Mord in Key West - C.S. Poe - E-Book

Mord in Key West E-Book

C.S. Poe

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Beschreibung

Aubrey Grant lebt im Stadtviertel Old Town des tropi-schen Paradieses Key West, hat ein hübsches Häuschen, eine schnuckelige Vespa und die großartige berufliche Aufgabe, das denkmalgeschützte Anwesen eines ehemaligen Kapitäns zu verwalten. Beim Besuch seines angehenden Freundes, dem erfolgreichen FBI-Agenten Jun Tanaka, der sich bei ihm etwas Erholung gönnen möchte, kann selbst Aubreys Narkolepsie die Vorfreude auf ihre Ferienpläne nicht trüben. Doch dann macht ihnen ein Skelett in einem Schrank einen Strich durch die Rechnung. Obwohl Aubrey und Jun sich vorgenommen hatten, die gemeinsame Zeit zu genießen, führt sie die Identität des Skeletts zu einem über hundert Jahre alten Geheimnis. Sie entdecken die Geschichte eines Piratenkönigs und seines verloren geglaubten Schatzes sowie einen Mörder der Gegenwart, der vor nichts haltmacht, um die verborgenen Reichtümer aufzuspüren.

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Seitenzahl: 340

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Mord in Key West

Impressum:

© dead soft verlag, Mettingen 2020

http://www.deadsoft.de

© the author

Titel der Originalausgabe: Southernmost Murder

© der Übersetzung: C.S. Poe

Cover: Irene Repp

http://daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Denis Tabler – shutterstock.com

© Kiselev Andrey Valerevich – shutterstock.com

© alexkich – stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-412-4

ISBN 978-3-96089-413-1 (epub)

Inhalt:

Aubrey Grant lebt im Stadtviertel Old Town des tropischen Paradieses Key West, hat ein hübsches Häuschen, eine schnuckelige Vespa und die großartige berufliche Aufgabe, das denkmalgeschützte Anwesen eines ehemaligen Kapitäns zu verwalten. Beim Besuch seines angehenden Freundes, dem erfolgreichen FBI-Agenten Jun Tanaka, der sich bei ihm etwas Erholung gönnen möchte, kann selbst Aubreys Narkolepsie die Vorfreude auf ihre Ferienpläne nicht trüben.

Für Trish.

Anmerkung des Autors:

Mord in Key West spielt zwischen Band 2 und 3 der Snow & Winter Serie, kann aber eigenständig gelesen werden.

Kapitel 1

HÄUFIGSAGTEN mir Leute: „Mr Aubrey Grant, was leben Sie nur für ein seltsames Leben.“

Wobei es sich um eine recht treffende Einschätzung handelte.

Einmal wurde ich von einer wütenden Ex-Frau (nicht meiner, wohlgemerkt) mit einem geladenen Elefantengewehr bedroht – lange Geschichte. Ich habe einem Clown einen Faustschlag ins Gesicht verpasst – längere Geschichte. Und für sehr kurze Zeit war ich Teil einer Messerwerfer-Nummer bei einem Wanderzirkus – was nicht mit dem Clown zusammenhängt. Jedenfalls hatte ich in meinen achtunddreißig Jahren genug erlebt, um nicht allzu schockiert darüber zu sein, was mich manchmal hinter der nächsten Ecke erwartete.

Abgesehen von Leichen.

Ich kann voller Überzeugung sagen, dass ich niemals damit gerechnet hätte und ebenso wenig darauf vorbereitet war, auf sehr tote Menschen zu stoßen.

Und nicht etwa beerdigungstot.

Ich meine Skelett-im-Schrank-tot.

Also ein echtes Skelett.

Ich stützte mich an meinem Platz auf dem Boden, auf dem ich nach Schreien und Stolpern gelandet war, auf die Ellbogen. Und starrte durch die offene Tür.

Er … sie? Unser seliger Verstorbener hing vornübergebeugt aus der Lücke, wo ich soeben eine verborgene Nische in der Wand entdeckt hatte, obwohl ich das denkmalgeschützte Anwesen bereits seit zwei Jahren verwaltete. Und das auch nur, weil ich endlich damit begonnen hatte, die für die entsprechende Zeit unpassende Tapete zu entfernen.

Ich schluckte einige Male und bemühte mich, meine Atmung unter Kontrolle zu bringen, um nicht zu hyperventilieren. Da sich mein ganzer Körper schwach anfühlte, ließ ich mich wieder zu Boden sinken und starrte an die Decke. Verdammte Kataplexie. Unfreiwilliger Verlust der Kontrolle über meine Muskeln war eines der Symptome meiner Narkolepsie. Normalerweise passierte es, wenn ich viel lachte, aber manchmal … Tja, beinahe zu Tode erschreckt zu werden, konnte ebenfalls ein Auslöser sein.

Nach meinem Schrei war das Haus unheimlich still. Im Innern schienen sich keine Besucher zu befinden. Etwas ungewöhnlich für März – den Höhepunkt der Touristensaison –, jedoch war es auch erst kurz nach acht Uhr morgens. Auch der Touristenführer im unteren Stockwerk reagierte nicht, obwohl ich sicher laut genug geschrien hatte, um das eine oder andere Fenster zum Beben zu bringen. Verdammter Herbert. Vermutlich schlief er auf einem der Schaukelstühle auf der Veranda.

Ich warf einen Blick auf den Wandschrank.

Skelli hatte keine Meinung zur Situation.

Okay, alles ist in Ordnung. Es ist nur ein toter Typ. Oder eine Typin. Oder – ach ist doch auch egal.

Ich kämpfte mich auf die Füße und sammelte mich einen Moment, bevor ich mich dem Schrank näherte. Staub – in mehr als hundert Jahren angesammelt – tanzte im Morgenlicht umher, nach langer Zeit von mir aufgewirbelt, als ich den verborgenen Riegel für die geheime Nische in der Wand entdeckt hatte. Ich hustete und wedelte ihn mit der Hand fort.

Es war unglaublich. Im Smith-Family-Historical-Home in Old Town auf Key West war ein Skelett versteckt. Hier unten waren wir für unsere Schwulenparade bekannt, für unseren aus den echten Limetten der Florida Keys hergestellten Limettenkuchen und für eine Obrigkeit, die beim öffentlichen Konsumieren von Alkohol auf der Duval Street ein Auge zudrückte. Nicht für … was auch immer das war! Ich meine – verdammt. Wer war das? Wie war er gestorben? Wann war er gestorben? Warum war er in meiner verfluchten Wand?

Die letzten zwei Monate hatte ich mit einem gründlichen Instandsetzungsprojekt verbracht, zu dem auch die Überprüfung der Wände gehörte, für die ich eine spezielle Farbe kreieren wollte, die dem Originalfarbton von 1853 entsprach – dem Jahr, welches das Haus widerspiegeln sollte. Die nicht zum Rest passende Tapete im Wandschrank, so antik und wunderschön sie auch war, ging da aus historischer Sicht gar nicht. Da es auch keine Aufzeichnungen darüber gab, wer sie dort angebracht hatte, musste sie leider raus. Und offenbar war so etwas bei mir vorprogrammiert: Da spielte ich den Heimwerker, um meinen inneren Historiker zu befriedigen und wurde für die Mühe mit einem toten Typ belohnt.

Wie gesagt, ich nahm mein Los im Leben normalerweise ohne großes Gemecker und mit einer gesunden Portion Humor hin. Aber tote Dinge? So was von gar nicht mein bevorzugtes Gebiet. Schon ein überfahrenes Tier am Straßenrand setzte mir zu. In derartiges Zeug geriet eigentlich eher mein Kumpel mit dem Antiquitätengeschäft in New York, nicht ich. Ich machte keinen Unfug und schnüffelte in nichts herum, was mit toten Menschen zu tun hatte. Daher begrüßte ich es nicht, dass dieser tote Typ in mein Leben geplatzt war.

„Also gut“, sagte ich. „Ich muss … jemanden anrufen. Zum Beispiel … wahrscheinlich die Polizei. Guter Anfang.“

Okay.

Ich drehte mich auf dem Absatz um und eilte wie der Blitz die Treppe hinab.

Ich überprüfte mit einem kurzen Rundgang durch den ersten Stock und das Erdgeschoss, ob das Haus wirklich leer war und stürzte auf die Veranda hinaus. Ich zog die schwere Massivholztür hinter mir zu und schloss auch die zweite, die zum Schutz vor Stürmen diente. Ich ging in die Hocke, um sie sicher zu befestigen.

„Aubs?“, fragte Herb von seinem Stuhl.

Als ich einen Seitenblick auf ihn warf, sah ich, wie er sich den Schlaf aus den Augen blinzelte. Er war in Altersteilzeit und arbeitete halbtags als Fremdenführer, weil, um ihn zu zitieren, „mir langweilig ist und ich nichts Besseres zu tun habe, als rumzusitzen und auf den Tod zu warten.“ Ich erhob mich und steckte den Schlüsselbund des Hauses in die Tasche. „Im Wandschrank in der zweiten Etage ist ein Skelett.“

Herb spitzte die Lippen, rieb sich über den dicken, geraden Schnurrbart und sagte: „Okay.“

Ich neigte den Kopf zur Seite. „Wie bitte?“

Er wedelte träge mit der Hand. „Ich weiß ja, dass du heute früher gehen musst, aber wenn du schon eine halbe Stunde nach dem Öffnen schließt, warum habe ich dann überhaupt meinen alten Hintern herbemüht?“

Kurz starrte ich ihn ungläubig an. „Herb In meiner Abstellkammer ist ein toter Typ!“

Er lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück. „Hast du getrunken, Aubs?“

„Nein“, schrie ich, vielleicht etwas lauter als nötig.

„Du bist ja angespannter als ein Flitzebogen. Gut, dass dieser Mann von dir heute landet. Wirklich, wir sagen das schon den ganzen Monat: Du brauchst Urlaub.“

Mit dem Gefühl, kurz vor einem Schlaganfall zu stehen, hob ich die Hände. Denn auch wenn ich Herb mochte, würde ich ihn gleich erwürgen. „Das Haus ist jetzt geschlossen. Ich muss telefonieren.“

„Mhm.“ Er schloss die Augen und schaukelte mit seinem Stuhl.

Ich sprang die Verandastufen hinunter und rannte durch den Garten. Dieser Mittwoch war tropenparadiesperfekt. Mit dem zu einem Strandbesuch einladenden Sonnenschein, der milden Brise und der bunten Schönheit der Blumen, die alle in voller Blüte standen, war es beinahe möglich, den im Schrank herumhängenden Skelli zu vergessen, der sich dort mit den billigen Reinigungsmitteln anfreundete.

Beinahe.

Ein Schauer aus Ih, Igitt, Brr und Oh mein Gott lief mir über den Rücken und ich rannte etwas schneller auf das Gebäude zu, das uns als Kasse und Souvenirladen diente. Durch die Hintertür trat ich ein und bewegte mich durch die chaotischen Korridore, die ausschließlich aus Lagerbestand errichtet worden waren, weil Adam Love, der sich um den Laden kümmerte, entweder nicht in der Lage oder nicht gewillt war, jemals etwas wegzuräumen.

„Heute keine Eintrittskarten“, rief ich in den Verkaufsraum stürzend.

Adam wandte sich überrascht von der Kasse ab und sah mich an. Er war ein gewaltiger Kerl. Wie ein Football-Spieler. Ein echter Elefant im Porzellanladen, dem man jedoch zugestehen musste, dass er bisher niemals etwas von den kitschigen Kleinigkeiten in den Regalen zerbrochen hatte. Er war der neueste Mitarbeiter, seit etwa vier Monaten dabei. Und jung – vermutlich höchstens fünfundzwanzig. Der Junge war auf die Keys gekommen, um ein Abenteuer zu beginnen. Ob er den Verkauf von Fünfzehn-Dollar-Eintrittskarten für ein altes Haus als besonders aufregend betrachtete, konnte ich nicht beurteilen, aber na ja – man muss nehmen, was man kriegt.

„Warum nicht?“, fragte er.

„Ich habe ein … Lange Geschichte. Aber keine Besucher für das Haus, in Ordnung? Nur Gartenführungen.“

„In Ordnung“, sagte er langsam.

Ich begab mich in den chaotischen hinteren Teil und zu der Nische, die mir als Büro diente. Die um meinen Schreibtisch herum errichteten Wände bestanden lediglich aus Kartons mit Weihnachtsdekoration, altem Lagerbestand, für den nirgendwo Platz war und verschiedenen Antiquitäten, die ins Wohnhaus kamen und gingen. Ich ließ mich auf meinem Stuhl nieder, atmete noch einige Male tief durch und hob den Hörer des Festnetztelefons ab. Um einen Fall für den Notruf schien es sich nicht zu handeln. Skelli sah eindeutig so aus, als hätte er sich schon eine Weile dort befunden. Wäre er das nicht gewesen, hätten wir alle eine verwesende Leiche gerochen.

Hinter der Wand meiner Wohnung damals in New York City hatte ich einmal ein totes Opossum gehabt. Was zum Teufel ein Opossum in Brooklyn vorhatte, ganz zu schweigen in der Wand meiner Wohnung, war mir ein Rätsel. Doch es hatte gestunken und der Hausmeister hatte die Gipskartonwand einreißen müssen, um es herauszufischen. Also ja, Skelli war Schnee von gestern. Unangenehmer Schnee, um den sich umgehend jemand kümmern musste, aber nicht vielleicht-atmet-er-noch-dringend.

Also wählte ich stattdessen die Hauptnummer des örtlichen Polizeireviers. „Ja, hallo. Mein Name ist Aubrey Grant. Ich bin der Verwalter des Smith-Haus an der Whitehead Street. Es geht um eine ungewöhnliche Situation … Nein, nein. Keine Betrunkenen auf unserer Veranda, aber danke, dass sie letzte Woche einen Beamten geschickt haben.“

Touristen neigten dazu, sich auf der Duval Street zu betrinken, um sich dann mitten in der Nacht auf der Suche nach ihrem Ferienhaus oder ihrer Frühstückspension zu verlaufen und am Ende auf meiner Türschwelle umzukippen. So ist das Leben.

„In meiner Abstellkammer ist ein sehr toter Mensch.“

„Was ist da?“, rief Adam.

Als ich zusammenzuckte und mich umdrehte, sah ich ihn mit Glupschaugen im Durchgang stehen. Ich wedelte mit der Hand, doch er ließ sich nicht vertreiben. „Wie bitte? … Ja. Ein toter … ja. Es handelt sich um ein Skelett. Ich habe es in einer versteckten Nische in der Wand gefunden.“

„Scheiße, was?“, fragte Adam.

Ich verzog das Gesicht. „Entschuldigung?“, fragte ich die Person am anderen Ende der Leitung. „Ich wurde von einem Mitarbeiter unterbrochen, könnten Sie das wiederholen?“ Dann schüttelte ich seufzend den Kopf. „Nein, Ma’am, ich bin vollkommen nüchtern. Danke, dass Sie fragen.“

„AUBS.“

„Ich möchte nicht darüber reden, bevor die Polizei hier ist“, antwortete ich.

Nachdem ich den Anruf beendet und mich im Toilettenraum kurz gefasst hatte, war mir Adam durch die Hintertür gefolgt und hatte den Souvenirladen abgeschlossen. Nun lief er an mir vorbei, presste eine kräftige Hand auf meine Brust und bremste mich wie eine Steinmauer.

Ich bezeichnete meine Größe gern als mini. So wie diese Mini-Schokoriegel, die man in Tüten kauft. Adam war King-Size. Und mein supercooler Nicht-ganz-Freund, der gegen zehn ankommen sollte, weil er mich besuchen wollte, bewegte sich im Bereich eines Riegels, den man teilen konnte.

Ich war sehr auf Süßigkeiten fixiert.

Vor einem Monat hatte ich das Rauchen aufgegeben. Es brachte mich praktisch um.

Jedenfalls war ich einen Meter sechzig groß, wenn ich geradestand und wog vielleicht sechzig Kilo mit Kleidung und Schuhen, weshalb Adam mich leicht mit einem Finger aufhalten konnte. Manchmal fragte ich mich, ob es ihn störte, dass ich sein Vorgesetzter war. Ja, er war jünger, aber ich bemühte mich kein bisschen darum, wie eine Führungskraft auszusehen. Adam kleidete sich … Es ist schwer zu beschreiben. Wie ein guter Junge. Und ich? Ich ging auf die vierzig zu und trug noch immer dreckige Chucks, Skinny-Jeans und gelegentlich geschmackvoll beleidigende T-Shirts. Mein Haar war beinahe weiß gebleicht, ich besaß Tunnelohrringe und einen Nasenring – aber: Key West. Die Leute, die es störte, hätte ich an einer Hand abzählen können.

„Ist wirklich ein toter Mann im Haus?“, fragte Adam laut flüsternd.

Ich stemmte die Hände in die Hüften. „Nein, es ist nur ein Werbegag“, flüsterte ich zurück.

Adam verschränkte seine riesigen, massigen Arme.

„Tut mir leid, tut mir leid. Aber es hat mich echt fertiggemacht. Ich weiß nicht, ob ich dich um eine Zigarette oder Valium bitten soll.“

„Du wirkst wirklich ziemlich gestresst“, stellte er nach einem kurzen Moment fest.

„Dann setz noch einen Blowjob auf die Liste mit Dingen, die ich brauche.“

„Eins der drei Dinge kann ich anbieten, aber du musst raten, welches.“

Ich winkte kopfschüttelnd ab. „Ich habe einen ganzen Monat ohne Zigaretten durchgehalten. Da will ich mir nicht wenige Stunden vor Juns Ankunft eine anzünden.“

„Ich habe keine Zigarette angeboten.“ Adam grinste.

Ich lachte. „Pass bloß auf, Junge.“

Er trat zur Seite, sodass er mir nicht mehr den Weg versperrte. „Ein hinter der Wand verstecktes Skelett?“

Ich ging auf die Veranda des Hauses zu. Herb schlief noch immer auf seinem Stuhl. „Genau.“

„War es alt?“

„Hm?“

Adam blieb stehen. „Ich meine … hatte es noch … Fleisch?“

„Nein. Das ist ekelhaft. Es war alt. Ganz vergilbt und staubig.“

Er hob den Kopf und betrachtete die Fenster der zweiten Etage. „Wer hat ihn da nur versteckt?“

Ich schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung …“

„Glaubst du, er wurde ermordet?“

„Ermordet?“, wiederholte ich und sah ihn an. „Wie kommst du darauf?“

„Jemand hat sich die Mühe gemacht, die Leiche zu verstecken“, entgegnete er. „Wer tut das, wenn jemand auf natürlichem Weg stirbt?“

„Da hast du wohl recht.“ Ich bemerkte, dass Adam mir einige nervöse Seitenblicke zuwarf. „Was ist?“

„Ich weiß, dass es nur ein Aberglaube der Gegend ist …“

„Nein“, unterbrach ich ihn. „Sag es nicht.“

„Aber alle sagen, in dem Haus spukt es“, protestierte Adam.

„Nein. Tess vom Key Lime & Forever sagt das.“ Ich deutete auf die Konditorei auf der anderen Straßenseite.

„Alle sagen es, Aubs“, widersprach Adam. „Alle Einheimischen glauben, es ist Captain Smith.“

„Herb nicht“, antwortete ich und zeigte auf die Veranda.

Adam verdrehte die Augen. „Herb glaubt auch nicht an antibakterielle Seife.“

„Was?“

„Ich meine ja nur: Wenn es Geister gibt, hätte dieser doch einen Grund, in dem Haus zu spuken, nachdem sein Körper für mehr als hundert Jahre in eine Wand gestopft wurde.“

„Adam“, begann ich. „Ich verwalte dieses Haus seit zwei Jahren. Ich habe hier mehr Zeit verbracht als in meinem eigenen. Ich kann dir mit Sicherheit sagen, dass es nicht spukt.“

„Du bist ein zynischer New Yorker – was solltest du da sonst sagen?“

„Ich bin nicht zynisch.“

„Ich hab schon einiges gesehen“, beharrte Adam. „Nicht hier, aber im Haus meiner Großmutter. Es war alt. Und damit meine ich aus der Zeit des Unabhängigkeitskriegs. Und manchmal, nachts … habe ich auf der Treppe jemanden mit schweren Stiefeln gehört. Nur wir zwei haben da gewohnt und meine Großmutter ist so groß wie du. Sie hat ganz sicher nicht so gestampft. Einmal“, fuhr er fort, „bin ich aufgestanden und habe beschlossen, dem Geräusch zu folgen.“

Eine sanfte Brise brachte die Blätter der Breiapfelbäume zum Rascheln. Einige Früchte lösten sich und landeten geräuschvoll auf dem gepflasterten Weg. Das morgendliche Murmeln und Lachen der Touristen erfüllte allmählich die Straßen außerhalb des weißen Lattenzauns, doch es klang … fern. Als wären wir davor abgeschirmt.

„Im Wohnzimmer stand ein Mann“, sagte Adam. Er war blass geworden und leckte sich über die Lippen. „Er stand einfach da, Aubs. Mit einer Muskete über der Schulter und einem alten Hut auf dem Kopf. Er hat sich umgedreht, mich angesehen und klar und deutlich gesagt: ‚Ich muss kämpfen gehen‘.“

Ich glaubte nicht an Geister.

Und ich glaubte Adam nicht.

Aber mittlerweile kannten wir uns recht gut und der Junge war zu nett, um zu lügen. Daher war seine Geschichte … beunruhigend.

Ein unwillkommener Schauer lief mir über den Rücken.

„Mr Grant?“

Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte, woraufhin Adam mir eine Hand auf die Schulter legte. Der Schutzschirm um uns herum löste sich auf und der Lärm eines geschäftigen Key-West-Morgens drang wieder in den Garten. Hinter dem Zaun stand ein Polizist in Zivil.

„Oh, ja. Das bin ich. Danke, dass Sie gekommen sind.“ Ich entfernte mich von Adam, um das Tor aufzuschließen und den Mann in den Garten zu lassen.

„Detective Tillman. Man hat mir mitgeteilt, auf dem Grundstück befände sich eine Leiche“, sagte er. Es handelte sich um einen großen (na ja, im Vergleich zu mir war das jeder), schlanken Mann. Braunes Haar, leicht sonnengebräunt und ohne Besonderheiten. Nicht hässlich oder so, aber eben jemand, der in einer Menschenmenge leicht unterging. Wenn man von seinen Augen absah. Ihr Blick war scharf wie eine Glasscherbe. Eindeutig ein Polizist, selbst in Stoffhose und Hemd.

„Glauben Sie mir, wenn bald Oktober wäre, hätte ich es für einen Streich gehalten. Aber das hier ist echt.“

„Schon viele Leichen gesehen, Mr Grant?“

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Ich weiß genug über die menschliche Anatomie, um ein Plastikskelett aus dem Supermarkt vom Original unterscheiden zu können.“

Tillman presste die Lippen aufeinander.

Ja, ich konnte auch frech sein, Kumpel.

„Würden Sie es mir zeigen?“

Ich nickte und führte ihn zur Veranda, wo ich Herbs Schnarchen ignorierte, während ich beide Türen aufschloss und das Haus betrat. „Es befindet sich im zweiten Stock“, sagte ich und begann, die Treppe hinaufzusteigen.

„Wie genau haben Sie es entdeckt, Mr Grant?“, fragte Tillman.

„Aubrey“, sagte ich nachdrücklich über meine Schulter. „Und ich hatte vor, die alte Tapete im Wandschrank zu entfernen. Dabei muss ich wohl einen Riegel berührt haben, ein Stück Wand hat nachgegeben und Skelli – ähm, er oder sie ist aus der Lücke gefallen.“

„Finden Sie in dem Haus oft Verstecke?“

„Nein, üblich ist das nicht gerade.“

Ich führte Tillman durch den Flur des ersten Stocks und eine weitere Treppe hinauf. Als wir die zweite Etage erreicht hatten, näherte ich mich dem Schrank.

Das Skelett war verschwunden.

Kapitel 2

DETECTIVE TILLMAN zog eine Augenbraue hoch.

„Warten Sie. Es war genau hier. Wie ist …?“ Ich betrat den schmalen Schrank und drehte mich im Kreis. „Das verstehe ich nicht. Es war hier. Sehen Sie, in der Nische“, protestierte ich und zeigte auf die leere Lücke in der Wand.

„Ich verstehe“, antwortete Tillman in einem so unbegeisterten Tonfall.

„Das ist kein Scherz. Als ich es gefunden hatte, bin ich sofort aus dem Haus gelaufen. Das Haus war abgeschlossen – Sie haben es selbst gesehen. Niemand hat es betreten oder verlassen, bis Sie eingetroffen sind.“

„Und Herb hat die Tür bewacht?“

„Na ja, schon, aber …“

„Er könnte auch einen Orkan verschlafen“, sagte Tillman.

Ich verließ den Schrank und drehte mich um, damit ich in den dunklen kleinen Raum blicken konnte. „Es war hier.“

Tillman atmete geräuschvoll aus. „Wie man sich erzählt, leiden Sie unter Narkolepsie. Stimmt das?“

„Wie bitte?“ Ich sah ihn an. „Was soll das hiermit zu tun haben?“

„Ich habe gehört, dass Narkolepsie Halluzinationen auslösen kann.“

„Nicht während ich vollkommen wach bin und meiner Arbeit nachgehe“, widersprach ich. Meine Wangen erwärmten sich, als mein Blutdruck stieg. „Sie werden als hypnagoge oder hypnopompe Halluzinationen bezeichnet und kommen beim Einschlafen vor oder wenn ich gerade aufwache.“

„Vielleicht waren Sie dann schläfrig?“, gab Tillman zu bedenken.

„Ich war absolut wach“, zischte ich. „Und bei allem Respekt, meine Schlafstörung geht Sie nichts an.“

Das stimmte natürlich. Doch letztendlich handelte es sich bei Key West um eine kleine Stadt, in der Leute alles mögliche Zeug über andere wussten. Und da ich Verwalter einer der wichtigsten historischen Attraktionen der Insel war, kannte so ziemlich jeder den Schwanz liebenden Narkoleptiker, der eine pinkfarbene Vespa fuhr. Es war unvermeidlich.

Tillman stemmte die Hände in die Hüften. „Ich weiß nicht, was Sie sich davon versprochen haben, mich herschicken zu lassen.“

„Da war ein Skelett“, schrie ich und gestikulierte in Richtung des Schrankes.

„Ich möchte Sie bitten, auf Ihren Ton zu achten.“

Oh, das würde kein gutes Ende nehmen, wenn Tillman mich weiterhin wie einen Zwölfjährigen behandelte. Einige Einheimische hassten uns „Umgepflanzte“ sehr. Vielleicht gehörte Tillman ebenfalls zu ihnen.

„Es war hier“, sagte ich erneut, denn was hätte ich sonst sagen können?

„Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?“, fragte Tillman. Ich beschloss, seinen Tonfall zu ignorieren.

„Ich weiß es nicht.“

„Haben Sie Überwachungskameras, deren Aufzeichnungen man sich ansehen kann?“

Ich hob den Kopf. „Wir haben Kameras, allerdings sind diese auf spezielle Gegenstände im Haus gerichtet. Ich könnte mir trotzdem alles ansehen. Vielleicht ist die Person, die sich ins Haus geschlichen hat, bei der Suche nach dem Skelett vor eine der Kameras geraten.“

„Vielleicht“, stimmte Tillman zu, ohne dabei zu klingen, als ob er tatsächlich zustimmte. „Wie lange war das Haus verschlossen?“

„Fünfzehn Minuten? Und davor bin ich um sechs angekommen und wir haben das Haus um Viertel vor acht geöffnet.“

„Warum waren Sie so früh hier?“

„Ich höre heute um zehn auf und nehme mir eine Weile frei. Da wollte ich vorher noch einiges schaffen.“

„Verreisen Sie?“, fragte Tillman.

„Nein. Mein … ähm, ein Freund besucht mich.“

Tillman warf mir einen fragenden Blick zu.

„Er ist nur ein Freund“, beharrte ich, was eine Halbwahrheit war, aber Tillman eigentlich auch nichts anging.

Tillman seufzte und wandte sich der Treppe zu. „Ich werde überprüfen, ob sich jemand an den Schlössern zu schaffen gemacht hat und mir das gesamte Gelände ansehen.“

„Und wenn Sie nichts finden?“, fragte ich, während ich ihm in die erste Etage folgte.

„Ohne irgendeinen Hinweis auf das angebliche Skelett in der Wand kann ich nicht gerade viel tun.“

„Ja, aber …“

„Haben Sie den Verstorbenen erkannt?“, fragte Tillman beim Gehen.

Ich blieb auf der letzten Treppenstufe stehen. „Skelette haben eher selten Gesichter.“

„Dann können Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ihn niemand vermisst, wenn er wirklich dort war.“

„Verstößt es nicht gegen das Gesetz, einen Toten zu stehlen?“, fragte ich, während ich Tillman nacheilte. „Und ihn in der Wand eines Hauses zu verstecken?“

„Ja“, sagte Tillman, der sich auf halbem Weg zum Erdgeschoss befand. „Aber es wurden in unserer Nähe weder auf einem Friedhof ausgegrabene Gebeine noch Plünderungen von Begräbnisstätten amerikanischer Ureinwohner gemeldet.“ Er wartete am unteren Ende der Treppe. „Ich habe nur Ihr Wort dafür, dass überhaupt ein Skelett hier war.“

„Und wieso reicht das nicht aus?“, fragte ich.

„Mr Grant“, sagte Tillman mit Nachdruck. „Ich werde mich umsehen und ich werde einen Bericht verfassen, aber wenn ein Skelett hier war, ist es das jetzt nicht mehr. Was soll damit passiert sein? Ist es aus dem Fenster geklettert?“

ICHSTAND im Esszimmer mit Blick auf die Whitehead Street.

Obwohl ich nicht tatsächlich glaubte, dass Skelli eine Szene aus „Die Mumie“ nachgespielt hatte und allein aus dem Haus spaziert war, hatte mich Tillmans sarkastische Bemerkung auf eine Idee gebracht. Ich hatte die Vordertür abgeschlossen und die Hintertür schloss Herb für die Führungen sowieso niemals auf – der faule Kerl –, aber irgendjemand war irgendwie ins Haus eingedrungen und wieder verschwunden, während ich die Polizei angerufen hatte. Und wie wäre das möglich gewesen, ohne durch ein nicht verschlossenes Fenster zu klettern?

Das Esszimmerfenster konnte es jedoch nicht gewesen sein, denn es befand sich im vorderen Teil des Hauses, wo man es von der Straße aus, die sich nun mit Morgentouristen gefüllt hatte, gut sehen konnte, genau wie von Herbs Platz auf seinem Stuhl. Auch wenn er sich nicht als der beste Wächter erwiesen hatte. Jedenfalls blieb dann nur die Rückseite des Hauses, nicht wahr?

Wahr.

Ich verließ das Esszimmer und ging durch den Flur. Im Salon angelangt kletterte ich über die Kordel, die Besucher davon abhielt, ausgestellte Gegenstände zu beschädigen. Zwei Fenster überblickten dort den üppig bewachsenen Garten und die hintere Veranda. Dieser Bereich des Gebäudes war ausgesprochen gut vor Blicken geschützt. Durch die unzähligen Breiapfelbäume, die das Grundstück umgaben und die Helikonien, welche mich mit ihren riesigen Blättern beinahe überragten, war es hier nahezu unmöglich, von der Querstraße aus ins Haus oder das Innere des Gartens zu sehen.

Und da jemand so kühn gewesen war, am helllichten Tag ins Haus zu schleichen und ein verdammtes Skelett zu stehlen, hätte diese Seite des Hauses für Schutz gesorgt. Die Tatsache, dass mein geheimnisvoller Eindringling von meiner Entdeckung gewusst hatte, ins Haus gekommen und mit den sterblichen Überresten verschwunden war und all das in weniger als zwanzig Minuten, war so verstörend, dass ich mich mit diesen Einzelheiten noch nicht ganz so genau beschäftigen wollte.

Also: die Fenster.

Abgesehen davon, dass meine Reinigungskraft besser Staub wischen musste, fiel mir am linken Fenster nichts auf und es war fest verschlossen. Wir öffneten die Fenster des Smith-Hauses nicht. Sie hatten keine Fliegengitter und die Insekten in Florida waren eine echte Plage. Noch wichtiger war jedoch das antike Glas. Ich wäre ein sehr gereizter Chef gewesen, wenn es jemand unachtsam durch zu heftiges Schließen beschädigt oder gar zerbrochen hätte.

Ich wandte mich dem rechten Fenster zu und stellte fest, dass sich auf der Fensterbank noch etwas Farbe befand. Verärgert kratzte ich sie mit dem Fingernagel ab. „Verdammte Maler …“ Diese hatten vor zwei Wochen die Renovierung der Wände im Erdgeschoss abgeschlossen. Offensichtlich war einer von ihnen nicht großzügig genug mit der Plastikplane gewesen, um die originale Lackierung des Holzes zu schützen. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um den Riegel zu überprüfen. Ein weiterer Farbklecks und … der Riegel war beschädigt.

Ich drehte mich um. Im Zimmer befand sich eine Kamera, doch sie war auf den Doppelsessel mit Tisch gerichtet, auf dem sich mehrere kleine Ausstellungsstücke befanden. Auch wenn es keine leichte Angelegenheit gewesen wäre, war es möglich, ihr auszuweichen, wenn man es wirklich wollte.

Wie lange war das Fenster schon nicht mehr sicher verschlossen? Einen Tag? Eine Woche? Schon bevor die Malerarbeiten begonnen hatten? Hatte einer der Maler das Fenster beschädigt und es nicht erwähnt, um nicht für die Reparatur aufkommen zu müssen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es jemand absichtlich getan hatte …

Vielleicht hatte ich die Ereignisse des Morgens wirklich nur geträumt. Ich meine, mal ehrlich! Ein Skelett im Haus, das von einem Einbrecher gestohlen wurde? Absurd. Dieser ganze Morgen war absolut lächerlich.

Als Tillman von außen an die Scheibe klopfte, zuckte ich zusammen und stieß einen leisen Schrei aus. Mit einer Bewegung seines Fingers bedeutete er mir, zu ihm zu kommen.

Ich brauchte so dringend eine Zigarette. Vielleicht hätte ich eine rauchen und mich vor Juns Ankunft mit Febreze besprühen können …

Ich verließ den Salon und betrat durch die Hintertür den Garten.

„Sie sind an diesem Morgen ausgesprochen schreckhaft“, stellte Tillman fest.

„Haben Sie etwas gefunden?“

Tillman verschränkte die Arme, nahm diese typische Einschüchternder-Polizist-Pose ein. Ich kannte sie. Egal aus welchem Bereich der Strafverfolgung – sie alle taten dasselbe. „An den Türschlössern gibt es keine Anzeichen für Fremdeinwirkung.“

„Was ist mit den Fenstern? An diesem ist der Riegel beschädigt.“ Ich zeigte auf das Fenster.

Tillman ignorierte die Frage. „Auf dem Grundstück war auch nichts zu finden.“

„Und das war’s dann?“

„Falls sich noch etwas ergibt, werden wir uns bei Ihnen melden.“

„Ich werde mir alle Überwachungsvideos ansehen“, beharrte ich.

„Tun Sie das bitte.“

Tillman ging. Er verließ die Veranda und verschwand auf dem Weg zum Eingangstor im Garten.

Der Typ konnte mich mal. Er war ein Arschloch. Es schien wirklich eine Grundvoraussetzung zu sein. Sind Sie ein totaler Wichser? Hier ist Ihre Waffe und Dienstmarke. Andererseits besaß ich eine ewige Schwäche für Männer in Uniform, woran ich selbst Schuld hatte. Seit meiner Jugend hatte ich nämlich unzählige Liebesromane gelesen, von denen mir die Geschichten mit Polizisten am besten gefielen. Leider war mir der sexy Held mit dem goldenen Herzen und einigen interessanten Ideen zur Verwendung von Handschellen nie im wirklichen Leben begegnet.

Bis ich Jun kennengelernt hatte.

Aber ich wollte die Sache mit ihm nicht beschreien. Vorsichtshalber klopfte ich auf die hölzerne Fensterbank hinter mir, damit sie mir hoffentlich Glück brächte.

„Aubs?“

Ich wandte mich um und sah Adam, der die Veranda betrat. „Ist Tillman gegangen?“

„Ja.“

„Er ist ein Idiot.“

„Ich glaube, er mag dich nicht“, stimmte Adam zu. „Was hast du getan?“

„Nichts“, sagte ich mit hängenden Schultern. „Das Skelett ist weg.“

„Ich habe gar nicht gesehen, wie Tillman es weggebracht hat.“

„Nein, ich meinte, dass es verschwunden ist.“

„Ich … ich glaube nicht, dass das möglich ist.“

„Was du nicht sagst.“ Ich näherte mich wieder dem Fenster und drückte von unten gegen den Rahmen.

„Was machst du da?“

„Ich versuche einzubrechen.“

„Die Tür ist direkt neben dir.“

Ich verdrehte die Augen und sah ihn an. „Ich überprüfe eine Theorie.“

„Und zwar?“

„Ich bin noch nicht sicher“, antwortete ich angestrengt, während ich mich darum bemühte, das Fenster ohne Hilfe des Griffs an der Innenseite zu öffnen. „Durch die abgeschlossenen Türen käme niemand rein, stimmt’s?“

„Stimmt“, sagte Adam.

„Aber durch dieses Fenster? Der Riegel ist nämlich beschädigt.“

„Also glaubst du, jemand ist reingeklettert und … hat das Skelett geklaut, von dem vor einer halben Stunde noch niemand gewusst hat?“, fragte Adam langsam. „Das ergibt nämlich sehr wenig Sinn.“

Ich hielt inne, um ihn wieder anzusehen. „Es ergibt überhaupt keinen Sinn.“

„Und warum versuchst du dann, das Fenster aufzubrechen?“

„Weil … ich weiß, dass ich es nicht geträumt habe“, beharrte ich. „Es war da. In seiner ganzen toten, knochigen Pracht. Aber jetzt ist es nicht mehr da und das stört mich.“

„Ich finde, du solltest dir eher Sorgen darum machen, was jemand mit einer Leiche vorhat, wenn er sie stiehlt.“

„Das ist ekelhaft, Adam.“ Ich drückte fester gegen das Fenster, woraufhin es sich stöhnend und quietschend hob. Mit einem triumphierenden Grinsen zeigte ich auf die Lücke. „Siehst du? Bitte sehr.“

Adam kam näher und stützte sich mit einer Hand auf das Fenstersims, um in den Salon zu spähen. „Eine größere Person hätte Schwierigkeiten, reinzukommen.“

Ich nickte und wollte gerade antworten, als ich von einer Welle der Erschöpfung überrollt wurde wie von einem Güterzug. Ich streckte die Hand nach dem Fenstersims aus, als mich der Müdigkeitsnebel übermannte. Die Schlafattacken fühlten sich stets seltsam an. Als fiele man in Zeitlupe um. Obwohl mir meistens noch genug Zeit blieb, um zu verhindern, dass ich mich verletzte, war es hilfreich, wenn sich jemand in meiner Nähe befand. Diesmal wachte ich nach kurzem Schlaf stehend auf, da Adam mich mühelos auf den Füßen hielt.

„… hasse es, wenn du einfach umkippst“, sagte er gerade.

„Was?“

„Wieder wach?“

„Ja, entschuldige.“ Manchmal schlief ich für einige Minuten ein, manchmal handelte es sich lediglich um Sekundenschlaf. Und es war nicht vorhersehbar. Nach einem kurzen Moment schlüpfte ich aus seinem Griff und tätschelte ihm den Arm. „Danke dafür.“

„Dafür bekomme ich schließlich vierzehn die Stunde.“

Ich schnaubte amüsiert und betrachtete das offene Fenster. Was wollte ich noch gerade … oh, genau. Ich beugte mich durch die Lücke und schaute hinein, um mir den Boden anzusehen. „Keine Fußspuren oder so und außer Staub war auch von innen nichts zu sehen.“ Ich entfernte mich etwas, um ein Bein durch das offene Fenster zu schieben. Dann steckte ich den Kopf hinein und bugsierte mit einer unkoordinierten kleinen Ballettvorführung auch den Rest meines Körpers hindurch. „Voilà.“

„Sehr beeindruckend“, sagte Adam mit ironischem Höflichkeitsapplaus.

Ich musste lachen.

„Und was nun, Herr Detektiv?“ Adam beugte sich vor, um mich sehen zu können.

Verdammt gute Frage. Was genau hatte ich damit bewiesen? Dass ich einen beschädigten Fensterriegel hatte und es von außen öffnen konnte. Im Haus schien nicht ein einziger Gegenstand angerührt worden zu sein. Es fehlte auch nichts. Außer dem Skelett, das nur ich gesehen hatte.

„Adam?“

„Ja?“

„Ich bin nicht … verrückt, oder?“

Er wirkte nachdenklich – oh Mann, wie unhöflich.

„Etwas“, sagte er. „Aber es ist die niedliche, harmlose Art von verrückt.“

„Bitte was?“

Adam hob abwehrend die Hände. „Du warst mal mit einem FBI-Agenten zusammen. Das finde ich ziemlich verrückt.“

„Ist das alles?“

„Und bist du nicht jetzt mit seinem Partner zusammen?“

„Wir sind nicht zusammen. Wir sind noch mit einem merkwürdigen Paarungsritual beschäftigt. Und Jun arbeitet nicht mehr mit Matt.“

Adam zuckte mit den Schultern. „Jedem das seine.“

BEIM DURCHSEHEN der Überwachungsvideos war ich bereits dreimal eingeschlafen. Es war nicht nur, gelinde gesagt, verdammt langweilig, sondern auch eine sehr passive Beschäftigung – mein schlimmster Feind. Fernsehen, Lesen, das Fahren auf der Autobahn – all das war so entspannend, dass ich mich dabei nicht für eine nennenswerte Zeitspanne konzentrieren konnte. Ich wäre beinahe vom College geflogen, weil es mir nicht gelungen war, während der Kurse wach zu bleiben und man meine Narkolepsie erst korrekt diagnostiziert hatte, als ich bereits dreiundzwanzig war. Daher hatten mich meine Professoren für faul und unmotiviert gehalten. Was hätte ich dazu sagen können?

Die Diagnose war ein Segen gewesen, da ich endlich gewusst hatte, was los war.

Ich musste ständig aktiv und konzentriert bleiben, weil sich sonst das überwältigende Bedürfnis nach Schlaf durchsetzte. Manchmal gelang es mir, dagegen anzukämpfen, aber meistens nicht. Es nervte, wenn mich ein solcher Sekundenschlaf mitten in einem Gespräch überfiel. Oder beim Essen. (Zu meiner Verteidigung muss gesagt sein, dass Salate langweilig sind.) Oder bei monotonen Aufgaben – wie Geschirrspülen –, die ich dann im Schlaf fortführte. In meinem Leben hatte ich durch dieses automatische Verhalten so viel Geschirr zerbrochen, dass nichts mehr zusammenpasste. Mittlerweile hatte ich mich mit der ungewöhnlichen bunten Zusammenstellung in meinen Schränken versöhnt.

Wie man sich als Narkoleptiker fühlt, ist nicht leicht zu erklären. Ich kann es nur wie ein Leben mit konstantem, extremem Schlafentzug beschreiben. Aber ich kam zurecht. Wenn man bedachte, dass ich unter allen Narkolepsie-Symptomen litt, von der Tagesschläfrigkeit bis hin zur Schlaflähmung, ging ich, meiner Meinung nach, ziemlich ordentlich damit um. Natürlich nervte es, aber na ja, es gab Schlimmeres. Und wenigstens besaß ich ein schickes Notfallarmband mit dem Wort NARKOLEPSIE, sodass bei den Gelegenheiten, bei denen ich an einem öffentlichen Ort plötzlich eingeschlafen war, niemand einen Herzinfarkt befürchtet hatte oder eine Überdosis oder … etwas ähnlich Schreckliches eben.

Mit einem Stöhnen rieb ich mir kräftig das Gesicht. Ein paar Minuten länger und ich würde erneut auf der Tastatur einschlafen. Es dauerte ewig, weil ich beschlossen hatte, mir mehr als nur diesen Morgen anzusehen. Schließlich hätte jemand … über Nacht im Haus versteckt gewesen sein können oder so. Ich wollte nichts übersehen, auch wenn vor den Kameras bisher nur Touristen aufgetaucht waren.

Als das „Dideldi“ eines eingehenden Skype-Anrufs ertönte, löste ich die Hände von meinem Gesicht. Meine Webcam schaltete sich ein und mein so gern in Schwierigkeiten geratender, antiquitätenbegeisterter Freund Sebastian Snow tauchte auf dem Bildschirm auf. Wir kannten uns aus alten Zeiten, als ich noch in einem Pfandhaus in New York gearbeitet und er nur von seinem eigenen Geschäft geträumt hatte. Jetzt besaß er einen coolen, wenn auch etwas bizarren Laden im East Village, mit dem er viel Erfolg hatte.

„Hey, Süßer“, sagte ich. „Du hast mir das Leben gerettet.“

„Habe ich das?“, fragte Sebastian.

„Und ob. Ich habe mir todlangweilige Überwachungsvideos angeschaut. Du siehst gut aus.“ Das sagte ich nicht nur aus Höflichkeit. Zwar war Sebastian nie mein Typ gewesen, doch seit er mit seinem neuen Freund zusammen war, fiel mir bei jedem unserer Gespräche auf, dass er gesünder wirkte. Und glücklicher. Man hätte wohl sagen können, dass er strahlte. „Ist das ein blaues Hemd?“

Sebastian sah kurz hinunter. „Zumindest sagt man mir das. Warum siehst du dir Überwachungsvideos an?“

„Was? Kein Aubrey, du siehst ebenfalls schneidig aus?“

„Du siehst schneidig aus“, antwortete er. „Was für Videos?“

„Du leidest unter einer krankhaften Besessenheit.“

Sebastian rückte seine Brille zurecht. „Solche Angelegenheiten kleben an mir wie Scheiße in Schuhprofilen.“

„Ein schönes Bild.“

„Ist alles in Ordnung da unten?“

Ich runzelte die Stirn und lehnte mich zur Seite, um einen Aktenschrank zu öffnen. „Ich bin nicht sicher.“ Ich griff weit in den Schrank, damit ich eine versteckte Schachtel Zigaretten herausholen konnte. Anschließend richtete ich mich auf, sah wieder den Bildschirm an und zog eine Zigarette aus der zerdrückten Schachtel. „Du musst mir versprechen, mich nicht wie einen Verrückten anzusehen.“

„In Ordnung.“

Ich schob mir die Zigarette zwischen die Lippen, widerstand jedoch dem Drang, sie anzuzünden. Allein das Gefühl war beinahe befriedigend genug. „Heute Morgen“, murmelte ich. „Als ich im Schrank war …“

Sebastian grinste.

„Hör auf.“

„Ich habe nichts gesagt.“

Ich verdrehte die Augen. „Ich war in einem großen Wandschrank im alten Haus, weil ich da die Tapete entfernen wollte. Dabei habe ich eine verborgene Nische in der Wand gefunden.“

Er wurde aufmerksamer und beugte sich zum Bildschirm vor. Gott, er brauchte ein paar neue Hobbys.

„Und, ähm … ein Skelett …“

„Skelett?“, fragte Sebastian über mich hinweg.

Ich bedeutete ihm mit einer Geste, zu schweigen – als ob das lange vorhalten würde. „Da war ein Skelett. Ich schwöre bei Gott, dass ich es gesehen habe. Es hat mich zu Tode erschreckt.“

Sebastian hob fragend die Hände. „Und?“

„Und … was?“

„Du hast ein Skelett gefunden. Was hast du damit gemacht?“

„Du reagierst darauf viel zu ruhig“, sagte ich und nahm die Zigarette aus dem Mund. „Ich habe die Polizei gerufen. Ein Detective ist aufgetaucht, ich habe ihn nach oben gebracht – es war verschwunden.“

Sebastian zog eine Augenbraue hoch. Er wirkte wie ein Hund, der einen Reifen entdeckt hat und sich bereit machte, ihn zu jagen. „Wenn du Skelett sagst, gehe ich davon aus, dass es nicht … frisch war.“

„Nein, es war alt. Ein genaues Alter kann ich allerdings nicht angeben. Ich datiere lieber nautische Gegenstände als sterbliche Überreste.“

„Irgendeine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?“

„Er hat kein Namensschild getragen, Seb.“

„Sehr witzig. Du bist der Verwalter eines denkmalgeschützten Hauses.“

Ich drehte die Zigarette mit den Fingern und schob sie mir wieder zwischen die Lippen. „Hier hat nur die Familie Smith gelebt.“

Er starrte mich erwartungsvoll an.

„Kumpel, du musst dir ein paar neue Hobbys suchen.“

Sebastian runzelte die Stirn.

„Ich möchte nicht zu viel mutmaßen“, fuhr ich fort. „Aber … es gibt ein Gerücht … über Captain Smith. Sein Tod war eine umstrittene Angelegenheit und er ist nie auf dem Familienfriedhof gelandet.“

„Wo ist er gelandet?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Es gibt keine Beweise, dass die Geschichte stimmt. Er hat einen Gedenkstein drüben auf dem Friedhof von Key West. Einige Einheimische sagen auch, dass er der berüchtigte Pirat namens einäugiger Jack war und dass sein Geist im Haus spukt, also … sollte man nicht jedes Wort davon auf die Goldwaage legen.“

„Vielleicht wollte jemand verhindern, dass er von dir identifiziert wird“, schlug Sebastian vor.

Ich stellte fest, dass ich auf dem Zigarettenfilter kaute, weshalb ich sie wieder senkte. „Meinst du?“

Er zuckte mit den Schultern. „Warum sollte das Skelett sonst verschwinden?“

Ich zupfte nachdenklich an einem meiner Ohrringe. „Klingt, als könnte die Sache gefährlich werden.“

„An deiner Stelle würde ich vorsichtshalber noch einmal mit der Polizei reden.“

„Der blöde Bulle glaubt, ich hätte es erfunden“, brummte ich.

„Ich kann Calvin um einige Anrufe bitten. Vielleicht gelingt es ihm, jemanden so zu ängstigen, dass er zuhört“, bot Sebastian an.

„Ich brauche die Hilfe deines Freundes nicht“, sagte ich und wedelte mit der Hand. „Jun hat einen größeren Einflussbereich.“

„So nennt ihr Jungs das also?“

„Was wolltest du überhaupt?“, fragte ich streng.

Sebastian gab einen leisen Laut von sich und lächelte. „Vor kurzem habe ich einen für die Verwendung auf See bestimmten Werkzeugsatz erworben. Ich hatte gehofft, dich vor deinem Mittagsschlaf zu erwischen, damit du mir etwas dazu sagen kannst.“

„Mittag?“ Ich sah auf die Uhr. „Scheiße, es ist wirklich Mittag?“, schrie ich.

Sebastian zuckte zusammen. „Ähm, ja. Geht es dir gut?“

„Oh, Gott. Ich muss los.“

„Aubs“, rief Adam.

„Ich habe Jun über zwei Stunden am Flughafen stehen lassen.“ Ich sprang auf.

„Aubrey“, sagte Adam abermals an der Tür.

Ich drehte mich hastig um, ließ die Zigarette fallen und suchte den Schreibtisch nach meinem Handy ab. „Was ist?“

„Du hast ihn am Flughafen stehen lassen?“, wiederholte Sebastian.

„Mein Handy ist weg“, antwortete ich laut.

„Jemand will dich sprechen, Aubrey“, versuchte es Adam erneut.

„Moment“, rief ich.

„Ich glaube, du warst zu lange single“, merkte Sebastian nachdenklich an.

„Oh, mein Gott, oh, mein Gott“, stöhnte ich. Unterlagen fielen vom Schreibtisch, als ich suchte. Vermutlich hatte Jun hundertmal angerufen und sich gefragt, wo ich war. Ich hatte vollkommen das Zeitgefühl verloren – und offenbar auch mein Handy.

„Hier ist ein Typ, der zu dir will“, beharrte Adam.

„Sag ihm, er soll warten“, fauchte ich.

„Ich mache jetzt lieber Schluss“, sagte Sebastian und das Skype-Gespräch endete.