Adressenliste entgegen. »Danke, Tim.«

»Und beeil dich, wir hatten schon wieder Beschwerden.«

»Berliner Verkehr.« Maja zuckte bedauernd mit den Schultern, dann machte sie sich mit einer großen Styroporkiste auf den Weg zum Lieferwagen.

Senioren-Menüs auf vier Rädern, stand auf beiden Seiten. Immer unterwegs zu Ihnen. Die Abbildung eines dampfenden Suppentellers auf der Motorhaube sollte wohl kurze Lieferwege und reibungslose Logistik suggerieren.

Meist war das Essen, das Maja am Wochenende ausfuhr, um sich ein bisschen Geld dazuzuverdienen, nicht mehr heiß. Sie wärmte es den Senioren dann wieder auf, wenn möglich mithilfe einer Mikrowelle. Wenn keine vorhanden war, füllte Maja den Inhalt der Aluminiumschälchen in Töpfe um, die sie auf dem Herd erhitzte, während sie mit den alten Leuten plauderte. Das gehörte natürlich nicht zu ihren Aufgaben, aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, ihren betagten Kunden ein kaltes Mittagessen in die Hand zu drücken und weiterzufahren.

»Hallo, Agathe.« Maja lächelte, »ich bin’s. Ich bringe dir dein Essen.«

»Ach, die Biene Maja.« Die alte Frau knallte ihre Wohnungstür zu, um die Kette abzunehmen. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür wieder. »Hereinspaziert.«

Lachend betrat Maja die Wohnung. »Wie geht es dir? Was machen die Knie?«

»Die knirschen. Aber sonst bin ich fit.«

»Das ist gut.« Maja stellte die Schachtel in der Küche ab. »Heute gibt es Pasta mit Lachs«, sagte sie.

»Pasta?« Verwirrt schaute Agathe sie an. »Was ist denn das für eine Idee?«

»Magst du keine Pasta?«, fragte Maja.

»Na ja, zum Zähneputzen mag sie hilfreich sein, aber …«

Maja lachte. »Nudeln, meinte ich. Nudeln.«

»Ach so, ja, die mag ich gern.«

Während sich das Gericht in der Mikrowelle drehte, deckte Maja schnell den Tisch und schenkte Agathe ein Glas Wasser ein. »Schön viel trinken«, ermahnte sie sie.

»Mach ich, Prost.«

Die Mikrowelle begann zu piepen. Maja holte das Essen heraus und füllte es auf einen Teller.

»Hmmm.« Agathe schnupperte. »Lecker.«

»Guten Appetit, bis morgen.«

»Tschüss, Bienchen.«

Maja eilte die Treppen hinab und fuhr zur nächsten Adresse. Tim, der Gründer und Geschäftsführer von Senioren-Menüs auf vier Rädern, hatte ihr eine Route erstellt. So konnte sie die Kunden möglichst zügig beliefern und Umwege vermeiden.

Sie fuhr den Kurfürstendamm entlang, bog in die Fasanenstraße ein, stellte sich mit leuchtendem Warnblinker in die zweite Spur und brachte einem Ehepaar, das bereits seit siebzig Jahren verheiratet war, sein Mittagessen.

»Es ist nicht mehr sehr heiß«, entschuldigte sich Maja.

»Macht nichts«, sagte der alte Mann.

»Soll ich es Ihnen schnell aufwärmen?«

»Wir sind vielleicht alt«, erwiderte er, »aber nicht hohl in der Birne.« Er tippte sich gegen die Stirn.

»Verzeihen Sie, nein, so hatte ich das doch gar nicht … ich, es tut mir leid …«, stotterte Maja.

»Bringst du wieder junge Mädchen in Verlegenheit?« Seine Frau hatte sich neben ihn gestellt.

»He-he-he.« Er lachte heiser.

»Danke, Fräulein, und bis morgen.« Kopfschüttelnd schloss die Frau die Tür.

Maja flitzte die Stufen wieder hinab, in der Hoffnung, keinen Strafzettel erhalten zu haben. Sie hatte Glück. Eilig setzte sie sich hinter das Steuer und fuhr weiter. Kreuz und quer durch Berlin. Sie belieferte Leonore und Frau Reinke, sie goss bei Angelika noch schnell die Blumen und kochte für Herbert eine Tasse Tee.

So verging die Zeit, bis nur noch ein Kunde übrig war: Leonhard Viktorow. Er war Nummer sieben.

In der Charlottenburger Danckelmannstraße suchte Maja lange nach einem Parkplatz. Ich sollte mir einen Zauberstab anschaffen, dachte sie verzweifelt. Die Idee gefiel ihr, und als hätte der Gedanke daran bereits Zauberkraft, fuhr im nächsten Augenblick ein Auto aus einer Lücke, und Maja konnte bequem einparken. »Hokuspokus«, murmelte sie lächelnd, während sie die Handbremse anzog.

Kurz darauf stand sie vor einem ehemals prächtigen Altbau. Im Lauf der Jahrzehnte schien er ein wenig porös geworden zu sein.

Auf einem Klingelschild aus Messing suchte Maja nach dem Namen Viktorow. Immer wieder fuhr sie mit dem Zeigefinger über die blanken Knöpfe, von oben nach unten, von rechts nach links.

»Entschuldige«, sprach sie einen Jungen an, der gerade mit einem Fahrrad aus der Haustür kam, »ich suche einen Leonhard Viktorow, der muss hier irgendwo …«

»Hinterhaus, Mann«, sagte der Junge und deutete mit dem Daumen auf ein weiteres kleineres Klingelschild auf der gegenüberliegenden Seite.

»Na, hör mal!«, empörte sich Maja. »Ich bin kein Mann!«

Zur Sicherheit sah sie an sich herab. Sie trug einen grauen Flanellmantel, auf den sie mit feuerroten Seidenbändchen Rosenblüten gestickt hatte. Ihr Haar war zu zwei langen Zöpfen geflochten, und ihre Füße steckten in Mary-Poppins-Schnürstiefeln. Sehr männlich sah das alles nun wirklich nicht aus.

»Dann eben du Oma.« Der Junge grinste sie an und ließ die Haustür vor ihrer Nase zufallen.

»Rotzbengel!«, zischte Maja.

»Willste aufs Maul?«

Maja hob den Zeigefinger. »Freundchen«, warnte sie ihn.

Der Junge lachte auf und fuhr davon.

Während Maja auf dem kleineren Klingelschild weiter nach ihrem Kunden suchte, sang sie leise vor sich hin: »Das ist Berlin, Berlin, Berlin …«

Da war er ja: Viktorow. Maja drückte auf den Knopf. Eine Weile passierte gar nichts. Gerade als sie wieder klingeln wollte, summte der Öffner.

»Na endlich.«

Mit aller Kraft stemmte sich Maja gegen die Haustür, die gar nicht so schwer war, wie sie vermutet hatte, und mit einem Satz fiel sie geradewegs in einen gleißend hellen Flur hinein. Blinzelnd sah sie sich um.

Wo früher bestimmt einmal ein Kronleuchter gehangen hatte, beleuchtete nun eine LED-Rasterleuchte mit penetranter Schonungslosigkeit die Tragik vergangenen Glanzes: schmuddeligen Marmor, herausgebrochene Jugendstil-Fliesen, Graffiti-Tags und einen Kinderwagen, der aussah, als stünde er bereits seit Jahren dort herum. Inzwischen diente er offenbar als Mülleimer.

Maja kam an einer geschwungenen Treppe vorbei, die in die oberen Stockwerke führte, daneben gab es eine unscheinbare Tür, über der ein Schild angebracht war: Zum Hinterhaus. Sie öffnete sie und gelangte in einen finsteren Innenhof, voller Gestrüpp und Mülltonnen. Maja fröstelte.

Wohin nun? Suchend sah sie sich um. Schließlich hatten sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt, und sie erkannte den Umriss einer weiteren Tür.

Mit klopfendem Herzen steuerte sie darauf zu. Sie wollte jetzt gern Feierabend machen.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte sie eine schmale Treppe nach oben. Gerade ging im ersten Stock eine Tür auf, und ein großer, alter Mann erschien. Ein großer, alter Herr, korrigierte sich Maja in Gedanken.

Er hielt sich aufrecht und trug Hosen mit Bügelfalte und ein gepflegtes Cordjackett. Doch das Erstaunlichste an ihm war sein Haar: dichtes, silbriges Haar, das er zurückgekämmt hatte.

»Mein Name ist Maja, ich komme von der Firma Senioren-Menüs auf vier Rädern.«

»Schöne Frisur«, erwiderte er.

Maja lächelte ihn an. »Danke. Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.«

Er trat beiseite und ließ sie hereinkommen.

»Wo soll ich das Essen hinstellen, Herr Viktorow?«

»Ach, geben Sie her. Was schulde ich Ihnen?«

»Nichts, das wird alles monatlich abgerechnet. Und soviel ich weiß, ist es schon im Voraus bezahlt worden.«

Leonhard Viktorow seufzte. »Ich habe meinem Sohn gesagt, dass das wirklich nicht nötig ist. Ich koche mir selbst gern was. Aber er hat es offenbar trotzdem veranlasst.« Er schnupperte an der Aluminiumschale. »Was gibt es denn?«

»Lachs mit P… Nudeln«, antwortete Maja.

»Was sind denn Pnudeln?«, fragte Leonhard Viktorow.

Maja prustete, dann erzählte sie ihm schnell die Geschichte von Agathe, die das italienische Wort Pasta nicht gekannt hatte. »Deswegen habe ich lieber Nudeln gesagt.«

»Sehr amüsant.« Er nickte, lachte aber nicht. »Ist das Ihr Beruf? Essen ausfahren?«

»Ich bin eigentlich gelernte Schneiderin.«

»Eigentlich?«

»Wo ist denn die Küche?« Maja nahm ihm das Essen wieder ab, denn er hielt es schief, und etwas Soße drohte herauszutropfen.

»Geradeaus und dann links.« Er deutete den Korridor entlang. Maja folgte seiner Armbewegung und sah sich dann neugierig in der Küche um. Alles war ordentlich und sauber. Eine Schüssel mit einem Rest Gurkensalat stand, sorgfältig mit Frischhaltefolie abgedeckt, auf dem Tisch.

Er schien die Wahrheit gesagt zu haben und für sich selbst zu kochen.

Maja stellte das Essen neben die Schüssel und ging wieder hinaus. »Hallo? Wo sind Sie denn?«

Sie fand ihn in einem geräumigen Wohnzimmer, wo er sich in einen Sessel gesetzt hatte. Er schien auf sie zu warten.

»Soll ich Ihnen das Essen aufwärmen?«, fragte Maja, die in der Tür stehen geblieben war.

»Machen Sie sich keine Umstände.«

»Kein Problem, wirklich.«

»Nein danke, ich habe keinen Hunger.«

Sie schwiegen.

»Aber Sie haben Hunger«, fuhr er fort. »Und Sie sind müde.«

»Können Sie Gedanken lesen?«

»Ja«, antwortete er knapp.

Wie er da so vor ihr saß, selbstbewusst und elegant, im Schein einer Leselampe, die seine Silbermähne aufleuchten ließ, kam er ihr vor wie ein Löwe.

»Wir sehen uns dann öfter?«, fragte er.

»Jedes Wochenende, Herr Viktorow.«

»Schön.« Er legte den Kopf schräg. »Nennen Sie mich doch Leo.«

Löwe, dachte Maja, ein richtiger Löwe.

»Gern.« Sie strahlte ihn an. »Ich heiße Maja.«

»Ich weiß«, sagte er und lächelte, »das erwähnten Sie eingangs bereits.«

»Ach, ja.« Maja hob entschuldigend die Schultern. »Dann also bis morgen.«

Er erhob sich, brachte sie zur Tür, reichte ihr die Hand. »Auf Wiedersehen, Maja.«

»Wiedersehen … Leo.«

Etwas benommen ging Maja zum Lieferwagen zurück.

Was für ein toller Mann, dachte sie. So charmant und gewandt. Wie ein ehemaliger Filmstar. Aber das allein hatte die Faszination nicht ausgelöst.

Da war noch mehr gewesen.

Irgendetwas verband sie und diesen prächtigen, alten Löwen.

***

Den Abend verbrachte Maja wieder allein auf dem Sofa. Während sie an einem Schal für Agathe strickte, schaute sie sich Die Chroniken von Narnia noch einmal von vorne an. Heute würde sie nicht wieder einschlafen.

Die Szene, in der sich Lucy Pevensie in einem großen Kleiderschrank versteckte, berührte sie jedes Mal. Sie selbst hatte viele Stunden ihrer Kindheit in einem ähnlichen Schrank verbracht. Es war der einzige Ort gewesen, an dem sie sich vollkommen sicher gefühlt hatte. Während sich ihre Eltern, nur wenige Meter von ihr entfernt, bis aufs Blut stritten, hatte Maja Zuflucht in dem mächtigen Kleiderschrank ihrer Mutter gefunden. Doch hinter all den Pelzmänteln und Kleidungsstücken hatte sich leider niemals die zauberhafte Schneelandschaft von Narnia ausgebreitet. Da war nur eine Holzwand gewesen.

Maja hatte sich in der Dunkelheit die Ohren zugehalten und dabei den erdigen Geruch, der im Schrank geherrscht hatte, besonders intensiv wahrgenommen: eine einmalige Mischung aus Pelz, Parfum, Schweiß und Mottenpulver.

Sie hätte heute gar nicht sagen können, ob es gut oder schlecht gerochen hatte. So roch es eben. Es war der Geruch ihrer Kindheit, den sie seither nie wieder wahrgenommen hatte.

Als Maja nach langer Zeit mal wieder zu Besuch bei ihrer Mutter gewesen war, hatte sie es wissen wollen und war noch einmal in den Schrank gekrochen. Viel kleiner war er ihr vorgekommen, und der Geruch war nicht mehr derselbe gewesen.

Lucy Pevensie war nun in Narnia angekommen und stapfte durch den Schnee. Gleich würde sie Mr. Tumnus, den Faun, unter der Laterne treffen.

Maja lächelte voller Vorfreude. Sie liebte diese mystischen Fabelwesen mit ihren Hörnern und Bocksfüßen, betörend Flöte spielend, sinnlich und ein bisschen unheimlich. Beschützer des Waldes und der Wiesen waren sie, und zu allerlei Späßen aufgelegt, die einen Irdischen in arge Bedrängnis bringen konnten.

Auf einem ihrer sonntäglichen Streifzüge durch die Berliner Museen hatte Maja eines Tages in der Alten Nationalgalerie eine Skulptur entdeckt, die sie vollkommen in den Bann gezogen hatte. Dank ihrer Jahreskarte besuchte sie die Skulptur seither regelmäßig. Es war die aus weißem Marmor gemeißelte Darstellung Pan tröstet Psyche von Reinhold Begas.

Ein weinendes Mädchen mit Schmetterlingsflügeln wurde von einem faszinierenden Mischwesen getröstet, dessen Oberkörper menschlich war, sein Kopf jedoch gehörnt. Seine Beine waren die eines Ziegenbocks. Er strahlte Wildheit aus, schien aber in der dargestellten Position vollkommen gezähmt und fürsorglich.

Besonders gut gefiel Maja sein Gesichtsausdruck. Bedauern schwang darin, aber auch ein wenig Amüsiertheit. So als dachte er: Ach, ihr Sterblichen, was macht ihr denn immer so ein Getöse?

Die Sprache seiner Hände war eindeutig: Er hatte sie fragend ausgestreckt, die Handflächen nach oben, ein wenig ratlos. Ring- und kleiner Finger seiner linken Hand berührten dabei ganz leicht den Oberarm der unglücklichen Psyche. Damit gab er ihr Halt, wollte es aber offensichtlich nicht übertreiben mit den Berührungen, schließlich lehnte sie mit dem Rücken ja bereits an seinen zottigen Beinen, die er elegant übereinandergeschlagen hatte.

Ein wahrer Gentleman, wenn man wusste, wie frivol Faune sein konnten.

Es steckte so viel Humor und Liebe in den Figuren, sie wirkten so echt, dass Maja nicht erstaunt gewesen wäre, wenn die beiden einfach von ihrem Sockel aufgestanden und in die Cafeteria spaziert wären. Die traurige Psyche könnte eine heiße Schokolade sicherlich gut vertragen.

Während die Stricknadeln leise klapperten und Lucy mit Mr. Tumnus am Kamin Tee trank, dachte Maja darüber nach, was Pan wohl trinken würde. Ziegenmilch? Sie kicherte. Nein, eher ein Bier, ein schönes, kühles Bier. Ja, das würde ihm gefallen. Oder ein Glas Wein.

Was war ihr eigentlich widerfahren, der hübschen Psyche, fragte sich Maja. Warum war sie so traurig, dass sogar der mächtige Naturgott Pan sie nicht trösten konnte?

Maja stand auf, holte ihren Laptop und rief Google auf.

Von ihrem Geliebten Amor verlassen, bereut Psyche ihre Neugier und deren fatale Folgen.

»Oh, nein«, murmelte Maja. Psyche hatte also Liebeskummer.

Sie googelte weiter und las folgende Geschichte:

Psyche ist die schönste von drei Töchtern eines Königs. Sie ist so schön, dass Venus eifersüchtig wird und ihrem Sohn Amor befiehlt, eine unglückliche Liebe über die schöne Psyche zu bringen. Doch Amor ist dem jungen Mädchen selbst schon längst verfallen und lässt es auf ein Schloss bringen. Dort besucht er sie jede Nacht in der Dunkelheit, zeigt ihr aber nie sein Gesicht.

Eines Nachts wartet Psyche mit einer Öllampe auf Amor. Hingerissen von seiner überirdischen Schönheit, verschüttet sie heißes Öl auf seiner Schulter.

Der göttliche Amor fühlt sich betrogen, fliegt davon und lässt Psyche untröstlich zurück. Venus erfährt davon und wird sehr wütend über den Ungehorsam ihres Sohnes. Sie macht sich auf die Suche nach dem todunglücklichen Mädchen und lässt es zur Strafe lebensgefährliche Aufgaben lösen. Mit der Unterstützung von Ameisen, Adlern, Schilfrohren und anderen magischen Helfern kann Psyche sie alle lösen. Bei der letzten Aufgabe scheitert sie jedoch, sie öffnet ein verbotenes Kästchen und fällt in todesähnlichen Schlaf.

Amor, dessen Verbrennungen inzwischen verheilt sind, eilt zu ihr. Mit seinen Flügeln fegt er den Schlaf zurück in das Kästchen, dann fliegt er hinauf in den Himmel und bittet die Götter um Hilfe. Diese haben Nachsicht. Sie reichen Psyche einen Becher Ambrosia und machen sie damit unsterblich. Nun steht einer göttlichen Hochzeit nichts mehr im Wege.

»Ach«, seufzte Maja, das war aber eine wunderschöne Geschichte, sogar mit Happy End, was in der griechischen Mythologie nicht gerade häufig vorkam. Eine kleine Einschränkung gab es allerdings: ein ganzes unsterbliches Leben lang die stinkwütende Venus zur Schwiegermutter zu haben würde bestimmt nicht einfach werden. Lachend klappte Maja den Laptop wieder zu.

Gerade hatte die große Schlacht um Narnia begonnen, doch auf einmal war es Maja zu laut. Sie schaltete den Fernseher aus, strickte noch ein paar Maschen, dann ging sie ans Fenster. Die regennasse Straße schimmerte wie ein Flusslauf. Laternenlicht malte gelbe Inseln hinein. Es war spät, niemand zu sehen. Kaum ein Auto.

Amor und Psyche, dachte Maja, eine Liebe so groß und unzerstörbar, dass sie göttlich wird.

Aber das war ja nur ein Mythos, so etwas gab es im wahren Leben gar nicht. Sie hatte von klein auf etwas ganz anderes vorgelebt bekommen. Ihre Eltern hatten sich nie gut verstanden, es hatte immer ein gereizter Ton geherrscht, der sich wie eine chronische Entzündlichkeit über alles gestülpt hatte.

Und sie selbst? Maja seufzte gegen die Fensterscheibe. Ihr Liebesleben war bislang auch nicht gerade glanzvoll verlaufen. Drei kurze Beziehungen mit Männern, die ihr eigentlich überhaupt nichts bedeutet hatten. Eine traurige Bilanz.

Vielleicht fehlte ihr ein Gen? Irgendetwas stimmte doch nicht mit ihr. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt und schwärmte für … einen Marmor-Faun.

Es begann stärker zu regnen.

DREI

»Heute gibt es Blutwurst mit Sauerkraut.«

»Oh«, machte Leo.

»Mit Kartoffelpüree«, ergänzte Maja schnell.

»Kommen Sie herein.«

»Danke.« Maja betrat die Wohnung. Es duftete nach Reis und Curry.

»Haben Sie schon wieder selbst gekocht?«, fragte sie.

»Ja, zum Glück.« Mit sanftem Druck schob er sie über den kleinen Flur in die Küche hinein. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«

Der Tisch war für zwei Personen gedeckt. Auf dem Herd dampften Töpfe.

»Ja, aber …«

»Sie waren doch gestern so hungrig, da dachte ich, ich koche uns was Schönes und wir essen zusammen. Einen schönen Mantel tragen Sie da, wollen Sie ihn nicht ablegen?« Er wartete ihre Antwort gar nicht ab und begann, die Teller mit Reis und einem offenbar indischen Hühnchengericht zu befüllen.

»Und die Blutwurst?«, fragte Maja ziemlich lahm, wie sie selber fand.

»Die bringe ich nachher der Lulu. Bitte Platz nehmen.«

»Der Lulu?«, kam es noch lahmer.

Leo hatte sich schon gesetzt und legte sich eine Stoffserviette auf die Knie. Er schien selber hungrig zu sein. »Das ist die Schäferhündin meiner Nachbarin.«

Er lächelte Maja aufmunternd zu. »Und jetzt guten Appetit, ich bin gespannt, wie es Ihnen schmeckt.«

Maja zog den Mantel aus und setzte sich. Sie hatte ja alle Mahlzeiten ausgeliefert, und den Wagen könnte sie mit etwas Verspätung zurückbringen.

»Wie schmeckt es Ihnen?«, fragte Leo.

Sie probierte und sah ihn dann erstaunt an. »Das ist ja irrsinnig gut.«

»Irrsinnig gut?« Leo lachte auf. »Freut mich.«

Sie aßen eine Weile schweigend.

»Wieso lässt denn Ihr Sohn Ihnen Essen kommen?«, fragte Maja schließlich.

»Ach …« Leo wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Er lebt mit seiner Frau in London und glaubt wahrscheinlich, dass er mir damit aus der Ferne etwas Gutes tut.«

»Das ist sehr nett von ihm«, sagte Maja.

»Ja, natürlich ist das nett. Aber ich finde, dass es am besten ist, für sich selbst zu sorgen, solange man kann. Wenn einem alles abgenommen wird, verfault man eines Tages in seinem Sessel.«

Maja lachte. »Keine schöne Vorstellung.«

»Überhaupt nicht.«

»Ich habe im Computersystem nachgesehen, Ihr Sohn hat drei Monate im Voraus bezahlt.«

»So ein Spinner. Möchten Sie noch eine Portion?«

»Vielen Dank, ich bin satt.«

»Einen Kaffee?«

»Gern.«

Maja beobachtete, wie Leo die beiden Teller zum Spülbecken brachte und nun eine italienische Espressokanne mit Kaffee und Wasser befüllte. Mit einer eleganten Handbewegung hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass er keine Hilfe wünschte.

Und plötzlich hatte sie eine Vermutung, warum sie sich Leo so verbunden fühlte: Er erinnerte sie eindeutig an ihren leider längst verstorbenen Onkel Samuel. Eigentlich war er kein echter Onkel gewesen, sondern ein Cousin um fünf Ecken ihrer Großmutter. Aber das hatte überhaupt keine Rolle gespielt. Er war der Held ihrer Kindheit gewesen: unschlagbar, optimistisch, selbstbewusst. Eines schönen Sommertages war er mit Maja weit auf den Müggelsee hinausgeschwommen. Sie konnte damals nicht älter als fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, lediglich mit Schwimmflügelchen ausgestattet.

»Arme vor und zurück, schön die Füße schließen«, hatte er sie mit ruhiger Stimme angewiesen, »wie ein Frosch, super, Maja, super!«

Ihre Mutter hatte hinterher einen Tobsuchtsanfall bekommen.

Maja lächelte in Erinnerungen versunken. Was für ein Spaß war das gewesen, Onkel Samuel hatte den ganzen Ärger abbekommen, er war sichtlich amüsiert gewesen und hatte Majas Mutter schließlich einen Kuss auf die Stirn gegeben. »Deine Tochter schwimmt so gut wie eine Kanalratte«, hatte er gesagt und sich dann über den Picknickkorb hergemacht. Diese Anekdote leuchtete wie ein Polarlicht über Majas Kindheit.

Leo umwehte derselbe Wind von Souveränität, Gewissheit und Selbstvertrauen.

»Setzen Sie sich doch schon einmal aufs Sofa, ich komme gleich nach«, sagte er gerade. Sein Ton war freundlich, aber bestimmt. Ganz Onkel Samuel.

Maja unterdrückte ein Lächeln und ging voraus ins Wohnzimmer. Neugierig sah sie sich um.

Der Raum war hübsch eingerichtet: geblümte Polstermöbel unter dem Fenster, ein antik aussehender Couchtisch, einige Zeitschriften darauf, auf dem Parkettboden persische Teppiche. Auf der Lehne eines Sessels lag ein Häkeldeckchen. Eine schöne Handarbeit, das konnte Maja aus der Ferne erkennen.

An der Wand stand eine Anrichte mit einer Sammlung Glasvasen darauf. In einer befanden sich fünf vollkommen verdorrte Rosen.

Maja konnte nicht erfassen, was es war, doch irgendetwas stimmte hier nicht. Der Raum war geschmackvoll eingerichtet, wirkte aber merkwürdig unbewohnt und staubig. Es war eher eine Stimmung als ein Zustand.

Auf einem Beistelltisch entdeckte Maja eine gerahmte Fotografie.

Ein junges Paar war darauf zu sehen. Eine Frau lachte in die Kamera, ihre Augen leuchteten in derselben Farbe wie das Meer im Hintergrund, ihr helles Haar war lockig und vom Wind zerzaust. Der Mann neben ihr hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt und betrachtete sie voller Liebe … Maja schluckte, das war ja Leo! Ein blutjunger, wunder-, wunderschöner Leo.

Amor und Psyche, schoss es ihr durch den Kopf, und im nächsten Moment traten heiße Tränen in ihre Augen. Das Foto berührte sie auf unerklärliche Weise. Jetzt bahnte sich sogar ein Schluchzen seinen Weg in die Höhe und saß ihr bereits in der Kehle. Reiß dich doch zusammen, schimpfte sich Maja, aber es ging nicht.

Mit zusammengebissenen Zähnen eilte sie zurück in den Korridor und öffnete dort die nächstbeste Tür. Es war ein Schlafzimmer.

»Oh!« Maja schloss die Tür hastig wieder und versuchte eine weitere zu öffnen, doch diese war verschlossen.

»Suchen Sie etwas?« Leos Kopf ragte aus der Küche.

»Badezimmer?«, rief sie mit erstickter Stimme.

»Eine Tür weiter.«

Maja verschwand im Bad, schob den Riegel vor und setzte sich auf den Wannenrand. Tränen strömten über ihre Wangen.

Was war denn das für eine hysterische Reaktion? Kopfschüttelnd ließ Maja kaltes Wasser über ihre Hände laufen.

Manchmal verstand sie sich selbst nicht.

Den alten Leo so jung zu sehen, seine Verliebtheit, seine Verletzlichkeit, und neben ihm diese wunderschöne Frau. Genauso verliebt, genauso jung, beide am Anfang eines leuchtenden Weges … All das hatte sie aus der Bahn geworfen. Maja bemühte sich, ruhig zu atmen. Wo war sie hin, diese Frau? Sie war nicht mehr da, so viel hatte Maja begriffen, sie war fort und hatte das Licht mitgenommen.

»Kaffee ist fertig!«, rief Leo von draußen. Geschirr klapperte.

Mit nassen Händen fuhr sich Maja über das Gesicht. Dann drehte sie den Hahn wieder zu und ging hinaus.

Ein feiner dunkler Kaffeeduft lag in der Luft.

»Haben Sie ein Bad genommen?« Schmunzelnd deckte Leo den Sofatisch mit einem weiß-goldenen Service. In einem dazu passenden Schälchen lagen Dominosteine. »Ist noch etwas früh für den Weihnachtskram«, murmelte er, »aber bald kann man das Zeug sowieso nicht mehr sehen, nicht wahr?«

Er schaute auf und sah sie an. Maja fiel der Farbton seiner Augen auf: ein helles Goldbraun.

»Ist etwas passiert?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf, kam sich vor wie ein dummes Kind.

»Heraus damit«, befahl er.

Stumm deutete sie auf die Fotografie.

»Ah«, machte Leo. Er goss Kaffee in die beiden Tassen.

Der warme Duft verstärkte sich.

»Milch?«

»Gern.«

Sie setzten sich. Leo lehnte sich in seinem Sessel zurück und rührte einen Löffel Zucker in seine Tasse.

Eine Wanduhr tickte laut. Es war Maja vorher nicht aufgefallen.

»Luise«, sagte Leo schließlich. »In einem magischen Land, das man Jugend nennt und das viel zu schnell in weite Ferne rückt, war sie meine Frau.«

Luise. Maja wollte gern mehr erfahren, wusste aber nicht, wie sie ihn zum Weitersprechen bewegen konnte.

Leo schien in Gedanken versunken und trank mit kleinen Schlucken seinen Kaffee. »Sie müssen die Dominosteine probieren«, sagte er nach einer Weile.

»Haben Sie die auch selbst gemacht?«

»Oh nein, um Gottes willen.« Er lachte. »Es gibt einen guten Bäcker hier um die Ecke.«

Maja nickte.

»Was hat Sie vorhin zum Weinen gebracht?«, fragte Leo.