Die Hexen von Nethy Bridge - Burkhard Schröder - E-Book

Die Hexen von Nethy Bridge E-Book

Burkhard Schröder

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Beschreibung

Ein mysteriöser Fall, ein nebelverhangenes Land und ein Detektiv, der zu tief gräbt. Als Max Malinowski während einer Männertour in den schottischen Highlands spurlos verschwindet, beginnt für seine Frau Karin ein Albtraum. Sie beauftragt den erfahrenen Privatdetektiv Jules van Dyck, der bald auf Hinweise stößt, die weit über ein einfaches Verschwinden hinausgehen. Rund um das abgelegene Nethy Bridge häufen sich seit Jahren unerklärliche Vorfälle. Die Spuren führen zu einem uralten Wicca-Zirkel und zu dunklen Ritualen, die niemand je hätte entdecken sollen. Van Dycks Nachforschungen werden zu einem gefährlichen Spiel, denn während er dem Unfassbaren näherkommt, gerät er selbst ins Visier der Schatten. Ein atmosphärischer Thriller zwischen Aberglauben und Wirklichkeit – spannend bis zur letzten Seite. Bist du bereit, in die dunkle Seele der Highlands zu blicken?

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Seitenzahl: 375

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Für Maximilian

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Später

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Epilog

PROLOG

Maximilian Malinowski warf einen letzten Blick aus dem Fenster seines Zimmers. Strahlender Sonnenschein lag über den farbenfrohen Hügeln der Highlands – perfekte Bedingungen für ihre erste Wanderung mit anschließendem Angeln. Voller Vorfreude auf das Abenteuer unter freiem Himmel ging der Aachener Finanzbeamte beschwingt zum Frühstück nach unten. Doch trotz seiner guten Laune kreisten seine Gedanken um seine schwangere Frau Karin. Sie war es gewesen, die ihn zu dieser Männertour überredet hatte. Max liebte die 39-jährige Belgierin aus Eupen, die er vor vier Jahren auf dem Aachener Weihnachtsmarkt kennengelernt hatte. Ihn nun für einige Tage von ihr zu trennen, fiel ihm nicht leicht. Doch Karin hatte gelächelt und gemeint, es würde ihm guttun, seine Wanderlust noch einmal auszuleben – besonders, da er bereits seinen Erziehungsurlaub beantragt hatte. Als sie sich begegneten, war es Liebe auf den ersten Blick – wenn man denn an so etwas glaubte. Und Max tat das. Karin war genau das, was man nahe dem Dreiländereck ein »lecker Mädche« nannte. Schon ihr erster Blickwechsel vor dem Dom hatte ihn verzaubert, sein Herz schneller schlagen lassen. Aber auch er war ihr sofort aufgefallen: Sein kantiges, symmetrisches Gesicht mit den feinen Grübchen um die braunen Augen und das volle, schwarze Haar – all das hatte sie an dem großen Mann bemerkt. Max war kein Muskelpaket, aber das regelmäßige Joggen hielt ihn in Form. Nur ein kleiner Bierbauch erinnerte daran, dass er nicht vollkommen auf Genuss verzichtete.

»Coffee?« Die Stimme der korpulenten Kellnerin riss ihn aus seinen Gedanken. Gerade wollte er den Frühstücksraum betreten, die gelbe Fleecejacke über die Schultern geworfen.

»Gerne«, erwiderte er lächelnd. Die Frau mit der Kanne folgte ihm und füllte seine Tasse.

Am Tisch saßen bereits Frank und Goran – als hätten sie sich abgesprochen, trugen beide rot-karierte Holzfällerhemden über ihren Jeans.

Die erste Nacht im Nethy Cottage war erholsam gewesen. Doch als Maximilian das Frühstück auf den Tellern sah, verzog er das Gesicht. Trockener Fisch, eine Schüssel Bohnen, ein angebranntes Spiegelei, drei Champignons, zwei halbe Scheiben Toast und zwei vor Fett triefende Würstchen – nicht gerade das, was sie sich erhofft hatten.

»Ich bin wirklich nicht verwöhnt«, sagte Goran, der Maximilians Blick bemerkt hatte, »aber davon esse ich keinen Bissen!«

»Den Kaffee probierst du besser gar nicht erst«, warnte Frank und verzog das Gesicht. »Der erinnert mich an die dünne Brühe meiner sparsamen Großmutter!«

Maximilian grinste und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Equipment für den Tag am Fluss. Klappschemel, Klapptisch, Kescher und ausziehbare Angeln – ein Sammelsurium für eine echte Männertour, bereitgestellt neben ihren prall gefüllten Rucksäcken.

»Sollen wir lieber Tee bestellen?«, fragte Maximilian und rümpfte die Nase, als er einen vorsichtigen Schluck des hellbraunen Gebräus nahm.

»Nee! Ich habe gestern am Ortseingang ein Coffeeshop gesehen. Sah ganz vielversprechend aus«, sagte Goran.

»Dann los.« Frank schob seine schmale Brille mit der Metallfassung nach oben und stand auf. »Wenn wir heute wirklich wandern, brauche ich vorher ein anständiges Frühstück.«

»Ich versuche später, das Frühstück umzubestellen«, meinte Maximilian und dachte an sein Budget. Zehn Tage lang auswärts zu essen, würde teuer werden – und vor der Geburt ihres Kindes gab es noch genug Anschaffungen.

Sie verließen die Pension und traten auf die wenig befahrene Straße. Maximilian drehte sich noch einmal um. Auf den ersten Blick wirkte das Nethy Cottage einladend. Die kleine Neonreklame über der Natursteinfassade flackerte sanft. Drinnen empfing die Gäste ein behagliches, wenn auch etwas altmodisches Ambiente. Ein dunkelbraunes Ledersofa mit Messingknöpfen stand gegenüber der Rezeption, daneben eine Vitrine aus Weichholz. Eine große Turmuhr mit kunstvollen Schnitzereien verlieh dem Raum eine fast ehrwürdige Atmosphäre.

Gemütlich war es hier, keine Frage. Fast zu gemütlich für eine Herrentour. Aber ein gutes Frühstück hätte diesen Ort perfekt gemacht.

Doch in der Küche musste ein wahrer Schlendrian am Werk sein – da war sich Maximilian sicher. Großbritannien hatte unter Feinschmeckern zwar keinen besonderen Ruf, aber dieses Frühstück war eine Frechheit – mit Ausnahme der Rhabarbermarmelade, wie Goran auf dem Weg zum Auto betonte. Maximilian musste ihm zustimmen.

»Ich will mich nicht weiter darüber ärgern«, sagte Frank, schloss den Vito auf und wartete, bis alles verstaut war, bevor er den Wagen startete. »Ich freue mich auf den schönen Tag mit euch!«

Mit seinen 1,68 Metern war Frank der Kleinste von ihnen – und normalerweise auch derjenige, der sich am schnellsten aufregte. Umso mehr wunderte sich Max über seine Gelassenheit. Der Krefelder war mit seiner Event-Gastronomie über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Maximilian hatte ihn vor vielen Jahren in seinem Club kennengelernt und mochte ihn auf Anhieb. Frank war gutherzig und hatte die Fähigkeit, selbst den trägsten Stubenhocker mit seiner ansteckend guten Laune mitzureißen.

Damals hatte Maximilian noch in Krefeld gearbeitet, bevor er vorübergehend zum Finanzamt nach Aachen versetzt wurde. Doch vor einigen Jahren hatte er selbst um eine dauerhafte Versetzung gebeten – wegen Karin. Er hatte sich in die hübsche Belgierin verliebt und sie schließlich geheiratet.

Die drei Männer bildeten ein Trio, das ungleicher kaum sein konnte – und doch verstanden sie sich bestens. Goran etwa hatte einen kroatischen Vater und eine österreichische Mutter aus Wien, wo er in greifbarer Nähe des Praters aufgewachsen war. Maximilian kannte ihn seit über sieben Jahren. Als Koch eines Wiener Hotels hatte Goran sich Hals über Kopf in eine deutlich ältere Krefelderin verliebt und war ihretwegen nach Deutschland gezogen.

Maximilians Frau Karin wusste, dass Frank in Bezug auf Frauen anders gestrickt war. Beziehungen, die länger als ein paar Monate dauerten, waren bei ihm eine Seltenheit. Und trotzdem hatte sie ihn ermutigt, an der Männertour durch die schottischen Highlands teilzunehmen.

Nach einem kurzen, aber ausgewogenen Frühstück brachen die Freunde auf. Maximilian hatte mit einer dreistündigen Wanderung bis zu einem der Bäche oder Flüsse bei Glenmore gerechnet. Doch schon nach zwei Stunden fanden sie einen idyllischen Flecken Natur an einem sanft plätschernden Bach.

»Seht euch mal um!«, forderte Frank die anderen auf und ließ seinen Blick lächelnd über das beeindruckende Schattenspiel der Landschaft schweifen. »Einen schöneren Ort finden wir nicht so schnell!«

Maximilian ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen und nickte zufrieden. »Wunderschön!«, murmelte er, während er den Klapptisch und einen Schemel auspackte. »Wer sammelt Holz?«

»Ich übernehme das!«, rief Goran gut gelaunt und machte sich auf den Weg zum Wald.

»Dann kümmere ich mich um die Feuerstelle«, sagte Frank und ging ans Werk. Maximilian klappte die übrigen Stühle auf, fixierte seine Angel am Ufer und sog tief die kühle, saubere Luft der spätsommerlichen Highlands ein. Als er sich umsah, entdeckte er eine Bewegung im flachen Wasser.

»Hey, da sind Krebse im Fluss!«, rief er und deutete auf eine Stelle im Bachbett.

Frank trat leise an seine Seite und folgte seinem Blick. »Tatsächlich!«, sagte er und griff nach dem Kescher. »Mal sehen, ob sie sich fangen lassen.«

Während Frank sein Glück versuchte, kehrte Goran aus dem friedvollen Wald zurück – allerdings nicht ganz so geräuschlos. Mit einem lauten Rascheln zog er ein wild zusammengewürfeltes Bündel Äste hinter sich her. Maximilian trat ihm ein paar Schritte entgegen und legte den Finger an die Lippen.

»Pssst. Krebse! Frank hat schon ein paar erwischt«, erklärte er.

Goran grinste, während Frank triumphierend den Kescher aus dem Wasser hob. »Stellt schnell den Eimer bereit! Und passt auf eure Finger auf!«, warnte er lachend, als er einen weiteren Krebs herauszog.

Nach einer Stunde lagen acht prächtige Exemplare im Eimer.

»Wer hätte das nach unserem mageren Frühstück gedacht?« Maximilian betrachtete die Beute zufrieden. »Für einen kleinen Snack reicht das allemal!«

Sie saßen bis zum Nachmittag um ihr Lagerfeuer, redeten über Gott und die Welt und ließen sich von der atemberaubenden Kulisse treiben. Irgendwann drehten sich ihre Gespräche um Franks Frauengeschichten, die für allgemeine Belustigung sorgten. Nebenbei angelten sie noch zwei Bachforellen, die sie mit einem kühlen Bier über dem Feuer grillten.

Es war ein unbeschwerter Tag an diesem kleinen Fluss. Doch so vertieft waren sie in ihre Gespräche, dass sie nicht bemerkten, wie sie aus einiger Entfernung aufmerksam beobachtet wurden – von vier Frauen. Bevor die Dämmerung hereinbrach, machten sie sich auf den Rückweg zur Pension in Nethy Bridge.

Erschöpft, aber zufrieden, schleppten sie sich die Treppe hinauf.

»Habt ihr noch Lust auf einen Schlummertrunk? Gegenüber gibt’s einen Pub«, fragte Maximilian.

»Jederzeit – nur nicht heute. Ich falle gleich wie ein Stein ins Bett«, stöhnte Goran und streckte sich. »Ich spüre jeden einzelnen Knochen.«

Frank nickte zustimmend.

»Wahrscheinlich habt ihr recht«, gab Max zu. »Aber ich gehe trotzdem noch mal zur Rezeption. Vielleicht bringt eine Beschwerde über das Frühstück ja was.«

Er verabschiedete sich mit einem Grinsen und verschwand die Treppe hinunter.

Entspannt kam Frank an den eingedeckten Frühstückstisch. Goran hatte sich bereits Kaffee eingeschenkt und verzog das Gesicht.

»Die Brühe ist so schlecht wie gestern«, stellte er fest.

Die rothaarige Bedienung lief durch den Frühstücksraum und zog unwillkürlich die Aufmerksamkeit von Frank und Goran auf sich. Sie war erschreckend dünn, fast ausgemergelt, ihr Gesicht blass und völlig ungeschminkt. Das lange braune Kleid unter ihrer weißen Schürze verstärkte den Eindruck, als wäre sie einer anderen Zeit entsprungen.

Schweigend stellte sie Frank einen Teller hin: zwei Brötchen, Würstchen, Bohnen, ein kleines Stück Butter und eine winzige Packung Rhabarbermarmelade.

»Die Marmelade ist gut, aber diese fetten Würstchen und schrecklichen Bohnen bekomme ich nicht herunter. Gourmets würden hier verhungern«, sagte er. »Das ist nicht anders als gestern. Max wollte das doch noch ändern.«

»Hast du die große Warze auf ihrer Stirn gesehen?«, fragte Goran und rührte Zucker in seinen Kräutertee.

»Klar. Sie ist bestimmt noch Jungfrau und wird es Zeit ihres Lebens auch bleiben«, meinte Frank. »Lass uns später mal in dieses größere Hotel im Ort fahren. Vielleicht ist es nicht so teuer, wie es aussieht.«

»Ich glaube, es sprengt unseren Rahmen. Aber fragen können wir mal. Wo bleibt Max? Ich denke, er ist Frühaufsteher«, sagte Goran.

»Keine Ahnung. Ich rufe ihn mal an«, schlug Frank vor und schob den Rest des Frühstücks zur Seite. Er wählte die Nummer, lauschte einen Moment und verzog das Gesicht. »Nichts. Das Handy ist ausgeschaltet. Ich gehe rauf und wecke ihn.«

»Das wäre nicht schlecht, wenn wir heute noch in den Abernethy Nationalpark wollen«, sagte Goran mit seinem charmanten Wiener Dialekt.

Während er wartete, beobachtete er die hässliche Angestellte beim Abräumen des kaum angerührten Frühstücks und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Kurz darauf kam Frank zurück und schüttelte den Kopf. »Ich habe mehrfach an seine Tür geklopft und laut gerufen. Aber er reagiert nicht.«

»Lass uns mal an der Rezeption fragen, ob sie seine Tür öffnen können«, schlug Goran vor.

Wie erwartet war die Rothaarige das Mädchen für alles und kam gleich nach dem ersten Klingeln der Hotelglocke.

»Was kann ich für Sie tun«, fragte sie mit piepsiger Stimme.

»Unser Freund Maximilian Malinowski scheint einen tiefen Schlaf zu haben. Er reagiert weder auf Klopfen, noch ist sein Handy eingeschaltet. Können Sie bitte nachsehen, ob bei ihm alles okay ist?«, fragte Goran und fixierte ihre große Warze.

»Ich sehe mal nach. Welche Zimmernummer hat er?«

»Fünf«, sagte Frank.

»Ich finde aber niemanden mit diesem Namen als Gast«, sagte sie. »Sind Sie sicher, dass er hier wohnt?«

»Selbstverständlich. Wir haben alle drei vorgestern eingecheckt und gestern Abend hat er vor meinen Augen sein Zimmer, Nummer 5, aufgeschlossen und betreten!«, antwortete Frank jetzt etwas lauter.

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie und drehte sich um. »Sehen Sie. Der Schlüssel hängt hier. Aber wir können gerne mal nachsehen. Ich bin erst seit heute Morgen hier. Vielleicht hat eine Kollegin vergessen, ihn als Gast einzutragen.«

»Unglaublich«, sagte Goran und sie folgten der dürren Rothaarigen die Treppe hinauf. Sie öffnete die Tür. Das Zimmer war leer und das Bett schien unbenutzt. Frank öffnete den Schrank. Auch von seinem Gepäck fehlte jede Spur.

»Ich sagte doch, dass das Zimmer frei ist«, sagte sie schnippisch.

»Haben Sie das Zimmer heute gemacht?«, fragte Goran.

»Nein. Die Zimmer werden erst nach elf gemacht, wenn das Frühstück beendet ist.«

»Hören Sie! Ich bin nicht blöd! Er war mit uns gemeinsam hier! Und jetzt sagen Sie mir, das Zimmer wäre frei?«, schnauzte Frank sie ungehalten an.

»Ich kann doch nichts dafür«, antwortete sie weinerlich. »Sie können sich gerne in dem Gästebuch davon überzeugen, dass er nicht eingetragen ist.«

Frank ließ sich die Eintragungen von ihr zeigen, während Goran nach draußen ging, um nach dem Wagen zu sehen.

»Er ist nicht eingetragen«, sagte er verständnislos, als Goran zurückkam.

»Und unser Vito steht dort hinten. Er muss mitten in der Nacht abgehauen sein«, sagte Goran.

»Wohin? Und ohne uns etwas zu sagen? Das glaube ich nicht.«

»Hier ist etwas faul. Ober faul!«, sagte Goran und sah die Rothaarige böse an.

Hier bekommt man auch keine Taxen. Schon gar nicht so spät.«

»Lass uns zur Polizei fahren und ihn als vermisst melden. Und dann rufen wir seine Frau an. Vielleicht hat er sich bei ihr gemeldet«, sagte Frank.

Die kleine Wache befand sich im Verwaltungszentrum des Ortes. Als sie den Raum betraten, wurde sofort klar, dass er mehr zur Information der Touristen diente als zur Polizeiarbeit. Neben Regalen mit Andenken standen drehbare Prospektständer mit farbenfrohen Flyern und kitschigen Postkarten, die idyllische Landschaften und Schotten in Kilts zeigten.

Am hinteren Ende des Verkaufsraumes entdeckte Frank schließlich eine Tür, auf der Police Office Nethy Bridge stand.

»Guten Morgen. Sie sind in Nethy Bridge der zuständige Polizist?«, fragte Frank.

»Nethy Bridge wird liebevoll nur Nethy genannt«, informierte sie der ältere Beamte, als sie die Dienststube betraten.

Unter seiner schwarzen Polizeimütze quollen widerspenstige rotblonde Locken hervor. Der schmächtige Mann mit rundem Bierbauch hatte nichts gemein mit James Bond alias Sean Connery oder dem muskulösen Highlander. Seine blauen Augen wirkten müde, und überhaupt machte er einen recht lustlosen Eindruck, wie er so hinter seinem unaufgeräumten Schreibtisch saß. Frank schätzte ihn auf über sechzig Jahre und vermutete, dass der Mann bald in den Ruhestand gehen würde.

»Ich hoffe, Sie haben sich nicht nur verirrt, und ich kann wirklich etwas für Sie tun«, sagte der Polizist lächelnd.

Frank Bäumer legte seinen Ausweis vor und erzählte ihm die merkwürdige Geschichte um den verschwundenen Freund. Goran bestätigte seine Aussage.

»Hm. Gestern Abend haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, fragte der Polizist.

»Ja, als er auf sein Zimmer ging, das angeblich nicht besetzt sei, wie man uns in der Pension sagte.«

»Und jetzt wollen Sie ihn als vermisst melden?«

»Deshalb sind wir hier«, sagte Goran.

Der Polizist lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Ich würde Ihnen empfehlen, noch einen Tag zu warten. Vielleicht hat er ja eine nette Frau kennengelernt, oder er will Ihnen nur einen Schrecken einjagen«, riet er und grinste dabei überschwänglich.

»Hören Sie«, sagte Frank ungeduldig. »Ich bin mit Max Malinowski seit über 25 Jahren befreundet. Er wird gerade Vater und hat gewiss keine anderen Frauen im Kopf.«

»Kann ja sein. Aber warten Sie trotzdem noch einen Tag. Wenn er bis morgen nicht wieder auftaucht, nehme ich das gerne auf. Ich gebe Ihnen mein Kärtchen, und bitte, legen Sie mir ein aktuelles Foto von ihm vor, falls Sie wiederkommen.«

»Ich habe mehrere Fotos«, sagte Goran und hielt ihm sein Handy hin.

»Nicht jetzt. Kommen Sie morgen wieder. Vielleicht taucht er ja wieder auf.«

Unverrichteter Dinge verließen sie die Wachstube und betraten wieder das Informationszentrum.

»Der Kerl macht nur Dienst nach Vorschrift. Ich habe den Eindruck, dass ihn unser Anliegen nicht besonders interessiert. Er hat sich nicht einmal die Fotos von Max ansehen wollen«, vermutete Goran.

»Das sehe ich auch so. Mit dieser Pension stimmt etwas nicht! Da bleibe ich keinen Tag länger«, sagte Frank.

»Lass unsere Sachen packen und hier abhauen«, schlug Goran vor.

»Erst, wenn Max nicht auftaucht. Ich frage Karin, ob sie von ihm gehört hat. Falls nicht, werde ich ihr vorsichtig erklären, dass wir Max vermissen«, meinte Frank.

»Keine leichte Aufgabe. Sie wird ausflippen«, meinte Goran.

Während Frank mit Karin telefonierte und ihr das Verschwinden von Maximilian schilderte, gesellte sich ein älterer Herr vom Infoschalter zu ihnen.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte er in gutem Deutsch. »Ich habe Ihr Gespräch mitbekommen und bin neugierig«, sagte er freundlich. »Mein Name ist Ken Robertson. Ich habe lange in Kiel gelebt und spreche recht gut Ihre Sprache.«

»Was macht Sie denn neugierig?«, fragte Goran.

»Offensichtlich ist Ihr Freund verschwunden«, sagte er leise und sah sich um.

»Das stimmt. Und die Sache ist mehr als seltsam!«

»Ich lebe hier und führe Touristen in den Nationalpark«, erklärte Ken. »Können wir irgendwo ungestört reden?«, fragte Robertson leise.

»Können wir, wenn mein Freund aufgelegt hat. Ich bin gespannt, was Sie zu sagen haben, Mister Robertson«, sagte Goran.

Leicht geduckt liefen sie über den Parkplatz vor dem Verwaltungszentrum durch den Nieselregen. Der Himmel war grau und wolkenverhangen. Typisch britisches Schmuddelwetter, dachte Frank, als er den Vito aufschloss. Einige Touristen mit Kameras um den Hals gingen zielstrebig zum Eingang des Informationszentrums.

»Wir setzen uns besser in unseren Wagen«, schlug Frank vor.

Kaum waren die Türen des Vans geschlossen, erzählten sie dem Mann, was geschehen war. Robertson hörte ihnen aufmerksam zu und überlegte einen Moment.

»In den letzten Jahren sind in der Umgebung immer wieder Leute verschwunden, doch in Nethy werden Sie nicht viel darüber erfahren. Die Menschen der Highlands sind Fremden gegenüber misstrauisch. Aber vielleicht kann ich Ihnen einen Tipp geben, bevor ich wieder an meinen Schalter gehe«, sagte Ken Robertson.

»Was heißt das?«, fragte Frank den alten, aber rüstigen Mann.

»Haben Sie von den Wicca Coven in den Highlands gehört?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Es sind Hexenvereinigungen, von denen es hier einige gibt. Die Menschen der Highlands haben Angst vor ihnen«, erklärte Robertson.

»Hexen?«, fragte Frank und lachte.

»Im 17. Jahrhundert gab es in Schottland hunderte Hexenprozesse und Verbrennungen. Hier im Besucherzentrum können Sie sogar nachgestellte Hexenprozesse auf einer Hexentour buchen«, erklärte Robertson.

1

Das Geräusch flatternder Flügel und monotones Gurren rissen ihn aus dem Schlaf. Sein Kopf dröhnte, als er zuckend die Augen öffnete und blinzelnd die einzige Lichtquelle entdeckte: ein weit über ihm liegendes, von Spinnweben überzogenes Fenster. Stöhnend versuchte er sich zu bewegen, doch die mit Kabelbindern eingeschnürten Füße und stramm gefesselten Handgelenke hielten ihn fest. Wie eine Schweinehälfte in einem Schlachthof hing er von einem Deckenbalken herab, und geschlachtet fühlte er sich auch. Maximilian sah sich forschend um. Der hohe Raum hatte eine kleine Zwischendecke, auf der sich mehrere Tauben tummelten. Alles schien aus Holz zu bestehen. Muffiger Geruch und staubbedecktes Gerümpel deuteten auf eine Scheune hin. Ein verrostetes, räderloses Auto stand auf Ziegelsteinen aufgebockt vor einem großen Tor. Daneben ein verstaubter Schrank, dessen Türen halb aus den Angeln hingen. Max versuchte sich zu erinnern. Wer hatte ihn hierhergebracht?

Der gestrige Tag hatte so gut begonnen. Nach dem Frühstück wanderte er mit Frank und Goran durch die spätsommerlichen Highlands. Sie fingen Krebse und Forellen, warfen ihre Angeln aus. Er erinnerte sich an das nach Keksen schmeckende schottische Bier und die friedliche, farbenprächtige Landschaft. Das hochprozentige Stout hatte ihre Gespräche gelöst, und sie verbrachten lachend den Nachmittag, bevor sie am frühen Abend nach Nethy Bridge zurückkehrten.

Dann war da noch der Whisky im Pub gegenüber der Pension. Er kam mit Einheimischen ins Gespräch, und seine deutsche Herkunft stieß auf Sympathie. Besonders ein Pärchen blieb ihm im Gedächtnis. Der Mann stellte sich als Keith vor und hatte riesige Segelohren, die Max an Dumbo erinnerten. Eigentlich wollte er nur einen Absacker trinken und dann schlafen gehen. Doch das Pärchen war aufdringlich, wollte ihn immer wieder in Gespräche verwickeln. Was danach geschah, lag im Dunkeln.

Ein quietschendes Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Die Tür öffnete sich, und morgendliches Licht fiel in den Raum. Seine Zehenspitzen berührten kaum den mit Stroh bedeckten, lehmigen Boden. Jeder Muskel schmerzte, sein Mund war spröde. Trotz der Qualen musterte Max die schlanke Frau, die ihm keinerlei Beachtung schenkte.

»Wasser, bitte«, krächzte er auf Englisch.

Keine Reaktion. Sie drehte sich nicht einmal um, sondern öffnete einen der mitgebrachten Jutesäcke.

»Bitte! Ich habe Durst. Nur etwas Wasser!«, flehte er erneut.

Jetzt schob sie die Kapuze ihres grauen Filzkleides zur Seite und lächelte ihn milde an. Ihr tiefschwarzes Haar hob sich von ihrer blassen Haut ab.

»Habe Geduld. Gleich kommen sie. Sie werden dir geben, was du brauchst«, sagte sie mit rauer Stimme. Ihr Blick war eiskalt, und Maximilian glaubte Wahnsinn in ihren Augen zu erkennen.

»Wer kommt?«, fragte er. Doch die Frau antwortete nicht. Sie entleerte mit bemerkenswerter Ruhe den Jutesack. Steine rollten heraus, die sie sorgfältig zu einem Kreis anordnete. Dann holte sie aus dem zweiten Sack ein Bündel dünner Reisigzweige hervor und legte sie fächerartig in die Mitte des Kreises. Maximilian beobachtete ihr Tun und konnte sich keinen Reim darauf machen.

»Wenn sie kommt, vollendet sie den Ritualcircle«, sagte die Frau und drehte sich abrupt zu ihm um. Sie befeuchtete einen Finger mit ihrer Zunge, hob ihr Filzkleid an und massierte sich, während sie langsam auf ihn zutrat. Vor ihm stehend musterte sie ihn abschätzend, öffnete seine Jeans und strich mit ihrer freien Hand über sein Glied.

»Nimm die Hände da weg!«, forderte er, doch sie ignorierte ihn. Maximilian spürte zu seinem Ärger, wie sein Körper auf ihre Berührung reagierte. Erst als sich die Tür erneut öffnete und vier weitere Frauen eintraten, ließ sie von ihm ab.

Zwei blonde und eine rothaarige Frau trugen dieselben grauen Filzkleider. Die vierte, eine ältere Frau mit filzigen grauen Haaren, folgte ihnen. Statt Filz trug sie einen langen, seidig schimmernden Umhang, der bis zum Boden reichte. Ohne Max eines Blickes zu würdigen, trat sie zum Steinkreis und begann in einer fremden Sprache zu sprechen. Die Worte reimten sich, wurden wiederholt.

Auf dem Rücken ihres schwarzen Umhangs erkannte Maximilian ein nach oben gerichtetes Schwert, flankiert von heulenden Wölfen. Darüber erstreckten sich bis zu ihrem Kragen stark verzweigte Äste. Bedeutungsvoll legte sie einen größeren Stein in die Mitte des Kreises. Dann traten die drei jüngeren Frauen hinzu und sangen gemeinsam eine melodische Beschwörung.

»Wasser«, krächzte Max nochmals. Seine Lippen waren aufgesprungen.

»Gebt ihm jetzt zu trinken«, befahl die Alte.

Die dürre Rothaarige trat mit einem antik anmutenden Trinkschlauch vor, flößte ihm Wasser ein. Gierig versuchte er mehr zu trinken, doch sie zog den Schlauch fort, als die Alte erstmals zu ihm aufsah und eine Hand hob.

»Weißt du, was das ist?«, fragte sie und hielt ihm ein langes, beidseitig geschliffenes Messer entgegen. Der schwarze Griff zeigte einen gehörnten Bullen oder Satan. Auf der matten Klinge erkannte Maximilian ein Phallussymbol. Ängstlich schüttelte er den Kopf.

»Der Unwissende erkennt nicht die Athame«, kicherte sie.

2

Mit zwei futuristisch aussehenden Elektro-Shuttles hatte ein blau uniformierter Fahrer sie direkt von der Gepäckausgabe zu einem Großraumwagen des Air-France-Fahrservices vor dem Flughafen Charles de Gaulle gebracht. Der wartende Chauffeur begrüßte sie höflich und öffnete die hinteren Türen des französischen Vans. Während Jules van Dyck und seine Tochter Leonie einstiegen, verstaute er ihr Gepäck im Kofferraum des Citroën C4 Grand Picasso.

»First Class über den Atlantik! Ich kann es kaum glauben, Paps«, sagte Leonie beschwingt, als sich der Wagen in Bewegung setzte und auf die Pariser Autobahn fuhr.

»Du bist erst 13, Leonie, und ich musste 56 werden, um meine ersten Flüge in der ersten Klasse zu genießen«, stellte Jules fest.

»Das war sensationell! Meine Freundinnen werden staunen, wenn ich ihnen davon erzähle. Mein Gott! Tischdecken, Porzellan, hochglanzpoliertes Besteck – und dann erst das Essen und der Service! Ich will nie wieder anders fliegen, Paps.«

Jules lachte. Sie waren auf dem Rückweg nach Antwerpen nach einer vierzehntägigen Reise nach Florida. Karsten hatte sich seine zweite Hochzeitsfeier mit Lena in Miami einiges kosten lassen. Die First-Class-Flüge samt Limousinen Service fielen dabei kaum ins Gewicht – ein Teil seines Dankes für Jules‘ couragierten Einsatz.

Mehrere Caterer, zwei kubanische Bands, eine schier endlose Auswahl an Getränken und Speisen auf stilvollen Stehtischen, dazu der türkisfarbene Sonnenschutz am Sandstrand der Biscayne Bay – all das machte das Erlebnis für alle Beteiligten unvergesslich. Allein Lenas Kleid musste ein Vermögen gekostet haben. Der zartrosafarbene Samt glitzerte in der Sonne, fast wie der Schmuck, den sie trug. Leonies Freundin war eine karibische Schönheit und der Blickfang der Feier. Über zweihundert Gäste hatten mit dem Paar auf Miami Beach bis in die frühen Morgenstunden gefeiert.

Jules seufzte. »Das glaube ich dir gerne. Leider verdiene ich nicht genug dafür. Also wirst du weiterhin in der Holzklasse fliegen müssen«, sagte er und strich sich über seinen frisch geschnittenen Anchor-Bart.

»Dann frage ich halt Karsten!«, sagte sie schnippisch.

»Nein, Leonie! Das wirst du nicht! Wir gehören nicht zu denen, die ohne Not andere anbetteln, nur weil sie Glück im Leben hatten«, sagte Jules energisch.

»Ist schon gut, Paps. Das war nicht so gemeint.«

Leonie beugte sich nach vorne und klopfte an die Trennscheibe zum Fahrer. Ihr Chauffeur blickte lächelnd in den Rückspiegel und ließ die Scheibe herunter. »Oui?«, fragte er.

»Können Sie kubanische Musik spielen? Salsa?«, fragte sie.

Auch Jules hatte noch die Klänge dieser temperamentvollen Musik im Ohr, gespielt von den kubanischen Bands auf der Feier.

»Ich sehe mal nach, junge Frau«, antwortete der Fahrer auf Deutsch – und kurz darauf erklangen die ersten Takte von Rubén González.

Jules beobachtete während der Fahrt seine heranwachsende Tochter. Leonie war ein ausgeglichenes Mädchen, und eigentlich machte er sich nicht mehr so große Sorgen um ihre Erziehung wie noch vor vier Jahren, als seine Frau an Leukämie verstarb. Mit dem ersten Au-pair-Mädchen, Lena, hatte es gut funktioniert, und auch die Auflösung seines Büros in der Antwerpener Innenstadt war die richtige Entscheidung gewesen. Das kleinere Büro im Haus reichte vollkommen aus, und so hatte er mehr Zeit für seine Tochter.

Nach siebzehn Stunden erreichten sie gegen Mittag endlich ihr Zuhause. Zwar hatte Leonie während des Fluges bequem liegen und etwas schlafen können, doch Jules hatte nur zwei Stunden gedöst, und der Jetlag machte ihm zu schaffen. Schon beim Auspacken seines Koffers konnte er ein Gähnen nicht unterdrücken.

»Ist das für dich okay, wenn ich meinen Koffer später auspacke, Paps? Ich habe mich mit Anna verabredet.« Charmant lächelnd stand sie im Türrahmen.

»Na klar. Mach das, Schatz. Wir sehen uns dann später«, sagte Jules und wuchtete seinen leeren Koffer auf den Schlafzimmerschrank.

»Danke, Paps«, sagte sie, und Jules hörte das Zuschlagen der Tür, bevor er in die Küche ging. Soll sie ruhig ihr Gepäck unberührt lassen und sich mit ihren Freundinnen treffen, dachte er. Das war auch in seinem Interesse, damit er sich wieder dem Alltag in Antwerpen widmen konnte. Sonnenlicht fiel durch das Fenster, und kleine Staubwolken tanzten in der Luft. Nach nur zwei Wochen Abwesenheit lag bereits eine dünne Staubschicht auf allen Möbeln. Jules trank einen Kaffee und rief seine Putzfrau an. Da Leonie noch fünf Tage Schulferien hatte, gönnte er ihr die unbeschwerte Freiheit, die er selbst nicht hatte.

Mit der Tasse in der Hand ging er ins Büro, gespannt auf die Nachrichten. Er öffnete das E-Mail-Programm. Während der Spam-Filter die meiste Werbung herausfischte, war der Anrufbeantworter voll davon. Er löschte den Müll sofort. Die Buchhalterin der Notare Maassen & Partner informierte ihn, dass seine Abrechnung akzeptiert wurde. In einer weiteren Nachricht lud ihn Jan auf einen Kaffee ein und erwähnte, er habe Jules einer Freundin von Mareike empfohlen. Doch für ein Treffen mit Jan fühlte er sich heute nicht in Form. Aus Erfahrung wusste Jules, dass es ein langer Abend mit seinem Freund werden würde. Ein Hauseigentümer teilte ihm mit, dass er ihn mit der Suche nach einem säumigen Mieter beauftragen wolle. Nach einer kurzen Pause hörte er die brüchige Stimme eines älteren Mannes, der seine Jugendliebe wiederfinden wollte. Wie nett, dachte er lächelnd. Die letzte Nachricht stammte von einer Karin Malinowski aus Eupen, erst vom Vortag. Sie bat um einen schnellen Rückruf. Ihre Stimme klang bereits auf dem Band aufgeregt – es schien dringend zu sein. Er wählte die belgische Nummer.

»Jules van Dyck, guten Tag«, meldete er sich.

»Malinowski. Gut, dass Sie zurückrufen. Jan Bishop hat Sie mir empfohlen. Er war quasi ein Kollege meines Mannes«, erklärte sie.

»Der gute Jan. Was kann ich für Sie tun, Frau Malinowski?«

»Mein Mann ist verschwunden«, sagte sie. Jules hörte das Zittern in ihrer Stimme. »Er war mit zwei Freunden auf einer Männertour in Schottland.«

»Und dort ist er verschwunden?«

»Sie waren in einem Dorf in den Highlands, und er ist wie vom Erdboden verschluckt«, sagte sie.

»Wissen Sie, ob seine Freunde bei der Polizei waren und eine Vermisstenanzeige erstattet haben?«

»Ja, aber die Polizei war nicht besonders kooperativ. Deshalb brauche ich Ihre Hilfe, Herr van Dyck.«

Besondere Lust, sich nach der Rückreise sofort in ein neues Mandat zu stürzen, hatte er nicht. Aber es war eine Empfehlung von Jan, und die Sache schien der Frau unter den Nägeln zu brennen.

»Hm. Können wir uns treffen?«, fragte Jules spontan.

»Ich wohne in Eupen und bin Belgierin. Mein Mann ist Deutscher, und seine Freunde sind auf dem Weg zu mir. Sie haben den Urlaub abgebrochen.« Sie konnte ihre Aufregung nicht unterdrücken und schluchzte. »Wir bekommen ein Baby, auf das wir uns so gefreut haben. Ich Idiotin habe ihn dazu überreden müssen, vor der Geburt an der Tour teilzunehmen. Hätte ich nur die Klappe gehalten!«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Ich komme zu Ihnen. Passt es Ihnen noch heute?«, fragte Jules.

»Gerne. Je eher, desto besser. Ich gebe Ihnen meine Adresse.«

Jules notierte ihre Anschrift und machte sich ein paar Notizen. Sein Routenplaner zeigte gute zwei Stunden Fahrt an. Stöhnend schickte er Leonie eine Nachricht, dass er erst später am Abend kommen würde, dann machte er sich auf den Weg.

Für die Mittagszeit war wenig Verkehr, und so erreichte er Karin Malinowski bereits nach einer Stunde und zwanzig Minuten. Ihr Zuhause – ein hübsches belgisches Einfamilienhaus – lag inmitten eines liebevoll gepflegten Gartens. Üppig blühende Pflanzen bildeten einen lebhaften Kontrast zu dem apfelfarbenen Klinker, in den ein großes Fenster eingelassen war.

Jules sah in seinem leichten Sommeranzug blendend aus. Der Undercut und der Anchor-Bart, frisch gestutzt von einem kubanischen Barbier in der Calle Ocho, verliehen ihm einen lässigen Touch. Während er das Dach seines Peugeot schloss, warf er einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel – zufrieden mit dem, was er sah.

Die Tür öffnete eine hochgewachsene, brünette Frau mit deutlichem Schwangerschaftsbauch und geröteten Augen. Nach einer kurzen Begrüßung trat Jules ein. Das Haus war gemütlich eingerichtet, der Duft von Apfelkuchen lag in der Luft.

»Darf ich vorstellen. Meine Freundin Mila Janssen. Sie versucht, mich zu beruhigen«, sagte Karin.

»Was auch nicht verkehrt ist«, erwiderte Jules. »Es kann sich alles schnell aufklären.«

»Nehmen Sie doch Platz. Mögen Sie ein Stück Kuchen, Herr van Dyck?«

»Sehr gerne. Sie sagten, Jan Bishop und Ihr Mann seien quasi Kollegen. Was bedeutet das?«, fragte Jules.

»Mein Mann arbeitet beim Finanzamt in Aachen. Sie hatten dadurch ein paarmal miteinander zu tun. In Aachen hatten wir uns auch kennengelernt«, sagte sie und wandte sich zur Küche. »Kaffee zu dem Kuchen?«

»Gerne«, antwortete Jules lächelnd.

»Ihre Kuchen sind allseits beliebt«, bemerkte Mila.

Jules musterte sie unauffällig aus den Augenwinkeln. Sie war etwa so groß wie er, mit pechschwarzen, schulterlangen Haaren und warmen braunen Augen. Zehn Jahre jünger, vielleicht mehr. Und äußerst attraktiv.

»Apfelkuchen, nehme ich an. Der Duft schlug mir gleich entgegen, als ich das Haus betrat«, sagte Jules. »Sagen Sie, hatte Karins Mann vielleicht einen Grund zu verschwinden?«

»Ich kann mir denken, worauf Sie hinauswollen. Nein! Sie waren eines der glücklichsten Paare, die ich kenne«, erwiderte Mila leise, kurz bevor Karin mit einem Tablett aus der Küche kam.

Sie verteilte den Kuchen auf Tellern und stellte eine Schüssel mit Sahne dazu.

»Der sieht gut aus«, sagte Jules und nahm einen Schluck Kaffee. »Was können Sie mir über das Verschwinden Ihres Mannes erzählen, Frau Malinowski?«

»Ich hatte ihn überredet, an der Herrentour durch Schottland teilzunehmen. Zusammen mit seinem ältesten Freund aus Krefeld, Frank Bäumer, und Goran Scharmann. Sie waren erst zwei Tage in einem Dorf in den Highlands. Am zweiten Morgen erschien er aber nicht mehr zum Frühstück.«

»Haben seine Freunde die Polizei informiert?«, fragte Jules nach.

»Sie sind zur Wache gegangen. Aber der Polizist meinte, es sei noch zu früh, und sie sollten abwarten. Er hat sie einfach vertröstet.«

»Vermisstenanzeigen nimmt die Polizei oft erst nach ein paar Tagen auf. Das ist nicht ungewöhnlich. Gibt es Hinweise, wohin er gegangen sein könnte? Gab es Streit zwischen den Männern?«, fragte Jules und nahm eine Gabel voll Kuchen.

»Frank sagte mir, dass sie viel Spaß hatten. Am Tag zuvor waren sie auf einer Wanderung und hatten geangelt. Es gab keinen Streit. Merkwürdig war nur, dass Max abends zuerst auf sein Zimmer ging und später das Frühstück ändern wollte. Danach war er weg. Am nächsten Morgen hieß es in der Pension, sein Zimmer sei unbesetzt gewesen – und er war nicht einmal als Gast eingetragen.«

»Das ist tatsächlich seltsam«, sagte Jules.

»Und dabei waren sie schon zwei Tage dort! Max hatte einen Schlüssel – doch der hing an jenem Morgen an der Rezeption. Das ergibt doch keinen Sinn!«, sagte sie aufgebracht.

»Sie sagten, dass Maximilians Freunde hierherkommen?«

»Frank und Goran müssten längst da sein. Sie haben nach seinem Verschwinden ihren Urlaub abgebrochen«, sagte sie, als es an der Tür läutete. »Endlich. Das sind sie bestimmt.«

Karin stand auf und ging zur Tür.

»Merkwürdige Geschichte«, sagte Mila. »Ich kann ihre Sorgen gut verstehen.«

Jules nickte zustimmend.

In diesem Moment kam Karin mit Maximilians Freunden herein und stellte sie einander vor.

»Unser Flug hatte Verspätung«, entschuldigte Frank ihr spätes Eintreffen.

»Kein Problem«, sagte Jules, nachdem er sich vorgestellt hatte. »Frau Malinowski hat mich bereits kurz über die Umstände des Verschwindens ihres Mannes informiert. Sie möchte, dass ich Max finde. Was könnte für die Suche noch wichtig sein?«

Frank und Goran berichteten von ihrer Überraschung, als Maximilian am Morgen nicht zum Frühstück erschien. Sie erzählten von dem Polizisten und dem Fremdenführer im Besucherzentrum. Frank äußerte sein Unbehagen darüber, dass Max‘ Gepäck offenbar entfernt worden war und sein Zimmer unbenutzt gewirkt hatte.

»Sein Schlüssel hing morgens an der Wand hinter der Rezeption, und Max war als Gast nicht eingetragen«, schloss er.

»Das deutet darauf hin, dass jemand aus der Pension damit zu tun hat«, sagte Jules. »Ich brauche Ihre Kontaktdaten, die des Polizisten, der Pension und den Namen des Fremdenführers.«

Er notierte alles und machte sich zum Aufbruch bereit.

»Ich melde mich, wenn ich weitere Fragen habe. Danke für den Kuchen.«

»Ich bringe Sie noch zur Tür«, sagte Mila und stand mit ihm auf.

In ihrer hautengen Jeans und dem gelben Top sah sie hinreißend aus. Doch was Jules besonders gefiel, war ihr dezent aufgetragenes Parfüm – und die Grübchen in ihren Mundwinkeln.

»Wie gehen Sie jetzt vor?«, fragte sie vor der Haustür.

»Ich werde in den nächsten Tagen Nachforschungen anstellen. Aber ich werde nicht darum herumkommen, selbst nach Schottland zu reisen.«

»Man sagt, Sie seien gut darin, vermisste Personen zu finden, Herr van Dyck«, sagte Mila.

»Das ist mein Job. Wissen Sie, jeder hinterlässt Spuren, wenn er verschwindet. Man muss nur wissen, wo man sie findet«, erwiderte Jules.

»Ich würde mich freuen, wieder von Ihnen zu hören«, sagte sie mit einem vielversprechenden Augenaufschlag zum Abschied. »Aber geben Sie mir doch bitte Ihre Karte. Falls mir noch etwas einfällt.«

Jules spürte sein Herz schneller schlagen. So war es ihm seit dem Tod seiner Frau nicht mehr ergangen. Er hatte Chancen bei den Frauen, doch bislang berührte ihn das wenig. Zu tief hatte er unter ihrem Verlust gelitten. Auch Leonie sprach gelegentlich davon, dass er wieder eine Frau an seiner Seite haben sollte. Brauchte sie eine Art Mutter, obwohl er sich alle Mühe gab, diese Rolle auszufüllen?, fragte er sich, während er losfuhr und auf sein Handy blickte.

Leonie hatte ihm geschrieben und gefragt, ob sie bei ihrer Freundin Anna übernachten dürfe. Das Mädchen wuchs in einem guten Elternhaus auf, und sie hatten noch Ferien. Jules tippte eine kurze Antwort und wählte dann Jans Nummer. Doch Mareike informierte ihn, dass Jan mit seinen Hühnern noch in Kopenhagen auf einer Ausstellung sei. Also kehrte Jules nach Antwerpen zurück. Sein neuer Auftrag war anspruchsvoll und würde seine gesamte Kreativität und Konzentration fordern.

Die Sonne stand tief am Horizont und tauchte die Stadt in ein leuchtend rotes Dämmerlicht, als er seinen Peugeot in eine Parklücke auf der Boolenstraat lenkte. Laut Wetterbericht sollte auch der morgige Tag, Ende September, sommerlich warm werden. Mit dem Aufzug fuhr er hinauf in sein Büro und klappte seinen Laptop auf.

Die ersten Google-Einträge über Nethy Bridge stammten von Reiseveranstaltern und zwei größeren Hotels der Umgebung. Die Fotos und Beschreibungen des kleinen Ortes in den Highlands, südlich von Inverness, waren vielversprechend für einen Aufenthalt. Jules konnte verstehen, warum seine Freunde diese zauberhafte Landschaft am Rande eines Nationalparks gewählt hatten. Doch abgesehen von einer alten Kirche, einem Friedhof, einer steinernen Brücke und wenigen weiteren Sehenswürdigkeiten hatte der Ort wenig zu bieten. Auf der Website der Gemeinde fand er schließlich eine Liste mit Hotels und Pensionen. Darunter war auch das Nethy Cottage – die Unterkunft, aus der Max Malinowski verschwunden war.

Weiter unten wurden die Highland Games im August beworben sowie das Besucherzentrum mit Touristeninformation. Dort musste der Fremdenführer Ken Robertson zu finden sein, der laut Frank gesprächig war. Doch es gab keine Einträge zu Robertson. Weder im Besucherzentrum noch sonst irgendwo fand Jules Informationen zu ihm, keine Telefonnummer, keine Adresse.

Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte – er musste für unbestimmte Zeit nach Schottland reisen. Das machte ihm einmal mehr bewusst, dass er für Leonie dringend ein neues Au-pair brauchte. Doch für den Moment musste eine andere Lösung her. Er wählte die Nummer von Annas Eltern.

»Hallo Finje, hier ist Jules. Ich wollte euch danken, dass Leonie heute bei euch übernachten darf«, sagte er mit charmanter Stimme.

»Hallo Jules. Ach, das ist doch kein Problem. Die Mädchen sind in Annas Zimmer und kichern so laut, dass ich es unten noch hören kann«, erwiderte Finje heiter.

Finje Leeuwen war ein absoluter Familienmensch. Doch im Gegensatz zu Jules hatte er als Verwaltungsangestellter geregelte Arbeitszeiten, war stets ausgeglichen und konnte seine Freizeit ganz im Sinne seiner Familie gestalten.

»Du, ich habe ein Problem. Mein neuer Auftrag zwingt mich, für eine oder zwei Wochen nach Schottland zu reisen«, begann Jules. »Daher wollte ich euch fragen, ob …«

»Ob Leonie so lange bei uns bleiben kann?«, vollendete Finje seinen Satz. »Ich denke, das wird kein Problem sein. Silvia mag deine Tochter, und für Anna wäre es eine Freude. Aber ich frage sie. Silvia hört eh schon neugierig mit einem Ohr zu«, sagte er lachend. »Sie verdreht zwar die Augen, aber sie nickt.«

»Da bin ich erleichtert. Ich danke euch! Das ist wirklich ein Lichtblick.«

»Dir ist aber klar, dass du auch mal Anna bei dir übernachten lassen musst – und dass du uns einen Abend mit französischem Wein schuldig bist, Jules!«

»Darauf freue ich mich!«

»Wie war es denn in Florida bei der Hochzeit?«, fragte Finje.

Jules erzählte von der Feier mit ihrem ehemaligen Au-pair-Mädchen und Karsten Fischler in Miami und wie sehr er die Ruhe am Strand genießen konnte.

Sie beendeten ihr Gespräch, und Jules suchte im Internet nach einem neuen Au-pair-Mädchen. Eine 18-Jährige aus Bulgarien mit auffälligem Schmollmund schien zunächst interessant, doch sie war ihm zu jung und gab an, nur über geringe Englischkenntnisse zu verfügen. Jules war klar, dass es mit ihr erhebliche Verständigungsprobleme geben würde.

Das nächste Mädchen kam aus Bologna, Italien. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, ausgebildete Bürokraft und lächelte auf ihrem Profilfoto voller Anmut und verschmitzt in die Kamera. Vanessa war ihr Name, und sie sprach neben Englisch auch etwas Deutsch und Französisch. Das klang deutlich besser. Jules schrieb ihr eine Nachricht und sah auf die Uhr. Es war spät geworden, also machte er für heute im Büro Schluss. Wenn er aus Schottland zurück war, wollte er Leonie mitentscheiden lassen, ob Vanessa das passende Au-pair-Mädchen sei. Ein Cognac musste noch sein, bevor er zu Bett ging.

Im Halbschlaf träumte Jules von Miami Beach – vom feinen weißen Sand, der sanften Brandung des Atlantiks. Doch als er die Augen öffnete, lag er in seinem Bett in Antwerpen. Enttäuscht seufzte er. Es war nicht Florida, doch die Sonne des Spätsommers wärmte sein Gesicht. Trotzdem wusste er: Sein nächster Auftrag würde ihn bald in nördliche, weit kühlere Regionen führen.

Die wenigen Informationen, die er am Vorabend über die Highlands und Nethy Bridge erhalten hatte, halfen ihm nicht weiter. Doch es gab andere Wege für seine Nachforschungen. Im digitalen Archiv der größten Tageszeitung Antwerpens wollte er nach Schlagzeilen aus der Region suchen – Ereignisse der letzten zehn Jahre durchforsten. Falls das nicht genügte, konnte er auf seine Kontakte bei anderen Magazinen zurückgreifen. Und dann gab es noch die internationalen Nachrichtenagenturen.

Gähnend schälte er sich aus dem Bett und schlurfte unter die Dusche. Erst mit dem ersten Kaffee fühlte er sich wirklich wach. Er zückte sein Handy und tippte eine SMS an Leonie. Zwei Wochen Urlaub hatten ihnen gutgetan, doch jetzt fühlte er sich wieder wie ein Fremder in seiner eigenen Rolle als Vater. Er fürchtete, dass das Leben seiner Tochter an ihm vorbeizog, ohne dass er es aufhalten konnte. Ein neues Au-pair-Mädchen oder Übernachtungen bei Freundinnen – das waren keine Lösungen. Und er ärgerte sich, diesen Auftrag angenommen zu haben, der ihn ins ferne Schottland führte.

Jules schob die Gedanken beiseite und fuhr ins Zentrum zum Antwerpen Dagblatt. Kaum saß er am PC des Archivs, vibrierte sein Handy. Eine Nachricht von Leonie. Sie schrieb, dass es ihr gut ging und sie Spaß mit Anna hatte.

Erneut erfasste ihn Traurigkeit. Seine Tochter würde sich nie beschweren. Eine Eigenschaft, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Und genau das hatte ihr zum Verhängnis werden lassen. Sie hatte alle Warnsignale ihres Körpers ignoriert – selbst die ersten Schmerzen ihres Krebses. Bis es zu spät war.

Jules gab Nethy Bridge, Schottland, in die Suchmaske ein. Die ersten Artikel der Presse behandelten die jährlichen Highland Games, die in Schottland offenbar einen höheren Stellenwert als die Olympischen Spiele einnahmen. Es folgten kleine Beiträge zu den Kommunalwahlen, dem neuen Bürgermeister, Autounfällen, Handarbeitskursen, Geburten, Jubiläen, Schlaglöchern und dem üblichen Blabla von Kleinstadtzeitungen. Jahr für Jahr das gleiche Bild – bis Jules auf eine kleine Meldung stieß.

Ein Tourist aus Ungarn war in den Highlands verschwunden. Er hatte Wanderungen unternehmen wollen, doch eine Vermisstenanzeige der Verwandten im Jahr 2018 blieb erfolglos. Das war ziemlich genau vor fünf Jahren gewesen, in Lettoch, einer Nachbargemeinde von Nethy Bridge. Jules betätigte den Drucker und suchte nach weiteren Artikeln.

Im September 2013, also erneut fünf Jahre zuvor, gab es den nächsten Fall: Ein 38-jähriger Italiener verschwand in Dulnain Bridge. Auch diesen Vorfall druckte er aus und vergrößerte gleichzeitig den Suchradius auf 50 Kilometer um Nethy Bridge. Dann ein Fall aus dem Jahr 2010: Zwei über 80 Jahre alte Männer aus der Umgebung verschwanden spurlos. Für sie wurden sogar Suchtrupps organisiert. Eine Woche später fand man sie in der Hütte eines Schäfers, wo sie sich mit ein paar Flaschen Single Malt über ihre streitsüchtigen Frauen trösteten. Jules musste lachen, als er das las, und suchte weiter.

Im Oktober 2008 wurde eine Vermisstenanzeige in Kinveachy erstattet. Diesmal verschwand ein 32-jähriger aus Liverpool spurlos. Ein Muster begann sich abzuzeichnen: Alle fünf Jahre, immer in den Monaten September und Oktober, verschwanden Touristen. Bis 1968 hatte Jules zurückrecherchiert und immer weitere Fälle gefunden, als sein knurrender Magen ihn unterbrach. Er hatte noch nicht gefrühstückt. Zeit für eine Pause.

Mit den Ausdrucken in der Tasche ging er zum Italiener am Rande des Parks. Er studierte die Karte nur kurz und bestellte Carpaccio als Vorspeise und eine Lasagne. Während er auf sein Essen wartete, blätterte er durch die Ausdrücke. Fünfundfünfzig Jahre waren selbst für einen Serienmörder zu viel. Keiner der Verschwundenen wurde je gefunden. Dahinter steckte ein System. Und wenn Jules herausfand, was dahinter steckte, könnte er vielleicht auch den vermissten Mann aufspüren.

Am Nachmittag arbeitete er weiter im Archiv der Zeitung und kam bis ins Jahr 1948 zurück. Immer in fünfjährigen Intervallen gab es neue Fälle. In den Kriegsjahren zuvor jedoch nicht mehr. Möglicherweise lag das daran, dass in dieser Zeit überall Menschen vermisst wurden und andere Dinge von größerem Interesse für die Medien waren.