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Die Elbe. Ein idyllischer Fluss und ein grausamer Fund. Zwei jugendliche Angler ziehen Leichen aus dem Wasser. Nicht eine, sondern zwei. Die jungen Frauen wurden gefesselt, in Jutesäcke gesteckt und blind dem Fluss übergeben. Für Kommissarin Bergmann von der Dresdner Mordkommission beginnt ein Albtraum. Denn die Spuren deuten auf ein Muster hin: Ein Serientäter, der seine Opfer wie Meerjungfrauen inszeniert. Als der Fall an das LKA Sachsen unter Benno Mickerts übergeht, eskaliert die Jagd. Zusammen mit dem exzentrischen Privatdetektiv Jules van Dyck stoßen die Ermittler auf ein verstörendes Detail. Jedes Opfer trägt ein Tattoo. Das Bild einer Nixe. Doch was bedeutet das Symbol? Und wer ist der nächste? Eine atemlose Verfolgungsjagd durch ganz Deutschland beginnt. Denn der Killer hat einen Plan. Und er ist noch nicht fertig.
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Seitenzahl: 289
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für meine Lektorin Kerstin
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Epilog
Leseempfehlung
Die Klimaanlage surrte leise im Hintergrund, doch am Ende ihres langen Bürotages nahm Kerstin sie nicht mehr wahr. Die attraktive Blondine mit den auffallend smaragdgrünen Augen hatte ihr Haar wie immer zu einem Zopf gebunden, der ihre langen Strähnen – bis auf eine widerspenstige, die ihr in die Stirn fiel – im Zaum hielt.
Konzentriert beugte sie sich über ihren Schreibtisch und studierte ein frisch verteiltes internes Papier zum Umgang mit Konkurrenzfirmen der Immobilien- und Automobil-Leasingbranche in Deutschland. Eigentlich nichts Besonderes. Sie kannte den Standpunkt ihres Seniorchefs Richard und teilte seine Überzeugung, dass Fairness gegenüber Mitbewerbern die Maxime der Geschäftsleitung sein sollte. Doch Joachim sah das anders.
Der Streit zwischen Vater und Sohn wurde inzwischen so offen ausgetragen, dass ihre lautstarken Auseinandersetzungen selbst durch geschlossene Türen an die Ohren der Mitarbeiter drangen. Joachim Ingwerson hatte eine, wie Kerstin fand, brutalere Geschäftsphilosophie. Sein Umgang mit Mitbewerbern und Mitarbeitern war alles andere als freundlich.
Zweifellos hatte Joachim die Attraktivität seines Vaters geerbt. Mit dem markanten Gesicht, dem silbergrauen Haar und den stechend blauen Augen wirkte Richard fast schon beeindruckend. Doch während der Seniorchef mit Charme und Intellekt überzeugte, setzte sein Sohn auf andere Mittel. Mit strahlendem Lächeln und lockeren Sprüchen lud er Mitarbeiterinnen zu Spritztouren in seinem Carrera ein, die oft genug in einer Bar endeten – und danach in seinem Bett.
Kerstin konnte mit seinen plumpen Avancen nichts anfangen. Sie ahnte, dass eine Liaison mit Joachim ihrer Karriere in der Firma nicht dienlich wäre, und hatte seine Bemühungen stets abgeblockt.
Als das Unternehmen Ende der Neunziger von Bamberg nach Weißig, vor die Tore Dresdens, umzog, hatte für Richard praktische Gründe. Es ging nicht nur um geringere Gewerbesteuern oder ein günstiges Grundstück, sondern vor allem um die bessere Auswahl an fähigen und fleißigen Arbeitskräften.
Auch Kerstin hatte vor drei Jahren ein attraktives Jobangebot von der Leasingfirma erhalten. Entscheidend war für die 28-jährige Betriebswirtin nicht das Gehalt, sondern der freundliche und charismatische Chef, dem sie bis heute kaum etwas abschlagen konnte. Wenn Richard sie mit seinen treuen blauen Augen ansah und um einen Gefallen bat, fiel es ihr schwer zu widerstehen.
Ganz anders sein Sohn. Joachim galt als unverbesserlicher Schürzenjäger, dessen Ruf ihm längst vorauseilte. Trotz seines guten Aussehens war er nur bei wenigen Mitarbeitern beliebt. Seine arrogante Art, von oben herab mit den Angestellten umzugehen, ließ Kerstin erahnen, wie es sein würde, wenn er eines Tages die Firma übernahm.
Noch sechs Minuten bis Feierabend.
Ein sonniges Juliwochenende lag vor ihr.
Kerstin ließ den Blick durch das Großraumbüro schweifen, das fast die gesamte Etage einnahm. Beatrix flirtete ausgiebig mit ihrem Handy, während Paula lustlos ihre Nägel lackierte.
Vier Minuten noch.
Kerstin öffnete eine Schublade und legte das interne Rundschreiben zusammen mit ein paar Kleinigkeiten von ihrem Schreibtisch hinein. Sie nickte Sandra kurz zu, mit der sie sich nach Büroschluss am Elbufer auf eine Schorle verabredet hatte. Gerade als sie die Schublade zuschob, fiel ihr eine auffällige Bewegung am Ende des Büros auf.
Joachim Ingwerson war aus dem Aufzug getreten. Zielstrebig schritt er im Stechschritt durch die Reihen, ohne die Mitarbeiter eines Blickes zu würdigen, obwohl es nur noch wenige Minuten bis Dienstschluss waren. Mit in die Hüften gestemmten Armen blieb er vor Paulas Schreibtisch stehen und musterte die junge Frau mit stechendem Blick.
»Frau Kleinschmidt.« Seine Stimme klang kalt und schneidend, aber laut genug, dass alle es hören konnten.
»Herr Ingwerson!«, erwiderte Paula mit übertrieben fröhlicher Stimme und sah ihm herausfordernd in die Augen. Ein paar Angestellte warfen sich verstohlene Blicke zu.
»Wir arbeiten hier bis 17 Uhr«, sagte er scharf und deutete mit einem arroganten Kopfnicken auf das rote Nagellackfläschchen auf ihrem Schreibtisch. »Und nicht bis Ihr Nagellack trocken ist.«
Ein leises Kichern aus einer Ecke des Büros.
»Oh, wie unachtsam von mir«, erwiderte Paula und wedelte theatralisch mit den Händen, als wolle sie den Lack schneller trocknen lassen. »Aber wissen Sie was? Jetzt ist es 17 Uhr!«. Sie zeigte auf die große Bahnhofsuhr an der Wand.
Joachims Gesicht verfinsterte sich. »Sie sind in der Probezeit. Und wissen Sie, was das bedeutet? Sie sind gefeuert!«, verkündete er mit triumphierendem Grinsen.
Paula beugte sich langsam vor und fixierte ihn mit einem funkensprühenden Blick. »Sie müssen mir nicht kündigen, Herr Ingwerson. Ich gehe sowieso. Und wissen Sie, warum?« Ihre Stimme senkte sich zu einem gefährlichen Flüstern, das dennoch durch den Raum hallte. »Weil ich genug von Ihnen habe. Von Ihrem widerlichen Blick, wenn Sie glauben, es merkt keiner. Von Ihrem selbstgefälligen Gehabe.« Sie richtete sich auf und lachte kurz. »Aber seien Sie ehrlich: Sie feuern mich doch nicht, weil ich mir die Nägel lackiere, sondern weil ich Ihnen keinen geblasen habe!«
Ein raunenhaftes Kichern ging durch die Reihen, jemand unterdrückte ein Husten. Das Lächeln in den Gesichtern der Kollegen war unübersehbar.
Joachim wurde puderrot. »Packen Sie Ihre Sachen und verlassen Sie sofort das Gebäude!«, brüllte er.
»Oh, wie schrecklich«, rief Paula gespielt schockiert. »Sie schicken mich fort! Was werde ich nur tun? Ach ja!«, sie grinste spöttisch. »Feiern! Denn ehrlich, Herr Ingwerson, ich habe genug von Ihnen. Und noch ein Tipp: Falls Sie das Bedürfnis nach weiblicher Aufmerksamkeit verspüren, wie wäre es mal mit einer, die Ihnen freiwillig Aufmerksamkeit schenkt? Das nennt man dann, Sie wissen schon, Konsens.«
Lautes Gelächter brach aus. Joachim öffnete den Mund, schloss ihn wieder und wurde noch röter. Ohne ein weiteres Wort drehte sich Paula um, griff nach ihrer Tasche und stolzierte zum Aufzug.
Joachim stand erstarrt da, dann folgte er ihr mit hochrotem Kopf. Als sich die Aufzugtüren hinter ihm schlossen, explodierte das Büro förmlich in schallendem Gelächter. Kerstin sah, wie Sandra sich den Bauch hielt.
»Endlich hat es mal jemand diesem Schleimer gezeigt!«, rief sie atemlos.
Kerstin nickte. »Aber Paula tut mir leid. Das hat sie nicht verdient.«
»Ach, ich glaube, sie hat auf genau diesen Moment gewartet«, grinste Sandra. »Komm, lass uns hier verschwinden. Ich brauche jetzt unbedingt eine Schorle!«
»Okay. Vielleicht treffen wir Paula noch auf dem Parkplatz«, sagte Kerstin und folgte ihrer Kollegin.
Draußen stand Paula bereits bei ihrem Smart. »Schön, dass du diesmal dabei bist«, sagte Sandra. »Ich habe uns ein Taxi gerufen. Heute wird gefeiert!«
»Ist dir nach Feiern zumute?«, fragte Kerstin vorsichtig.
Paula lachte. »Du meinst wegen diesem Witz von einem Chef? Gerade deshalb!«
»Aber jetzt bist du arbeitslos«, bemerkte Kerstin.
Paula winkte ab. »Na und? Meine Eltern haben genug Geld, und mein Vater wollte sowieso, dass ich Medizin studiere. Also, warum nicht jetzt?«
Oberkommissar Klaus Mühlental aus der Kreisstadt Radebeul war mit seinen zwei Kolleginnen über die große Wiese am Deich der Elbe gekommen. Zwei Jugendliche, die dort angelten, hatten die Polizei gerufen. Die Beamten ließen ihren Wagen oben stehen und stiegen vorsichtig den rutschigen Deich hinab. Das junge Pärchen winkte ihnen hektisch zu.
Plötzlich rannte die junge Frau los. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, ihr Atem ging stoßweise.
»Es ist so schrecklich!«, schluchzte sie und klammerte sich an den Arm einer Beamtin.
»Ganz ruhig, erzählen Sie der Reihe nach», sagte die Polizistin sanft und nahm ihre Personalien auf. »Was genau ist passiert?«
Sven Schneider trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. Sein Gesicht war blass, die Hände rieben nervös aneinander.
»Wir … wir angeln hier seit dem frühen Morgen«, stammelte er. »Vor etwa 45 Minuten zog plötzlich etwas heftig an einer unserer Angeln. So stark, dass es unmöglich ein Fisch gewesen sein konnte.«
»Wieso kein Fisch?«, fragte der schlanke Kommissar.
Sven schüttelte heftig den Kopf. »Zuerst dachte ich an einen großen Hecht oder Zander. Aber das war anders. Fische zappeln, reißen aus, kämpfen. Doch das hier war nur schwer. Einfach nur schwer. Ich habe erst geflucht, weil ich glaubte, dass sich Treibgut verfangen hat. Aber dann … dann …« Er schluckte hart und schüttelte sich.
Die junge Frau schluchzte erneut auf und presste die Hände vor den Mund.
»Bitte schauen Sie selbst«, sagte Sven mit brüchiger Stimme. «Wir haben nichts angerührt. Nur die Angel fixiert und sofort die Polizei gerufen.«
Mit stockendem Atem führte er Mühlental ein Stück weiter, hinter Büsche, die am Ufer wuchsen.
Dem Oberkommissar klappte vor Schreck der Mund auf. Seit über 25 Jahren war dies der erste Mordfall im näheren Umkreis von Radebeul.
Zwischen den Wurzeln und Ästen lagen zwei reglose Körper. Über ihren Köpfen waren grobe Säcke fest verschnürt. Der Geruch von Algen und Moder mischte sich mit etwas Schwererem, Metallischem. Blut.
Mühlental schloss kurz die Augen, dann griff er nach seinem Handy, machte einige Fotos und rief bei der Mordkommission in Dresden an.
»Bringt gleich die Spurensicherung mit. Ich schicke euch die ersten Bilder. Es eilt!«, sagte der 54-Jährige knapp und schaltete das Handy aus.
Elisa rang sichtlich um Fassung. Ihr Blick haftete an den Leichen, während sie unbewusst einen Schritt zurückwich.
»Elisa«, sagte Mühlental mit fester Stimme. »Sorge dafür, dass das Gelände weiträumig abgesperrt wird. Die Absperrbänder müssten im Wagen sein.«
Die Polizistin nickte fahrig.
»Und sage Karin, dass sie die beiden zur Vernehmung aufs Revier bringen soll. Wir brauchen ihre Aussagen.«
Sven stand noch immer reglos da. Seine Freundin klammerte sich an seinen Arm, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen.
Mühlental atmete tief durch. Das würde eine lange Nacht werden.
»Ja, Chef. Wir haben doch diese Psychologin im Ort. Sollen wir sie nicht hinzuziehen?«, fragte sie.
»Noch nicht. Wir warten ab, was die Kollegen aus Dresden sagen. Aber du kannst sie schon mal informieren, dass wir sie vielleicht bald brauchen.«
Es dauerte eine Weile bis sie das Gelände mit rot-weißem Flatterband soweit abgeriegelt hatten, dass der Fundort zumindest halbwegs gesichert war. Nachdem Polizeiobermeisterin Karin Schneider die beiden Jugendlichen zur späteren Befragung auf die Wache gebracht hatte, wartete Mühlental mit seiner Kollegin noch fünfundzwanzig Minuten auf das Eintreffen der Dresdner Mordkommission.
Er zählte sieben Fahrzeuge, die mit Blaulicht über die Wiese bis zum Deich fuhren. Vier der neun Beamten trugen weiße Einwegoveralls und Handschuhe, dazu Alukoffer in den Händen. Spurensicherung, dachte Mühlental und ging ihnen entgegen.
»Carolina Bergmann, Mordkommission Dresden«, stellte sich eine ungewöhnlich attraktive Frau vor. »Wo ist der Fundort?«
Die brünette Kommissarin schätzte Mühlental auf Mitte dreißig. Ihre strahlende, leicht gebräunte Haut wirkte gesund.
»Oberkommissar Mühlental, Radebeul. Kommen Sie«, erwiderte er und führte sie zum Elbufer. Vorsichtig bahnte er sich durch das hohe Gras einen Weg zur Fundstelle.
»Dort«, sagte er und deutete auf die Leichen.
»Ich hoffe, Sie haben keine Spuren verwischt«, entgegnete sie und winkte die drei Männer und die Frau von der Spurensicherung heran.
»Bis auf die beiden jugendlichen Angler ist niemand den Toten zu nahegekommen. Ich habe das Gelände sofort sichern lassen«, sagte er und betrachtete erneut die um gut zwanzig Jahre jüngere Frau. Ihre hohe Stirn, die vollen Lippen und die schlanke, sportliche Figur fielen ihm auf. Die enganliegende hellblaue Jeans betonte ihre femininen Rundungen.
»Gut. Dann lassen wir die Kollegen mal ihre Arbeit machen. Wo sind die Angler? Ich würde sie gerne befragen«, sagte sie und schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
»Ich habe sie aufs Revier bringen lassen«, erwiderte er und rief seine Kollegin herbei. »Elisa! Würden Sie meine Kollegin und mich mitnehmen?«
Er hielt kurz inne, dann sprach er in niedergeschlagenem Tonfall: »Ich kann es nach wie vor nicht fassen.«
Die Kommissarin legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Auch wenn ich bei der Mordkommission bin – jeder Fall berührt mich. Dieser besonders. Kommen Sie mit zu meinem Wagen.«
Mühlental saß neben der Polizistin und rang mit sich, sie nicht anzustarren. Ihr aufgeworfener Mund und die geschwungenen Linien ihres Körpers machten es ihm schwer wegzusehen.
»Dort vorne rechts«, sagte er abrupt. »Dann sind wir da.«
Er brauchte Ablenkung.
Als Carolina Bergmann den Vernehmungsraum betrat, spürte sie sofort die Anspannung in der Luft. Natascha Grönitz und Sven Schneider saßen ihr blass und nervös gegenüber.
Sie schenkte ihnen ein beruhigendes Lächeln. »Bergmann. Ich habe nur ein paar Fragen an Sie.«
»Unsere Daten haben wir doch schon Ihrer Kollegin gegeben«, warf Sven ungeduldig ein.
Natascha spulte ihre Personalien mechanisch herunter. Sven tat es ihr nach, aber rollte ungeduldig mit den Augen.
»Hören Sie«, fuhr er dann auf. »Sie sehen doch, wie es meiner Freundin geht! Können wir das nicht einfach schnell hinter uns bringen?«
»Ich verstehe Sie. Wir brauchen auch nicht lange. Erzählen Sie mir, was Sie wissen.«
Seine Stimme bebte leicht, als er antwortete: »Wir wollten einfach nur einen entspannten Tag an der Elbe. Grillen, ein paar Dosen Bier, ein bisschen abschalten. Und dann …« Er schluckte. »Dann haben wir diesen grausigen Fund gemacht. Ich habe sofort die Polizei gerufen. Mehr gibt es nicht zu erzählen.«
»Gut. Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an« Bergmann schob ihm ihre Karte zu.
Sie sah, wie Natascha am ganzen Körper zitterte.
»Braucht Ihre Freundin etwas zur Beruhigung?«
»Sobald wir zu Hause sind.«
»Ich lasse eine Ärztin kommen. Sie dürfen jetzt gehen. Soll ich Sie nach Hause bringen lassen?«
»Nicht nötig. Ich bringe sie zu ihren Eltern. Die wohnen in der Nähe.«
Bergmann nickte und begleitete sie bis zur Tür.
Ihr Handy klingelte.
»Bergmann.«
»Die Leichen sind auf dem Weg in die Gerichtsmedizin«, meldete Boris. Seine Stimme klang angespannt. »Zwei Frauen. Kaum älter als 25. Sie waren mit verzinkten Eisenketten aneinandergefesselt. Über den Köpfen Jutesäcke, mit Kabelbindern verschnürt.« Eine Pause. »Ein verdammter Albtraum.«
Ein eiskalter Schauer lief Bergmann über den Rücken.
»Spuren?«
»Keine Fingerabdrücke. Die Säcke stammen aus dem Baumarkt, genau wie die Ketten. Aber es gibt etwas: Vor 19 Monaten wurde eine Frauenleiche bei Wittenberg aus dem Wasser gezogen.«
»Und?«
»Unidentifiziert. Die Fische haben kaum etwas von ihr übriggelassen. Aber …« Er hielt kurz inne. »Sie war ebenfalls mit einer Eisenkette gefesselt. Ebenfalls ein Jutesack über dem Kopf.«
Bergmanns Herz schlug schneller.
»Wir haben einen Serienmörder.«
Ihre eigene Stimme klang fremd in ihren Ohren.
»Boris, finde raus, ob es in den letzten fünf Jahren ähnliche Fälle entlang der Elbe gab. Jedes noch so kleine Detail!«
»Verstanden.«
»Und die Spurensicherung?«
»Noch keine weiteren Ergebnisse.«
»Ich mache denen Druck. Das LKA muss eingeschaltet werden. Sofort.«
Sie legte auf. In ihrem Magen bildete sich ein harter Knoten.
Zwei Leichen in der Elbe. Zwei gefesselte Frauen.
Und irgendwo da draußen war ein Mörder.
Einer, der längst nicht fertig war.
Die Sonne stand am 3. Juli hoch, als die drei Frauen den Biergarten erreichten. Der Duft von frisch Gezapftem und herzhaftem Essen lag in der Luft, fröhliches Stimmengewirr vermischte sich mit dem Klirren der Gläser. Kerstin ahnte, dass es ein langer und unterhaltsamer Abend mit den Kolleginnen werden würde. Vor zehn Uhr würde es nicht dunkel werden, und die Temperaturen versprachen auch nachts angenehm zu bleiben.
An dem einzigen freien Tisch saß bereits Ingolf und winkte ihnen grinsend zu. Natürlich hatte er es wieder einmal geschafft, einen der begehrten großen Rundtische mit Sonnenschirm zu reservieren. Es musste sein Charme sein, mit dem er das zumeist weibliche Personal in der „Kulisse“ bezirzte, bis er bekam, was er wollte.
Kerstin kannte den jungen Mann aus der Buchhaltung aus der Zeit, als sie noch mit Thomas zusammen gewesen war. Ingolf Kottner, 21 Jahre alt, groß gewachsen und durchtrainiert. Er zog mit seinen braunen Augen, der gebräunten Haut und den strahlend weißen Zähnen Blicke auf sich und das wusste er nur zu gut.
»Hey, Ingolf. Wie kann es sein, dass du schon vor uns hier bist?«, fragte Paula und ließ sich ihm direkt gegenüber auf einen Stuhl fallen.
»Hallo, Mädels«, begrüßte er sie grinsend. »Ich hatte heute frei. Sonst hätte ich ja nicht für uns reservieren können.« Mit einem lässigen Augenzwinkern lehnte er sich zurück.
Mädels, dachte Kerstin, während sie sich setzte. Sie mochte solche Begriffe nicht. Zu oft wurden sie benutzt, um Frauen herabzusetzen. Von einem anderen Mann hätte sie sich diesen Chauvi-Spruch nicht bieten lassen. Aber Ingolf war eben Ingolf. Und ein bisschen Charme ließ sie ihm durchgehen.
»Hallo, Bürschlein«, konterte sie stattdessen. »Na, wie läuft die Erbsenzählerei in deiner Abteilung?«
»Bürschlein?!«, wiederholte er empört und setzte eine leidende Miene auf. »Ich bin ein gestandener Mann, kein Bubi!«
»Gestandener Mann?«, mischte sich Paula ein und musterte ihn gespielt kritisch. »Wenn du hier noch Milch trinken würdest, müsste ich mir ernsthaft Sorgen machen.«
»Ich trinke Bier, Paula!«, protestierte er und hob demonstrativ sein Glas.
»Schäumt genauso«, grinste sie.
Kerstin schüttelte amüsiert den Kopf. »Dann hoffen wir mal, dass uns Ingolf heute nicht unter den Tisch trinkt.«
»Wenn ihr meine Einladung nicht annehmt, trinke ich zur Strafe alles selbst«, drohte Ingolf lachend und winkte eine Kellnerin heran. »Also, was darf’s sein?«
»Moment mal«, sagte Sandra und sah ihn misstrauisch an. »Seit wann bist du so spendabel? Hast du heimlich Aktien an der Firma gekauft oder willst du uns betrunken machen, um an unser Insiderwissen zukommen?«
»Ich bin ein Gentleman«, erwiderte er mit gespielter Empörung.
»Oder du hast einfach zu viel Trinkgeld von den Mädels hier abgestaubt«, konterte Paula und deutete mit dem Kinn auf die Bedienung, die ihm bereits ein Lächeln zuwarf.
»Ich kann auch nichts dafür, wenn mich das Personal mag«, sagte er grinsend.
»Und wie sehr mag dich Joachim?«, warf Sandra trocken ein.
»Du hast doch davon gehört?«, fragte ihn Paula und Ingolf nickte.
»Paula wurde von dem Kerl gefeuert!«, erklärte Sandra.
»Aber nicht, ohne ihm vorher ordentlich Kontra zu geben!«, stellte Paula klar.
»Ihr kennt die Firma. So was spricht sich schnell herum«, sagte Ingolf und nahm einen Schluck. »Aber lasst uns nicht über diesen Idioten reden. Die erste Runde geht auf mich.«
»Apropos Firma«, sagte Kerstin, während die Kellnerin die Bestellung aufnahm. »Könnt ihr euch noch an Yvonne Dahlmann erinnern?«
»War das nicht diese blonde Praktikantin, die sich nur um die Ablage kümmern sollte?«, fragte Sandra und nickte gleichzeitig.
»Kenne ich nicht«, meinte Paula.
»Da warst du noch nicht in der Firma. Ist schon ewig her«, erklärte Ingolf und nahm grinsend einen Schluck Radler. »Yvonne war ganz stolz darauf, mit Joachim im Bett gewesen zu sein.«
»Du warst doch auch mit ihr im Bett«, warf Sandra ein.
»Stimmt. Aber das war davor«, entgegnete Ingolf trocken.
»Ist doch egal, mit wem sie alles in der Kiste war. Hauptsache, sie hatte genug Bewegung«, sagte Kerstin und verdrehte die Augen. »Jedenfalls hat sie auch mit unserem Junior geschlafen.«
»Der scheint ja eine wahre Flachlege-Offensive gestartet zu haben. Bei mir hatte er allerdings keinen Erfolg«, bemerkte Paula grinsend.
»Sehr weise Entscheidung! Yvonne hat mir später erzählt, dass unser Schönling Joachim eher … sagen wir mal, im Kompaktformat geliefert wurde. Und den Carrera hat er sich wohl nur als psychologische Stütze zugelegt«, sagte Kerstin.
Alle lachten laut.
»Was ist eigentlich aus ihr geworden?«, fragte Paula.
»Keine Ahnung. Ich meine, sie wollte damals zurück zu ihren Eltern nach Magdeburg. Wahrscheinlich um sich von all den sportlichen Höchstleistungen zu erholen«, antwortete Kerstin. »Jedenfalls hat sie vorher noch einen epischen Streit mit unserem Junior-Casanova hingelegt – wegen der Ablage. Sie hatte plötzlich keine Lust mehr drauf, nachdem er sie in sein Appartement abgeschleppt hatte. Verständlich!«
Ingolf beobachtete Sandra und fragte: »Was machst du eigentlich jetzt nach der Kündigung?«
»Darüber mache ich mir wenig Sorgen. Meine Eltern sind wohlhabend und nach diesem Job hier wollte ich ohnehin wieder zur Uni, ganz im Sinne meines Vaters«, sagte sie lächelnd.
»Und was möchtest du studieren?«, fragte Ingolf mit einem Hauch von Interesse.
»Medizin. Wahrscheinlich in Leipzig. Mein Vater wird wohl seine Beziehungen spielen lassen, damit ich in seiner Stadt das Studium aufnehmen kann.«
»Schade. Dann verlieren wir dich auch noch aus den Augen«, sagte Kerstin.
»Nur vorläufig. Ich habe mich an Dresden und euch gewöhnt und komme bestimmt wieder zu Besuch«, erwiderte Paula und lächelte Ingolf an.
Kerstin war sich sicher, dass sich zwischen den beiden etwas anbahnte. Ingolf war ein attraktiver Kerl und sie konnte gut verstehen, warum Paula Gefallen an ihm fand. Ihre Gedanken schweiften ab – zu Thomas. Sie hätte so gerne ihr Missverständnis von damals aus der Welt geschafft und sich bei ihm entschuldigt. Jetzt, in diesem hochsommerlichen Moment, im schönen Biergarten an der Elbe, vermisste sie ihn.
»Jetzt gebe ich eine Runde aus«, sagte Sandra und winkte der Bedienung. »Für alle wieder ein Radler, nehme ich an?«
An den durch das Tageslicht hell erleuchteten, aber dennoch steril designten Flur konnte sich Oberkommissar Hendrik Wagener des LKA in Dresden nicht gewöhnen. Der an den Betonbaustil des Brutalismus der 70er Jahre erinnernde Neubau war zwar von innen mit seinen mannshohen Fenstern zwischen unzähligen Betonsäulen klug geplant, aber dennoch waren selbst die einzelnen Räume nüchtern in ihrem Ambiente. Wagener sah auf dem Weg in sein Büro aus den Fenstern in das unten liegende Atrium. Von Anfang an hatte er sich darüber geärgert, dass dieser Innenhof nicht zum Verweilen in den Pausen geeignet war. Künstlich anmutende Grünflächen im kriminaltechnischen Institut mit ein paar lächerlichen Pflanzkübeln beschäftigen bestenfalls die Gärtner bei ihren seltenen Pflegearbeiten. Hendrik betrat sein neues Büro und lehnte sich in seinem wippenden Hightech Bürostuhl zurück. Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. In nur zwei Wochen hatte er es geschafft, dem nüchternen Büro seine persönliche Note zu verpassen. Drei Kübelpflanzen hatte er von Zuhause mitgebracht und in dem kleinen Raum geschickt arrangiert. Das Aufziehen von ausgefallenen Pflanzen hatte sich zum Hobby bei ihm entwickelt. In der größten freien Ecke wucherte in dem hellen Raum eine Bananenstaude und zwei Limettenstämmchen standen vor der Fensterfront. Hendrik stand auf und gab seinen grünen Lieblingen etwas Wasser, bevor er den nächsten Kunstdruck von Miro neben der Tür anbrachte. Auch wenn er ausgerechnet an dem sonnigen Wochenende Bereitschaftsdienst hatte, fühlte sich der Kommissar in seinem Büro fast wohl. Zufrieden nahm er wieder am Schreibtisch Platz und fuhr seinen PC hoch. Gewohnheitsgemäß checkte Hendrik zuerst die E-Mails und wurde sofort auf eine Nachricht der Mordkommission Dresden aufmerksam. Eine Kommissarin Bergmann hatte der Behörde einen merkwürdigen Fall zugetragen und bat um Amtshilfe des LKA Sachsen. Fast alle Kollegen waren bei dem schönen Wetter in der Sonne, grillten mit Freunden und ihren Familien oder gingen zur Abkühlung schwimmen. Doch in dem Fall der Mordkommission musste er sofort reagieren. Es wurden zwei weibliche Leiche in der Elbe bei Radebeul gefunden. Hendrik Wagener las den vorläufigen Bericht der Mordkommission Dresden und betrachtete die Fotos der Spurensicherung. Er hatte heute zwar Lust auf Wasser, aber nicht auf Wasserleichen. Eine weitere vor neunzehn Monaten gefundene Leiche nahe Wittenberg deutete auf Zusammenhänge hin. Frau Bergmann vermutete Serienmorde. Wochenende hin oder her, er musste handeln und griff zum Telefon.
»Hallo Hendrik«, meldete sich Beate Burke nach dem vierten Klingeln. »Ist dir langweilig im Dienst?«, scherzte die Polizistin.
»Ich störe euch nur ungerne«, sagte er. »Aber es gibt einen interessanten Fall, den sich Benno unbedingt ansehen sollte.«
»Ach, Hendrik. Das hat gewiss Zeit bis Montag. Wir liegen im Garten und Benno will gleich den Grill anmachen«, sagte sie. »Aber ich reiche dich mal weiter an unseren Chef.«
Benno nahm murrend das Handy entgegen, setzte sich von der Liege auf und schob seine Sonnenbrille in die Haare.
»Was gibt es Wichtiges?«, fragte er und Wagener berichtete von dem Fall.
»Dann hat sich das Wochenende für mich auch erledigt, Schatz«, sagte Benno mit resigniertem Unterton und stand auf.
»Kein Problem. Ich begleite dich. Es werden noch andere Gelegenheiten zum Entspannen für uns kommen«, sagte Beate.
Das liebte er an dieser Frau. Sie war selbst Polizistin und hatte für seinen Dienst Verständnis. Beate Burke arbeitete inzwischen in einem Speziallabor des kriminaltechnischen Instituts. Das dazugehörige Büro im Landeskriminalamt Dresden war nicht nur für Analysen organisierter Verbrechen, sondern auch für 3D-Vermessungen von Tatorten zuständig.
Knapp eine Stunde später begrüßten sie den Mitarbeiter einer privaten Securityfirma am Eingang des LKA im Norden von Dresden. Beate und Benno fuhren gleich mit dem Aufzug in das vierte Obergeschoss und gingen, ohne anzuklopfen, ins Büro von Hendrik. Zufrieden lächelnd sah er auf, als sie auf ihn zukamen.
»Ich bin erleichtert, dass ihr hier seid. Hallo Benno und Beate«, sagte er und stand auf. »Schaut euch das mal an!«
Benno schob einen Stuhl an Wageners Schreibtisch und überflog mit Beate den vorläufigen Bericht der Mordkommission.
»Liegen erste Ergebnisse der Spurensicherung vor?«, fragte Beate.
»Ja klar. Die findest du im Anhang der E-Mail von Kollegin Bergmann.«
»Wurden die Fundstellen vermessen?«, fragte Beate, während Benno weiter den Bericht las und die Fotos ansah.
»Keine Ahnung. Das geht aus der E-Mail nicht hervor«, antwortete Hendrik.
»Okay. Schicke mir bitte alles vollständig rüber. Ich gehe in mein Büro«, sagte sie, ahnte aber bereits, dass das Gelände, wenn überhaupt, nur analog ausgemessen wurde. Dabei war die Ermittlung mit der neuen Technik sehr hilfreich. An ihrem PC angekommen, fuhr Beate das 3D Programm zur Tatortrekonstruktion hoch und fügte die Angaben der Spurensicherung hinzu.
Benno zoomte in Hendriks Büro die Fotos der ermordeten Frauen näher, während Wagener mit dem Kaffeeautomaten hantierte.
»Wir haben zwar noch keine Hinweise der Forensik, aber ich glaube, dass sie nicht allzu lange im Wasser waren», sagte er.
»Und was ist dir noch aufgefallen?», fragte Benno.
»Die Säcke auf dem Kopf. Laut Mordkommission sind die für Gartenabfälle. Das nehmen sie auch bei den Ketten an, mit denen sie gefesselt waren. So war es ebenso bei der Leiche in Wittenberg. Ist das eine brauchbare Spur?», fragte Wagener und stellte zwei dampfende Tassen auf den Tisch.
»Ich glaube nicht. Die Dinger werden doch zu Tausenden verkauft. Aber ich bin überzeugt, dass die Frauen noch lebten, als der Mörder sie in die Elbe warf.«
»Was macht dich da so sicher?«
»Sie waren an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt und hatten diesen Sack auf dem Kopf. Hätten sie gesehen, was er mit ihnen vorhatte, hätten sie sich massiv gewehrt. Mit den Ketten und blind durch den Jutesack hatten sie aber keine Ahnung, was ihnen bevorstand.«
»Ein schrecklicher Tod! Gefesselt konnten sie nicht um ihr Leben kämpfen, und unvorbereitet haben sie sicher sofort Wasser geschluckt«, stellte Wagener fest.
»Der Mörder wird den Augenblick, als sie in der Elbe untergingen, genossen haben. Ich vermute, dass er noch eine Weile am Ufer geblieben ist, um den Moment ihres Todes auszukosten«, sagte Benno, als sich die Tür öffnete und Beate wieder zu ihnen kam.
»Die Tote aus Wittenberg muss lange im Wasser gewesen sein. Die Gerichtsmedizin geht von acht bis zehn Monaten aus. Aber die beiden Frauen aus Radebeul sind nicht länger als eine Woche tot. Das kann ich schon ohne das gerichtsmedizinische Gutachten sagen«, meinte sie. »Ich habe die Umgebung und den Fluss anhand der Ermittlungen der Spurensicherung mit aktuellen Aufzeichnungen der Schifffahrt verglichen«, fügte sie hinzu. »Ich habe die Daten der vergangenen zehn Tage ausgedruckt. Haben die Zeugen bei ihrer Vernehmung angegeben, wo sie geangelt haben, als sie die Leichen aus dem Wasser zogen?«
»Im Protokoll der Mordkommission steht nur, dass sie nahe am Ufer gefischt haben. Mehr weiß ich nicht«, sagte Wagener.
»Sehr ungenau. Typisch Provinz. Ich denke, man muss die beiden nochmal befragen.«
»Ist das so wichtig? «, fragte Benno.
»Na klar. Damit erfahren wir nicht nur, auf welcher Flussseite sie ins Wasser gestoßen wurden, sondern auch ziemlich genau, wo. Ich habe die verschiedenen Strömungsgeschwindigkeiten abgeglichen. In der Sächsischen Schweiz betrug sie im Schnitt vier bis viereinhalb Kilometer pro Stunde. Ab Dresden aber schon fünf bis sechs. Die Strömung sorgt dafür, dass die Frauen über einen langen Streckenabschnitt auf der gleichen Seite treiben. Später in der Mitte und im Flachland hinter Radebeul verlangsamt sich die Strömung wieder. Dann hätten die Leichen auf der anderen Uferseite gefunden werden müssen. So wie in Wittenberg. Deshalb glaube ich, dass sie irgendwo vor oder hinter Dresden vom Mörder ins Wasser gestoßen wurden. Es ist wichtig zu erfahren, ob die Toten in Ufernähe oder in der Flussmitte gefunden wurden«, sagte Beate und nahm sich Bennos Kaffee. »Je näher am Ufer, desto näher ist auch der Tatort.«
»Wir brauchen den genauen Todeszeitpunkt. Ich trete der Gerichtsmedizin nochmals auf die Füße«, sagte Benno.
»Vorher sollten wir nach Radebeul fahren und die Zeugen erneut befragen«, schlug Beate vor.
»Das hast du alles in der kurzen Zeit herausgefunden?«, fragte Wagener erstaunt.
»Das ist mein neuer Job im Kriminaltechnischen Institut«, sagte Beate und zuckte mit den Schultern. Benno sah sie lächelnd an und blickte dann nachdenklich aus dem Fenster.
»Hendrik, wie hieß noch gleich die Kommissarin von der Mordkommission?«
»Moment«, sagte er und blätterte in der Ermittlungsakte. »Ich habe es. Kommissarin Carolina Bergmann.«
»Du kannst doch gut mit Frauen. Teile ihr mit, dass wir den Fall übernehmen. Und nutze das Wochenende, um nach weiteren Fällen entlang der Elbe zu suchen. Von der Quelle bis zur Mündung in den letzten zehn Jahren. Wir fahren nach Radebeul und rauben diesem Kommissar Mühlental sein Wochenende. Vielleicht weiß er etwas, das nicht im Bericht der Mordkommission steht und dann nehmen wir uns nochmal die Zeugen vor«, sagte Benno.
»Am besten fängst du gleich in Wittenberg an. Sieh dir die Akten an, finde heraus, was die Kollegen damals entdeckt haben. Gleiche das geschätzte Alter, die Zähne und die DNA mit vermissten Frauen ab. Die Arbeit in den nächsten Wochen wird heftig. Für uns alle. Wir müssen jede Spur genau verfolgen«, fügte Benno hinzu.
»Und das soll ich alles in den letzten Stunden an diesem Samstag schaffen? «, fragte Wagener.
»So viel wie möglich. Dich stört hier heute niemand und du hast ja auch noch am Sonntag Dienst«, sagte Benno grinsend.
Zwölf Uhr vierunddreißig zeigte der Wecker auf ihrem Nachttisch an, als Kerstin Wilke vom Sonnenlicht geblendet die Augen einen Spalt öffnete. Ein dumpfer Schmerz pochte hinter ihrer Stirn und ihr Mund fühlte sich pelzig an. »Oh nein!«, murmelte sie und verzog das Gesicht. Ihr Magen rebellierte bereits beim bloßen Gedanken, aufzustehen. Vorsichtig drehte sie den Kopf zur Seite, nur um festzustellen, dass die Bewegung ihre Kopfschmerzen noch verschlimmerte.
Sie brauchte dringend Aspirin – und Wasser. Viel Wasser.
Erst gegen fünf Uhr hatte sie den Schlüssel ins Schloss des Zweifamilienhauses im Dresdner Süden gesteckt, nach einer Nacht, die eindeutig Spuren hinterlassen hatte. Sechs Stunden Schlaf, ein ausgedörrter Hals und der dumpfe Nachhall von zu vielen Gin Tonic. Das war der Preis für einen Abend, der eigentlich harmlos begonnen hatte. Aber es war das erste Mal seit zwei Jahren gewesen, dass sie so viel Spaß gehabt hatte. Die halbe Nacht waren sie unterwegs gewesen. Nach dem Biergarten hatte sie sich noch überreden lassen, mit ins Blue Note zu kommen, einen angesagten Club, in dem Housemusik, Techno und die Ohrwürmer der letzten zwei Jahrzehnte die Tanzfläche füllten.
Der Rest des Abends war ein verschwommener Mix aus Gesprächen, Gelächter und sich stetig nachfüllenden Gläsern. Sie erinnerte sich an das angenehm kühle Leder der Lounge-Sofas, das Gefühl des eiskalten Getränks in ihrer Hand und später an das leichte Taumeln, als sie schließlich mit den anderen aus dem Club getorkelt war.
Jetzt zahlte sie den Preis.
Langsam und mit der Präzision einer Schwerverletzten schälte sich Kerstin aus dem Bett. Ihr Kopf hämmerte, ihr Kreislauf war im freien Fall, und ihr Magen fühlte sich an, als würde er sich gegen ihren Körper verschwören. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und zwang sich schließlich, aufzustehen.
In der Küche angekommen, schaltete sie den hochwertigen Kaffeeautomaten ein – ein Geschenk ihres Vaters – und klammerte sich kurz an die Arbeitsplatte, als ihr erneut schwarz vor Augen wurde. Sie warf einen Blick auf das Außenthermometer. Schon wieder 29 Grad. Großartig.
Während das Mahlwerk rasselnd die Bohnen zerkleinerte, durchwühlte sie eine ihrer Chaos-Schubladen mit zittrigen Fingern. Endlich fand sie einen Tablettenstreifen mit zwei Aspirin. Sie riss ihn auf, stopfte sich die Tabletten in den Mund und spülte sie mit einem großen Schluck Wasser hinunter.
Zuerst Kaffee, dann duschen. Das war der Plan. Doch bevor sie sich hinsetzte, schaltete sie den weißen Tischventilator auf der Arbeitsplatte des Küchenblocks auf höchste Stufe. Jeder Luftzug war eine Erleichterung gegen die klebrige Hitze und den Schweiß auf ihrer Haut.
Nach einer Viertelstunde und zwei Tassen Kaffee ließ der Nebel in ihrem Kopf langsam nach. Vielleicht, aber nur vielleicht, würde sie den Tag überleben.
Frisch geduscht und nur mit T-Shirt und Shorts ließ Kerstin den dritten Kaffee durchlaufen, als ihr Handy vibrierte. Sie warf einen kurzen Blick aufs Display. Sandra.
»Hallo, Sandra. Ich staune, dass du schon wach bist. Hattest du keine Kopfschmerzen?«, fragte Kerstin.
»Und wie! Aber inzwischen geht es wieder.«
»Ich bin froh, dass ich noch zwei Aspirin gefunden habe. Trotz Kaffee und Dusche bin ich noch ziemlich platt. Aber es war ein toller Abend«, stellte Kerstin fest.
»Das sollten wir öfter machen. Es war gut, dass wir dich mal aus deinem Schneckenhaus gelockt haben, Kerstin.«
Tatsächlich hatte sie in der Nacht kein einziges Mal an Thomas gedacht und im Blue Note sogar ein paarmal getanzt. Zum ersten Mal seit der Trennung hatte sie einen unbeschwerten Abend und viel gelacht.
»Ich staune, dass unser Junior für Paula kein Thema war und wir uns nicht nur über die Firma unterhalten haben«, sagte Kerstin.
»Ich glaube, ich habe Joachim im Blue Note gesehen«, meinte Sandra.
»Echt? War er mit Begleitung da?«, fragte Kerstin.
»Nee. Er unterhielt sich mit einem komischen Typen an der Bar. Dann hatte ich ihn aus den Augen verloren und nicht mehr darauf geachtet.«
»Gut, dass Paula ihn nicht gesehen hat. Aber wahrscheinlich ist er ihr mittlerweile vollkommen egal«, stellte Kerstin fest.
»Da hast du wohl recht. Übrigens wollte unser flirtender Gigolo Paula noch nach Hause begleiten«, sagte Sandra lachend.
»Wow. Das habe ich gar nicht mitbekommen. Aber warum auch nicht? Ich hatte den Eindruck, dass sich die beiden füreinander interessierten. Sie hat ihn bestimmt mitgenommen«, sagte Kerstin schmunzelnd. »Vielleicht rufe ich Paula heute Nachmittag mal an und frage ihn, wie ihr die Nacht mit uns gefallen hat.«
»Mach das. Falls Paula ihn tatsächlich mit raufgenommen hat, erfährst du es bestimmt«, meinte Sandra. »Was machst du heute noch? Lust, ein bisschen am Badesee zu chillen?«
»Schon, aber ich muss noch meine Wohnung putzen. Das mache ich immer an einem Tag am Wochenende.«
