Das Haus der Hebamme - Tanja Wekwerth - E-Book
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Das Haus der Hebamme E-Book

Tanja Wekwerth

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Beschreibung

Wenn die Vergangenheit deine Zukunft ist: Der bewegende Schicksalsroman „Das Haus der Hebamme“ von Tanja Wekwerth jetzt als eBook bei dotbooks. Anne lebt ihren Traum: Als erfolgreiche Architektin und mit einem tollen Mann an ihrer Seite, sollte sie eigentlich glücklich sein … doch stattdessen fühlt sie sich in ihrem perfekten Leben verloren. Eines Tages entdeckt sie jedoch ein altes Bauernhaus, das sie wie magisch anzieht und ihr ein Gefühl von Geborgenheit gibt. Dort findet sie ein Buch mit der Lebensgeschichte der Hebamme Maria, die einst hier gelebt hat. Kann ihre ebenso berührende wie schicksalsreiche Erzählung Anne einen Weg in die Zukunft weisen? Hals über Kopf stürzt sie sich in das Abenteuer, neue Träume einzufangen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der gefühlvolle Roman „Das Haus der Hebamme“ von Tanja Wekwerth. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 250

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Über dieses Buch:

Anne lebt ihren Traum: Als erfolgreiche Architektin und mit einem tollen Mann an ihrer Seite, sollte sie eigentlich glücklich sein … doch stattdessen fühlt sie sich in ihrem perfekten Leben verloren. Eines Tages entdeckt sie jedoch ein altes Bauernhaus, das sie wie magisch anzieht und ihr ein Gefühl von Geborgenheit gibt. Dort findet sie ein Buch mit der Lebensgeschichte der Hebamme Maria, die einst hier gelebt hat. Kann ihre ebenso berührende wie schicksalsreiche Erzählung Anne einen Weg in die Zukunft weisen? Hals über Kopf stürzt sie sich in das Abenteuer, neue Träume einzufangen …

Über die Autorin:

Tanja Wekwerth lebt und arbeitet in Berlin. Neben dem Schreiben widmet sie sich der Fotografie.

Bei dotbooks veröffentlichte Tanja Wekwerth ihre Romane »Die Zeit der Magnolien« und »Das Geheimnis der Mitternachtstöchter«.

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eBook-Neuausgabe Oktober 2018

Copyright © der Originalausgabe 2004 bei Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/bezikus

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95520-731-1

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Tanja Wekwerth

Das Haus der Hebamme

Roman

dotbooks.

Für meine Mutter

und meinen Vater

Prolog

Wie ein rot geziegeltes Schiff auf dem Strom des Lebens liegt ein altes Haus in welligen Feldern. Es treibt durch die Jahre über weithin glänzende Seen und stürmische Meere. Menschen kommen und gehen, hinterlassen einen Schatten, der manchmal noch an die Wand fällt, um seine Geschichte zu erzählen, einen Fleck auf dem Fußboden, allmählich verblassend. Ein Baum wächst übers Dach, schaut neugierig durch die Fenster, sieht eine Braut mit Maiblumen und Morgensonne im Haar, sieht Türen sich öffnen und schließen. Tage werden kürzer, Nächte länger, Erntewagen rollen vorüber, Schnee auf den Stufen. Osterfeuer brennen. Dunkle Jahreszeiten und lichte, dunkle und lichte. Der Widerhall eines alles entscheidenden Satzes schwebt unter der Zimmerdecke, nie gesagte Worte surren wie Fliegen durch die Küche. Träumer murmeln im Schlaf, und Engel halten ihre lautlose Wache. Der Mond lugt durch die Gardinen. Kinderlachen hallt durchs Haus, verstummt irgendwann. Schritte, treppauf, treppab, wieder und wieder, jahrelang ist alles in Bewegung. Alte seufzen, Ungeborene weinen, bis es still wird, sich ein Kreis schließt und der Augenblick neu beginnt. Der Morgen, der Mittag, der Abend, die Nacht ...

Jede Zeit hat ihre Geräusche, Bilder und Geschichten. Es ist Zeit, die Anker zu lichten.

Teil I

Das alte Backsteinhaus sah aus wie ein wahr gewordenes Kinderbild.

Genau so malen Kinder Häuser – mit rot gedecktem Giebeldach und Schornstein, zwei Fenstern oben, einem unten und einer blauen Tür. Daneben stand ein knorriger Birnbaum, dessen Äste bei Wind an die oberen Fenster kratzten.

Anne hatte das Bedürfnis zu schleichen, als sie einmal um das Haus herumlief. Im verwilderten Garten wuchsen üppige Holunderbüsche, mannshohe Hortensien und verholzte, stark verästelte Sträucher Beifuß. An der Giebelseite rankte Jelängerjelieber in voller Blüte, einen betörenden Duft verströmend. Sie atmete ihn tief ein, als wäre er heilsam. Die umliegenden braunen Stoppelfelder dampften in der Hitze. Einem ekelhaften Insekt nicht unähnlich, kroch am Horizont ein Pflug dahin, Staubwolken hinter sich herziehend, geräuschlos.

»Kommst du?«, rief Adam, und sie folgte seiner Stimme.

In weiter Ferne muhte eine Kuhherde. Bis auf monotones Grillengezirp war sonst alles still.

Anne und Adam kannten sich seit Jahren. Er, der Immobilienmakler mit besten Kontakten, sie, die Innenarchitektin, bewandert in den neuesten Wohn- und Gestaltungstrends. Sie hatten sich im Laufe der Zeit darauf spezialisiert, Häuser und Wohnungen komplett renoviert und möbliert zum Verkauf anzubieten. Mit Hilfe seines Vaters stöberte Adam fantastische Räume auf – Fabriketagen, Lagerhallen, puppenhafte Schlösschen, ehemalige Cafés. Einmal auch ein Schwimmbad aus der Zeit der Jahrhundertwende, mit grünen Marmorsäulen und lebensgroßen blauen Delfinen im gut erhaltenen Mosaikfries, das unter zwei Schichten Fliesen zum Vorschein kam. Die ehemaligen Umkleidekabinen ließen Anne und Adam in ein großes Wohnzimmer umbauen. Sie setzten zwei Badezimmer und eine amerikanische Küche dazu und eine Dachterrasse obendrauf, die über eine grünspanfarbene Wendeltreppe im Wohnzimmer zu erreichen war. Das Ganze nannten sie dann albern lachend »Einzimmerwohnung mit Dachterrasse und Swimmingpool, insgesamt dreihundert Quadratmeter in attraktiver Citylage«.

Das Projekt war ein wenig überspannt, hatte aber etwas Märchenhaftes, das Anne mehr berührte, als sie zugeben wollte. Trotz des schwindelerregenden Preises fand sich schnell ein Käufer. Anne hoffte lange, einmal eingeladen zu werden. Die Vorstellung, das ungefähr drei Meter tiefe und zehn Meter lange türkisfarbene Becken voller Wasser zu sehen, machte sie unruhig vor Verlangen. Sie sehnte sich danach, den Mosaikdelfinen an den Innenseiten des Beckens ein einziges Mal zu begegnen, und träumte oft von ihnen. Eine Zeit lang jede Nacht. Sich still von den Wänden lösend, sah Anne sie im lichtblauen Wasser zum Leben erwachen, sie unermüdlich umkreisen. Lautlos, berührungslos. Jedes Mal erwachte sie lachend, mit schwindligem Kopf.

Adam schloss die blaue Tür auf. Als er sie behutsam öffnete, floss ihnen eine angenehme Kühle entgegen. Sie stiegen drei graue Steinstufen nach oben und kamen in eine dämmrige Wohnküche. Ein alter Herd stand in der Ecke, daneben eine Küchenbank, leere Weckgläser darauf. Die Fensterläden machten ein unwilliges Geräusch, als Adam sie aufstieß, und es kam Anne vor, als würde das Sonnenlicht einen Moment zögern, bevor es sich mit langen Armen in den Raum warf. Auf dem Boden war eine dicke Staubschicht. Schweigend stiegen sie eine schiefe Holztreppe nach oben, die in zwei kleine, ineinander übergehende Zimmer führte. Auch hier öffneten sie die Fensterläden, sahen Staubwirbel durch die Luft flirren und dann langsam wieder zu Boden sinken. Ein Nagetier hatte hier vor langer Zeit einmal sein Nest gebaut. Stroh und leere Getreidehülsen lagen herum, verdorrte Kotkrümel, Stofffetzen. Eine Diele quietschte, ein Balken knackte. Anne stellte sich ans offene Fenster und beobachtete durch die Birnbaumzweige hindurch den Pflug, der noch immer seine Bahnen zog.

»Ist es nicht wundervoll?«, flüsterte sie.

Adam gab einen abfälligen Laut von sich. »Es ist viel zu klein.«

»Nein!«, rief sie erschrocken in die mittägliche Stille. Ihre Stimme klang merkwürdig schrill in den Räumen, die so lange nur ruhiges Dunkel beherbergt hatten.

Adams und Annes neuestes Vorhaben war es, im weiteren Umkreis der Stadt feudale Landsitze zu restaurieren und dann an müde Geschäftsleute zu verkaufen, die übers Wochenende ins Grüne wollten, um dort zu angeln, zu gärtnern oder auf die Jagd zu gehen. Es war ein Experiment.

»Mehr als eine Stunde Autofahrt sollte es nicht sein«, sagte Adam auf dem Weg nach unten in den Garten. »Und außerdem dachte ich eher an ein Gutshaus. Etwas Repräsentativeres.«

Anne setzte sich ins Gras und skizzierte die beiden Etagen. Unwillig schaute Adam zu ihr hin.

»Es ist zu klein«, beharrte er. »Wer soll das kaufen? Man kann keine Gäste unterbringen. Es würde gerade mal für eine Person reichen. Und es ist viel zu normal.« Anne hatte das Gefühl, dass ihr etwas Wertvolles am Entgleiten war.

»Lass uns dran üben, Erfahrungen sammeln, und im Notfall behalten wir es eben«, sagte sie schnell.

Entsetzt schüttelte er den Kopf. »Um Gottes willen! Die Landluft macht mich ganz krank. Und diese Stille erst ...«

Er machte eine weit ausholende Handbewegung. Hinter ihm flirrte die Mittagshitze. Weiße Samenpollen schwebten träge wie dicke Schneeflocken durch die warme Luft. Anne war, als bliebe das Leben in diesem lichtdurchfluteten Augenblick für einen kurzen Moment stehen. Den Anblick von Adam mit so viel Sonne im Haar, wie ein Heiligenschein um seinen Kopf gelegt, sollte sie ein Leben lang in Erinnerung behalten, als gäbe es eine Fotografie davon.

»Die Bude hat überhaupt kein Potenzial, es gibt ja nicht einmal eine Scheune.« Er fuhr sich gereizt durch die leuchtenden Haare. »Niemand würde es kaufen«, wiederholte er und ging kopfschüttelnd über den Feldweg zurück zum Auto. Seine Schritte knirschten im Sand, wurden leiser, der aufgewirbelte Staub begann sich schon wieder zu legen.

Anne schaute ihm hinterher, und auf einmal erkannte sie diese immer größer werdende Entfernung zwischen ihnen als ein bildhaftes, klares Omen. Irgendwann in den letzten Monaten hatte es in ihrer Beziehung eine Veränderung gegeben. Sie erinnerte sich, dass sie bei der Einweihungsfeier einer von ihnen mit Zebrafell-Imitaten ausgelegten und zum Wohnhaus umgebauten kleinen Kapelle aus dem 18. Jahrhundert zum ersten Mal eine Verstimmung in sich wahrgenommen hatte. Eine Ahnung davon, wie oberflächlich und gedankenlos die Tätigkeiten ihrer letzten Jahre gewesen waren, streifte sie, während sie zu viel Champagner getrunken hatte und sich immer elender fühlte. Sie stand auf einem kreisrunden Bodenmosaik mitten in der Kapelle, die sie der Lächerlichkeit preisgegeben hatte, die nun die Behausung eines exzentrischen reichen Clowns war, und schämte sich. Ein blauer Strahl aus einem der sonnenbeschienenen Bleiglasfenster fiel in ihr halb volles Glas, und Anne fühlte Tränen ihre Wangen hinunterlaufen. Adam ließ sich derweil feiern, saß auf einer mit schillernder Seide bezogenen Chaiselongue, die den Platz des Altars eingenommen hatte, und war zufrieden mit sich und seiner originellen Welt. In diesem Augenblick hatte sich Anne gefragt, was für ein Mensch er eigentlich war. Wie ein feiner Haarriss, kaum sichtbar, dem Porzellangefäß aber seine Zuverlässigkeit und Resonanz nehmend, begleitete sie fortan ein ungutes, ernüchterndes Gefühl, wenn sie mit Adam zusammen war, und umso mehr alberne Projekte er durchführte und lächerlich hohe Summen dafür kassierte, umso schneller tastete sich der Riss voran.

Anne schreckte auf, als sie die Autotür dumpf zuschlagen hörte. Dann war wieder alles still. Erleichtert blickte sie zu dem dicht mit Efeu bewachsenen Haus hin, das von alten, aber kleinen Obstbäumen umstanden war. Sie sah die ersten Äpfel und Birnen sprießen und einen sonnentrunkenen Schmetterling gegen die blaue Tür taumeln. Im Garten stand eine schmiedeeiserne Pumpe mit geschwungenem Schwengel. Am Hahn hing noch der Eimer.

Etwas aus der sommertrockenen Wiese duftete gewürzhaft aromatisch, das Anne verschwommen zu kennen glaubte, doch sie kam dem Duft nicht auf den Grund.

Sie hörte die Autohupe, ein durchdringender, hässlicher Ton. Langsam stand sie auf, streckte sich, dann holte sie ihren Fotoapparat heraus und machte ein paar Aufnahmen vom Haus. Als sie die blaue Tür abschließen wollte, konnte sie nicht widerstehen, noch einmal die drei Stufen hinaufzugehen. Diesmal hatte sie das Gefühl, als wäre noch jemand dort, als wäre der ursprüngliche Bewohner nur schnell in den Garten geeilt, um ein paar Kräuter für das Abendessen zu pflücken. Vielleicht von denen, die eben so würzig gerochen hatten. Mit klopfendem Herzen stieg Anne die steile Treppe hinauf und stellte sich wieder ans Fenster. Sie konnte bis ans Ende der Felder sehen, die in weiter Ferne sanft in einen blaugrünen Wald übergingen. Sie genoss, dass ihr Blick nirgends anstieß, und seufzte vor Behaglichkeit laut auf. Draußen hupte es wieder mehrmals, doch sie konnte sich nicht losreißen von dieser besonderen Stimmung, den Gerüchen, dem Atmen des Hauses, als wäre plötzlich alles wieder am Fließen, durch die geöffneten Fenster und Türen und durch ihren Körper hindurch. Behutsam und mit dem stumm gegebenen Versprechen, bald wiederzukommen, schloss Anne die Fensterläden. Sie wartete noch einen letzten Augenblick im dämmrigen Licht der Küche, dann ließ sie die Eingangstür hinter sich ins Schloss fallen und drehte einen großen rostigen Schlüssel zweimal herum, den sie anschließend in ihrer Hosentasche versenkte.

Adam saß schlecht gelaunt im Auto und spielte am Radio. Als er Anne kommen sah, ließ er den Motor aufheulen.

»Ich möchte noch ein paar Schritte gehen«, sagte Anne. Zu ihrer Verwunderung zog er nur seufzend den Zündschlüssel ab und stieg aus dem Wagen.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte er.

Anne wäre lieber allein gegangen. Sie liefen die holprige, von mächtigen Linden gesäumte Dorfstraße entlang. Die Bäume schienen oben zusammenzuwachsen, und wie ein grüner Tunnel lag die Straße vor ihnen. Vereinzelte Backsteinhäuschen lugten verschlafen hinter Hecken und Beeten hervor. Ab und zu schlug ein Hund an, Hühner scharrten im Sand. Kein Mensch war zu sehen. Eine südländische Siesta-Atmosphäre lag in der wohlig warmen Luft. Adam sprach pausenlos, sein Handy klingelte in der kurzen Zeit zweimal.

»Sch!«, machte Anne gereizt und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Sei doch endlich still!«

Während Adam sich an einen Baum lehnte und telefonierte, ging Anne zügig weiter. Aus dem nahe gelegenen Wald strömte ein weicher, harziger Duft, der ihr das Herz öffnete und tief in ihrem Innern etwas zum Schwingen brachte. Sie versuchte sich dieses magische Gefühl zu erklären, aber es gelang ihr nicht. Ihr war, als hätte der wohltuende Geruch ihre Seele gestreift und einen silbrigen Klang erzeugt. Anne atmete so heftig ein und aus, dass ihr schwindlig wurde. Begierig nahm sie alles um sich herum wahr, mit geschärften Sinnen und aufgerichteten Nackenhaaren. Weit und breit gab es kein einziges Geschäft, nur einen Briefkasten und inmitten verwitterter Grabsteine eine winzige Kirche, deren Glocke gerade blechern und misstönend zu scheppern begann. Adam hielt sich ein Ohr zu und lachte in komischer Verzweiflung in sein Handy. Wie er in seinem grau schillernden Armani-Hemd – einer Farbe, die so gar nicht hierher passen wollte – unter der alten Linde stand, Sonnentupfen im Gesicht, und die Glocke unaufhörlich bimmelte, beobachtete sie ihn scharf, als müsste sie ihn neu fokussieren.

»Lass uns verschwinden, bevor die Mücken uns fressen!«, rief er, als er sein Telefonat beendet hatte. Ihr Blick wurde ihm unangenehm, und mit schnellen Schritten ging er voraus zum Auto. Nachdenklich trödelte Anne hinterher. Sie schaute ein letztes Mal über die Gärten und Wiesen und erwiderte den Gruß eines alten Mannes, der am Zaun stand und korallenrot blühende Stockrosen daran festband, die doppelt so hoch waren wie er. Anne berührte den Schlüssel in ihrer Hosentasche, und ihr war, als würde er glühen. Als Anne am Abend wieder in ihre geräumige Altbauwohnung kam, schlug ihr eine Welle dumpfer, abgestandener Luft entgegen. Sie erschien ihr ungesund, und während sie zum Fenster eilte, um es zu öffnen, vermied sie es, durch den Mund zu atmen. Adam hatte noch mit zu ihr kommen wollen und Appetit auf Pizza Scampi, gefüllte Champignons und eine kalte Flasche Soave vom italienischen Lieferservice gehabt. Es hatte Anne viel Mühe gekostet, ihn zurückzuweisen, doch sie musste jetzt alleine sein, um zu begreifen, was geschehen war, um sich jedes einzelne Bild des Tages noch einmal in Ruhe vor Augen zu führen. Schließlich täuschte sie Übelkeit vor, und beleidigt setzte Adam sie vor ihrer Haustür ab.

Sommerliche Stadtgeräusche strömten ins Zimmer, ein Autoalarm gellte. Es war fast dunkel draußen. Anne war immer noch sehr heiß. Müde zog sie sich aus und nahm eine lauwarme Dusche. Sie wusch sich die Haare, genoss den frischen Zitronenduft des Shampoos, und ohne sich abzutrocknen schlüpfte sie in ein weißes T-Shirt

Anne war zu durstig, um etwas zu essen. Sie trank eine ganze Flasche Mineralwasser, dann war sie satt. Ruhelos lief sie über knarrendes Parkett durch die Wohnung und machte überall Licht, das den letzten Dämmerzauber aus den Ecken vertrieb. Der Straßenlärm störte sie an diesem Abend besonders. Sie versuchte sich einzureden, dass es wie die Brandung des Meeres klang, aber es gelang ihr nicht. Um sich zu beruhigen, setzte sie sich an den Computer. Eine Fabriketage sollte für einen gerade im Trend liegenden Maler in ein Atelier mit Galerie und Ausstellungsräumen umfunktioniert werden. Er bestand auf viel Granit, Chrom und Acryl, neureiche Achtzigerjahretrends, die ihm nicht auszureden waren. Anne machte der ganze Auftrag keinen Spaß.

»High-Tech-Super-Modern« lautete die Weisung des Künstlers, was die Einrichtung betraf. Er wusste wohl selbst nicht so recht, was er damit meinte, und Anne war erleichtert gewesen, diesem Banausen keine Antiquitäten anbieten zu müssen.

»Ich will einen Tisch aus Alabaster«, sagte er bei ihrem zweiten Treffen. »Geht das?«

Anne hatte sich mit ihm auf der Fabriketage verabredet, um seine genauen Wünsche festzuhalten, die Lichtverhältnisse zu prüfen, Maße zu nehmen.

»Nenn mich doch einfach Eros«, schlug er lächelnd vor.

»Ich duze mich nie mit Kunden«, hatte Anne entgegnet und war sich zu spät bewusst geworden, dass es sich anhörte, als wäre sie eine Prostituierte.

»Zweihundertfünfzig Quadratmeter schwarzen Granit ...«, tippte Anne in den Computer. Ihr Blick verschwamm auf dem stahlblau leuchtenden Bildschirm, der in einer unangenehm hohen Frequenz leise rauschte. Sie hatte Kopfschmerzen. Mit geschlossenen Augen massierte sie sich die Schläfen. Ihre Gedanken schweiften ab, wanderten zurück zu dem Bauernhaus in der Prignitz. Andächtig breitete sie die Polaroid-Aufnahmen vor sich aus und betrachtete jede einzelne ausgiebig. »Das ist das Haus vom Nikolaus«, flüsterte sie. »Niemand wird es kaufen, niemand«, hörte sie Adams Stimme eindringlich.

»Das Haus, das Haus vom Nikolaus«, flüsterte Anne. Sie hatte Angst, der Zauber würde wieder verfliegen.

In den folgenden Tagen arbeitete sie wie besessen an der Fabriketage. Jeden Morgen fuhr sie sehr früh zur Baustelle. Die Granitplatten waren inzwischen eingetroffen. Im Sonnenlicht wirkten sie nicht schwarz, sondern grünlich, und Anne musste sie zurückschicken. Adam sah sie in dieser Zeit jeden zweiten oder dritten Tag. Sie trafen sich zum Mittagessen auf sonnigen Restaurantterrassen und besprachen Geschäftliches.

»Iss nicht zu viel«, mahnte er sie, denn er bevorzugte magere Frauen. Manchmal war sie versucht, sich ihm anzuvertrauen, ihm von der duftenden, singenden Wiese hinter dem Backsteinhaus zu erzählen, von den murmelnden Holunderbüschen und dem orangefarbenen Sonnenviereck, das in die alte, nach Geräuchertem riechende Bauernküche gefallen war, aber sie hielt sich zurück. Sie wusste, dass er sich über sie lustig machen würde. Tagsüber schuftete sie wortkarg für die Fabriketage, nachts schlief sie schlecht. Ein ständig im Hinterhof laufender Ventilator erfüllte die Luft mit Vibrationen, die viele Wege nahmen, sich durch Wände fraßen, bis in ihr Schlafzimmer gelangten und sich auf den Wellen ihres leichten Schlafes brummend bis in ihren Kopf bohrten. Anne fragte sich erschrocken, warum es ihr noch nie aufgefallen war.

Sie begann die Abende alleine zu verbringen und sich darauf zu freuen. Anstatt wie früher mit Adam auf Partys zu gehen oder bis spätabends mit Auftraggebern, Stoffmustern und Grundrissen in Restaurants zu sitzen, machte es sich Anne nun auf dem Balkon in einem Schaukelstuhl gemütlich, neben sich eine Flasche Wein oder eine Kanne Tee. Sie umfasste ihre angezogenen Knie und starrte in den nächtlichen Himmel. Während sie sich sanft hin und her wiegte, war ihr, als hätte sich ihr Lebenssinn verlagert, plötzlich und ohne Vorwarnung, und sie beschloss eintreffen zu lassen, was auch immer da auf sie zukam. Es schien unabwendbar zu sein.

Stunde um Stunde saß Anne auf ihrem winzigen Balkon, bis die Kufen des Schaukelstuhls an die Wände stießen. Dann stand sie auf, um neuen Tee zu kochen oder Wasser zu holen. Sie rückte den Stuhl zurecht und setzte sich wieder hinein, sich unermüdlich vor und zurück wiegend. Den Kopf nach hinten gelehnt, schaute sie in das Stück Himmel, das die umstehenden Hochhäuser freigaben. Sie beobachtete die schmale Sichel des Mondes, die vor Mitternacht wieder verschwunden war. Anne wurde sich bewusst, wie wenig sie bisher wahrgenommen hatte. Alles Natürliche schien vom Gebrüll der Stadt verscheucht oder geschmälert zu werden und an Bedeutung zu verlieren. Mit klopfendem Herzen bemerkte sie, dass sie nicht einmal die Himmelsrichtungen bestimmen konnte, dass sie nicht wusste, in welche dieser Richtungen ihre Wohnung hinausging. Sie begann nachzudenken, und ihr fiel ein, dass am späten Nachmittag Sonnenstrahlen auf ihren Toilettentisch im Badezimmer fielen und die darauf stehenden Parfumflacons und Kristalltierchen in allen Farben des Regenbogens aufflammten. Manchmal schlief sie im Schaukelstuhl ein, und bevor sie mit steifem Nacken und schmerzenden Gliedern frierend erwachte, sah sie im Traum bänder- und blumengeschmückte Erntewagen über die holprige Dorfstraße fahren, sah es auf den Feldern hell und dunkel, Frühling, Sommer, Herbst, Winter und wieder Frühling werden, sah Zeiten und Menschen kommen und gehen und sehnte sich danach, an diesem unendlichen Reigen teilzunehmen.

Sie saß mit Adam im Fischrestaurant La Mer, als sie i hm mitteilte, dass sie bald für einige Tage zu dem alten Backsteinhaus mit der blauen Tür fahren wolle. Der Name des Restaurants und die mit allerlei getrockneten Krustentieren und Fischernetzen dekorierten Wände und Decken erschienen Anne übertrieben. An den offenen Fenstern floss in einem schmalen Betonbett die braune Spree vorüber. Ab und zu hörte sie das Tuckern von Lastkähnen und kurz darauf müdes Wellenschwappen.

»Du wirst hier noch gebraucht«, sagte Adam und blickte arrogant auf seine gepflegten Hände, die mit einer Zigarettenschachtel spielten. »Du musst die Handwerker jeden Tag auf der Baustelle überwachen, sonst pfuschen sie. Die hätten den grünen Granit todsicher verlegt, statt ihn zurückzuschicken, und außerdem ...« Er machte eine kleine Pause, dann holte er sein zerfleddertes kalbsledernes Notizbuch hervor, dem er zwei aneinander geheftete Bogen entnahm. »Vergiss die alte Bruchbude da draußen. Wenn du unbedingt willst, schauen wir uns bei Gelegenheit mal das alte Jagdschloss in Bad Wilsnack an. Oder irgend so etwas in der Art, aber vorher ...«, mit einer eleganten Bewegung legte er Anne die Blätter auf ihren leeren Teller, »... machen wir das hier.«

Anne blickte kurz darauf. »Was ist das?«

»Unser neues Projekt«, flüsterte er geheimnisvoll. Dann konnte er sich nicht länger beherrschen. Ein Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht und entblößte makellos weiße Zähne. »Ein ehemaliger Bunker. Hab ihn schon besichtigt. Wahnsinnig morbide. Da machen wir was ganz Tolles draus, mit roten Wänden und Kandelabern.«

Anne schüttelte den Kopf. »Ich will nicht.«

Mit finsterer Miene zündete er sich eine Zigarette an. Das noch brennende Streichholz warf er zielsicher auf den Brotteller, wo es einen kleinen schwarzen Kreis ins Porzellan brannte und dann verlosch. In diesem Moment brachte der Kellner eine große Portion Austern. Adam nahm noch zwei tiefe Züge an der Zigarette und drückte sie dann aus. Eine steile Zornesfalte war zwischen seine Augen getreten. Anne beobachtete, wie er seine Gabel wütend in das grüngraue Austernfleisch stach, es mit einem Ruck aus der Schale riss und vorsichtig, fast sanft, wieder zurücklegte, um es dann in seinen Mund zu saugen und im Ganzen zu verschlucken.

»Ich hätte gerne ein Glas Rotwein«, brach Anne das Schweigen.

»Das passt nicht zum Fisch.« Adam sah sie unfreundlich an.

Während er im weiteren Verlauf des Abends nur noch über sein Bunkerprojekt redete, erste Ideen spann und sofort wieder verwarf, aß und trank Anne genussvoll und konzentriert. Ab und zu schweifte ihr Blick über das vertrocknete Meeresgetier an den Wänden, und sie fragte sich, warum es keinen unangenehmen Geruch verströmte.

»Hörst du mir zu?«, fragte Adam plötzlich. Seine Hände waren in einer kraftvollen Geste mitten in der Luft stehen geblieben.

»Ja, ja«, antwortete Anne schnell mit vollem Mund und fühlte sich ertappt.

»Was isst du so viel?« Angewidert starrte er auf ihren fast leeren Teller. Mit glühenden Wangen schluckte Anne den letzten Bissen hinunter. »Also, was meinst du?«, fragte er dann und begann sein inzwischen kalt gewordenes Fischfilet zu zerteilen.

»Ich mache nicht mit«, sagte sie ruhig.

»Was?« Adam beugte sich über den Tisch, als hätte er sie nicht verstanden.

Anne wischte sich den Mund mit einer Serviette ab, dann schüttelte sie den Kopf.

»Hör zu«, sagte Adam aufgebracht. »Der Auftrag sieht uns beide vor. Wir sind als Team engagiert, verstehst du? Ohne Anne kein Vertrag.«

»Nein. Ich habe mich anders entschieden«, entgegnete Anne und holte tief Luft. Dann erzählte sie ihm mit fester Stimme, dass sie einen Kredit aufgenommen habe und die erste Anzahlung auf das alte Bauernhaus in der Prignitz kürzlich in ihrem Namen erfolgt sei. Während sie sprach, wurde Adam blass. Krachend kippte sein Stuhl nach hinten, als er wutschnaubend aus dem Restaurant eilte und Anne mit vielen neugierigen Blicken und der offenen Rechnung zurückließ. Sie bestellte sich ein Glas Rotwein, und während sie mit klopfendem Herzen ihre Nachspeise löffelte, war sie stolz auf sich, nach so vielen Jahren endlich eine Entscheidung alleine getroffen zu haben.

Lauschend stand Anne am nächsten Morgen in der Küche ihres Hauses. Noch hatte sie keine Fensterläden geöffnet, als wollte sie die Hausgeister nicht stören. Sie atmete tief den erdigen Geruch ein, der ihr merkwürdig vertraut erschien. Draußen flirrte lautlos der Spätsommertag. Anne wurde sich bewusst, wie allein sie in diesem alten Backsteinhaus war, das so einsam in den Feldern lag.

Ihren alten Fiat hatte sie voller Dinge geladen, die ihr für den Anfang wichtig erschienen – eine Taschenlampe, ein Schlafsack mit Decke, Mineralwasser, ein Besen und eine Schachtel Kekse. Sie fühlte sich abenteuerlustig wie ein unartiges, von zu Hause ausgerissenes Mädchen, wie ein Glücksritter aus längst vergessenen Kinderbüchern.

Mitten im verwilderten Garten breitete sie die Decke aus und legte sich aufseufzend darauf. Sie streckte Arme und Beine weit von sich und blickte in den Himmel. Eine Weile dachte sie an die Telefonate, die sie unbedingt noch führen sollte, an Möbelstoffmuster, die verschickt werden mussten, und wieder kam ihr ihr Leben so ungelebt vor, ohne Kanten, ohne Tiefe. Ein Leben, in dem neurotische Kundschaft launisch darüber urteilte, ob ein Wildledersofa jadegrün oder türkis zu sein hatte, in dem sich alles darum drehte, jeden neuartigen Gestaltungstrend originell umzusetzen. Der erschreckende Gedanke »Wo führt es dich hin, wenn du so weitermachst?« ließ sie frösteln.

»Ich bin sehr erfolgreich, verdiene viel Geld, und mein ob macht mir Spaß«, sagte sie halblaut und lauschte ihrem eigenen Satz, der wie eine schräge Tonleiter in der Luft hing.

»Und wenn du einfach hier bliebest?«, forschte die ungefragte Stimme in ihrem Innersten. »Wenn du dich unsichtbar machen würdest und hier bliebest?«

Verwirrt schloss Anne die Augen, lauschte dem beruhigenden Klang einer übereifrigen Grille, die ihr direkt ins Ohr zu musizieren schien, und schlief ein.

Erst Stunden später erwachte sie nass geschwitzt. Sie fühlte sich zerschlagen und beschloss, ein wenig spazieren zu gehen. In Gedanken versunken lief sie um das Haus herum. An der Südseite entdeckte sie ein morsches, an vielen Stellen zerbrochenes Spalier, durch das einmal eine prächtige Rose geklettert sein musste. Die toten, starren Zweige, voller Stacheln und von Unkraut erstickt, stimmten Anne traurig. Langsam ging sie über den Feldweg auf die Dorfstraße. Vor dem kleinen Friedhof blieb sie stehen. Unschlüssig blickte sie über eine Hand voll Gräber. Sie dachte an den blechernen Klang der Kirchenglocke, an Adam in seinem grauen Hemd. Als würde sie etwas Verbotenes im Schilde führen, schaute sie sich um, bevor sie lautlos die Pforte öffnete und den Friedhof betrat. Im frisch geharkten Kies hinterließ jeder knirschende Schritt eine vage Fußspur. Anne fand den Grabstein von Maria L. Reckenzien, geboren 1908, gestorben 1998.

Daneben den von Emilie Reckenzien. Der Geburtstag der Tochter war auch der Sterbetag der Mutter gewesen. Im Schatten eines großen Magnolienbaums stand ein rötlicher Feldstein.

»Runa – Hebamme in Liebe« stand in schwarz angelaufenen Messinglettern darauf.

Die Inschrift gefiel Anne gut, und sie blieb lange dort stehen.

»Hebamme in Liebe«, flüsterte sie, verzaubert vom Klang dieser Worte.

Am äußersten Rand des Friedhofs stieß sie auf ein grün bemoostes Grabmal, das völlig verwildert dalag.

»Hildegard Reckenzien« stand darauf, und der Grabstein aus porösem grauem Marmor begann bereits zu bröckeln. Anne fror plötzlich. Sie wollte gehen, kreuzte beim Verlassen des Friedhofs ihre eigenen Schritte und ließ scheppernd das schmiedeeiserne Törchen hinter sich zufallen. Ein leichter Wind war aufgekommen. Anne fühlte sich nicht gerade aufgemuntert. Sie wusste nicht, was sie unternehmen sollte, und ging deprimiert in das verfallene Bauernhaus zurück. Dort stieg sie die schmale Holztreppe nach oben und stellte sich wie bei ihrem ersten Besuch an das offene Fenster mit dem Birnbaum davor. Sie pflückte sich eine Frucht und genoss kauend den Blick über wogende Maisfelder, in denen eine glühende Sonne fast ganz versunken war.

Im Zimmer herrschte jetzt graues Licht. In den Ecken sammelte sich Dunkelheit wie kauernde Gestalten. Plötzlich wurde es Anne unbehaglich zumute. Die einsame Landschaft, die bei Tageslicht noch so malerisch und unverdorben gewirkt hatte, flößte ihr auf einmal Angst ein. Ihr war, als würde all die Leichtigkeit des hellen Tages in eine düstere Bedrohung umkippen, in einen nicht enden wollenden Schrecken. Sie richtete sich ihr Nachtlager her, rollte den Schlafsack auf dem dreckigen Fußboden aus und öffnete die Keksschachtel. Im Schein einiger Kerzen versuchte sie in einer Zeitschrift zu lesen, doch es strengte ihre Augen zu sehr an, sodass sie es bald wieder aufgab. Hunger hatte sie nicht, müde war sie nach dem verschlafenen Nachmittag auch nicht. Eine Zeit lang beobachtete sie den ruhigen Schein der Kerzen, die sie ans Fenster gestellt hatte. Sie hörte huschende Schritte über sich.

»Ein Marder auf dem Dachboden«, beruhigte sie sich leise und legte sich die Hände auf ihr pochendes Herz. »Nur ein Tier.«