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Ein tödliches Testament und ein Detektiv, der alles riskiert. Privatdetektiv Jules van Dyck rechnet mit vielem, aber nicht mit einem Auftrag aus dem Jenseits. Ein Notar beauftragt ihn, einen Erben zu finden. Doch der verstorbene Diamantenhändler hinterlässt mehr als nur Reichtum: Sein Testament führt zurück in die Vergangenheit und verlangt das Unmögliche, nur Drittgeborene sollen erben. Was als Recherche beginnt, wird rasch zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Jeder Hinweis, den Jules verfolgt, endet in einem weiteren Todesfall. Erst die Begegnung mit Hauptkommissar Benno Mickerts bringt Licht in die dunkle Geschichte. Gemeinsam versuchen sie, die letzten Nachkommen zu finden bevor die Killer es tun. Ein Thriller, der historische Tiefe mit rasanten Wendungen verbindet, atmosphärisch dicht, hochspannend und mit einem Ermittler, der über sich hinauswächst. Wem kannst du noch trauen, wenn sogar die Vergangenheit tödlich ist?
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Seitenzahl: 420
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Leonie und Maximilian
Charly Williams war seit über zwanzig Jahren das, was man sich für gewöhnlich unter einem waschechten Seebären vorstellt. Seine vom Wetter gegerbte Haut, die wuseligen grauen Haare, die unter seiner Golfmütze ihren Weg suchten und seine raue Stimme ließen keinen Zweifel an seiner Berufung. Es war noch früh, als der kleine, aber drahtige Mann die letzten Vorbereitungen an Bord seiner Jennifer II traf. Das weiße Schiff verfügte über alle erdenklichen Annehmlichkeiten für die Gäste der Hochseeangeltouren im Golf. Charly pfiff zufrieden Sitting on the dock oft the bay und ein Lächeln umspielte seine herzlichen Gesichtszüge. Heute würde er zwei Banker aus Miami und einen Vater mit seinen drei Söhnen in Fanggebiete vor Cape Coral schippern. Für Charly war es ein Leichtes mit der Fischortung die reichen Bestände der Snapper, Grouper oder den Kings Fischen zu finden. Captain Charly Williams hatte sich längst einen Namen gemacht und wurde häufig empfohlen. In den Sozialen Medien posteten die Angler stolz ihre Fänge und berichteten von abenteuerlichen Tagen an Bord der Jennifer II.
Er schleppte die Tasche mit gekühlten Getränken unter Deck, als eine schwarze Limousine in eine Parkbucht am Hafen von Cape Coral einbog und zwei geschniegelte junge Männer auf dem hölzernen Pier auf ihn zukamen.
»Guten Morgen Captain. Mein Name ist David Crown und das ist Peter Miller«, stellten sich die Banker vor.
Beide erfüllten bis auf das I-Tüpfelchen das Klischee eines Bankers. Mit manikürten Händen, gestylten Haaren unter den Schirmmützen und Abercrombie & Fitch Shirts standen sie mit ihren jungfräulich wirkenden Angeln vor Charly und nahmen ihre Designer Sonnenbrillen zur Begrüßung ab.
»Guten Morgen. Nennen Sie mich einfach Charly. Herzlich willkommen an Bord. Ihr Gepäck bringen Sie am besten gleich unter Deck in Ihre Kabinen Nummer 2 und 3.«
Der Skipper sah sich die Reservierungen an und zog die buschigen Augenbrauen hoch. Die beiden Yuppies aus Miami waren noch keine 30 Jahre alt und fuhren zum ersten Mal zu einem Angeltörn. Leute ohne Erfahrungen waren stets anstrengender zu handeln. Erleichtert checkte Charly die zweite Reservierung. Mister George Goossen mit seinen drei Söhnen hatte bei seiner Buchung Erfahrungen beim Angeln angegeben. Die Familie reiste aus North Carolina an und sollte so langsam auch eintreffen. Charly wollte pünktlich um 9 Uhr den Hafen verlassen und es war bereits zwanzig vor neun, als der Chevi Van auf dem Weg zur Marina die Midpoint Bridge überquerte.
»Jungs, wir haben es fast geschafft«, stellte George fest.
»Wir waren auch lange genug unterwegs«, maulte sein jüngster Sohn Paul und streckte sich.
»War die Fahrt denn so unbequem?«, wollte der 42jährige George wissen.
Der generalüberholte Van war zwar 26 Jahre alt, doch komfortabel, geräumig und bequem gepolstert. George hatte den V8 extra für diese Tour gekauft. Seit der Trennung von seiner Frau war dies der erste Urlaub mit seinen heranwachsenden Söhnen und er freute sich auf die nächsten zehn Tage. Sie hatten während ihrer Anreise schon SeaWorld in Orlando und Bush Gardens in Tampa mit seinen riesigen Achterbahnen einen Besuch abgestattet und das Hochseeangeln war ein weiterer Höhepunkt in ihrem Urlaub.
»Wir waren lange unterwegs, aber ich bin froh endlich meine Angel auswerfen zu können«, meinte Mike.
Der ältere der Brüder war George wie aus dem Gesicht geschnitten. Er hatte die gleiche markante Gesichtsform und die schönen blauen Augen seines Vaters. Ganz anders als seine Brüder, die eher mit ihrer Mutter Ähnlichkeit hatten. Wenn George Goossen seine gespiegelte Sonnenbrille aufsetzte, ging er glatt für George Clooney durch. Es war nicht selten, dass er auf ein Autogramm angesprochen wurde und im Büro sprach man eh nur von Clooney, wenn man auf ihn zu sprechen kam. Er störte sich zwar nicht daran, aber manchmal nervte es ihn doch. Er lenkte den Van in die Parklücke und die Jungs sprangen gleich aus dem Wagen.
»Hey! Immer mit der Ruhe. Vergesst euer Gepäck nicht«, mahnte George, bevor er seine Tür öffnete.
»Brauchen wir alles, Vater?«, fragte Mike ungläubig.
»Natürlich nicht. Aber wir lassen trotzdem nichts im Wagen, was gestohlen werden könnte.«
Charly sah die vier Männer über den Pier auf die Jennifer II zusteuern. Die Menge an Gepäck war erschreckend. An Bord war es eng und die vielen Koffer und Rucksäcke unterzubringen würde nicht leicht werden, wusste der erfahrene Skipper.
»Mister Goossen nehme ich an. Mein Name ist Charly und ich bin Ihr Skipper an den nächsten zwei Tagen. Wollen Sie tatsächlich Ihr gesamtes Gepäck an Bord bringen? Ich fürchte, dazu reicht der Platz nicht aus«, begrüßte sie der Captain und glaubte einen berühmten Hollywood Star vor sich zu haben.
»Guten Tag Charly. Das glaube ich. Aber ich will es auch nicht zwei Tage lang unbeaufsichtigt im Auto lassen.«
»Das ist kein Problem. Ich habe gleich dort hinten einen bewachten Lagerraum, in dem Sie Ihr Gepäck sicher verwahren können«, sagte Charly und sprang in einem Satz von Bord. »Folgen Sie mir einfach«, sagte er und schritt zügig voran.
Wieder an Bord hatte der alte Peter, der Charly bei den Touren zur Hand ging, und auch für die kleine Kombüse zuständig war, alle Vorbereitungen zum Ablegen getroffen. Die Banker standen neugierig an der Bordwand und stellten Peter einige unsinnige Fragen, als Charly den schnurrenden Motor anwarf. Langsam steuerte er die Jennifer II aus dem Hafenbecken auf die offene See. Erst als George mit seinen Söhnen und ihrer Ausrüstung an Deck kam, drehte sich der Captain zu ihnen herum und gab die ersten Anweisungen für den Törn.
»Wenn Sie zur Toilette müssen, finden Sie das Bad gleich vorne rechts unter Deck. Falls jemand Durst oder Hunger verspürt, wenden Sie sich bitte an Peter. Er ist für seine grandiosen Thunfisch-Sandwiches in Cape Coral berühmt«, fügte er augenzwinkernd hinzu und korrigierte leicht den Kurs.
Sie hatten das offene Meer erreicht und der wortkarge Peter steckte die letzte Angel vorbereitet in den Köcher und die Banker schauten ihm neugierig dabei zu.
»Wie ich sehe, sitzen die Handgriffe der Männer aus North Carolina perfekt«, sagte Charly und zündete sich eine Pfeife an. »Wenn wir vielversprechende Gewässer erreicht haben, werde ich mich zu Ihnen gesellen. Bis dahin achten Sie besser darauf nicht über Bord zu gehen. Im Golf gibt es über 20 verschiedene Hai Arten und unter ihnen sind auch vier, die dem Menschen gefährlich werden können«, warnte der Skipper. »Ach ja. Natürlich wimmelt es hier auch geradezu von Barrakudas. Auch sie würden uns gerne anknabbern, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen«, lachte Charly.
Den Bankern war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben und sie wichen ein Stück von der Reling zurück.
»Anglerlatein«, scherzte George, um seine Jungs zu beruhigen.
Die See war ruhig und das Festland war nicht mehr zu sehen, als der Captain den Motor abschaltete und zu ihnen herunter kam. Charly zündete sich eine neue Pfeife an und lächelte seine Chartergäste zufrieden an. »Peter, bereite die Kescher und Wannen für den Fang vor«, sagte Charly.
»Ist es soweit? Hier angeln wir?«, fragte Crown und setzte wieder seine Schirmmütze auf.
»Ich glaube ein besseres Fanggebiet werden wir nicht finden.«
»Sie erzählten gerade von den gefährlichen Fischen. Ich hoffe es gibt ausreichende Sicherheitsmaßnahmen, falls das Boot kentert«, sagte der vierzehnjährige Paul Goossen.
»Junger Mann, ich darf dir versichern, dass ich mit der Jennifer II schon seit mehr als 8 Jahren diese Touren mache und noch nie ist etwas passiert. Und davor 14 Jahre mit der Jennifer I.«
»Und wenn doch etwas passiert?«
Charly kratzte sich hinter dem Ohr. »Hm, ja dann sind für jeden Rettungsringe und Schwimmwesten an Bord. Das wichtigste ist aber eine große Rettungsinsel mit GPS und allen technischen Extras. Also keine Sorgen.«
Einer nach dem anderen warf seine mit Ködern bestückte Angel aus und machte es sich auf den Stühlen bequem. Nur die Banker Crown und Miller blieben neben ihren Angeln stehen und blickten neugierig auf die Meeresoberfläche. George bemerkte ihre Aufregung.
»Es ist Ihr erster Angeltörn, nicht wahr?«, fragte er sie amüsiert.
»Ja, in etwa«, antwortete Crown. »Wir haben schon auf den alten Brücken der Keys ab und zu geangelt. Doch immer wieder mussten wir unseren Fang gegen die frechen Pelikane verteidigen.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Charly, der das Gespräch mitbekam und hielt sich vor Lachen seinen Bauch. »Das wird Ihnen hier nicht passieren. Für die Pelikane sind wir zu weit vom Land entfernt. Aber sehen Sie doch! Ihre Angel zuckt. Es hat einer angebissen!«
George und seine Söhne sprangen fast gleichzeitig auf und sahen neugierig ins Wasser. Peter Miller kurbelte die Spule seiner Angel. »Nicht so schnell! Nehmen Sie die Angel in die Hand, damit sie ihn spüren und ziehen Sie ihn langsam heran«, forderte ihn Charly auf.
Jetzt zuckte auch die Rute von Georges mittlerem Sohn David. Doch er schien vollkommen unaufgeregt und wirkte selbstsicher, als er seine Angel aus dem Köcher nahm. George legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter.
»Du machst das gut, David. Ich glaube, in der Sunshine Bar werden wir morgen grandios schlemmen!«
Er wusste, dass es rund um Cape Coral einige Restaurants gab, welche die Fische der Angler zubereiteten oder aufkauften. Noch bevor Miller seinen Fisch einholen konnte, schlugen auch die Ruten von Crown, Mike und Paul aus. Während Paul und Mike souverän mit ihren Angeln umgingen, machte es ihnen der unerfahrene Banker Crown einfach nach. Miller zog einen hübschen Bluefish in den Kescher. Der Mann strahlte vor Freude, als Peter den Fisch mit dem großen Kescher an Bord hievte und in ein vorbereitetes Becken fallen ließ. Mike und Paul hatten jeweils einen Cobia von knapp 80 cm Länge an der Angel. Der Barsch kämpfte lange, bis er schließlich auch im Kescher landete.
»Da haben Sie eine Köstlichkeit gefangen, Mister Crown!«, stellte Charly fest. »Das Fleisch vom Red Snapper ist weiß, fest und schmeckt nicht so intensiv nach Fisch. Gratulation.«
Nur Georges Angel rührte sich nicht. Doch für ihn ging es darum, dass seine Söhne Erfolg und Spaß hatten. Grinsend stand er an der Reling, als der Skipper zu ihm trat. »Machen Sie sich nichts daraus, Mister Cloo.. äh Goossen«, korrigierte er sich.
George lachte. »Sagen Sie ruhig Clooney zu mir. Ich habe mich mit der Ähnlichkeit des Schauspielers längst abgefunden«, sagte er und hob demonstrativ zweimal seine Augenbrauen, wie in der Kaffeewerbung..
Während sein ältester Sohn die Augen verdrehte, fielen alle anderen in Gelächter. Peter kam zu ihnen und brachte Coke und kaltes Bier. Seit sich seine Scheidung herumgesprochen hatte, konnte sich der 44jährige George kaum vor Angeboten retten. Selbst 20jährige Frauen himmelten ihn verliebt an und kaum war er mal mit Kollegen in einer Bar, machten ihm liebeshungige Frauen eindeutige Angebote und flirteten ihn an. Für George war es dennoch zu viel des Guten und meistens lehnte er ab, denn noch immer litt er unter der Trennung. Seine Geschäftsreisen hatten letztendlich zu ihrer Trennung geführt und heute würde er sofort seinen Job wechseln, wenn er eine zweite Chance bei Samantha hätte. Gedankenverloren bemerkte er nicht, dass sich auch seine Angel rührte.
»Sie scheinen heute doch nicht leer auszugehen«, meinte Charly und deutete auf seine Angel. »Das hätte mich auch gewundert.«
Doch die Angelrute bog sich extrem. Das konnte kein normaler Fisch sein, der angebissen hatte. Sofort stand der Skipper zu seiner Seite und befestigte die Rute zusätzlich mit einem Stahl-Karabiner an einem Drahtseil. »Lassen Sie die Angel im Köcher und schauen wir erstmal, was Sie am Haken haben«, forderte ihn Charly auf. Er übernahm seine Angel und löste die Bremse der Spule, die sofort surrend mehr Leine freigab. »Peter, bring Wasser zur Kühlung der Spule«, forderte ihn der Skipper auf. Plötzlich lies der Zug nach und die Angel stand wie zuvor in ihrem Köcher.
»Merkwürdig«, meinte George, als er das sah.
Charly nickte. »Entweder er hat sich losgebissen, oder er kommt näher. Kein gutes Zeichen«, sagte er und zog kurbelnd Meter für Meter die Schnur ein.
Inzwischen starrten alle gespannt auf die Wasseroberfläche. Dabei lehnte sich Mike etwas weiter über die Reling und kräuselte die Stirn. Da war ein weißer Kasten am Rumpf des Schiffes für ihn erkennbar. Doch George zog ihn an der Schulter zurück, denn rings um das Boot waren jetzt mehrere Haiflossen zu sehen. Als unvermittelt ein Tigerhai vor dem Schiff mit aufgerissenem Maul auftauchte, zerschnitt Charly sofort die Schnur.
»Mein Gott, was für ein Monstrum ist das?«, fragte Miller erschrocken.
Außer Paul und dem Skipper wichen alle zurück.
»Ein Tigerhai-Weibchen«, antwortete Charly.
»Woher wissen Sie, dass es ein Weibchen ist?«, fragte Crown. »Haben Sie dem Hai unters Röckchen geguckt?«
»Das Exemplar war über 5 Meter groß. Männchen werden höchstens 3 Meter groß. Im Golf sind sie öfter zu sehen. Ungewöhnlich ist nur, sie tagsüber in Gruppen anzutreffen.«
»Sind Tigerhaie für den Menschen gefährlich?«, fragte Miller.
»Tigerhaie wollen nicht speziell Menschen fressen«, antwortete der Skipper. »Doch in ihren Bäuchen wird praktisch alles gefunden. Mexikanische Nummernschilder, Farbdosen und Trommeln. Sie sind dafür bekannt, dass sie fast alles fressen, was ihnen vor die Nase kommt. Deshalb sind sie auch für uns gefährlich. Oftmals denken sie vor einem Angriff nicht nach, um was es sich bei der Beute handeln könnte. Diese hier wurden durch unsere Beute aufmerksam«, erklärte Charly.
Noch immer waren in näherer Umgebung die Flossen zahlreicher Haie zu sehen.
»Dann macht es keinen Sinn mehr hier zu angeln«, stellte George fest.
»Nur wenn wir die Haie weiter anlocken wollen. Entweder wir brechen ab oder suchen ein anderes Fanggebiet. Sie haben die Wahl«, sagte Charly.
»Jetzt schon abzubrechen gefällt mir nicht«, meinte Miller und Crown nickte zustimmend.
»Was meinen Sie, Mister Clooney?«
»Ich bin dafür, dass wir zumindest versuchen ein neues fischreiches Gebiet zu finden«, entschied George.
Mike dachte an das weiße Kästchen, das er kurz am Rumpf gesehen hatte und fragte den Skipper nach dessen Bedeutung.
»Da kann nichts sein«, sagte Charly und ließ sich ungläubig die Stelle zeigen. Doch es schimmerte deutlich etwas Eckiges unter der Wasseroberfläche, das dort nicht hingehörte.
»Merkwürdig. Peter ist ein guter Taucher und wird das prüfen, wenn wir von hier weg sind«, sagte der Skipper, stieg die kleine Leiter zum Oberdeck empor und startete den Motor des Schiffes. Die Jennifer II glitt zügig über die sanften Wellen Richtung Westen. Peter brachte Crown und George ein weiteres Budweiser und für Charly und die Jungs eine kalte Coke. Zischend wurden die Dosen in der Mittagshitze geöffnet. Die Sonne stand hoch und alle trugen wieder ihre Schirmmützen und Sonnenbrillen. In North Carolina war es deutlich kühler, als in Florida, erzählte George und versuchte ein wenig Small Talk mit den Bankern.
»Im Sunshine State«, so erklärte Miller, »leben wir mit der Sonne, aber nicht in ihr.«
Trotzdem konnten George und seine Söhne die Sonne genießen und sie legten sich bequem in ihren Stühlen zurück. Während Peter in der Kombüse einen Mittagssnack vorbereitete, erzählten Crown und Miller von den Vorzügen Miamis.
Nach einer guten Stunde sagte Charly schließlich, dass sie ein neues fischreiches Gebiet erreicht hätten. Peter warf den Anker aus und Charly bereitete die nächsten Köder und die Angeln vor.
»Prüfe bitte mal, was da an unserem Rumpf hängt«, forderte ihn der Skipper auf. Peter hängte gerade die Leiter ein, als drei dumpfe Detonationen zu hören waren. Fragend sahen sich alle an. Dann war deutlich Rauschen zu hören und ein Blick durch die Luke bestätigte, dass Wasser eindrang. Voller Entsetzen holte Charly eine Pumpe, warf sie an und Peter rollte den Schlauch auf und warf das Ende über Bord. Panik machte sich unter den Männern breit, als sie feststellten, dass sich das Schiff trotzdem weiter mit Wasser füllte. Die Pumpe schaffte es nicht, die schnell eindringenden Wassermassen abzupumpen. Jetzt wusste Charly, was Mike da gesehen hatte. Es mussten kleine Sprengkörper gewesen sein. Doch wer sollte das machen? Der freundliche Captain war beliebt und hatte gewiss keine Feinde. Oder waren seine Gäste das Ziel? »Die Rettungsinsel. Hole sie schnell herauf, Peter!«, befahl Charly. »Das Schiff ist verloren und wir müssen von Bord.«
Der Motor der Jennifer II erstarb und der Skipper rief über das Satellitentelefon die Küstenwache. Er informierte sie über ihren ernsten Notfall, gab die Koordinaten durch und sendete mit dem Funkgerät einen Notruf an alle umliegenden Schiffe. Ein Motorboot lag gute drei Kilometer entfernt. Doch Charly konnte auf seinen Notruf dort keine Reaktion feststellen.
»Die Küstenwache ist informiert. Sie schicken uns ein Schnellboot«, sagte er zur Beruhigung der Passagiere.
Peter hatte mit George inzwischen die Rettungsinsel an Deck geschafft und löste das automatische Aufblasen aus. Es zischte und die Insel entfaltete sich langsam, während das eindringende Wasser fast bis zur Kante des Oberdecks reichte. Alles unter Deck stand jetzt unter Wasser.
»Das dauert zu lange!«, sagte Charly genervt, während Peter die Schwimmwesten verteilte und Rettungsringe bereit legte.
Das Zischen der Luft war zu laut. Schließlich entdeckte Crown, dass die Luftkammern der Rettungsinsel zerstochen waren. Georges Söhne gerieten langsam in Panik und sein Jüngster fing an zu weinen.
»Keine Sorge, uns passiert nichts. Die Küstenwache ist gewiss schon unterwegs!«, beruhigte ihn George.
»Haben alle ihre Schwimmwesten an? Dann ab ins Wasser und nehmt die Trinkwasserkanister mit. Wir müssen wegen dem Sog beim Untergang so weit wie möglich geschwommen sein!«, rief der Skipper, steckte eine wasserfeste Signalpistole in seine Jacke und hing sich die geladene Harpune um. Einer nach dem anderen sprang ins Wasser. George hielt seine Jungs zusammen und sie schwammen so schnell sie konnten weg von dem Boot. In 100 Metern Entfernung ging die Jennifer II geräuschvoll unter und das Meer schloss sich über ihr. Es begann zu dämmern. Zeit der Haie.
PROLOG
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
EPILOG
PERSONENREGISTER
Durch das halb geöffnete Fenster drang das laute Prasseln des Regens auf die Fensterbank in sein Bewusstsein und riss Karsten Fischler endgültig aus seinen Träumen. Er öffnete die Augen und zog das dünne Laken bis zu seiner Nasenspitze. Das Gewitter der Nacht brachte die lang ersehnte Abkühlung in dem heißen Sommer. Sanft erhellte das diffuse Licht hinter den Plastik-Jalousien den Raum. Genug, um sich ein paar Minuten umzusehen, so wie er es jeden Morgen vor dem Aufstehen tat. Das alte Dampfbügeleisen stand auf dem hohen Rippen-Heizkörper und wartete darauf ein frisches Hemd zu glätten. Laut gähnend schälte er sich aus dem Bett, ging zum Fenster und zog die Jalousie hoch. Zu sehen gab es in dem schäbigen Hinterhof der Wuppertaler Nordstadt nicht viel. Die Hinterhöfe waren zumeist schäbig und zugemüllt. Aber das Sonnenlicht erhellte das Chaos in seinem Zimmer. Aus der klemmenden Schublade der verschrammten Kommode zog er eine frische Unterhose, und ein kurzer Blick auf den altertümlichen Radiowecker riet ihm, dass es Zeit war zu duschen, bevor sein Mitbewohner das Bad blockierte. Karsten hing an diesem Wecker, der ihn an den Film mit Bill Murray und dem Murmeltier erinnerte und den er für nur 5 Euro auf dem Vohwinkeler Flohmarkt gekauft hatte. Wahrscheinlich waren Millionen dieser Exemplare hergestellt worden. Mit seiner großen und sportlichen Erscheinung punktete der 26jährige, auch wenn sein Haar in den letzten Jahren dünner geworden war. Den Haarkranz fand er bald albern und so rasierte er seinen Kopf seit einiger Zeit. Mit seinem dunkelblonden Drei-Tage-Bart und den strahlenden Augen wirkte Karsten dennoch anziehend genug, dass er auf Frauen interessant wirkte. Er lebte erst seit fünf Jahren im Bergischen Land. Das Jobangebot einer Werbeagentur hatte ihn aus Flensburg hierher gelockt. Seine markante und männlich sonore Stimme machten ihn zusammen mit seinem norddeutschen Dialekt für die Werbefuzzis interessant. Geduscht und mit frischem Hemd saß er mit einem heißen Kaffee in der Küche, als Michael hereinkam. Bei ihm hatte er seit zwei Jahren Unterschlupf in der WG. Michael hatte, wie er, Probleme mit Haarausfall und war seinem Beispiel gefolgt und hatte ebenso seinen Kopf rasiert.
»Moin. Wann bekomme ich die rückständige Miete von dir, Käpt´n Fischstäbchen?«, fragte er ihn direkt.
»Moin. Ich habe gleich tatsächlich ein Bewerbungsgespräch für Tiefkühlfisch und werde dir Ende des Monats auf jeden Fall die Miete zahlen können«, sagte Karsten.
»Das dauert mir zu lange! Du weißt, dass es schon vier Monatsmieten sind, die du mir schuldest? Bei aller Freundschaft: Wenn du bis Ende der Woche nicht wenigstens 800 Euro auf diesen Tisch legen kannst, muss ich dich vor die Tür setzen.«
»Dann versuche ich später einen Vorschuss bei der Pizzeria zu bekommen oder ich leihe mir Geld«, sagte Karsten frustriert.
»Was soll das? Du weißt so gut wie ich, dass die keine Vorschüsse für Aushilfen zahlen. Du willst mich nur weiter hinhalten. Aber diesmal klappt das nicht!«
»Ich sagte dir doch, dass ich mir dann Geld leihe.«
Karsten Fischler wusste, dass er kein glückliches Händchen im Umgang mit Geld hatte. Zu oft war er pleite und konnte sich nicht mal sein Prepaid Handy aufladen. Hätte er einen festen Job, käme er zurecht. Doch der fehlte und die schlechtbezahlte Arbeit als Pizzabote war mit dem Fahrrad in dem bergischen Wuppertal mühselig. Nach dem Vorstellungsgespräch wollte er Veronika besuchen. Sie war zehn Jahre älter als er und gut verheiratet. Sie wohnte in einem schönen Einfamilienhaus mit Vorgarten und hatte ihm schon einmal ihre Hilfe angeboten.
»In dem Anzeigenblättchen von gestern sucht eine Firma nach Fahrern zur Überführung von Autos. Angeblich zahlen die gut. Bewirb dich doch«, sagte Michael und tippte auf ein Inserat in der Rundschau.
»Ob das seriös ist? Ich weiß nicht«, sagte Karsten und trank den letzten Schluck Kaffee.
»Das kannst du beurteilen, wenn du anrufst. Einen Versuch ist es wert«, sagte Michael.
»Du hast Recht. Gib mir die Annonce. Ich rufe da heute an.«
Er stand auf und stellte seine Kaffeetasse auf die Spüle, während Michael die Annonce fett umkreiste, die halbe Seite heraus riss und ihm reichte.
Karsten holte sein Rad vom Hinterhof und trug es durch das muffig riechende Treppenhaus. Er hatte 40 Minuten Zeit bis zu seinem Bewerbungsgespräch bei der Agentur in Unterbarmen. Die Steigungen auf der Strecke hielten sich in Grenzen und mit etwas Glück konnte er in einem Bistro noch vorher ein Baguette essen. Er prüfte sein Kleingeld und schwang sich aufs Rad. Da seine Mutter keinen Unterhalt mehr zahlte und er nicht wusste, wo sein Vater lebte, wollte er so bald wie möglich Bafög beantragen und sich in der Technischen Universität für ein Maschinenbaustudium einschreiben. Seinen Vater hatte er in seinem Leben nur dreimal gesehen, als er noch ein kleiner Junge war. Seine Mutter war vorher unglücklich verheiratet und das gespannte Verhältnis zu dem Stiefvater machte es ihm leicht, das Elternhaus zu verlassen. Er hoffte, nicht mehr als 10 Semester zu studieren und wollte mit 30 fertig sein. Im Maschinenbau wurden überall in Deutschland Leute gesucht. Er könnte sich den Arbeitgeber aussuchen, oder sogar im Ausland arbeiten. Das war sein Plan. Doch bis dahin musste er mal erst über die Runden kommen. Er entschied sich gegen das Baguette, um nicht sein weißes Hemd zu bekleckern und kam 20 Minuten zu früh zu seinem Vorstellungsgespräch. Die Empfangsdame war eine schrullige Rothaarige mit einer Dauerwelle, die er aus alten Filmen kannte. Sie passte so gar nicht in das klassische Bild einer jungen, modernen Werbefirma. Aber sie hatte ihn freundlich und professionell empfangen. Karsten kannte die Prozedere einer Bewerbung bei einer Agentur und machte sich keine Sorgen. Nur die Mietschulden und das Ultimatum Michaels quälten ihn an diesen Morgen. Lässig blätterte er in einer ausgelegten Fachzeitschrift, in der auch diese Werbeagentur in einem Bericht erwähnt wurde. Er fand aber nichts, was er nicht schon wusste. Unvorbereitet ging er nie zu einer Bewerbung. Er hatte sich längst über die Firma und ihr Profil informiert. Ein groß gewachsener Mann um die 30 trat aus einem Büro und kam ihm freundlich lächelnd entgegen.
»Herr Fischler? Mein Name ist Thomas Petzold, bitte folgen Sie mir«, sagte er mit markanter Stimme. Der Mann trug einen hellgrauen Anzug und ein weißes T-Shirt. Karsten folgte ihm mit aufrechtem Gang in das Besprechungszimmer. Petzold gab ihm die Hand und bat ihn Platz zu nehmen.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«
»Das ist sehr freundlich, aber im Moment nicht. Danke.«
Dann begann das übliche Aufnahmegespräch. Karsten hatte einen Platz vor dem Fenster gewählt, um nicht von der Sonne geblendet zu werden und schlug lässig die Beine übereinander. Er beantwortete die Fragen präzise mit deutlicher Aussprache, da er wusste, dass schon jetzt genau darauf geachtet wurde.
»Herr Fischler, aus Ihrem Fragebogen entnehme ich, dass Sie bereits Werbetexte gesprochen haben.«
»Ja, das ist richtig«, sagte Karsten knapp und achtete auf ein sauberes und weiches Klangbild seiner Stimme.
»Einer unserer Kunden ist ein bekannter Tiefkühl-Hersteller. Für eine Radiowerbung suchen wir jemanden, mit passender Stimme und deutlicher Aussprache«, informierte ihn Petzold.
»Deswegen bin ich hier«, antwortete Karsten lächelnd.
Er war sich seiner gewinnenden Ausstrahlung durchaus bewusst und setzte seinen Charme gezielt ein.
»Wir haben hier ein kleines Tonstudio ich und möchte Sie bitten, einen Probetext zu sprechen.«
Auch das kannte er bereits. In der Regel waren es nicht mehr, als 10 Sätze, die er fehlerfrei vorlesen musste. Doch diese Texte hatten es meist in sich. Sie waren voller Fremdwörter und oft auch mit englischen, spanischen oder französischen Vokabeln gespickt. Machte man mehrere Fehler, war man durchgefallen. Er folgte dem Mann über den Flur und betrat ein klimatisiertes Studio. Nach einer kurzen Einleitung sprach Karsten den Text in das Mikro und bekam sogleich eine Zusage. Für den Spot gab es 1.000 Euro und die Aufnahme sollte in Wuppertal in zwei Tagen erfolgen. Dankend verabschiedete er sich und klatschte draußen in die Hände. Das Geld würde zwar nicht ausreichen, um seine Mietschulden zu bezahlen, aber 1.000 Euro Rückzahlung würden Michael besänftigen. Er fuhr zu dem Bistro und freute sich auf ein kleines Frühstück. Er bestellte einen Cappuccino und ein Salami-Baguette. Kauend holte er die Annonce hervor. Die Firma war auf der Uellendahler Straße und nicht weit entfernt. Doch der Name ABC KFZ Export GmbH & Co. KG hörte sich verdächtig nach Lug und Trug GmbH an. Er wollte die Sache vorsichtig angehen. Schnell verdientes Geld war zwar reizvoll, doch es musste legal sein. Karsten aß sein Baguette auf, ging in einen angrenzenden kleinen Park und nahm auf einer Bank Platz. Zuerst wählte er die Nummer von Veronika. Sie war mit einem Ausbilder einer Justizvollzugsanstalt unglücklich verheiratet und hatte eine kleine Tochter. Wegen ihr hatte sie sich nicht scheiden lassen und lebte ihre Träume mit Karsten aus. Er erzählte von seiner erfolgreichen Bewerbung und fragte sie nach Geld. Sie sagte zu und er verabredete sich mit ihr am nächsten Mittag.
Dann rief er bei der Autofirma an. Schon nach dem zweiten Klingeln hob ein Mann mit starkem arabischem Akzent ab.
»ABC Export«, meldete er sich.
»Guten Morgen. Mein Name ist Fischler und ich habe Ihre Anzeige gelesen«, stellte sich Karsten vor.
»Ah. Rufst du an wegen Fahren. Hast du Führerschein?«
Himmel! Das kann ja was werden, dachte Karsten.
»Natürlich. Warum sollte ich sonst anrufen?«
»Hast du Adresse? Kommst du vorbei«, sagte der Mann.
»Die Adresse steht in der Annonce. Wann soll ich kommen?«
»Kommst du jetzt!«, antwortete er.
Karsten verdrehte die Augen. Ein solches Gespräch hatte er noch nie bei einer Vorstellung geführt. Aber es amüsierte ihn.
»In einer halben Stunde kann ich bei Ihnen sein«, sagte er.
»Gut. Kommst du!«, sagte der Mann und legte einfach auf.
Karsten rief Michael an.
»Hallo, ich bin´s«, meldete er sich. »Den Job in der Agentur habe ich und Du bekommst auch 800 Euro. Bei der Firma ABC habe ich gerade angerufen.«
»Das ist doch gut. Und hört es sich gut an?«
»Ali Baba und die 40 Räuber, wie ich es mir gedacht habe. Aber ich fahre jetzt trotzdem dahin. Ich sage nur Bescheid, bevor die mich gefesselt auf einem fliegenden Teppich verschwinden lassen.«
Jetzt musste Michael lachen. »Du übertreibst.«
»Nur mit dem Teppich. Ansonsten war es ein schreckliches Telefonat. Das persönliche Gespräch wird kaum besser sein«, mutmaßte er.
»Okay. Du kannst mir danach berichten. Sehen wir uns später?«
»Ich bin heute Abend da.«
Er packte sein Smartphone in die Tasche und radelte los. In der Mittagszeit nahm der Verkehr wieder zu. Aber mit dem Rad kam er schneller voran, als mit einem Auto. Von der morgendlichen Abkühlung war kaum noch etwas zu spüren. Nur der Fahrtwind sorgte für kühlere Luft. Nach 20 Minuten las Karsten das Schild der Firma und bog in den Hof. Dort standen hauptsächlich Autos der Oberklasse. Modelle von Audi, BMW, Jaguar, Porsche und Mercedes waren dominant. Er lenkte sein Rad zu dem Flachbau, in dem er das Büro vermutete und stellte es ab. Karsten öffnete die Tür und stand gleich in einem kleinen, aber klimatisierten Büroraum. Hinter einem Schreibtisch saß vermutlich der Mann, den er zuvor am Telefon hatte. Er hämmerte mit zwei Fingern grob auf der Tastatur herum, während er lautstark in arabischer Sprache telefonierte. Eine junge Frau mit dunkelblonden Pagenschnitt war mit der Kaffeemaschine beschäftigt und sah ihn fragend an.
»Mein Name ist Karsten Fischler. Ich hatte angerufen und komme wegen der Fahrerstelle«, sagte er.
»Das macht der Chef. Warten Sie solange und nehmen Platz.«
Sie ging mit wackelnden Hüften durch den Raum und klopfte an eine rückwärtige Glastür, öffnete sie halb und nach drei Worten kam sie lächelnd wieder zu Karsten.
»Der Chef hat Zeit. Sie können gleich durchgehen«, sagte sie.
In Erwartung nach fünf Minuten die seltsam anmutende Firma wieder zu verlassen, klopfte er die Glastür.
In gutem Deutsch hörte er: »Treten Sie ein!«
Der Mann stand auf und streckte ihm seine Hand entgegen. In akzentfreiem Deutsch stellte er sich als Geschäftsführer vor und bat ihn Platz zu nehmen. Auf seinem Schreibtisch stand auf einem aufgeklappten Schild:
Hamad bin Abdul Al Gossarah bin Hamad Abbas
Geschäftsführer
ABC KFZ EXPORT GMBH & CO. KG
Karsten hatte keine Ahnung wie er den Mann ansprechen sollte. Selbst das Ablesen seines Namens war schon schwer genug.
»Herr Fischler, Sie haben welchen Führerschein?«, fragte er in akzentfreiem Deutsch.
»Die Klasse B«, sagte Karsten und legte seinen Führerschein auf den Tisch.
»Das ist gut. Haben Sie auch den internationalen Führerschein, und wie alt sind Sie?«
»Den internationalen Führerschein habe ich nie gebraucht. Ich bin 26 Jahre alt.«
»Herr Fischler, wir arbeiten international. Unsere Kunden haben großes Interesse an deutschen Autos der gehobenen Klasse. Haben Sie sich einmal auf unseren Hof umgesehen?«
»Nur kurz, als ich gekommen bin. Wie darf ich Sie überhaupt ansprechen?«, fragte Karsten und sah auf das Namensschild. »Ist Herr Gossarah richtig?«
Der Geschäftsführer lachte. »Ja, das ist in Ordnung. Eigentlich ist mein Name noch länger. Wissen Sie, in den arabischen Ländern ist die Namensgebung eigentlich recht einfach.«
»Einfach?«, fragte er lachend.
»In der Tat. Bin oder Ibn bedeutet Sohn. Dann folgen der Name des Vaters und der des Großvaters. Das kann bis zu 6-mal so weitergehen. Mein Vater hieß Gossarah und mein Großvater Abbas. Logisch, oder?«
»Ja, das klingt logisch. Aber ich bleibe lieber bei Gossarah.«
»Ich war unhöflich. Darf ich Ihnen einen Kaffee oder Tee anbieten?«, fragte er.
»Kein Problem. Bei den Temperaturen wäre mir ein kühles Wasser lieber.«
Gossarah nickte und drückte eine Taste auf dem Schreibtisch. »Frau Krüger bringen Sie uns bitte eine Flasche Wasser und einen Kaffee«, sagte er und wandte sich wieder an Karsten. »Kommen wir zum Geschäft. Also, die meisten Autos werden auf LKW transportiert. Das dauert natürlich. Wenn Autos mit nur 80 km/h bis Usbekistan, Russland, Bulgarien oder Albanien gebracht werden, müssen Pausen eingehalten werden. Nicht wenige Kunden wollen das gekaufte Auto aber schneller haben. Geld spielt dann meist keine große Rolle, wenn ein Fahrzeug ohnehin 100 oder 200 Tausend Euro kostet. Und für diese Transporte suchen wir sichere Fahrer.«
»Ich verstehe. Und wie kommt man zurück, wenn das Auto zugestellt wurde?«, fragte er.
»Je nach Möglichkeit mit der Bahn. Aber meistens mit einem Rückflug. Wir organisieren das bereits hier, bevor Sie abfahren. Ebenso die Buchung der Hotels für Sie. Selbstverständlich zahlen wir für Ihre Verpflegung auch die Spesen als Pauschale.«
Das hörte sich jetzt alles besser an, als er zunächst dachte. Herr Gossarah sprach ein gutes Deutsch, hatte Humor und war freundlich. Er schätzte den Mann um die 50 Jahre, er war etwa 1,80 m groß und schlank. Seine Haare waren grau meliert und er wirkte in seinem Anzug seriös und geschäftsmäßig auf Karsten.
»Und wie geht es weiter?«, hakte er nach.
»Was für ein Auto fahren Sie privat, Herr Fischler?«
Karsten grinste. »In Wuppertal fahre ich mit dem Rad. Das hält mich fit«, gab er zur Antwort und der Araber lachte.
»Eine gewisse Fahrroutine und Sicherheit brauchen Sie aber. In der Regel machen wir vorher eine Testfahrt. Die Autos müssen unbeschadet bei unseren Kunden ankommen.«
»Für eine Testfahrt stehe ich gerne zur Verfügung.«
»Dann besorgen Sie sich noch den internationalen Führerschein. Den brauchen Sie zwar nicht immer, aber wenn Sie ihn für eine längere Reise mal benötigen, sparen Sie sich die Rennerei. Wann haben Sie Zeit für eine Fahrt von etwa zwei Stunden?«
»Ich könnte Ihnen Freitag, Samstag oder Sonntag anbieten.«
Die Frau klopfte nur kurz und trat mit den Getränken ein.
»Frau Krüger schauen Sie, ob ich am Freitag Termine habe.«
»Gerne«, sagte sie, stellte den Kaffee zu ihrem Chef. Karsten stellte sie ein Glas auf den Tisch und schenkte Wasser ein. Er konnte nicht anders, als in ihren Ausschnitt zu schauen. Die Frau trug bei dem Wetter keinen BH und die Aussicht war prächtig. Gossarah bemerkte seinen Blick und grinste. Als sie wieder alleine waren, wollte Karsten mehr über den Verdienst wissen.
»Je gefahrenen Kilometer bekommen Sie einen Euro für den Hinweg. Bei Moskau sind das rund 2.300 Kilometer. Bei einer Fahrt nach Sofia sind es 1.950 und nach Usbekistan sogar 5.500 Kilometer. Sie sollten dafür ein Gewerbe anmelden, denn ich zahle nach Ihrer Leistung. Aber nicht immer ist eine Rechnung notwendig«, sagte er zwinkernd, als sich Frau Krüger meldete.
»Herr Gossarah, am Freitag haben Sie keinen Termin.«
»Dann sehen wir uns am Freitag um 10 Uhr hier im Büro, Herr Fischler.«
Der Mann stand auf und verabschiedete ihn.
Kaum hatte er die Bürotür geöffnet, schlug ihm die Mittagshitze entgegen. Karsten konnte mit dem Tag zufrieden sein. Den Job in der Werbeagentur hatte er im Sack, morgen würde er mit Veronika schlafen und von ihr das Geld bekommen, damit er seine Mietrückstände reduzieren konnte und diese ABC Firma war doch nicht so dubios, wie er zunächst annahm. Er öffnete das Kettenschloss und fuhr nach Hause in die Nordstadt.
Erleichtert verließ Stanislav Michailwitsch das Gebäude. Zum Glück war das Wetter erträglicher, als ein paar Tage zuvor, als man ihn zum Verhör abholte. Aber trotz Sonnenschein waren es nur 11 Grad. Deshalb stellte Stanislav den Kragen seines Mantels hoch und vergrub die Hände tief in den Taschen. Es war ein befreiendes Gefühl entlang der Newa spazieren gehen zu können. Kriminalhauptmeister Alexander Doskojewski war schon zu Zeiten der Sowjetunion in der Miliz als scharfer KGB Hund berüchtigt. Er hatte ihn stundenlang verhört, weil sein Sohn Peter angeblich kritische Texte zu Putins Annexion der Krim verfasst und verbreitet hatte. Peter haderte nicht, wenn es darum ging internationale Vereinbarungen zu unterstützen, sofern sie den Menschenrechten entsprachen. Doskojewski wollte aus Stanislav nähere Informationen herauspressen und ihn unter Druck setzen. Doch der Professor der Musik blieb stur. Sein guter Name in Verbindung mit seinem Lehrstuhl ließ dem Kriminalhauptmeister keine Wahl, als ihn schließlich laufen zu lassen. Dabei wusste er, dass sein Sohn sehr wohl vehement an die Grundsätze der KSZE Schlussakte von 1975 und der Charta von Paris glaubte und sich für deren Einhaltung einsetzte. Stanislav musste sich bei seinem Spaziergang nicht umdrehen, um zu wissen, dass er beschattet wurde. Diese Idioten waren einfach zu auffällig. Seine als Pärchen getarnten Schatten folgten ihm, seit er die Polizei verlassen hatte. Stanislav blieb an dem Geländer der Promenade stehen, atmete tief durch und blickte auf den Fluss. Aus den Augenwinkeln sah er seine Verfolger gute 150 Meter hinter sich. Er drehte den Kopf in ihre Richtung, und verlegen blieben auch sie stehen. Beide waren um die 40 und sie führte einen kleinen Hund an der Leine. Das konnte unmöglich ihr eigenes Tier sein, da es machte was es wollte und an der Leine zerrte. Eine lächerliche Tarnung dachte Stanislav. Aber warum verfolgten sie ihn? Die Polizei kannte doch seine Adresse. Vielleicht dachten sie, dass er gleich seinen Sohn warnen wollte. Er wusste zwar wo er sich aufhielt, hatte aber nur wenig Kontakt zu ihm. Peter war das Nesthäkchen der Familie und erst vor drei Monaten ausgezogen. Sie wollten ihm mal erst Zeit geben, um auf eigene Beine zu kommen. Er hatte einen Job in einer Autowerkstatt in Berezovo direkt an der A 121 gefunden. In dem Ort, nördlich von Sankt Petersburg, hatte er auch eine kleine Wohnung. Seine beiden älteren Schwestern waren längst außer Haus und verheiratet. Er würde ihn warnen. Aber zuerst musste er dieses idiotische Pärchen loswerden. Er lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer, als sich ein Taxi näherte. Erst kurz bevor sich der Wagen näherte, sprang er vor und hielt ihn mit erhobener Hand an, stieg ein und sagte dem Fahrer er solle losfahren. Als er sich umdrehte sah er noch seine Verfolger in seine Richtung laufen. Dilettanten! Dem KGB oder der Miliz wäre das nie passiert. Er ließ sich nach Hause fahren, zahlte und ging zur Haustür. Irina musste ihn schon erwartet haben, denn lächelnd öffnete die russische Schönheit die Tür und stand vor ihm. 32 Jahre war es her, dass er sie in der Musikhochschule von Leningrad, so hieß Sankt Petersburg zu Sowjetzeiten noch, kennenlernte. Irina war schon damals die hübscheste der Studentinnen. Ihre langen blonden Haare umschmeichelten ihr schönes Gesicht, so wie noch heute und Stanislav liebte die Mutter seiner Kinder so wie früher.
»Liebster. Ich bin erleichtert, dass du wieder da bist«, sagte die Klavierlehrerin und schlang ihre Arme um ihn.
»Du erdrückst mich, mein Zobelchen«, sagte Stanislav.
Den Kosenamen gab er Irina wegen ihrer zarten und weichen Haut seit ihrer Jugend. Immer, wenn er sie streichelte fühlte sie sich so weich und warm wie ein Zobelfell an und daran hatte sich nicht viel geändert. Sie nahmen am Küchentisch Platz und Irina füllte eine Schale mit Fleischeintopf für ihn.
»Wir müssen Peter warnen. Die Polizei sucht ihn. Wir wissen beide, dass Putin keinen Spaß versteht, wenn man seine Politik kritisiert«, sagte Stanislav und löffelte schnell den Eintopf mit Kohl, Kartoffeln und Fleisch.
Es schmeckte köstlich. Irina hatte nicht nur ein perfektes Gefühl für Musik und sah phantastisch aus, sondern konnte auch hervorragend gut kochen.
»Meinst du denn, dass sie ihn in Berezovo finden? Das ist doch 170 Kilometer entfernt.«
»Wenn die sich so dämlich anstellen, wie heute meine Verfolger, dann bestimmt nicht. Doch Kriminalhauptmeister Doskojewski ist verbissen hinter ihm her. Der Mann war eine große Nummer beim KGB. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn haben.«
»Dann lass uns gleich fahren. In Berezovo sind wir in guten zwei Stunden«, meinte Irina.
»Wenn wir beschattet werden, lasse ich dich zum Einkaufen am Markt heraus und schüttele sie danach ab. Ich mache mich noch frisch und ziehe mich um. Bringe du schon mal einen Einkaufskorb in den Lada«, sagte Stanislav und aß die letzten Bissen, als das Telefon klingelte. Sie blickten erschrocken zu dem Apparat.
»Wer kann das sein?«, fragte Irina.
»Ich glaube nicht, dass es die Polizei ist. Gehe du heran und melde dich freundlich.«
»Irina Michailowa«, sagte sie.
»Guten Tag. Boris Lewandowsky«, meldete sich eine raue Männerstimme.
»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«, fragte Irina verunsichert.
»Sind sie die Mutter von Peter Michailwitsch?«
Irinas Gesichtszüge entgleisten. »Ja, das ist richtig.«
»Ihr Sohn hatte in meiner Werkstatt in Berezovo gearbeitet.«
»Wieso hatte?«
»Heute früh hat Peter den Unterboden eines alten Moskwitsch geschweißt, als plötzlich die Hebebühne über ihm zu Boden fiel. Es tut mir sehr leid. Ihr Sohn ist tot!« Irina ließ den Hörer wortlos aus der Hand gleiten und sank zu Boden.
Die Transvaalstraat lag im schönen Stadtteil Zurenborg.
Hier hatten bürgerliche Antwerpener schon immer gezeigt, wie vermögend die gutsituierten Bürger der Stadt waren. Jules van Dyck fuhr mit seinem Peugeot Cabrio langsam durch die Straße, denn es gab einfach viel zu sehen. Die Gebäude waren so prächtig verziert, dass sie den Privatdetektiv an toskanische Villen, venezianische Palazzos oder französische Schlösschen mit Erkern und Türmchen erinnerten. Manche Häuser wurden von bunten Mosaiken verziert und sahen aus, als wären sie von Gaudi erschaffen worden. Dabei war kein Haus wie das andere. Aber jedes war ein Schmuckstück. Endlich erreichte er das klassizistische Gebäude des Notars Maassen, der ihn zu einem kurzfristigen Termin gedrängt hatte. Um 11 Uhr morgens waren Parkplätze in dem Viertel kein Problem. Er fand einen freien Stellplatz im Schatten zweier Bäume und konnte den Wagen offen stehen lassen. Die Fassadegestaltung des fünfgeschossigen Hauses war beeindruckend. Während die unteren Etagen mit Klinkern verkleidet waren, hatten die oberen Etagen ein verspieltes Fachwerk. Jules ging über die Straße zu dem großen Portal und klingelte bei den Notaren Phillip Maassen & Partner. Der Türöffner summte sofort und er trat ein. Die Kanzlei befand sich im dritten Obergeschoss. Erleichtert stellte der 56jährige Belgier fest, dass es einen Aufzug gab. Jules van Dyck hatte eine etwas gedrungene Figur, war aber dennoch schlank und mit seinen 1,77 Meter Größe nicht klein. Als er oben ankam, hatte er sein Sakko übergezogen. Braungebrannt, mit modischen Undercut und kurzen Anchor Bart hatte er durchaus ein extravagantes und auffälliges Äußeres. Besonders die Pflege des Bartes in seiner Ankerform war aufwändig. Aber es gefiel ihm, seit er den Schauspieler Robert Downy mit eben diesem Bart im Iron Man gesehen hatte. Jules trat lächelnd zu den zwei Damen am Empfang und überreichte ihnen sein Kärtchen. »Guten Morgen. Jules van Dyck. Ich habe einen Termin«, stellte er sich vor.
Die Brünette um die 40 sah kurz auf ihren Monitor und nickte. »Bitte nehmen Sie im Wartebereich Platz, Herr van Dyck. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Ich nehme gerne ein Glas Wasser«, sagte Jules und ging zu einer Sitzgruppe mit gelben Clubsesseln, die gegenüber der Anmeldung mit großen Benjamins eingefasst war. Kaum hatte er Platz genommen, brachte man ihm ein großes, mit Eiswürfeln gefülltes Glas Wasser. Er trank es bis zur Hälfte aus und setzte es wieder ab. Der Vorraum der Kanzlei war mit dunklen, antiken Möbeln und Dekorationsgegenständen eingerichtet, ohne düster zu wirken. Einzelne moderne Elemente waren geschmackvoll hinzugefügt und zeugten von Professionalität bei der Einrichtung. Das Notariat hatte nicht nur in Belgien einen guten Ruf. Auch war es eines der ältesten in ganz Europa. Jules hatte sich wie immer vor einem Termin mit neuen Mandanten gut informiert. Maassen und Partner gab es in seiner Vorform als Anwaltskanzlei bereits seit 1803. Das war beachtlich. Noch bedeutsamer fand er, dass sie über viele Generationen von der Familie weitergeführt wurde und sein Gesprächspartner war niemand anders, als Phillip Maassen persönlich. Bei der Terminvereinbarung bat man Jules darum, sich Zeit zu nehmen. Daher rechnete er mit einer längeren Sitzung, für die er so oder so eine Rechnung schreiben konnte. Er trank erneut einen Schluck und lutschte einen Eiswürfel, der ihn kühlend erfrischte. Eine nussbaumdunkle schwere Tür öffnete sich und Maassen kam mit einem gewinnenden Lächeln auf ihn zu. Jules schätzte ihn auf höchstens Mitte 40. Der Mann war schlank und wirkte sportlich trainiert. Anders als erwartet trug er aber keinen Anzug, sondern eine schwarze Jeans mit einem lindgrünen Hemd.
»Herr van Dyck? Schön, dass Sie sich Zeit für ein Gespräch genommen haben. Bitte kommen Sie.«
Jules folgte dem leger gekleideten Notar in einen kleinen Saal. Über dem rechteckigen, schweren Tisch mit 16 Stühlen hingen zwei Designer LED-Lampen und spendeten ein angenehmes Licht in dem klimatisierten Raum. Weiße Lamellenvorhänge schützten vor der Sonne und an den Wänden entdeckte er eine Art Ahnengalerie sowie ein älteres Ölportrait, das offenbar an den Firmengründer erinnerte. Darunter stand ein beleuchteter Plexiglasständer, auf dem eine hellblaue moderne Skulptur präsentiert wurde. Auch schien ihm, dass hier technisch alles bestens eingerichtet war. Jules sah auf Anhieb einen smart anmutenden digitalen Touchscreen Tisch und ein rollbares, mobiles Videokonferenzsystem der gehobenen Klasse. Einer der blutroten Leder-Schwinger war von einem schlanken Mann mit länglichem Gesicht besetzt. Als sie den Raum betraten, stand er zu Begrüßung auf.
»Darf ich Sie einander bekannt machen? Jules van Dyck. Er ist ein wahrer Spezialist, wenn es darum geht, Personen aufzufinden«, sagte der Notar. »Und Professor Klaus Daniel aus Heidelberg. Einer der besten Ahnenforscher in Europa.«
Jules reichte dem Professor die Hand und sah erst jetzt, wie mager er war, und vermied einen zu kräftigen Händedruck wegen seiner feingliedrigen Hände. Daniel trug ein sportliches Hemd über einer grauen Stoffhose. Unter seinen Brillengläsern wucherten buschige Augenbrauen, die zu seiner wüst aussehenden Frisur passten.
»Gut, beginnen wir«, sagte Phillip Maassen. »Darf ich Ihnen vorher etwas zu trinken anbieten?«
Auf einem Beistelltisch sah Jules Softgetränke und Wasser neben einem schwarzen Izzo Sorento Kaffeeautomaten bereitstehen. Wie Daniel entschied er sich für einen Kaffee.
»Wie Sie sich denken können, geht es um eine Erbschaftsangelegenheit. Es ist eine der anspruchsvollsten, mit denen unsere Kanzlei je zu tun hatte, denn wir müssen ein 200 Jahre altes Testament genauestens berücksichtigen«, sagte Maassen und schob van Dyck eine Dokumentenmappe zu. »Mit Professor Daniel haben wir eine umfangreiche Nachkommenliste erstellt.«
Jules hob die Schultern. »Und das war schwer?« fragte er.
»Allerdings! Nachkommenlisten, die das 19. Jahrhundert überspannen, haben die Tendenz, mit einem Faktor von über 4 je Generation geradezu zu explodieren. Ein Kindersegen von 10 und mehr Nachkommen war keine Seltenheit«, meldete sich Daniel zu Wort.
»Das hört sich abenteuerlich an. Ich mag mir gar nicht vorstellen, welche Größe der Stammbaum der Familie hat«, sagte Jules.
»Das ist einer der Gründe, warum wir stattdessen Nachkommenlisten gefertigt haben. Diese liegen in der Mappe vor Ihnen, Herr van Dyck«, sagte der Notar. »Aber es wird noch komplizierter. Das Erbe kann laut Testament nur der jüngste Drittgeborene antreten. Nur wenn es unter den Nachkommen keinen Drittgeborenen geben sollte, geht das Erbe an den jüngsten Zweitgeborenen, was aber unwahrscheinlich ist.«
Jules rührte ein Stück Zucker in den Kaffee. »Ist eine solche Recherche überhaupt genau und lohnt es den Aufwand?«
»Ist eine Erbmasse von rund 60 Millionen Euro lohnenswert?«, fragte Maassen grinsend.
»60 Millionen Euro? Wie kommt eine so große Summe zusammen?«, fragte Jules und hörte auf den Kaffee zu rühren.
»Es könnte sogar noch mehr sein. Genau wissen wir das erst nach Auswertung sämtlicher Konten. Auch wissen wir nicht, was der Erblasser in den Schließfächern deponiert hat. Das wird erst der Erbe erfahren. Der Erbgeber war ein erfolgreicher jüdischer Diamantenhändler und hatte sein Vermögen bei Banken in der Schweiz und in den Niederlanden mit einer ansehnlichen Verzinsung gewinnbringend angelegt. Es sind auch die Zinseszinsen, die das ursprüngliche Vermögen im Laufe von 200 Jahren enorm vergrößert haben«, erklärte der Notar.
Jules blieb die Luft weg. »Unabhängig davon, dass Sie mich sprachlos gemacht haben, sagen Sie mir bitte, welche Rolle Sie mir dabei zugedacht haben«, forderte der Detektiv.
»Dazu würde ich Professor Daniel bitten, dies in verständlichen Worten zu erklären. Ich glaube, dass seine Ausführung Ihre Aufgabenstellung von selbst erklärt. Doch vorher sollten wir etwas essen. Ein Caterer hat uns mit einem kleinen Imbiss beliefert«, sagte Maassen und nahm den Hörer ab. »Frau Matthieu, die Häppchen können jetzt aufgetragen werden.«
Die Tür öffnete sich und es wurden Bestecke und Teller gebracht. Jules zählte mindestens 20 Tabletts und Schüsseln, die auf den Tisch gestellt wurden. Das ist ja wie im Europaparlament, dachte er. Auch dort wird eine 10 Meter lange Tafel mit internationalen Spezialitäten als kleiner Snack bezeichnet.
Jules nahm zwei Pasteten mit Garnelen, drei Austern und ein Lachsschnittchen. Der Professor begnügte sich hingegen mit einem halben Käsebrötchen und ein paar Oliven. Kein Wunder, dass Daniel so schmächtig ist, dachte er. Das Buffet blieb stehen und Professor Klaus Daniel erklärte ein paar Details.
»Als Ahnenforscher habe ich zunächst die Kirchenbücher zu Hilfe genommen. Aber auch verschiedene Militärunterlagen des ersten und zweiten Weltkriegs, wie Verlustakten, Militärakten und Todeslisten gefallener Soldaten. Datenbanken der Fremdenlegion und Datensammlungen von Forschern nahm ich mir danach vor. Deren Ahnenlisten und Stammbäume, sowie Schulunterlagen früherer Jahre und Adressbücher waren aber nur bedingt hilfreich. Letztendlich ist es eine reine Fleißarbeit.«
»Wie vollständig und zuverlässig sind nun die Ergebnisse, Herr Professor«, wollte Jules wissen.
»Leider sind die gesammelten Daten sehr ungenau. Aber mehr haben wir nicht gefunden. Während die Zahl der Vorfahren eines Probanden in jeder Generation feststeht, ist die genaue Zahl der Nachkommen unbekannt bzw. unsicher. Es ist damit zu rechnen, dass bei vertiefter Forschung weitere Personen aufgefunden werden, die dann nachträglich in die Genealogie eingefügt werden müssen. Auch die Reihenfolge innerhalb von Geschwisterschaften wird unklar, wenn die Geburtsrangfolge zwar Ordnungsprinzip, aber dennoch nicht bekannt ist.«
»Ich nehme an, dass ich weitere Quellen nutzen und suchen soll. Aber mal im Ernst. Selbst wenn ich weitere lebende Nachfahren finde, wird der Anspruch auf Vollständigkeit nicht zu erfüllen sein«, sagte Jules.
Maassen schüttelte den Kopf und ergriff wieder das Wort. »Nein. Die Vollständigkeit von Nachfahrendaten ist schwer beweisbar. Ihre Aufgabe soll es sein, anhand der Listen die Anschriften der möglichen Erben herauszufinden. Bedenken Sie bei Ihrer Suche auch, dass es möglicherweise uneheliche Drittgeborene gibt.«
»Sofern ich den Auftrag annehme«, sagte Jules und machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. »Sie werden verstehen, dass ich Bedenkzeit benötige.«
»Aber es ist doch Ihre Spezialität Menschen zu finden!«, meinte der Notar.
»Leute, deren Identität bekannt ist und zumeist vom Erdboden verschwunden erscheinen. Ich habe schon Personen gefunden, die zuvor von der Polizei nicht ausfindig gemacht werden konnten, oder verschollene Ehemänner, die vom Zigarettenholen nicht mehr heim gekommen sind. Aber Sie suchen nach Personen, von denen niemand weiß, ob es sie gibt oder wer sie sind! Die berühmte Nadel im Heuhaufen«, sagte der Detektiv.
»Das stimmt nur bedingt. In erster Linie sind die von uns gefundenen und lebenden Personen von Interesse. Besonders natürlich deren Aufenthaltsort. Wie rechnen Sie üblich Ihre Arbeit ab?«, fragte Maassen.
»Im Stundensatz zu je 200 Euro zuzüglich der anfallenden Spesen. Aber, wie gesagt, werter Herr Maassen. Ich bin nicht sicher, ob ich den Auftrag überhaupt annehme.«
»Ich biete Ihnen einen Stundensatz von 400 Euro und eine Spesenpauschale von täglich 300 Euro. Na, was sagen Sie?«