Das Geheimnis des bewegten Bildes - C.S. Poe - E-Book

Das Geheimnis des bewegten Bildes E-Book

C.S. Poe

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Beschreibung

Es ist Sommer in New York City und der Antiquar Sebastian Snow wagt den nächsten Schritt in seiner Beziehung mit dem Detective der Mordkommission, Calvin Winter: Sie ziehen zusammen. Es hätte eigentlich eine wundervolle Woche werden sollen, in der sie Familie spielen und Calvins Geburtstag feiern wollten. Doch diese friedvolle Zeit endet abrupt, als ein mysteriöses Paket in das Imperium geliefert wird. Im Inneren befindet sich das Kinetoskop von Thomas Edison. Ein Filmvorführer aus dem neunzehnten Jahrhundert, erfunden von dem Großvater des modernen Kinos, W.K.L Dickson. Außerdem liegt dem Paket Filmmaterial bei, das einen über hundert Jahre zurückliegenden Mord zeigt. Sebastian widersteht dem Drang, Ermittler zu spielen, auch wenn der Verdächtige längst verstorben ist und keine akute Gefahr besteht. Aber Einbrüche in das Imperium, ein Diebstahl und Leichen sind deutlich schwerer zu ignorieren. Schnell begreift Sebastian, dass der hundert Jahre alte Mord die Spur zu einem Mörder der Gegenwart ist. Trotz Sebastians enormen Wissens über das viktorianische Amerika und seines unerbittlichen Durchhaltevermögens im Angesicht der Gefahr: Dies könnte das eine Geheimnis sein, das er nicht überleben wird.

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Seitenzahl: 348

Veröffentlichungsjahr: 2025

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C. S. Poe

Das Geheimnis des bewegten Bildes

Snow & Winter Band 3

Aus dem Englischen von Simone Richter

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2025

http://www.deadsoft.de

[email protected]

Querenbergstr. 26

D-49497Mettingen

© the author

Titel der Originalausgabe: Mystery of the moving image – Snow & Winter 3

Übersetzung: Simone Richter

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© SR Productions – stock.adobe.com

© bofotolux – stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-748-4

ISBN 978-3-96089-749-1 (ebook)

Inhalt

Es ist Sommer in New York City und der Antiquar Sebastian Snow wagt den nächsten Schritt in seiner Beziehung mit dem Detective der Mordkommission, Calvin Winter: Sie ziehen zusammen.

Es hätte eigentlich eine wundervolle Woche werden sollen, in der sie Familie spielen und Calvins Geburtstag feiern wollten. Doch diese friedvolle Zeit endet abrupt, als ein mysteriöses Paket in das Imperium geliefert wird. Im Inneren befindet sich das Kinetoskop von Thomas Edison. Ein Filmvorführer aus dem neunzehnten Jahrhundert, erfunden von dem Großvater des modernen Kinos, W.K.L Dickson. Außerdem liegt dem Paket Filmmaterial bei, das einen über hundert Jahre zurückliegenden Mord zeigt.

Sebastian widersteht dem Drang, Ermittler zu spielen, auch wenn der Verdächtige längst verstorben ist und keine akute Gefahr besteht. Aber Einbrüche in das Imperium, ein Diebstahl und Leichen sind deutlich schwerer zu ignorieren. Schnell begreift Sebastian, dass der hundert Jahre alte Mord die Spur zu einem Mörder der Gegenwart ist.

Trotz Sebastians enormen Wissens über das viktorianische Amerika und seines unerbittlichen Durchhaltevermögens im Angesicht der Gefahr: Dies könnte das eine Geheimnis sein, das er nicht überleben wird.

Widmung

Für Rhys und Bru.

KAPITEL EINS

Wenn mir in den letzten sechs Monaten voller Mord und Mysterien eins klar geworden war, dann, dass ich stets das Unerwartete erwarten musste.

Max Ridley und ich starrten auf die einen Meter zwanzig hohe Holzkiste, die an dem Morgen ins Imperium geliefert worden war. Für eine Minute sprach keiner von uns beiden.

»Ich wette einen Fünfer, dass da ein Toter drin ist«, sagte er schließlich.

Daraufhin schüttelte ich den Kopf. »Wir würden die Verwesung riechen.«

»Eine normale Person würde sowas nicht sagen«, antwortete er, ohne seinen Blick von der Kiste abzuwenden.

»Normal ist relativ.«

»Lass uns keine philosophische Diskussion vor zehn Uhr morgens starten.«

Ich trat einen Schritt nach vorne, zog den Lieferschein aus dem Plastikumschlag, der vorne auf der Kiste klebte, entfaltete ihn und hielt meine Lupe an die kleingedruckte Schrift.

»Von wem ist es?«, fragte Max.

»Bin ich mir nicht sicher.«

»Soll ich die Polizei rufen?«

Ich sah auf. »Das letzte Mal haben sie mir eine selbsternannte Ordnungshüterin geschickt, die mich umbringen wollte.«

»Das stimmt.« Max hielt sein Handy hoch. »Aber ich kenne drei Bullen und einen FBI-Agenten, wir haben also Möglichkeiten.«

»Beruhig dich.«

»Ich vertraue mysteriösen Paketen nicht, Seb. Nicht mehr.«

Erneut betrachtete ich das Adressetikett. »Es kommt von einem Versandlager auf der Upper East Side.«

»Aber kein Name?«

»Nein.«

»Und es wurde an dich adressiert?«

»Besitzer«, sagte ich nur.

»Ich ruf die Polizei.«

Als ich Max wieder ansah, streckte ich meinen Arm aus und legte die Hand auf sein Handy. »Calvin hat wahrscheinlich einfach etwas für die Wohnung gekauft.«

Ah ja, das war das einzig Gute daran, dass ich meine Wohnung im Februar durch eine Explosion verloren hatte. Zwei Monate lang hatten wir gesucht und Makler belästigt. Aber seit gestern waren Snow und Winter die neuen Bewohner von 4B – einem Loft-Apartment im East Village, direkt über einem Coffeeshop und einem Kleidungsladen für Hipster. Und obwohl es eigentlich hätte unmöglich sein sollen, hatten wir es geschafft, eine Wohnung mit all meinen neurotischen Must-Haves zu finden, ohne dass die Miete Calvin und mich komplett ausblutete.

Das heißt, sie war viel teurer als meine alte, gemütliche Wohnung mit Mieterschutz, aber nun setzte ich meine Unterschrift auf Dokumenten neben die des Mannes, den ich wirklich mochte … das schien mir das Geld wert zu sein.

»Ruf ihn an und frag«, forderte Max.

»Er ist mit männlichen Dingen beschäftigt«, sagte ich nur.

»Was?«

»Auspacken, schwere Sachen heben, Dinger in Schlitze stecken …«

»Ich kündige.«

»Jesus, Max –«

»Ruf ihn einfach an.«

Irritiert schnaubte ich, zog mein Handy aus der Gesäßtasche, rief meine zuletzt kontaktierten Nummern auf und wählte Calvins.

»Hey, Baby«, antwortete er.

»Hey«, grüßte ich. »Hast du einen Moment?«

»Für dich? Mehrere.«

»Ach, du bist ja süß.«

Calvin lachte. »Ist alles okay?«

»Ja. Mir wurde nur gerade ein Paket ins Imperium geliefert und ich habe mich gefragt, ob du etwas Größeres für die Wohnung bestellt hattest. Einen Kronleuchter oder sowas.«

»Und es in den Laden hab schicken lassen?«, fragte er unsicher.

»Jep.«

»Nein.«

Ich runzelte die Stirn und warf Max einen kurzen Blick zu. »Hier steht eine ein Meter zwanzig große, mysteriöse Kiste mitten auf meiner Ladenfläche.«

»Seit wann hat dich das jemals aufgehalten, Hercule?«

Das brachte mich zum Lächeln. »Ohhh …«

»Gefällt dir das?«, fragte Calvin.

»Tut es.«

»Dachte ich mir.«

Zu Max’ Unmut fing ich an zu lachen. »Dachte nur, ich sollte das vorher mit dir absprechen, bevor ich es öffne. Oft bekomme ich einen ziemlichen Müll. Die Leute räumen Omas Dachboden aus, schicken mir das Zeug und sagen ›behalt’s, bis es sich verkauft‹ , als wäre ich eine Lagerhalle.«

»Also steht kein Absender drauf?«, fragte Calvin und im Hintergrund konnte ich hören, wie er Klebeband von einer Pappkiste riss. Ich hatte an dem Morgen angeboten, das Imperium zu schließen, um ihm beim Auspacken zu helfen, doch er hatte mir einen freundlichen Kuss auf die Stirn gegeben und mich aus der Haustür geschoben.

»Nur so ein Versand- und Lieferbüro drüben in Uptown.«

»Hm.«

»Erwartest du ein Einweihungsgeschenk?«, versuchte ich es erneut.

Nicht, dass irgendjemand aus Calvins Familie gewusst hätte, dass wir zusammen gezogen waren. Die hatten komplett den Kontakt zu ihm abgebrochen, als er um Weihnachten herum geoutet hatte – mit Ausnahme von Calvins Onkel Nelson. Ein wirklich lieber, alter Kerl.

Ich hatte ein paar Mal kurz am Telefon mit ihm gesprochen und einen komplett anderen Eindruck bekommen, als von Calvins Vater. Der war pensionierter Militär, der mich schon aus Prinzip hasste.

»Nein«, antwortete Calvin.

»Okay, dann mache ich die Kiste jetzt auf.«

»Lass dich von mir nicht aufhalten.«

»Wir sehen uns heute Abend«, sagte ich.

»Gut, ich bin der große, verschwitzte Typ im Haus«, merkte Calvin an.

»Ich liebe es, wenn du verschwitzt bist.«

»Chef«, unterbrach mich Max und ich hätte schwören können zu hören, wie er die Augen verdrehte.

Calvin lachte. »Bis dann, Süßer.«

»Bis dann.« Ich schob das Handy wieder in meine Hosentasche.

»Wann sind die Flitterwochen?«

»Hör auf«, murmelte ich.

»Dann gehört es also nicht Calvin?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nö. Kannst du einen Hammer aus dem Büro holen?«

»Na gut«, antwortete er, wenn auch etwas zögerlich.

Er wandte sich von mir ab, lief die Treppe hoch, an der Kasse vorbei und verschwand in meinem wandschrankgroßen Büro. »Aber wenn da irgendetwas Totes oder Sterbendes drin ist oder etwas, das einen von uns umbringen könnte, dann setze ich das Gebäude in Brand, weil es definitiv verflucht ist.«

»Bin mir nicht sicher, ob du versuchst mich zu retten oder mir das Leben schwer zu machen«, sagte ich, mehr zu mir selbst, aber Max hatte mich gehört.

»Glaub mir, das ist ein Rettungsversuch«, antwortete er. Er hüpfte von den Stufen und kam mit dem Hammer auf mich zu. »Geh zur Seite.«

»Du willst sie aufmachen?«

»Wenn ich derjenige bin, der es tut, dann schaffe ich es vielleicht das potenzielle Chaos abzuwenden, das dich normalerweise befällt.«

»Du bist aber lieb.« Ich trat einen Schritt zurück und verschränkte meine Arme.

»Kommt der Typ von der Antiquitätenmesse im Javits Center heute noch vorbei?«, fragte Max, als er die Rückseite des Hammers unter den hölzernen Deckel steckte und den Griff runterdrückte. Die Nägel quietschten laut, als sie aus dem Holz gehoben wurden.

»Sollte er.«

»Er sollte schon am Samstag kommen.«

»Und am Sonntag«, warf ich ein. »Dann habe ich gestern abgesagt, damit ich umziehen konnte. Wenn er heute nicht vorbeikommt, um meine Gegenstände für die Show abzuholen, dann können die mich nächstes Jahr mal, wenn sie wieder Sponsorengelder von mir haben wollen.«

»Ist echt so.« Max bewegte den Hammer und hob den Deckel nochmal an. »Also, wie ist die neue Wohnung?« Er warf mir einen Blick über seine Schulter zu.

Ich zuckte zusammen, als noch mehr Nägel aus dem Holz freigerissen wurden.

»Gut. Ich hoffe, dass unser Bett heute angeliefert wird. Letzte Nacht haben wir auf dem Wohnzimmerboden verbracht.«

»Immerhin hast du einen attraktiven Rotschopf, der dir Gesellschaft leistet.«

»Das stimmt.«

In letzter Zeit hatte es in meinem Leben ziemlich viele Veränderungen gegeben. Natürlich überwiegend gute.

Das Geschäft lief super, trotz des Pechs, das das Imperium zu haben schien. Schließlich war es in die Nevermore und Kuriositäten Fälle verwickelt gewesen. Zum Glück waren wir heil davongekommen. Und nach einer langen Reihe von festen Freunden, die mir nicht gutgetan hatten, war ich gerade mit einem Kerl zusammengezogen, der mein Seelenverwandter war. Freunde und Familie waren gesund, glücklich … und ich hatte jetzt sogar ein Haustier.

Also ja, viele Dinge in meinem Leben waren wirklich gut.

Natürlich war es möglich, dass das auch der Grund dafür war, wieso mich meine Sorgen in letzter Zeit in Ruhe ließen. Schließlich erwartete ich nicht, dass alte Selbstzweifel aufkämen, wenn ich doch überglücklich war. Es war, als wären mir die Komplimente, die Calvin mir machte, zu Kopf gestiegen und nachdem all meine Kleidung in dem Feuer verloren gegangen war, hatte ich mir zum ersten Mal seit sicherlich zehn Jahren eine komplett neue Garderobe zugelegt. Kein Secondhandzeug mehr. Mir gehörten nun bunte, figurbetonte Kleidungsstücke.

Ich hatte angenommen, dass die mir endlich helfen würden, was mein Selbstbewusstsein anging. Dabei handelte es sich schließlich um eine Unsicherheit, die ich normalerweise hinter selbstironischem Humor versteckte. Leider hatte das nicht geklappt. Seit dem ersten Moment, in dem ich die neue Kleidung getragen hatte, empfand ich nichts als Grauen.

Mir war bewusst, wie … dämlich das klingen musste. Aber bis jemand sich mal richtig unwohl in seiner Kleidung gefühlt hatte, verstanden die meisten nicht, dass dieGarderobe einem Menschen wirklich helfen oder ihn behindern konnte. Klar, die Sachen aus dem Secondhandladen passten nicht richtig, waren alt und abgetragen, aber sie waren sicher. Ich musste nicht zuerst ein Farbenrad bemühen, bevor ich etwas anzog. Früher war ich einfach in einer Menschenmenge verschwunden. Nun war ich jeden Morgen von einem gewissen Maß an Beklemmung erfüllt. Starrten die Menschen mich an, weil meine Kleidung sich biss und in den Augen wehtat? Starrten sie, weil ich nicht der Attraktivste war und die Kleidung mich hervorstechen ließ, während ich früher nicht weiter aufgefallen war? Sie mussten sich fragen, was Calvin mit einem Typen wie mir wollte.

Natürlich hatte ich nichts davon laut ausgesprochen.

Da würde vorher die Hölle gefrieren.

Max hob den Deckel von der Kiste, stellte ihn auf dem Boden ab und blickte hinein. »Viel Füllmaterial. Sieht aus, als wäre es ein Möbelstück.«

Ich trat ein paar Schritte nach vorne, um selbst hineinzuschauen. Zwischen dem Objekt und der Kiste war ein kleinerer, verpackter Gegenstand eingeklemmt. Vorsichtig zog ich ihn raus. »Kannst du eine Wand der Kiste abreißen? Das Ding können wir da nie rausheben.«

»Sicher doch.« Max nahm den Hammer und widmete sich den übrigen Nägeln.

Ich legte den kleinen Gegenstand auf einem Ausstellungstisch ab und entfernte behutsam die Luftpolsterfolie. Im Inneren befand sich eine runde Metalldose. Vorsichtig hob ich sie hoch. Leicht war sie nicht gerade.

»Weißt du«, sagte Max, während er die Holzbalken auseinanderzog, »wenn wir uns die ganze Mühe machen, nur um einen hässlichen Fernseher aus den 50er Jahren vorzufinden, dann …«

Ich starrte die Dose für einen weiteren Moment an. »Kein Fernseher«, murmelte ich.

»Was?« Max brach noch ein Stück Holz von der Kiste ab.

 »Es ist kein Fernseher«, wiederholte ich und drehte mich zu ihm um.

Sein Blick fiel auf die Kiste und er deutete auf den Gegenstand, der sich darin befand. »Man kann es durch die Folie schlecht erkennen, aber es sieht aus wie einer dieser Fernseher mit eingebauten Schränken.«

Ich ging zurück zur Kiste, griff hinein und zog die Luftpolsterfolie raus. »Das ist –« Gerade so verkniff ich es mir weiterzusprechen, als wollte ich es nicht verschreien. Vorsichtig entfernte ich die gesamte Folie, bevor ein unfassbar gut erhaltenes Kabinett zum Vorschein kam. »Ach du heilige Scheiße«, fluchte ich.

»Was ist es?«

»Ein Kinetoskop.«

»Ein was-o-skop?«

»Kinetoskop. Ein Filmvorführer, der für nur eine Person gedacht ist. Patentiert von Thomas Edison«, erklärte ich und sah Max an. »Das war noch bevor sie herausgefunden haben, wie man Bewegtbild für große Gruppen zugänglich machen konnte.« Ich beugte mich über die Kiste und streckte den Finger aus. »Sieht du? Hier oben schaut man durch das Guckloch. Im Inneren befindet sich eine Glühbirne, welche die Einzelbilder von hinten beleuchtet. Und der Film wird durch das Kabinett gespult.«

»Ist das ein Original?«

Ich rieb mir über mein stoppeliges Kinn und starrte das Gerät nachdenklich an. »Glaube schon. Hilf mir es rauszuziehen. Und verdammt nochmal, sei bitte –«

»Vorsichtig«, vollendete Max meinen Satz.

»Das Kinetoskop gab es nicht sonderlich lang«, erklärte ich, während wir das Kabinett aus der Kiste holten. »Als die Filmindustrie gewachsen ist, wurden Erfindungen ziemlich schnell überholt.«

»Wie haben die funktioniert?«, wollte Max wissen. »Ich meine, die Leute hatten die nicht einfach in ihren Häusern, oder?«

»Oh nein, man musste zu einem Kinetoskop-Salon gehen. Da gab es übrigens auch einen in New York. Wenn man die Inflation mit einbezieht, dann hat Edison den Salons ungefähr sechshundert Dollar pro Filmrolle abgeknöpft.«

»Das nenne ich mal einen Geschäftsmann.« Max begann aufzuräumen, nachdem wir das Kinetoskop in eine leere Ecke der Ladenfläche verfrachtet hatten. »Was war in dem kleinen Päckchen?«

»Eine Filmrolle«, sagte ich und stemmte meine Hände in die Hüften, während ich den Filmvorführer langsam umrundete.

»Wirklich?«, fragte er aufgeregt.

»Nachdem es sich hierbei um so einen Nischenmarkt handelt, kann man den Preis nur schwer einschätzen. Natürlich hat es historischen Wert –«

»Seb. Selbstgedrehter Film. Konzentrier dich.«

Ich sah auf. »Was meinst du damit?«

Max gestikulierte übertrieben in Richtung der Metalldose. »Lass uns sehen, was drauf ist.«

Sofort nahm ich die Hände wieder von meinen Hüften und ging zu dem Tisch rüber. »Ich bezweifle, dass der Film sich in einem rettenswerten Zustand befindet.«

»Wieso sagst du das?«, fragte er, bevor er zum Kassentresen ging und sich ein Paar Stoffhandschuhe schnappte.

»Filme wurden zu der Zeit nicht richtig konserviert. Säure frisst sich langsam durch das Zelluloid durch. Manchmal haben ganze Filmstudios Feuer gefangen, oder alte Filmrollen wurden einfach zerstört. Damals hatten sie keinen richtigen Wert«, erklärte ich.

Als Max wieder an meiner Seite auftauchte, hielt er mir die Handschuhe hin.

Ich zog sie an. »Das war auch noch bevor es die Stummfilmstars wie Charlie Chaplin oder Harold Lloyd gegeben hatte, die dann angefangen haben, ihre Werke zu schützen.« Ich hob die Dose wieder hoch und hielt sie nah vor meine Augen, damit ich die Vorder- und Rückseite genau inspizieren konnte.

Max lehnte sich gegen den Tisch und verschränkte locker seine Arme. »Ich kann mich daran erinnern, in meinem Filmgeschichtskurs Fred Ott’s Sneeze angeschaut zu haben. Das war doch von Edison, oder nicht?«

»Jep. Erster Film mit Copyright in den Staaten«, murmelte ich.

Fred Ott war ein Gentleman gewesen, der für Edison gearbeitet hatte, und der einmal hatte niesen müssen, was sich als ziemlich denkwürdig entpuppt hatte. Dabei hatte es sich um einen Testversuch von W. K. L. Dickson, Edisons Assistenten gehandelt, welcher der brillante Erfinder der Kinetograph-Kamera und dem Abspielgerät war.

»Aber selbst dieser Film hat nicht überlebt«, fuhr ich fort. »Er wurde der Library of Congress als eine Bilderserie zur Verfügung gestellt, die später wieder zu einem Film animiert wurde.«

»Wieso weißt du das?«

»Ich habe im College mitgeschrieben.« Vorsichtig öffnete ich den Deckel der Dose.

»Du bist der Typ auf der Cocktailparty, bei dem alle bereuen, ihn angesprochen zu haben.«

»Ja, vermutlich.« Ich legte den Deckel ab und starrte die Filmrolle an. Sie sah … okay aus. Mehr als okay. Intakt. Abspielbar sogar. »Das ist der Wahnsinn. Schau mal – die hat sogar die Perforationen an der Seite der Frames.«

Max lehnte sich näher heran und hielt seinen Finger über das Stück Film in meiner Hand. »Also, wie war das? Diese Löcher füttert man dem Kinetoskop, oder?«

»Genau. Edison hatte auch das Konzept selbst patentiert, aber es war Dickson, der die Idee hatte, den 70-mm-Film zu halbieren und die Perforationen zu machen. Danach konnte die Firma Filmmaterial mit diesen exakten Spezifikationen für ihre Maschinen liefern.«

»Einhundertzwanzig Jahre alter Film«, sagte Max in einem verwunderten Tonfall. »Da sind entweder Katzen oder Pornos drauf.«

Ich nahm die Filmdose mit zum Kinetoskop, blieb stehen, öffnete das Kabinett und sah mir die mechanische Einrichtung an.

»Wirst du versuchen, den Film abzuspielen?«

»Sicher.« Ich sah Max über meine Schulter hinweg an. »Du willst doch wissen, was da drauf ist, oder?«

»Natürlich.«

Wir saßen vor dem Kinetoskop und sahen uns alte Patent-Schaubilder an, die ich auf mein Handy geladen hatte und versuchten versuchten die mysteriöse Filmrolle richtig einzulegen.

Nach zwanzigminütigem »Sei vorsichtig«, »Nein, anders rum«, »Anders, anders rum« und dem klassischen »Oh Shit« schafften wir es, die Rolle durch das lange Spulensystem zu führen.

Max durchsuchte das Packmaterial aus der Kiste.

»Was machst du?«, rief ich ihm zu und schloss das Kabinett vorsichtig.

»Ich sehe nach, ob es irgendeine Nachricht gibt.«

»Und? Gibt es eine?«

»Nein.« Er wühlte sich noch etwas durch die Folie und sah mich dann über den Deckel des Kabinetts aus an. »Das muss dir jemand geschickt haben, den du kennst. Meinst du nicht?«

»Wieso sagst du das?«

»Na ja, jemand hat dir so ein seltenes Artefakt anvertraut.«

»Ich liebe es, wenn mein Ego angekratzt wird«, murmelte ich vor mich hin, bevor ich mich wieder hinstellte.

»Ganz abgesehen davon ist es wahnsinnig teuer, so eine Kiste zu verschicken, selbst wenn es nur vom einen zum anderen Ende der Stadt ist«, stellte Max fest.

Das Telefon des Ladens klingelte und er ging, um den Anruf entgegenzunehmen.

»Ich rufe heute bei dem Versandlager an«, sagte ich, mehr zu mir selbst, nachdem Max jemandem am Telefon sprach. »Und frage, ob sie mir die Kontaktdaten des Auftraggebers mitteilen können …«

»Chef«, holte Max mich aus meinen Gedanken. Er schlängelte sich an den Ausstellungsstücken vorbei und hielt mir das Telefon hin. »Es ist Pete-Werde-Nie-Aufkreuzen von der Messe.«

Meine Schultern senkten sich etwas und ich nahm ihm den Hörer ab. »Pete?«

»Hey! Snow. Ich habe Ihre Nachricht wegen der Abholung bekommen.«

Ich kräuselte meine Lippen. »Die habe ich am Sonntag hinterlassen. Heute ist Dienstag.«

»Na ja, ja, aber Sie hatten gestern nicht offen.«

»Sie hätten am Samstag vorbeikommen sollen, Pete. Ich habe all meine Sachen für die Messe eingepackt und sie sind seit letztem Freitag abholbereit.«

»Hören Sie, es tut mir leid, dass ich es nicht rechtzeitig geschafft habe, aber die Woche war durch die Vorbereitungen für das Event wirklich stressig. Wir wissen es sehr zu schätzen, wenn unsere Sponsoren ihre Gegenstände selbst zum Javits Center bringen.«

»Ich habe keinen Führerschein«, antwortete ich. »Und ich sehe nicht ein, dass ich selbst den ganzen Weg bis nach Hell’s Kitchen gurken soll, wenn ich extra eine Sponsorenstufe ausgewählt habe, bei der Abholung und Zustellung aller in der Messe ausgestellter Gegenstände inklusive ist.«

Max verzog das Gesicht, vermutlich aus Mitgefühl für Pete.

Es gab nicht viele Dreißigjährige in der Antiquitätengemeinschaft. Und einige Mitglieder taten sich schwer damit, einen jungen Kerl wie mich ernst zu nehmen. Die meisten von ihnen ahnten nicht, wie hart ich für meinen Platz in dem Business gearbeitet hatte.

Ich hatte mich verschuldet, um einen Master of Fine Arts zu erlangen und dann jahrelang als eine Art Lehrling für eines der größten Arschlöcher der Industrie gearbeitet, Mike Rodriguez, der erst kürzlich verstorben war. Mein Laden war mein ganzer Stolz und ich hatte drei Jahre lang daran gearbeitet, vergessene Repliken unserer Vergangenheit anzusammeln und die Aufmerksamkeit der Leute darauf zu lenken. Nun kam meine Kundschaft immer wieder zu mir zurück, weil sie wussten, dass das Wissen, der Warenbestand und die Liebe zum Detail, die sie von mir erhalten würden, stets erstklassig war.

Snows Antiquarisches Imperium war mittlerweile zu der Art von Geschäft geworden, zu dem die Javits Antiquitätenmesse Kontakt aufnahm, um nach Sponsorengeldern zu fragen.

Also mochte ich zwar eines der jüngeren Mitglieder der Gemeinschaft sein, würde mich aber garantiert nicht von einem armen Knilch beeindrucken lassen, der mir mein hart erarbeitetes Geld aus der Tasche zog und im Gegenzug meine Erwartungen nicht erfüllte.

»Ich komme heute vorbei«, antwortete Pete und klang eher unbeeindruckt von meinem Ärger.

»Die Messe fängt morgen an.«

»Und deshalb komme ich heute vorbei«, wiederholte er, als wäre ich derjenige von uns, der nicht alle Tassen im Schrank hatte.

Die Glocke über der Eingangstür des Imperiums klimperte. Max und ich drehten uns beide um und fanden Beth Harrison in der offenen Tür vor. Sie war meine Geschäfts-Nachbarin und die Besitzerin von Good Books, ungefähr so alt wie mein Vater und hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich von irgendetwas beeindrucken zu lassen.

»Guten Morgen!«, rief sie und kam mit etwas in den Händen auf uns zu.

»Wann kommen Sie?«, fragte ich Pete, als Max sich von meiner Seite entfernte, um Beth zu begrüßen.

»Oh … wahrscheinlich zwischen elf und … so um drei?«

»Der Verkehr in der Stadt muss ja wirklich schrecklich sein«, antwortete ich trocken.

»Sie sind anwesend, wenn ich vorbeikomme, stimmt’s?«

»Leider.«

»Gut, Sie müssen mir ein paar Dokumente unterschreiben.«

»Na gut.«

»Kommen Sie morgen zur Messe?«, fragte Pete als nächstes.

Ich sah auf. Beth bedachte mich mit einem neugierigen Blick und Max starrte auf sein Handy. »Konzentrieren wir uns erstmal auf heute, ja?« Ich murmelte eine Verabschiedung und beendete den Anruf.

Beth kam auf mich zu. »Da ist aber jemand mit dem falschen Bein aufgestanden.«

»Eigentlich bin ich ziemlich gut gelaunt«, korrigierte ich sie. »Das war Pete White von der Messe. Er sollte vor vier Tagen schon meine Kollektion für die Ausstellung abholen.«

»Wie professionell«, bemerkte sie sarkastisch.

Max hob den Kopf und drehte sein Handy, um mir das Display zu zeigen, obwohl ich zu weit weg war, als dass ich das Bild hätte erkennen können. »Marshalls Kuriositäten ist auch ein Sponsor und er hat seinen Stand schon aufgebaut.«

Marshalls Kuriositäten, im Besitz und unter der Leitung des Nachahmers Greg Thompson, war meine einzig wirkliche Konkurrenz in der Stadt.

Konkurrenz, weil er versucht hatte, den Ruf meines Ladens als ›kurios und bizarr‹ zu stehlen, um mir damit die Kundschaft abzuwerben. Nur zu gerne empfahl ich meinen Kunden andere Antiquare, wenn sie nach etwas suchten, das ich nicht beschaffen konnte. Schließlich beruhte das auf Gegenseitigkeit und die anderen Läden schickten auch Kunden zu mir. Greg aber nicht. Er hatte mir nicht ein Mal weitergeholfen.

Ehrlich gesagt wollte ich das auch gar nicht. Oder vertraute ihm nicht genug dafür.

Wir verstanden uns nicht und ich konnte gut damit leben, dass unsere Beziehung sich nur darauf beschränkte. Obwohl … vielleicht lag es auch daran, dass ich Greg im vergangenen September verdächtigt hatte, der Irre hinter den Nevermore-Morden zu sein. Aber hey, das war ein ehrlicher Fehler gewesen.

»Woher weißt du das?«, fragte ich.

»Facebook.«

Ich grunzte.

Max steckte sein Handy wieder weg.

Beth hielt den Teller in ihren Händen hoch. »Also … wie geht’s euch Jungs an diesem schönen Maimorgen ?«

»Wieso bist du so gut drauf?«, fragte Max. »Du redest, als wärst du eine gute Fee.«

Beth schnaubte. »Gar nicht. Du verbringst nur zu viel Zeit mit deinem Chef, dessen gute Laune eher der schlechten Laune anderer Menschen gleichkommt.«

»Gar nicht«, grummelte ich.

»Sei lieb«, antwortete sie. »Ich habe Kekse.«

»Wolltest du sie teilen?«, fragte ich. »Oder läufst du nur mit ihnen spazieren?«

»Manchmal weiß ich überhaupt nicht, wieso ich mir Mühe mit dir gebe, Sebby.« Beth reichte mir den Teller. »Da komme ich mit Geschenken vorbei und du bist frech.«

»Das ist meine Standardeinstellung«, erklärte ich und suchte mir einen Keks aus, in den ich genüsslich hineinbiss.

»Na ja, pass du mal besser auf«, meinte Beth, »sonst sind das die letzten Kekse, die ich mit dir teile.«

Schnell hielt ich den Teller aus ihrer Reichweite. »Keine Rück- und Wiedergabe«, sagte ich mit vollem Mund.

Beth beschwerte sich immer, dass ihre Kundschaft ihr die Stifte klaute. Mir fiel auf, dass an diesem Morgen drei oder vier Kugelschreiber in ihrem Dutt steckten, entschied aber, dass sie die selbst finden sollte. Sie trug ein Oberteil im Katzenstil – für ihre Verhältnisse dezent, nur eine Katzennase und Schnurrhaare – aber dazu Leggings, auf denen Kreaturen zu sehen waren, die halb Taco und halb Katze zu sein schienen, also … Beths ganz normale Kleidung.

»Datest du einen Mechaniker?«, fragte ich und deutete auf ihre klotzigen Stiefel.

Beth warf einen kurzen Blick nach unten. »Meine Katze hat heute Morgen in meine Birkenstocks gekotzt.«

»Charmant.«

Beth stemmte die Hände in die Hüften und ging auf das Kinetoskop zu. »Was hast du denn hier?«

»Das ist ein Dingsbums«, sagte Max und deutete auf das Kabinett.

»Ein was?«, fragte Beth.

»Kinetoskop«, erklärte ich mit dem letzten Bissen Keks im Mund.

»Und was macht das?«

»Das ist ein Filmvorführgerät für eine Person«, antwortete Max und wiederholte, was ich ihm davor erklärt hatte. »Da war sogar ein hundertzwanzig Jahre alter Film dabei.«

»Was du nicht sagst?«

»Ich tippe auf Pornos oder Katzen«, fuhr er fort.

»Das gefällt mir«, stimmte sie zu.

Ich stellte den Teller neben mir auf einem Tisch ab und strich mir die Krümel von meinem Pullunder.

»Sebby.«

Ich sah auf. »Seb, Beth. Seb.«

Sie ignorierte mich. »Du siehst gut aus in Grün.«

»Hm, ich dachte es wäre blau.«

Sowohl sie als auch Max schüttelten den Kopf.

»Verdammt«, murmelte ich vor mich hin und sah an mir herunter.

»Seb wollte gerade das Kinetoskop anwerfen«, meinte Max, als hätte er gemerkt, dass ich anfing, mich in einer Es-ist-nicht-blau-Panikspirale zu verlieren und wollte das Thema wechseln. »Bleibst du für die große Enthüllung?«

Beth klatschte in die Hände. »Oh ja! Schauen wir mal, was ihr da habt.« Ich ging wieder zu dem Kabinett und unterzog das Kinetoskop einer letzten, schnellen Überprüfung, bevor ich mich traute, es anzuschalten. Wahrscheinlich zum ersten Mal seit über hundert Jahren. Entgegen allen Erwartungen erwachte die Maschine zum Leben und die Räder im Inneren drehten sich geräuschvoll, als der Film in Dauerschleife abgespielt wurde. Ich stellte mich davor und blinzelte in das Guckloch. Die Glühbirne, welche die Abbildungen beleuchtete, war so hell, dass ich beim Zusehen die Augen zusammenkneifen musste.

Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem mysteriösen Material weder um viktorianische Pornos noch um Katzen handelte. Stattdessen sah ich einen Boxkampf. Auch noch einen, den ich erkannte. Der Leonard-Cushing-Kampf von 1894.

Edison hatte ihn als authentischen Kampf verkauft, doch in Wahrheit war das Ganze inszeniert und in seinem Studio in Jersey, Black Maria, gefilmt worden. Nichtsdestotrotz handelte es sich um den allerersten aufgezeichneten Boxkampf und von den sechs Filmspulen, die einst an Kinetoskop-Salons verkauft wurden, existierte heute nicht einmal mehr eine komplette Rolle. Der Moment des K.-o.-Schlags, der natürlich bei den Kunden am besten angekommen war, hatte nicht überlebt.

Zumindest bis vor dreißig Sekunden.

Denn genau das sah ich mir gerade an.

Leonard gewann. Mir war bewusst, dass es passieren würde, aber niemand in unserem Zeitalter hatte das jemals gesehen.

Ich öffnete meinen Mund um … irgendetwas zu sagen, doch dann passierte etwas Seltsames auf dem Film. Ein sonderbares, kurzes Aufflackern, eine Störung und dann hatte sich die Szene geändert. Diesmal wurde draußen gefilmt und das Bild war dunkel und körnig. Eine eigenartige Beleuchtung schien auf zwei Menschen und erhellte die Straße, die sonst vom Nachthimmel verschluckt worden wäre. Es schienen Männer zu sein – aber keiner aus der vorherigen Boxszene. Der erste hatte einen markanten Backenbart und einen leichten Bauch. Der zweite Mann war ziemlich unauffällig. Sie schienen sich zu streiten, doch die Bildfrequenz des Films unterschied sich von der, die man heute verwendete, sodass ihre Bewegungen schnell und dramatisch aussahen und es schwer war, etwas zu erkennen.

Plötzlich zog der Typ mit dem Backenbart etwas aus seinem Mantel und die Bewegung wurde unscharf, als er sich auf den anderen stürzte. Der unauffällige Mann hielt sich die Hand an den Hals und sackte dann auf dem Boden zusammen. Backenbart starrte für ein paar Sekunden auf ihn herunter, ließ, was auch immer er in der Hand gehalten hatte, fallen und rannte weg.

Der Film fing wieder von vorne an und zeigte mir erneut den Boxkampf.

»Also?«, fragte Max aufgeregt.

Ich hob meinen Kopf und sah ihn und Beth an. »Ich glaube, ich bin gerade Zeuge eines Mordes geworden.«

KAPITEL ZWEI

»Die Säuglingsflasche war der letzte Schrei in der späten Viktorianischen Ära.«, erklärte ich meiner Kundin, die gerade vor einer Vitrine kniete und einen Artikel inspizierte. »Es handelte sich dabei in der Regel um eine Glasflasche, an der ein Gummischlauch und ein Sauger angebracht waren, damit das Kind sich selbst füttern konnte.«

»Das hatte sicher seine Vorteile, da Frauen damals ja Korsetts trugen«, antwortete sie und sah zu mir auf.

»Ja, genau. Das war zu der Zeit für die Mütter das Hauptverkaufsargument gewesen. Leider hat die Erfindung zur Jahrhundertwende den Spitznamen ›Mörderflasche‹  erhalten.«

Sie verzog das Gesicht und betrachtete die Flasche, die neben ihrer Originalverpackung ausgestellt war. »Mörder?«

Empfand das nur ich so, oder machten sich die Morde aus längst vergangenen Zeiten heute besonders bemerkbar?

Natürlich hatte ich sofort Calvin angerufen, nachdem ich den Boxkampf, der sich in eine Mordaufführung verwandelt hatte, fertig gesehen hatte. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Es war nicht so, als könnte der Mörder verhaftet werden, nachdem er in der Zwischenzeit mehr als verstorben war. Allerdings verjährte Mord nicht. Und das war ein richtiger Mord gewesen.

Also hatte ich die Polizei gerufen, so wie jeder gute Bürger das tun würde. Es war praktisch, dass mein Polizist sich mittlerweile an Ungeheuerlichkeiten gewöhnt hatte.

Die Kundin –  Scheiße, was sagte sie nochmal, sei ihr Name? Nancy? Nancy. – Nancy starrte mich erwartungsvoll an.

»Ähm, ja, tut mir leid. Der Gummischlauch konnte nur sehr schwer gereinigt werden«, erklärte ich ihr hastig und tippte gegen das Glas. »Was ihn zum idealen Brutplatz für Bakterien machte. Wenn man dann noch bedenkt, dass die damalige Martha Stewart – Isabella Beeton –  der festen Überzeugung war, dass der Sauger über mehrere Wochen hinweg nicht gewaschen werden musste …« Ich wedelte mit der Hand durch die Luft. »Wurde sie zur Mörderflasche.«

»Das ist furchtbar«, sagte Nancy. »Dabei war damals die Kindersterblichkeitsrate sowieso schon so hoch.«

»Oh ja. Die Säuglingsflasche hat die Situation noch verschlimmert.«

Nancy stand auf und sah sich das Objekt weiterhin an.

»Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das ein passendes Geburtstagsgeschenk für Ihre Kollegin ist«, bemerkte ich.

»Wir haben alle diese eine Person im Freundeskreis, die sich für seltsame und morbide Dinge interessiert«, antwortete Nancy lachend.

Urteilen Sie nicht über mich, Nancy.

Ich ging hinter die Vitrine und öffnete sie, um die Flasche mitsamt der Verpackung rauszuholen.

»Hätten Sie das gerne als Geschenk verpackt?«

»Das wäre wundervoll«, antwortete Nancy.

Als ich aufsah, bemerkte ich einen Kunden, der sich mucksmäuschenstill in den Laden gestohlen haben musste und jetzt sorgfältig das Kinetoskop beäugte. Schnell winkte ich Max zu und fragte, als er bei uns ankam: »Würdest du Nancy mit der Säuglingsflasche mit zur Kasse nehmen und ihr die einpacken?«

»Na klar«, antwortete er.

»Vielen Dank für den Besuch.« Ich lächelte Nancy an.

»Vielen Dank für all Ihre Hilfe!«

Als die beiden weg waren, ging ich auf den neuen Kunden zu. »Hallo. Äh, tut mir leid, das steht nicht zum Verkauf.« Flüchtig tätschelte ich das Kinetoskop.

Mir fiel auf, dass er deutlich jünger war, als ich aus der Entfernung vermutet hatte. Für gewöhnlich trudelte die Kundschaft im Uni-Alter erst zum Herbst hin bei mir ein – das war die Zeit, in der die neu zugezogenen Studierenden hier die Gegend erkundeten. Manche suchten nach Kleinigkeiten, um ihre Zimmer im Wohnheim aufzupeppen, aber einige kamen auch, weil sie ernsthafte Recherche für ihre Kurse betrieben. Normalerweise verirrte sich niemand in dem Alter ins Imperium, der nicht in der Nähe studierte. Auf der anderen Seite war es Mai und das Semester gerade erst zu Ende … vielleicht hatte er sich in einen frühen Sommerkurs der NYU oder SVA eingeschrieben.

Er sah mich genervt an. »Ich will es gar nicht kaufen.«

»Kann ich dann irgendwie behilflich sein?«

»Nein.«

Rotzbengel.

Ich seufzte und rieb die Stelle über meinem linken Auge, wo sich ein Kopfschmerz anbahnte. »Okay.«

Für einen Moment schaute der Kleine sich um. »Wieso haben Sie hier drin so viel seltsames Zeug?«

»Was genau empfinden Sie als seltsam? Denn manch anderer würde es als mondän bezeichnen.«

Er deutete auf ein gerahmtes Bild, das an der Wand neben uns hing. »Sind das tanzende Skelette?«

»Der Arsen-Walzer«, korrigierte ich ihn. »Es verspottete die Nutzung von Arsenik in Kleiderfarben während des neunzehnten Jahrhunderts.«

»Was?« Er sah verwirrt aus. Oder angewidert. Ich war mir nicht sicher.

»Arsenik ist ein Gift.«

Die Glocke über der Eingangstür klingelte und ich warf einen Blick über die Schulter. Calvin kam mit Dillion an der Leine herein. Der Welpe war bestimmt begeistert davon, aus dem Haus zu kommen und mit seinem Dad einen Spaziergang zu machen. Calvin nahm seine Sonnenbrille ab und hängte sie an sein AC/DC-T-Shirt, das mindestens so alt sein musste wie ich. Er trug diese Jeans, die sich perfekt an seinen Arsch schmiegte und die ich so liebte. Außerdem ein altes, völlig ausgelatschtes Paar Vans-Sneaker. Das Einrichten der Wohnung stand ihm wirklich verdammt gut.

»Dieser ganze Laden ist wie ein Keller voller unnützem Müll.«

Daraufhin drehte ich mich wieder meinem charmanten neuen Freund zu. »Wieso sind Sie hier?«, fragte ich.

»Ich bin nicht – ich gehe«, entgegnete er, als wäre ich von uns beiden das größere Arschloch.

»Aber bitte, die Tür ist direkt da drüben.« Ich trat einen Schritt zur Seite und deutete ihm mit ausgestreckten Armen die Richtung.

Er sah sich nochmal kurz im Laden um, schien aber währenddessen immer frustrierter zu werden. Als wäre er auf der Suche nach etwas, wollte es aber nicht zugeben und war nun wütend, dass ich es nicht hatte. Um was auch immer es sich handelte. Schließlich schob mich der Typ zur Seite und lief durch die Gänge in Richtung Tür. Calvin hatte das Anrempeln gesehen und warf mir einen Blick zu, aber ich schüttelte den Kopf und machte eine scheuchende Geste.

Er ging beiseite, beobachtete, wie das Balg aus dem Laden stürmte und kam dann auf mich zu. »Wer war das?«, fragte er und lehnte sich runter, um Dillon seine Leine abzunehmen.

»Die Zukunft.«

Er lächelte amüsiert. »Ich sehe schon, die Neigung, die Gesellschaft der Jugend unseres Landes zu genießen, überspringt in deiner Familie eine Generation.« Er küsste mich. »Wieso hast du mich herbestellt?«

»Ich mag dich.«

»Netter Versuch.«

»Also, für Mord gibt es ja keine Verjährung.«

Calvin hob die Hand, um sich die Schläfe zu massieren. »Dabei habe ich doch heute frei.«

»Schau dir das an.« Ich tippte mit dem Finger auf das Kinetoskop. »Das ist ein Edison-Kinetoskop.«

»Sprechen wir von Thomas Edison?« Calvin verschränkte seine Arme, wodurch die Bizepse sich anspannten, deutlich hervortraten und … abgelenkt.

»Ähm. Jep. Das ist der Typ.« Schnell wandte ich mich wieder dem Kabinett zu. »Aber da war kein Absender dabei. Keine Dokumentation, kein Brief, nicht einmal eine Postkarte.«

»Mir ist der Zusammenhang zwischen einem Möbelstück und einem Mord noch nicht so ganz klar.«

»Das ist ein Filmvorführer«, korrigierte ich ihn. »Und … du bist dir absolut sicher, dass der nicht für dich ist?«

Er sah mich kritisch an.

»Vielleicht hat dir jemand ein richtig morbides Geburtstagsgeschenk geschickt?«, schlug ich vor. Nicht, dass ich tatsächlich dachte, es sei ein Geschenk, aber Calvin arbeitete schließlich bei der Mordkommission und er feierte am Freitag seinen dreiundvierzigsten Geburtstag. Und wir hatten schon festgestellt, wie anfällig das Imperium im Hinblick auf Tod und Chaos zu sein schien, seit wir zwei uns kannten.

»Niemand würde mir ein Edison-Kinetoskop schicken. Was hat es damit auf sich?«

Ich atmete schwer aus. »Es lag eine Filmrolle bei. Das Ganze funktioniert noch. Max und ich haben uns den Film angeschaut. Es ist die finale Runde des Leonard-Cushing- Kampfes von 1894. Allen Berichten nach sollte dieser Teil des Films nicht mehr existieren.«

»Und Leonard hat Cushing umgebracht?«, fragte Calvin trocken.

»Nein.« Für einen Moment hielt ich inne. »Jemand anders ist aber gestorben.«

»Es ist ein Film.«

»Nicht – nein. Der Mord ist nicht Teil des Films, Cal. Jemand hat zwei Szenen aneinandergeklebt. Das ist nicht gespielt oder unecht. Ein Mann ist tatsächlich gestorben und jemand hat das Ganze aufgezeichnet.« Ich schaltete das Kinetoskop an und zog Calvin zu mir.

»Sieh selbst.«

Mit einem Seufzen lockerte er seine Arme und lehnte sich über das Guckloch, um sich die Szene anzuschauen.

Nervös wartete ich ab und beobachtete Calvins Körperhaltung während die Sekunden vergingen. Louis Armstrong erklang aus den Ladenlautsprechern, Max unterhielt sich mit Kunden und Dillon tapste durch den ganzen Raum.

Als genug Zeit vergangen war, dass Calvin mit Sicherheit an der Szene im Freien angekommen sein musste, bemerkte ich, wie sich sein Kiefer anspannte.

Und das war die einzige Reaktion, die ich als Bestätigung für das brauchte, was auch ich gesehen hatte.

»Also?«, fragte ich.

Calvin stellte sich aufrecht hin und sah mich an.

»Es ist echt, oder nicht?«

»Seb –«

»Ich habe es dir doch gesagt.«

»Steigere dich da nicht rein«, tadelte Calvin. »Wir wissen überhaupt nichts. Wann, oder wo oder –«

»Mitte der 1890er Jahre. Es liegt zeitlich nah an dem Boxkampf.«

»Woher weißt du das?«

»Die Frameraten stimmen überein. Die Szenen wurden beide mit einer Kinetograph-Kamera gefilmt, der Film selbst war vorgestanzt –«

»Na gut«, unterbrach Calvin mich und hielt eine Hand hoch. »Trotzdem wissen wir nicht einmal, wo es passiert ist.  Das könnte in jeder amerikanischen Stadt gewesen sein, in der es um 1800 eine Kamera gegeben hat.« Für einen kurzen Moment sah ich das Kinetoskop an. »Es ist in New York. Beim Flatiron-Gebäude.«

Calvin verengte die Augen.

»Bevor das Flatiron-Gebäude tatsächlich existiert hat.«

Er war still und rieb sich mit einer Hand über das Gesicht.

»Süßer … woher zum Teufel weißt du das?« Calvin fragte das in so einem ruhigen, höflichen Ton, dass es schon fast witzig war.

»Du kannst die Dreieck-Form von Fifth Avenue und Broadway im Hintergrund erkennen«, erklärte ich. »Die Beleuchtung, die gerade so außerhalb des Bildes liegt … Ein Mann namens Amos Eno ist bis zu seinem Tod 1899 der Eigentümer des Grundstücks gewesen. Und er war dafür bekannt, Bilder von einer Laterna Magica auf eine Leinwand zu projizieren, die an der Wand eines kleineren Gebäudes angebracht war. Das wurde für Werbung, Kurznachrichten und sogar Wahlergebnisse genutzt.«

Calvin sagte nichts.

Ich lächelte.

Er legte einen Arm um meine Schultern, zog mich an sich heran und fragte: »Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?«

»Der Ausdruck ›twenty-three skidoo‹ ist vermutlich dadurch entstanden, dass sich das Flatiron-Gebäude in der Twenty-Third Street befindet.«

»Wieso das?«

»Das ist eine windige Ecke. Es wurde angedeutet, dass Männer sich dort aufgehalten haben, um zuzusehen, wie die Röcke der Frauen vom Wind hochgeweht wurden und so den Blick auf ein paar heiße Knöchel zu erhaschen.«

»Natürlich.«

»Die Polizei musste sie verjagen.«

»Perverse.«

»Deshalb: twenty-three skidoo – sich schnell davonmachen«, schlussfolgerte ich.

Calvin lächelte und senkte seinen Arm.

»Was tun wir wegen des –«  Ich hielt inne, als ein Kunde an uns vorbeilief. »M-O-R-D-E-S?«, buchstabierte ich aus.

»Nichts.«

»Nein, nicht nichts«, antwortete ich.

»Das ist alles, was man tun kann, Seb.«

»Ich kenne mich ein bisschen damit aus, wie man mit Indizien bei der Mordkommission umgeht«, erinnerte ich ihn.

Nicht, dass ich ein Detective war, oder eine Ausbildung in Spurensicherung hatte, doch mein Ex-Partner Neil Millett arbeitete für die Spurensicherung des NYPD. Vier Jahre, in denen ich durch das ständige ›Erzähl mir von deinem Tag‹ einiges gelernt hatte. Zum Beispiel, dass bereits im neunzehnten Jahrhundert schon Akten über Mordfälle geführt worden waren. Und falls es sich um einen ungelösten Fall handelte, dann bewahrte die Polizei bis zur vollständigen Klärung alle Beweise auf.

»Du kennst dich mit fast allem ein bisschen aus«, antwortete Calvin einfach. »Weshalb es fast unmöglich ist, darüber zu diskutieren, dass du falsch liegst.«

»Das ist einer der Momente, in denen ich mir nicht sicher bin, ob du mir ein Kompliment machst oder nicht.«

»Wer sagt denn, dass der Fall nicht schon vor langer Zeit gelöst wurde?«

Ich starrte das Kinetoskop an. Man könnte es als eine meiner Ahnungen bezeichnen, aber ich glaubte wirklich nicht, dass das der Fall war. Sicherlich wäre der Film auch damals schon als Beweismittel sichergestellt worden, um den Mörder zu fassen. Und nach der Lösung des Falles hätte die Polizei den Film vermutlich zerstört. Stattdessen wurde das Material über hundertzwanzig Jahre später an einen Möchtegern-Detektiv geschickt.

Keine Erklärung.

Kein Grund.

Kein gar nichts.

»Aber was, wenn er eben nicht gelöst wurde?«, fragte ich zurück.

Calvin verschränkte wieder seine Arme. »Soweit ich weiß, gehen die ältesten von der Mordkommission verwendeten Beweismittel auf 1909 zurück. Und das hat sich in den Zwanzigern abgespielt, als Bedenken in Bezug auf hygienische Bedingungen und Platzmangel noch gar kein Thema waren.«

»Woher weißt du das?«

»Hi, ich bin Calvin Winter«, sagte er und streckte seine Hand aus, um meine zu schütteln. »Ich bin schon seit zehn Jahren ein Polizeibeamter des NYPD.«

»Ich ignoriere den Sarkasmus nur deshalb, weil es mich wahnsinnig geil macht, wenn du mit willkürlichen Fakten um dich wirfst«, antwortete ich.

Calvin grinste. »Das werde ich mir merken.«

Für einen Moment ließ ich meinen Blick durch das Imperium schweifen. Ich zählte die anwesenden Kunden und Kundinnen und versicherte mich, dass Max an der Kasse nicht überfordert war. »Also gibt es keine vergessene Kiste, die sich irgendwo in der Aufbewahrungsstelle versteckt?«, versuchte ich es erneut.

Calvin schüttelte den Kopf. »Wenn es um ungelöste Fälle geht, da gibt es sehr wenig Material von vor 1990.«

»Wieso?«

Er zuckte die Schultern. »Verschiedene Gründe. Feuer, Auktionen, vorschriftswidrige Aufbewahrung und Entsorgung … such dir etwas aus.«

»Es fühlt sich falsch an, nichts zu tun«, gestand ich ihm.