Das Geheimnis des Winterhauses - Sarah Lark - E-Book
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Das Geheimnis des Winterhauses E-Book

Sarah Lark

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Beschreibung

Ein großer Familienroman über Verrat und Vertrauen, Hass und Liebe

Wien, Gegenwart: Für Ellinor bricht eine Welt zusammen, als eines Tages durch Zufall ein lang gehütetes Geheimnis ans Licht kommt: Ellinor und ihre Mutter sind mit dem Rest der Familie nicht blutsverwandt. Auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln macht sich Ellinor auf den Weg nach Dalmatien und Neuseeland, wo sie einer tragischen Liebesgeschichte und einem großen Familiendrama auf die Spur kommt ...

Diese Reise bringt ihr Leben durcheinander und ihre Ehe ins Wanken. Wird sie am Ende Geborgenheit und ihr Glück finden?

Ein dunkles Familiengeheimnis, eine unglaublich starke Geschichte, große Frauenunterhaltung


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INHALT

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumDas angenommene KindKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Liliana: Dalmatien, 1904–1905Das FestDas VersprechenEin Ring aus GrasGrosse PläneDie NachtVerlassenKapitel 6Das WunschkindKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Claras Tagebuch 1918–1920Kapitel 8Kapitel 9Das ungeliebte KindKapitel 1Kapitel 2Ein langer WinterGoldrausch der VerlorenenDas Haus am FlussDer Kampf um AlisonDas wilde KindEin braves MädchenEin bisschen DankbarkeitDas GeständnisMosesKapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Das WinterhausKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6EpilogNachwort

ÜBER DAS BUCH

Ein großer Familienroman über Verrat und Vertrauen, Hass und Liebe Wien, Gegenwart: Für Ellinor bricht eine Welt zusammen, als eines Tages durch Zufall ein lang gehütetes Geheimnis ans Licht kommt: Ellinor und ihre Mutter sind mit dem Rest der Familie nicht blutsverwandt. Auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln macht sich Ellinor auf den Weg nach Dalmatien und Neuseeland, wo sie einer tragischen Liebesgeschichte und einem großen Familiendrama auf die Spur kommt ... Diese Reise bringt ihr Leben durcheinander und ihre Ehe ins Wanken. Wird sie am Ende Geborgenheit und ihr Glück finden? Ein dunkles Familiengeheimnis, eine unglaublich starke Geschichte, große Frauenunterhaltung

ÜBER DIE AUTORIN

Sarah Lark, geboren 1958, wurde mit ihren fesselnden Neuseeland- und Karibikromanen zur Bestsellerautorin, die auch ein großes internationales Lesepublikum erreicht. Nach ihren fulminanten Auswanderersagas überzeugt sie inzwischen auch mit mitreißenden Romanen über Liebe, Lebensträume und Familiengeheimnisse im Neuseeland der Gegenwart. Sarah Lark ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Schriftstellerin, die in Spanien lebt.

SARAH LARK

DAS GEHEIMNIS DES WINTERHAUSES

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Melanie Blank-Schröder

Innenillustration und Landkarte: Tina Dreher, Alfeld, Leine

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Einband-/Umschlagmotiv: Johannes Wiebel | punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von © shutterstock/Filip Fuxa; shutterstock/Kichigin; shutterstock/Bildagentur Zoonar GmbH; shutterstock/ChameleonsEye; shutterstock/Peter Gudella

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-4768-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

DAS ANGENOMMENE KIND

KAPITEL 1

»Wie schlimm ist es? Und … wie kommt das so plötzlich?«

Ellinor stürzte aufgewühlt über den Flur der Intensivstation auf den ersten Arzt zu, der ihr über den Weg lief. Der Mediziner, ein noch recht junger Mann mit müden Augen, blickte sie irritiert an.

»Um wen geht es denn?«, erkundigte er sich und warf dann einen Blick durch die Glasscheibe auf das Patientenbett, neben dem ein Dialysegerät stand. »Ach, Frau Henning … das akute Nierenversagen … Gehören Sie zur Familie?«

Er musterte sie fragend. Äußerlich war keine Familienähnlichkeit zu erkennen. Ellinor hatte einen sehr hellen Teint, dunkelblondes Haar und grüne Augen. Karla war eher ein dunkler Typ.

Ellinor nickte. »Sicher … Ich meine, ja. Wir sind Cousinen zweiten Grades.« Sie nahm sich zusammen. »Bitte entschuldigen Sie, ich habe mich nicht mal vorgestellt. Aber ich … Karlas Mutter rief uns an und sagte, sie läge im Krankenhaus, und da bin ich sofort hergekommen. Ich wusste nur nicht … Intensivstation … und dann … Bitte sagen Sie mir, dass es nicht so schlimm ist, wie es aussieht!«

Als Ellinor an der Anmeldung im Foyer des Krankenhauses nach Karla Henning gefragt hatte, war sie auf die Intensivstation verwiesen worden. Dort hatte sie ihre in Tränen aufgelöste Tante im Gang vor den Krankenzimmern vorgefunden, offenbar unfähig zu begreifen, was mit ihrer Tochter geschah. Ellinor hatte sich an eine Schwester gewandt, die ihr vor dem Besuch bei ihrer Cousine in die Schutzkleidung geholfen hatte. Sie war sehr freundlich gewesen, hatte ihr aber keine näheren Auskünfte über Karlas Zustand geben können. Ellinor kämpfte jetzt noch gegen den Schock an, den sie empfunden hatte, als sie schließlich an das Bett getreten war. Sie hatte weniger all die Schläuche angsteinflößend gefunden, die ihre Cousine mit diversen Geräten verbanden, als den Anblick ihres aufgedunsenen, gelblich blassen Gesichts, die Ödeme und ihr rasselndes Atmen. Karla schien kaum bei Bewusstsein gewesen zu sein, nur ein Flackern ihrer Augenlider hatte einen schwachen Beweis dafür geboten, dass sie Ellinor erkannte. Sie hatte nicht reagieren können, als Ellinor ihre Hand genommen und leicht gedrückt hatte.

Ellinor war entsetzt über diesen raschen Verfall. Am Tag zuvor am Telefon war ihr die Cousine noch fast normal erschienen, hatte lediglich über Müdigkeit und krampfartige Schmerzen im Unterbauch geklagt. »Womöglich wieder die Nieren«, hatte sie seufzend gesagt. Karla litt unter Bluthochdruck und hatte schon früher einmal Nierenbeschwerden gehabt. Ellinor hatte ihr das Versprechen abgenommen, gleich am nächsten Tag zum Arzt zu gehen. Und dann war die Sache wohl eskaliert.

»Nun beruhigen Sie sich doch erst mal«, bemerkte der Arzt. »Frau …«

Ellinor fasste sich an die Stirn. »Sternberg, Ellinor Sternberg«, stellte sie sich endlich vor. »Bitte entschuldigen Sie. Ich bin einfach … ich bin total durcheinander. Mein Mann hat … er hat mir nicht gesagt, wie schlimm es ist …«

Tatsächlich hatte Gernot es nicht einmal für nötig gehalten, Ellinor auf dem Handy anzurufen, nachdem er den Anruf ihrer Tante entgegengenommen hatte. Er hatte nur einen Zettel auf dem Küchentisch für sie zurückgelassen, bevor er in sein Atelier gefahren war. Karla in Uniklinik. Du sollst dich mal kümmern.

Ellinor war daraufhin sofort losgefahren, wobei sie zunächst gar nicht an Karlas gestriges Unwohlsein gedacht hatte, sondern eher an einen Unfall.

»Es … es ist doch schlimm, oder?«, fragte sie jetzt leise.

Der junge Arzt sah sie mitfühlend an. »Es ist natürlich nicht schön«, sagte er freundlich. »Aber jetzt haben wir Frau Henning ja erst mal an die Dialyse angeschlossen, ihr Zustand sollte sich also bald bessern. Wie es dann allerdings langfristig aussieht …« Der Arzt rieb sich die Stirn. »Kommen Sie doch mit ins Büro«, forderte er Ellinor auf. »Wir müssen uns nicht hier auf dem Flur unterhalten.«

Ellinor folgte ihm zu einem Besprechungszimmer und kam sich dabei ziemlich dumm vor. Sie machte sicher nicht den besten Eindruck, dabei verstand sie sich eigentlich ganz gut darauf, mit Krisen umzugehen. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität managte sie diverse Verwaltungs- und Organisationsaufgaben, unterrichtete und betreute Projekte. Sie konnte gut mit Menschen umgehen und war durchaus multitaskingfähig. Nun allerdings verließ sie jede Gelassenheit. Karla war weit mehr für sie als eine Verwandte. Sie waren fast gleich alt, engste Freundinnen und standen sich nah wie Schwestern. Der Gedanke, Karla zu verlieren, war Ellinor unerträglich.

»Was hat sie denn nun genau?«, fragte Ellinor, als ihr der Arzt, der sich inzwischen als Dr. Bonhoff vorgestellt hatte, einen Stuhl anbot. Er selbst nahm an einem Schreibtisch Platz.

»Ihre Cousine leidet an einer akuten Nierenentzündung, einer Glomerulonephritis. Das bedeutet, dass die Nierenkörperchen es nicht mehr schaffen, die Abfallprodukte aus dem Blut zu filtern, was zu Vergiftungserscheinungen und zur Ödembildung führt. Es wird kein Harn mehr ausgeschieden. Bei Frau Henning nimmt die Erkrankung leider einen sehr schweren Verlauf, wir haben es zurzeit mit einem akuten Nierenversagen zu tun.« Der Arzt spielte mit einem Kugelschreiber.

»Aber das … das ist reversibel?«, erkundigte sich Ellinor. »Sie wird wieder gesund?«

Dr. Bonhoff spielte mit einem Rezeptblock auf dem Schreibtisch. »Vorerst bleiben wir da optimistisch«, meinte er vorsichtig. »Glomerulonephritis ist häufig heilbar. Es gibt allerdings Fälle, in denen die Behandlung nicht anschlägt. Bei Ihrer Cousine sehen wir bislang keine Besserung, das muss allerdings noch nichts heißen. Wir versuchen es auf jeden Fall weiter.«

»Und wenn nicht? Wenn es nicht hilft?«, fragte Ellinor entsetzt. »Sie … sie wird doch nicht sterben?«

Dr. Bonhoff schüttelte den Kopf. »Daran wollen wir zunächst nicht denken, es gibt noch sehr viele Dinge, die wir tun können«, erklärte er. »Wenn es zu chronischem Nierenversagen kommt, steht uns die regelmäßige Dialyse offen. Und eine Transplantation, wenn es gar nicht anders geht. Aber zunächst bleiben wir bei der begonnenen Behandlung. Frau Henning wird sich sicher bald besser fühlen.«

»Und woher kommt so was?«, fragte Gernot und hängte seinen Mantel an die Garderobe.

Er war gleichzeitig mit Ellinor nach Hause gekommen, aber im Gegensatz zu ihr war er zu Fuß unterwegs gewesen. Der typische Wiener Herbstregen hatte ihn völlig durchnässt, und er war dementsprechend schlecht gelaunt. Nichtsdestotrotz hatte ihm Ellinor schon im Treppenhaus aufgeregt von Karla erzählt, ohne wirklich großes Mitgefühl zu erwarten. Gernot und Karla mochten sich nicht besonders.

»Das wissen sie nicht.« Ellinor seufzte. »Es ist wohl eine Überreaktion des Immunsystems. Vielleicht durch eine Infektion ausgelöst … oder durch den hohen Blutdruck …«

»Ich hab immer gesagt, sie soll mehr Sport treiben«, bemerkte Gernot und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. »Sie ist ganz schön dick.«

Ellinor machte Anstalten, den von ihr am Morgen vorbereiteten Auflauf in den Ofen zu schieben. Gernot schüttelte jedoch den Kopf und wies sie aus der Küche. Ein paar Minuten später brachte er eine liebevoll arrangierte Platte mit Sandwiches, belegt mit Räucherlachs, verschiedenen Käsesorten und Mixed Pickles ins Wohnzimmer.

»Ich bin beim Feinkostgeschäft vorbeigekommen«, sagte er, als er ihren Blick sah. »Und ich konnte nicht widerstehen. Wir haben schließlich keine Gewichtsprobleme …« Er lächelte und musterte Ellinors Figur wohlgefällig.

Ellinor erwiderte das Lächeln. Sie fühlte sich geschmeichelt, und natürlich war das Essen eine wunderbare Überraschung – zumindest solange sie sich keine Gedanken darüber machte, was all die Leckereien gekostet hatten. Sie hätte mit dem Geld wahrscheinlich den Lebensmittelvorrat für eine ganze Woche bezahlen können. Nun ließ sie sich allerdings auch noch dazu verleiten, eine teure Flasche Wein zu öffnen. Etwas Gutes musste sie sich heute tun, seit dem Besuch im Krankenhaus fühlte sie sich wie gerädert.

»Karlas Bluthochdruck ist genetisch bedingt«, verteidigte sie dann ihre Cousine zum wiederholten Mal. Gernot wurde nicht müde, Zusammenhänge zwischen Karlas Erkrankung und ihrem Lebensstil ausfindig zu machen. »Sie raucht nicht, und sie ist nicht übergewichtig – nicht jeder kann so drahtig sein wie du …« Gernot hatte bei der Verteilung der Gene Glück gehabt. Er war schlank und muskulös. Mit seinem dunklen, vollen Haar, dem markanten Gesicht und den mandelförmigen braunen Augen war er ein äußerst gut aussehender Mann. »Karla ernährt sich gesund«, fuhr Ellinor fort. »Und fast salzlos. Sie kann nichts für den hohen Blutdruck, Gernot, sie hat nun mal diese Veranlagung.«

»Und warum hast du keine Blutdruckprobleme?«, fragte er provokant. »Ihr seid doch schließlich nah verwandt. Nein, nein, damit kannst du mir nicht kommen. Irgendwas ist da. Irgendwas macht sie falsch …«

Ellinor seufzte und gab auf. Sie würde Gernot nicht überzeugen können, er neigte dazu, starrsinnig an seinen Ansichten festzuhalten. Und in gewisser Weise war das ja gut so. Sie war stolz darauf, dass ihr Mann zu seinen Überzeugungen stand – auch wenn es ihm das Leben nicht immer leichter machte. Gernot war Künstler, Maler und Bildhauer, und es kam immer wieder vor, dass ihm Galerien und Agenten Vorschläge dazu unterbreiteten, wie er seine Werke gefälliger und damit besser verkäuflich gestalten könnte – indem er kleinere Leinwände benutzte zum Beispiel und nicht so düster malte. Dabei formulierten die meisten Kritiker sehr viel diplomatischer als Karla, die es nicht lassen konnte, sich über Gernots Kunst lustig zu machen.

»Wenn man sich so was an die Wand hängt, wird man depressiv«, hatte sie beim Besuch seiner letzten Ausstellung angemerkt. »Kein Wunder, dass das keiner kauft. Wer will denn ein Bild von trauertragenden Darmschlingen im Wohnzimmer? Zumal das Wohnzimmer mindestens Ballsaalgröße aufweisen müsste, um es aufzuhängen. Gernot malt für die Zielgruppe ›selbstmordgefährdete Schlossbesitzer‹. Und die ist ziemlich klein.«

Gernot ließ sich jedoch weder von Karlas bösartigen Schmähungen noch von der konstruktiven Kritik seiner Galeristen beeindrucken. Seine Zeit, davon war er überzeugt, würde kommen, und irgendwann würde seine Kunst sich durchsetzen. Solange hielt er an seinem Stil fest. Ich bin Künstler, kein Kunstgewerbetreibender, pflegte er abwertend zu bemerken, wenn ihn jemand danach fragte, ob er nicht ein Porträt von seinem Hund oder ein Bild von seinem Haus malen könne.

Ellinor bestärkte ihren Mann in der Ablehnung solcher Angebote, wenn auch mitunter etwas halbherzig. Natürlich war sie stolz, wenn Kritiker und Zeitungen nach einer Ausstellung lobende Worte für ihn fanden. Sie würde es dennoch begrüßen, wenn er etwas mehr zum Familieneinkommen beitrüge. Zurzeit lastete alles auf ihr, und es war ihr folglich fast unmöglich, Geld beiseitezulegen, um sich ihren dringendsten Wunsch vielleicht doch noch erfüllen zu können. Ellinor versuchte seit Jahren erfolglos, schwanger zu werden, und hoffte auf eine künstliche Befruchtung, bevor sie zu alt dafür war. Sie war siebenunddreißig, die Zeit wurde knapp. Bislang war es ihr allerdings nicht möglich gewesen, den zu leistenden finanziellen Eigenanteil aufzubringen, und sie konnte sich nur damit trösten, dass späte Schwangerschaften in ihrer Familie lagen. Auch bei ihrer Mutter war das so gewesen.

»Ich hab andere Probleme«, sagte sie jetzt. »Wahrscheinlich komme ich nach einem anderen Zweig der Familie. In diesem Fall ein Glück. Mein Blutdruck ist eher zu niedrig. Und jetzt schenk uns den Wein ein und erzähl mir von deinem Tag. Der kann eigentlich nur besser gewesen sein als meiner …«

Gernot erzählte wie gewohnt eher wenig und nicht gerade etwas Aufmunterndes. Statt in seinem Atelier zu arbeiten, wie Ellinor angenommen hatte, hatte er sich an diesem Nachmittag mit seiner Agentin getroffen, um diverse geplante Ausstellungen und Projekte zu besprechen. Gernot hielt große Stücke auf Maja, die ihn betreute, seit er sich einige Monate zuvor von seinem langjährigen Agenten und Galeristen getrennt hatte. Mit Maja arbeitete er nun nach eigenen Angaben großartig zusammen. Ellinor sah das eher skeptisch, aber sie wagte nicht anzumerken, dass die junge Frau bislang noch keine einzige größere Ausstellung für ihn arrangiert hatte. Schließlich interpretierte Gernot jede kritische Äußerung als Ausdruck von Eifersucht. Er gab zu, eine Beziehung mit Maja gehabt zu haben, bevor er Ellinor vor fünf Jahren geheiratet hatte. Inzwischen, so behauptete er, sei das längst vorbei, sie seien nur noch Freunde und Geschäftspartner. Karla hatte da jedoch ihre Zweifel und pflegte sie Ellinor gegenüber wortreich zu äußern: Du brauchst doch nur zu beobachten, wie sie Gernot ansieht! Und dass sie sich nicht einkriegt darüber, wie toll diese komischen Bilder sind. Sie schmiert ihm permanent Honig ums Maul. Maja will was von deinem Mann, deshalb hat sie ihn in ihre Kartei aufgenommen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er wieder anbeißt.

Ellinor verteidigte Gernot natürlich – sie glaubte an ihn, wollte an ihn glauben! Es konnte einfach nicht sein, dass Maja ihn nur deshalb vertrat, weil sie in ihn verliebt war. Die junge Frau hatte als Agentin Renommee, sie vertrat auch namhafte Künstler und würde ihren Ruf nicht für einen Klienten aufs Spiel setzen, von dessen Können sie nicht überzeugt war. Trotzdem blieben bei Ellinor Zweifel, und sie hatte den Verdacht, dass Gernot das wusste. Auf jeden Fall würde sie sich hüten, irgendetwas gegen Maja zu sagen. Gernot konnte sehr verletzend werden, wenn er glaubte, dass sie ihm nicht vertraute.

Am nächsten Tag lagen für Ellinor in der Uni nur Büroarbeiten an. Sie brauchte kein Seminar zu leiten und konnte sich folglich den Vormittag freinehmen, um zu Karla in die Klinik zu fahren. Natürlich hoffte sie auf eine positive Entwicklung, aber Dr. Bonhoff, der schon wieder oder immer noch Dienst hatte und noch erschöpfter wirkte als am Tag zuvor, konnte keine Entwarnung geben. Ellinor traf ihn auf dem Flur vor der Intensivstation, und wieder gab er freundlich Auskunft.

»Nach der Dialyse sieht es natürlich etwas besser aus mit Ihrer Cousine«, erklärte er. »Die Nieren arbeiten allerdings immer noch nicht. Tatsächlich breitet sich die Entzündung trotz der Therapie aus. Wir suchen fieberhaft nach der Ursache und versuchen es inzwischen auch mit Antibiotika, falls ein Infekt vorliegt. Aber ich fürchte, wir haben es mit einer chronischen Nierenerkrankung zu tun …«

»Es wird also auf eine Dialysebehandlung hinauslaufen?«, fragte Ellinor. Sie war gefasster als am Tag zuvor. »Alle … alle paar Tage?«

Der Arzt nickte bedauernd. »Ja«, meinte er dann. »Das Problem ist allerdings, dass Frau Henning auch die Dialyse sehr schlecht verträgt. Schon bei dieser ersten Behandlung sind Komplikationen aufgetreten – unter anderem eine hypertensive Krise, ein plötzlicher Blutdruckanstieg. Wir haben das in den Griff bekommen, nur langfristig … Ihre Cousine muss auf jeden Fall besonders überwacht werden, auch zwischen den Behandlungen.«

»Und eine Transplantation?«, erkundigte sich Ellinor. »Käme die infrage?«

Dr. Bonhoff nickte. »Das wäre sicher das Beste. Allerdings wird es nicht einfach sein, einen Spender zu finden. Auf die Liste von Eurotransplant haben wir sie vorsichtshalber schon mal setzen lassen, aber sie hat eine seltene Blutgruppe, und es gibt noch andere Parameter … Es wird jedenfalls nicht leicht. Tut mir leid, dass ich Ihnen da wenig Hoffnung machen kann.«

Ellinor fuhr sich durchs Haar. »Gibt es nicht auch … Warten Sie … Wie nennt man das? Lebendspenden? Dass irgendein Freund oder Verwandter dem Kranken eine Niere abgibt? Ich meine … man hat doch zwei …«

Dr. Bonhoff rieb sich die Schläfe, eine für ihn offenbar charakteristische Geste. »Das wäre eine Möglichkeit«, räumte er ein. »Und tatsächlich wurde Frau Hennings Mutter auch schon getestet. Die Ergebnisse stehen noch aus.«

»Und wie sind die Chancen?«, fragte Ellinor.

Dr. Bonhoff hob die Schultern. »Das kann man nicht sagen. Allerdings finden sich in der näheren Verwandtschaft recht häufig passende Spender. Wenn Sie möchten, können Sie sich ebenfalls testen lassen. Allerdings sollten Sie das nicht leichtfertig entscheiden. Es gibt neben der Operation an sich viele Risiken. Müdigkeit, Thrombose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen … Und natürlich die Gefahr, eines Tages selbst an einer Nierenerkrankung zu leiden und dann nur noch über ein Organ zu verfügen. Sie sollten sich das auf jeden Fall gut überlegen.«

Ellinor nickte, obwohl ihr Entschluss eigentlich schon feststand. Natürlich würde sie eine ihrer Nieren spenden! Wenn es irgendeine Möglichkeit gab, Karla zu helfen, dann würde sie es tun.

Sie fasste neuen Mut, als sie sich von Dr. Bonhoff verabschiedete und für eine erneute Begegnung mit Karla wappnete. Der Arzt hatte sie vorgewarnt, was deren Zustand betraf. Ihre Cousine war von der Behandlung geschwächt und mochte den Besuch vielleicht sogar verschlafen.

Tatsächlich fand Ellinor sie in nicht viel besserem Zustand vor als am Tag zuvor. Karla schien sie kaum zu erkennen. Ellinor zog nichtsdestotrotz einen Stuhl an das Krankenbett und begann tapfer, ein bisschen von ihrer Arbeit zu erzählen und kleine Scherze zu machen.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie schließlich mit einem Anflug von Galgenhumor. »Wir finden eine Lösung. Mit meinen Eierstöcken ist zwar nicht viel los, aber meine Nieren funktionieren ganz großartig!«

KAPITEL 2

»Du bist verrückt!« Gernot schüttelte verständnislos den Kopf, nachdem er endlich begriffen hatte, was Ellinor ihm sagen wollte. Sie war mit ihrem Entschluss, Karla eine ihrer Nieren zu spenden, nicht einfach herausgeplatzt, sondern hatte sich genau überlegt, wie sie ihrem Mann ihr Anliegen verständlich machen konnte. Das änderte allerdings nichts an seiner ablehnenden Reaktion. »Du willst dich aufschneiden lassen, deine Gesundheit ruinieren, eine riesige Narbe in Kauf nehmen …« Gernot unterstrich seine Rede mit theatralischen Gesten.

»Die Narbe ist ja wohl das geringste Problem!«, unterbrach ihn Ellinor. »Man wird sie kaum sehen. Und sonst … Ich hab das nachgelesen, Gernot, es kommt eher selten zu Komplikationen. Die OP ist nicht sehr kompliziert. Und man kann gut mit nur einer Niere leben.«

»Klar. Deshalb hat die Natur auch dafür gesorgt, dass wir zwei haben!«, höhnte Gernot. »Das ist Irrsinn, Ellinor, das kannst du nicht machen.«

»Es könnte Karla das Leben retten!«, beharrte Ellinor. »Selbst wenn ich hinterher ein paar Beschwerden haben sollte, wäre es das wert!«

»Ein paar Beschwerden!« Gernot griff sich an die Stirn. »Wir reden nicht von Kopfschmerzen ab und zu, sondern von ganz massiven gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Die du leichtfertig auf dich nehmen willst, nur um deiner Cousine ein paar Unannehmlichkeiten zu ersparen. Natürlich ist das kein Spaß, wenn man alle paar Tage zur Blutwäsche muss. Aber andere stecken das auch weg. Man kann mit der Dialyse leben, Ellinor. Das beweisen täglich Millionen Menschen auf der ganzen Welt.«

»Karla kann das offenbar nicht!«, wandte Ellinor ein.

Gernot verzog das Gesicht. »Deine geliebte Karla braucht ja bei allem eine Extrawurst«, bemerkte er. »Da solltest du mal drüber nachdenken. Sie nutzt dich aus!«

Ellinor hätte beinahe gelacht, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Genau der Vorwurf war es nämlich, den Karla gegen Gernot vorzubringen pflegte. Sie war überzeugt davon, dass er seine Frau ausnutzte. Schließlich lebte er in ihrer Wohnung von ihrem Geld. Aber das konnte Ellinor nun unmöglich zur Sprache bringen!

»Karla ist kaum bei Bewusstsein!«, erklärte sie empört. »Das Letzte, was man ihr vorwerfen kann, ist, irgendjemanden auszunutzen. Wahrscheinlich würde sie sogar versuchen, es mir auszureden. Bestimmt will sie gar nicht, dass ich …«

»Dass du dich für sie aufopferst?«, fragte Gernot melodramatisch. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Sich für jemanden zu opfern ist schließlich der ultimative Liebesbeweis, der …«

»Liebesbeweis? Du spinnst!« Ellinor schüttelte den Kopf. »Du hörst dich an, als wärest du eifersüchtig. Aber ja, ich liebe Karla. Sie ist sozusagen … mein zweites Ich, meine Schwester, meine Seelenverwandte. Wir sind zusammen aufgewachsen, wir haben immer alles gemeinsam gemacht. Bis …«

Bis sie mit Gernot zusammengekommen war. Ellinor biss sich auf die Lippen. Ihre Beziehung mit Gernot hatte das Verhältnis zwischen ihr und Karla abkühlen lassen – ohne dass die gegenseitige Zuneigung darunter gelitten hatte. Ellinor nahm Karla nicht mal übel, dass sie Gernot so harsch kritisierte, aber sie trafen sich jetzt einfach seltener. Karlas Lebensgefährte Sven konnte Gernot ebenfalls nicht leiden. Abende zu viert, wie mit früheren Freunden der beiden Frauen, fielen also weg.

»Jedenfalls fahre ich jetzt noch mal in die Klinik«, beendete Ellinor schließlich die fruchtlose Diskussion. »Ich lasse mir Blut abnehmen. Wir können ja noch mal drüber reden, wenn ich weiß, ob ich als Spenderin infrage komme.«

Ellinor war immer noch ziemlich aufgebracht, als sie ihr Auto in Richtung Krankenhaus lenkte. Es fiel ihr schwer, sich nicht über Gernots Reaktion zu ärgern. Natürlich lehnte er Karla ab, und diese ließ ihn ihre Antipathie ebenfalls mehr als deutlich spüren. Man musste aber fairerweise einräumen, dass Gernot es Karla und Sven nicht gerade leicht gemacht hatte, ihn zu mögen. Schon beim ersten Treffen zu viert hatte er sich arrogant und ungeduldig gezeigt, hatte die freundlichen Fragen der anderen zu seiner Arbeit spöttisch und desinteressiert beantwortet und alle sonstigen Gesprächsthemen als spießig abgetan. Spießig war auch die Wahl des Restaurants, in dem man sich getroffen hatte, spießig war Karlas und Svens Auftreten. Ihre Berufe – Karla war Lehrerin und Sven Polizeibeamter – waren völlig unannehmbar.

Ellinor seufzte. Gernot war zweifellos manchmal brüsk, und sie war oft erschrocken, wie hartherzig er sein konnte. Andererseits war sie überzeugt davon, dass Verletzlichkeit hinter seinem Auftreten steckte. Seine Ablehnung ihrer Nierenspende zum Beispiel … Gernot war auf seine Art sensibel und sehr auf ein perfektes Äußeres bedacht. Allein der Gedanke, ihren Körper durch eine Narbe verunstaltet zu sehen, musste ihn erschrecken. Es war nicht einfach, mit einem Künstler zusammen zu sein, Gernot hatte seine Launen, seine Empfindlichkeiten – aber gerade das machte ihn interessant. Der Sex mit ihm war intensiver, als Ellinor ihn je mit einem anderen empfunden hatte. Gernot war fantasievoll, aufregend, sie liebte seinen Körper, seine Geschmeidigkeit, die Liebkosungen seiner sehnigen Hände.

Ellinor lächelte, als sie daran dachte, wie er sie am Anfang ihrer Beziehung oft mit Finger- oder Lebensmittelfarben bemalt hatte, bevor sie sich liebten. Sein »Kunstwerk« hatte er sie damals genannt und sie ermutigt, es ihm gleichzutun. Er hatte über die »Kriegsbemalung« gelacht und dann angelegentlich mit ihr darüber diskutiert, ob die Liebe zwischen Mann und Frau der ultimative Ausdruck von Frieden war oder eher die intensivste Form des Geschlechterkrieges, in dem einer versuchte, den anderen zu dominieren.

Mit Gernot konnte man die spannendsten Gespräche führen. Am Anfang ihrer Beziehung hatte Ellinor geglaubt, sie würden gemeinsam ein endloses Abenteuer erleben. Inzwischen hatte sich das etwas abgenutzt, es herrschten Alltag und Routine. Trotzdem gab es immer noch Tage oder häufiger Nächte, in denen Gernot ihre Welt zu etwas ganz Besonderem machte. Als Karla und Ellinor sich einmal darüber unterhalten hatten, hatte ihre Cousine gesagt, dass Liebe für sie vor allem Wärme bedeute, Wärme und Geborgenheit, gespendet vom jeweils anderen – Zärtlichkeit auf einem flauschigen Teppich vor einem flackernden Kaminfeuer hatte sie damit assoziiert. Ellinor dagegen sah sich mit Gernot eher in einem Ring aus Flammen und Glut. Das Feuer konnte verhalten glühen, aber dann auch wieder auflodern, es konnte wärmen, doch ebenso verbrennen, es konnte Glück bedeuten oder Schmerz …

Als Ellinor im Krankenhaus ankam, hatte sie sich erfolgreich davon überzeugt, dass das Glück mit Gernot die Enttäuschungen bislang immer überwogen hatte. Und es würde noch sehr viel schöner werden, wenn sie endlich ein Kind hätten. Etwas unglücklich passierte sie ein Schild, das zur Entbindungsstation wies. Sie wünschte sich so sehr ein eigenes Baby, und sie war davon überzeugt, dass Gernot als Vater ausgeglichener werden würde. Gerade er, der immer so darauf aus war, der Welt seinen Stempel aufzudrücken, der sich wünschte, dass »etwas von ihm bliebe«, wie er es auszudrücken pflegte. Ein Kind wäre etwas so viel Größeres als ein paar düstere Pinselstriche auf einer riesigen Leinwand.

Seufzend klingelte Ellinor an der Intensivstation und fragte eine Schwester nach Dr. Bonhoff. Sie folgte ihr zum Arztzimmer und hörte gleich ihr bekannte Stimmen. Als sie durch die angelehnte Tür hineinspähte, erkannte sie nicht nur Dr. Bonhoff, sondern auch Karlas Mutter Marlene und ihre eigene Mutter.

»Es tut mir wirklich sehr, sehr leid«, sagte Dr. Bonhoff gerade. Ellinors Mutter reichte Marlene ein Taschentuch. »Die Werte passen überhaupt nicht zusammen, Sie kommen als Spenderin für Ihre Tochter absolut nicht infrage und Ihr Mann leider auch nicht.« Karlas Vater hatte sich am Abend zuvor ebenfalls testen lassen. »Aber nun weinen Sie doch nicht, es ist ja noch längst nicht alles verloren.« Marlene schluchzte unaufhaltsam. »Schauen Sie, es gibt ja noch Eurotransplant«, fuhr Dr. Bonhoff fort. »Es kann sich jederzeit ein Spender finden. Und vielleicht sind da andere Familienangehörige. Frau … äh … Sternberg will sich zum Beispiel testen lassen …«

Ellinor wollte die Erwähnung ihres Namens eben zum Anlass nehmen, einzutreten und ihre Absicht noch einmal zu bestätigen, als ihre Mutter dem Arzt ins Wort fiel.

»Wer? Ellinor? Meine Tochter will eine Niere spenden?«

Sie klang alarmiert, ganz anders, als Ellinor erwartet hätte. Ihre Mutter stand Karla sehr nah, sie hatte ihre Nichte gemeinsam mit Ellinor aufgezogen. Karlas Eltern, die einen Betrieb führten, hatten wenig Zeit für ihre Tochter gehabt.

»Bei Cousinen ist das durchaus möglich«, erläuterte Dr. Bonhoff. »Und Sie selbst als ihre Tante, Frau …«

»Ranzow, Gabriele Ranzow …«

»… Frau Ranzow, kommen natürlich auch infrage. Wenn Sie möchten, nehmen wir Ihnen gleich Blut ab.«

»Auf keinen Fall!« Gabrieles Stimme klang so schrill, als wollte sie sich bald überschlagen. »Also erst mal bin ich nicht direkt Karlas Tante. Ihre Mutter und ich sind auch nur Cousinen. Und dann … Also ich kann das nicht machen und meine Tochter ebenfalls nicht! Haben Sie … haben Sie sie überhaupt schon über die Gefahren eines solchen Eingriffs informiert? Über … über die Risiken …?«

Es klang eigentlich nicht so, als stünden Ellinors Mutter konkrete Risiken vor Augen. Eher schien sie krampfhaft nach Argumenten gegen eine Nierenspende ihrer Tochter zu suchen.

Ellinor entschloss sich einzugreifen. Sie betrat das Zimmer.

»Guten Tag, zusammen. Und Mama … Was ich tue oder lasse, musst du mir schon selbst überlassen!«, erklärte sie entschieden. »Tante Marlene, dein Test hat ergeben, dass du als Spenderin nicht geeignet bist? Genauso wenig wie Onkel Franz?«

Karlas Mutter nickte. Sie sah schrecklich blass aus, ihre Augen waren vom Weinen gerötet. »Ich hätte … ich hätte es so gern gemacht«, flüsterte sie. »Und Franz natürlich auch. Sogar Sven hat sich testen lassen …«

Ellinor legte ihr die Hand auf die Schulter. »Das weiß ich doch«, sagte sie sanft. »Ich mache es auch gern. Ich lasse mir gleich Blut abnehmen. Dann sehen wir morgen, ob es geht.« Sie lächelte. »Ich bin da übrigens ganz optimistisch. Karla und ich waren schon immer ein Herz und eine Seele. Da können wir doch auch ein Herz und eine Niere werden.«

Dr. Bonhoff erwiderte das Lächeln. »Sie haben sich das wirklich genau überlegt?«, fragte er noch einmal.

Ellinor nickte. »Sicher, ich …«

»Sicher ist da gar nichts«, unterbrach ihre Mutter, die sich inzwischen wohl von dem Schreck über Ellinors plötzliches Auftauchen erholt hatte. »Meine Tochter und ich werden über diese Sache noch einmal reden. Bitte entschuldigen Sie uns, Herr Doktor. Marlene … ich lasse dich ungern allein, aber ich … Wir trinken jetzt einen Kaffee zusammen, Elin, und dabei werde ich dir diese Geschichte ausreden …« Entschlossen stand sie auf.

Ellinor blickte unsicher zwischen den Anwesenden hin und her. Ein solches Auftreten kannte sie nicht von ihrer Mutter. Sie war selten streng und nie dogmatisch gewesen und hatte eigentlich ein gutes Verhältnis zu ihr und zu Karla. Diese kategorische Ablehnung, zu helfen, selbst wenn damit ein kleines Risiko verbunden war, kam so völlig unerwartet … Ellinor beschloss, sich die Argumente ihrer Mutter wenigstens anzuhören.

»Gehen Sie nur.« Dr. Bonhoff erhob sich ebenfalls. »Wir können Ihnen auch später noch Blut abnehmen. Sie sollen sich vor allem sicher sein. Auf keinen Fall wollen wir Sie zu irgendetwas überreden. Und Sie, Frau Henning, kommen jetzt erst mal mit zu Ihrer Tochter. Der geht es heute Nachmittag sehr viel besser. Sie hat sich ein bisschen von der Dialyse erholt und ist wieder voll ansprechbar. Sie können mit ihr reden … Bestimmt freut sie sich über den Besuch.«

Während Marlene dem Arzt folgte, ging Ellinor mit ihrer Mutter in die Cafeteria des Krankenhauses. Sie versuchte, gleich das Gespräch auf die Spende zu bringen, aber Gabriele ging nicht darauf ein.

»Natürlich liegt mir Karla am Herzen«, sagte sie, als Ellinor irgendwann von Erklärungen zu Vorwürfen überging. »Und ich weiß, wie viel sie dir bedeutet. Dennoch … Ein Organ spenden, dich aufschneiden lassen, dich …«

Ellinor rührte entnervt in ihrem Kaffee, während Gabriele weiter lamentierte. Sie ging sogar so weit anzuführen, dass Ellinors Vater das sicher nicht billigen würde. Dabei waren Gabriele und Georg Ranzow seit Jahren geschieden und gewöhnlich wie Hund und Katze. Tatsächlich fühlte Ellinor sich bei dem Gespräch mit ihrer Mutter sehr an ihre Auseinandersetzung mit Gernot erinnert – nur dass Ellinor seine Einwände erwartet hatte, während Gabrieles Ablehnung sie enttäuschte. Schließlich beschloss sie, ihr das auch zu sagen.

»Wie kannst du nur derartig herzlos sein!«, griff sie ihre Mutter an. »Es ist fast, als wäre es dir egal, was aus Karla wird. Mama, wenn sie keine neue Niere bekommt, könnte sie sterben! Ich dachte … also eigentlich hatte ich gedacht, du wärst die Erste, die mich ermutigt, ihr zu helfen. Aber du redest von Narkoserisiken und Narben und allem möglichen Zeug. Dabei weißt du gar nichts über Nierentransplantationen. Was du da alles erzählst … du hast keine Ahnung. Oder hast du dich irgendwo kundig gemacht? Im Internet vielleicht?«

Die Frage war etwas hinterhältig. Tatsächlich war der Argumentation ihrer Mutter leicht zu entnehmen, dass ihr keinerlei medizinische Kenntnisse zugrunde lagen.

»Ich hab mehr Ahnung, als du denkst!«, gab diese zurück, wirkte aber plötzlich hilflos. »Ich … ich … ich hab jedenfalls meine Gründe … Und es … es ist auch gar nicht gut, der Natur so ins Handwerk zu pfuschen …«

Ellinor schlug die Augen gen Himmel. Gabrieles Vorbehalte verblüfften sie immer mehr. »Was ist das denn jetzt für ein Argument?«, brauste sie auf. »Also wenn’s danach geht, dürfte Karla auch nicht zur Dialyse, dann müssten wir der Natur einfach ihren Lauf lassen. Was ist bloß los mit dir, Mama? Du bist doch sonst nicht so … so …« Sie brach ab. Für sie war das Gespräch beendet. »Ich hab jetzt jedenfalls genug von der Diskutiererei. Ich gehe zu Dr. Bonhoff und sage ihm, dass ich mich entschieden habe. Dann wissen wir wenigstens, woran wir sind. Wenn ich als Spenderin infrage komme, können wir immer noch weiterstreiten.«

Gabrieles Gesicht nahm einen verzweifelten Ausdruck an. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und biss sich auf die Lippen. »Dann lass dich von mir aus testen!«, sagte sie. Es klang nicht mehr so aggressiv, eher resigniert. »Doch ich sag dir gleich, es wird nichts dabei herauskommen. Wahrscheinlich habt ihr nicht mal dieselbe Blutgruppe, von anderen Gemeinsamkeiten ganz zu schweigen …«

Ellinor blickte ihre Mutter verwundert an. »Wieso bist du dir da so sicher?«, erkundigte sie sich. »Okay, wir sind nur Cousinen zweiten Grades. Aber das ist doch trotzdem ein relativ naher Verwandtschaftsgrad.«

Gabriele schüttelte den Kopf und ließ die Schultern sinken, als hätte sie einen Kampf verloren. »Nein, Elin«, sagte sie leise. »Tut mir leid, dass du es so erfahren musst. Wir hätten es dir und Karla früher sagen müssen, aber es hat einfach keiner mehr daran gedacht … Es schien so völlig unwichtig zu sein. Tatsächlich sind wir, du und ich, mit Marlenes und Karlas Familie nicht blutsverwandt. Meine Mutter war ein angenommenes Kind.«

»Sie war was?« Ellinor runzelte die Stirn, völlig verwirrt über Gabrieles Geständnis. »Sie war adoptiert, wolltest du sagen?«

Gabriele schüttelte den Kopf. »Nein. Eher eine Art … hm … Pflegekind. Jedenfalls hatte sie einen anderen Nachnamen als ihre Geschwister. Ich bin darauf gestoßen, als ich irgendwann mal ihren Pass in die Hand bekam. Dana war keine geborene Parlov, sondern hieß … warte mal, wie war das noch … Vlašić …«

»Klingt ebenfalls slawisch«, sagte Ellinor, schon um überhaupt irgendetwas zu sagen. Die Eröffnung ihrer Mutter machte sie beinahe sprachlos. »Und du meinst … dir hat es auch niemand erzählt? Warum denn nicht? Was gab es denn da zu verbergen?«

Gabriele zuckte mit den Schultern. »Es gab sicher nichts zu verbergen. Jedenfalls sollte man es nicht so ausdrücken. Das klingt schließlich, als hätte man ein großes Geheimnis daraus gemacht. Als ob sich jemand dafür schämte oder als ob irgendwas Dramatisches dahintersteckte. Dabei glaube ich, dass es einfach nur allen egal war. Du weißt doch noch, wie eng Oma Dana und ihre Schwestern zusammengehalten haben. Sie hat sich nie wie eine Fremde gefühlt in der Familie. Nur der andere Name störte, hat sie mir gesagt, nachdem ich es herausgefunden hatte. Du darfst mir glauben, ich war damals genauso schockiert über die Heimlichtuerei wie du jetzt. Oma und Opa Parlov haben noch gelebt. Dana meinte jedenfalls, sie hätte sich immer Parlov genannt, weil sie so gern genauso heißen wollte wie ihre ›Schwestern‹. In der Schule hat sie dafür manchmal Ärger bekommen. Als dann alle heirateten, relativierte es sich, weil jede einen anderen Nachnamen bekam und keiner mehr daran dachte, dass Dana irgendwann nicht ganz dazugehört hatte. Es ist ja auch nicht wirklich wichtig – wenn es nicht gerade um eine Nierentransplantation geht. Ich hätte es dir längst erzählen sollen, aber als du jetzt so plötzlich mit der Spende anfingst, hab ich kalte Füße gekriegt. Wenn die Blutprobe analysiert wird, kommt doch sicher heraus, dass ihr nicht verwandt seid, oder?« Sie sah Ellinor Verständnis heischend an. »Na ja, jetzt weißt du es. Und … wenn du dir jetzt trotzdem Blut abnehmen lassen willst, dann tue ich es natürlich auch. Ich würde Karla genauso gern helfen wie du. Glaub mir, ich … ich würde ihr sofort eine Niere spenden. Es ist nur sehr unwahrscheinlich, dass die Testergebnisse positiv sind.«

Auch wenn die Chancen schlecht standen, aufgeben würde Ellinor so schnell nicht. Sie war nur ziemlich verwirrt. Trotzdem wollte sie Karla unbedingt noch sehen und sich anschließend auf jeden Fall testen lassen.

Erneut machte sie sich auf den Weg zur Intensivstation – und traf dort einen unerwartet aufgeregten Dr. Bonhoff. Der Arzt hielt einen Ausdruck mit Blutwerten in der Hand und diskutierte ihn lebhaft mit einer Krankenschwester. Ellinor hörte Worte wie »Kreatininwert« und »glomeruläre Filtrationsrate«, ohne ihre Bedeutung zu verstehen, aber Dr. Bonhoff wandte sich ihr direkt zu, als er sie sah.

»Frau Sternberg, es gibt gute Nachrichten!«, erklärte er. »Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, aber der Zustand Ihrer Cousine verbessert sich weiter. Wir vermuten, dass sie endlich auf die Medikamente anspricht, die wir ihr geben. Jedenfalls besteht Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Vielleicht erholen sich die Nieren … Wollten Sie jetzt zu mir, wegen des Bluttests?«

Ellinor nickte, informierte den Arzt jedoch auch über das Geständnis ihrer Mutter.

»Und weder Sie noch Ihre Cousine hatten die leiseste Ahnung?«, fragte der Arzt kopfschüttelnd. »Was für eine Geschichte! Da werden Sie ja einiges aufzuarbeiten haben in der nächsten Zeit, oder? Sie wollen der Sache doch bestimmt auf den Grund gehen.«

Ellinor nickte. Sie würde Karla nicht gleich mit der Angelegenheit konfrontieren, es war sicher nicht gut für sie, wenn sie sich aufregte. Aber wenn es ihr besser ging, würde sicher auch sie wissen wollen, was es mit ihrer Herkunft auf sich hatte. Wobei Karlas Abstammung natürlich nicht fraglich war, Marlene war unzweifelhaft eine Parlov. Dana dagegen, Ellinors Großmutter …

Ellinor beschloss, den Spuren des angenommenen Kindes zu folgen.

KAPITEL 3

Ellinor begann ihre Suche in Marlenes Elternhaus, das heute von Karlas einzigem Onkel und seiner Familie bewohnt wurde. Es war ein kleines Haus im Wiener Stadtteil Nussdorf, einem traditionellen Weinbaugebiet. Guran Parlov, den Ellinor bislang für ihren Urgroßvater gehalten hatte, hatte es 1915 für seine Familie gebaut, und er war ungeheuer stolz darauf gewesen. Ellinor wusste aus den Erzählungen ihrer Großmutter, dass er aus Dalmatien nach Wien gekommen war und in seiner Heimat unter sehr ärmlichen Umständen gelebt hatte. Niemals hätte er es für möglich gehalten, irgendwann zum Hausbesitzer aufzusteigen. Allerdings war er wohl ein sehr tüchtiger Arbeiter gewesen und hatte viel vom Weinbau verstanden. So hatte er in Wien schnell Arbeit auf einem namhaften Weingut gefunden und sich dort im Laufe weniger Jahre zum Vorarbeiter hochgedient.

Sowohl er als auch seine Frau Milja hatten jeden Schilling gespart, bis es tatsächlich zu einem Stück Land und einem kleinen Haus reichte. Es war Gurans und Miljas ganzer Stolz gewesen, und noch heute hielt die Familie es in Ehren. Ein Verkauf hatte nie zur Debatte gestanden. Friedrich Parlov betrieb in Nussdorf eine gut gehende Zahnarztpraxis und investierte ständig in den Erhalt des Parlov’schen Familiensitzes. Er hatte ein gutes Verhältnis zu seinen Schwestern, Vettern und Cousinen – Ellinor erinnerte sich an viele Sommertage, die sie im Laufe ihrer Kindheit in der ländlichen Umgebung des kleinen Hauses verbracht hatte.

Gundula, Friedrichs Frau, war gastfreundlich und herzlich. Sie lud Ellinor sofort zum Kaffee ein, als sie am darauffolgenden Wochenende anrief und nach Familienerinnerungen fragte. Der duftende Zitronenkuchen, den die lebhafte, etwas rundliche Frau mit den freundlichen blauen Augen bei Ellinors Eintreffen aus dem Ofen holte, weckte bei ihr gleich Erinnerungen an die Kindheit. Begeistert aß sie ein großes Stück, während sie Gundula von den Geheimnissen um ihre Großmutter Dana berichtete. Sie stieß auf größte Verwunderung. Auch Gundula hatte Gabriele und Ellinor stets für Blutsverwandte ihres Mannes gehalten. Jetzt wollte sie allerdings erst einmal alles über Karlas Zustand hören.

»Wir hätten uns natürlich auch wegen einer Nierenspende testen lassen«, erklärte sie. »Jedenfalls Friedrich und die Kinder, ich käme ja ebenso wenig infrage wie du.«

Ellinor war mehr als erleichtert, versichern zu können, dass dies wahrscheinlich nicht mehr nötig war. Karla erholte sich weiterhin gut – ansonsten hätte Ellinor auch kaum die Energie aufgebracht, jetzt schon mit der Suche nach ihren Wurzeln zu beginnen. Karla lag inzwischen nicht mehr auf der Intensivstation, und Ellinor hatte ihr von Gabrieles Enthüllungen erzählt. Erwartungsgemäß traf das auf größtes Interesse, Karla wartete voller Spannung auf die ersten Ergebnisse von Ellinors Nachforschungen.

»Wenn es noch irgendwelche Unterlagen gibt, dann sicher auf dem Speicher in Onkel Friedrichs Haus«, hatte sie eifrig erklärt. »Ich wünschte, ich könnte dir suchen helfen. Wer weiß, was du noch rausfindest über Oma Dana. Vielleicht ist sie ja ein Adelsspross, eine verfolgte und bei den Parlovs versteckte Prinzessin …« Karla hatte schon immer eine lebhafte Fantasie gehabt.

Ellinor hatte über die Spekulationen nur lachen können. »Wohl eher ein uneheliches Kind oder ein Findelkind«, hatte sie realistischere Überlegungen angestellt. »Wahrscheinlich aus der näheren Verwandtschaft. Sonst gäbe es ja keinen Grund für eine ohnehin schon große und bitterarme Familie, sich mit einem weiteren Esser zu belasten.«

»Dann sind wir unter Umständen doch verwandt!«, hatte Karla gesagt. »Du musst das unbedingt rausfinden. Hoffentlich hat Tante Gundula nicht schon alle Unterlagen der Urgroßeltern weggeschmissen. Ich meine Geburtsurkunden und so was.«

Gundula schüttelte entschieden den Kopf, als Ellinor diese Sorge äußerte.

»Also weggeworfen haben wir gar nichts«, versicherte sie. »Die Papiere der Parlovs sind noch da, auch Fotos. Das sind schließlich Zeitdokumente. Friedrich hat immer überlegt, das Zeug mal zu sichten und eventuell dem Stadtarchiv zu spenden. Jedenfalls liegt alles in einer Truhe, bestimmt etwas muffig, aber unversehrt. Das Ding steht auf dem Speicher. Wir können die Unterlagen runterholen.«

Gundula fand einen Karton, und tatsächlich wusste sie genau, wo in dem Durcheinander aus alten Möbeln, Kinderspielzeug und ausrangierten Kleidern die Truhe zu finden war. Ellinor klappte den schweren Deckel auf und förderte als Erstes ein Fotoalbum zutage, dann Zeugnisse und Dokumente. Das Erste, was ihr in die Hände fiel, gehörte zu Guran Parlov selbst, eine Geburtsurkunde. Das Papier war vergilbt und brüchig und wohl von einem Priester ausgestellt worden statt wie in späteren Zeiten von einem Standesbeamten.

»Pijavićino«, las sie langsam den Namen des Ortes, an dem der Ahnherr der Familie das Licht der Welt erblickt hatte. »Hast du eine Ahnung, wo das liegt?«

Zu ihrer Überraschung nickte Gundula. »Hab ich. Ich war sogar schon da. Friedrich hat es nämlich auch ein bisschen mit der Suche nach seinen Wurzeln, deshalb haben wir mal in Dalmatien Urlaub gemacht. Er wusste von seiner Mutter, dass die Familie von der Halbinsel Pelješac stammt. Die gehörte zu Zeiten von Großvater Guran noch zur K.-u.-k.-Monarchie, also zu Österreich. Heute ist ein Teil davon kroatisch, ein anderer gehört zu Montenegro. Wir waren in Kroatien und haben das Dorf besucht, aus dem Guran und Milja kamen. Es liegt im Inland und ist bekannt durch den Weinbau. Guran hat sicher von Kindheit an in den Weinbergen gearbeitet. Kein Wunder, dass er so viel darüber wusste.«

»Kam es denn häufig vor, dass die Leute von dort abwanderten?«, fragte Ellinor.

Gundula zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. So tief gegraben hat Friedrich nicht. Wir sprechen ja auch kein Wort Kroatisch. Wir sind einfach mal hingefahren, haben es uns angesehen, ein paar Flaschen Wein gekauft, und das war’s dann. Kroatien ist sehr schön, wir hatten ein hübsches Hotel an der Küste.«

Ellinor legte die Geburtsurkunde in den Karton und weitere Papiere, die ihr interessant erschienen, obwohl sie ihre Bedeutung noch nicht genau zuordnen konnte. Das Land hatte also damals zu Österreich gehört, dennoch waren nur wenige der Schriftstücke auf Deutsch abgefasst. Neben diversen amtlichen Urkunden und Schreiben fand sie Briefe. Einem davon schenkte Ellinor sofort besondere Aufmerksamkeit. Er war auf dickem und noch sehr gut erhaltenem Papier mit einem aufwendig gestalteten Briefkopf verfasst. Weinreben und -berge umrahmten einen Schriftzug, den man nicht entziffern konnte. Die Schmuckelemente legten allerdings nahe, dass es sich um den Namen eines Weinguts oder eines Winzers handelte. Zu Ellinors Überraschung war der Brief selbst in deutscher Sprache abgefasst.

»Das ist ein Empfehlungsschreiben!«, sagte sie erstaunt, nachdem sie die Grußfloskeln überflogen hatte und zum eigentlichen Inhalt des Briefes kam. »Offenbar von einem Winzer. Der Verfasser legt dem Empfänger einen hervorragenden Arbeiter ans Herz. Er zeichnet sich sowohl durch Fleiß als auch durch Umsicht und Kenntnisreichtum aus und ist bei der Arbeit im Weinberg ebenso wie beim Keltern des Weines von größtem Nutzen. Guran Parlov ist willig und verständig, gehorsam und treu. Er ist ehrlich und lebt in christlicher Ehe mit Milja, die bei der Hausarbeit und als Kinderfrau brauchbar ist sowie eine Ausbildung als Dienerin genossen hat.«

Gundula nahm Ellinor interessiert das Schriftstück aus der Hand. »Eine Art Zeugnis«, konstatierte sie. »Für Großvater Guran und seine Frau. Ist ja interessant. Die Parlovs haben ihr Dorf anscheinend mit dem Segen ihres Arbeitgebers verlassen. Dabei hätte ich gedacht, dass Landarbeiter in diesen Zeiten fast noch wie Leibeigene gesehen wurden. Ich hab immer angenommen, dass man bei Nacht und Nebel verschwinden musste, wenn man sich irgendwo anders ein besseres Leben erhoffte.«

Ellinor nickte. »Ich auch. Zumal sich der Brief nicht liest, als wäre der Winzer froh gewesen, Guran loszuwerden. Im Gegenteil, er scheint ihn sehr geschätzt zu haben. Guran hat sich dann ja auch in Österreich bewährt. Warum trennt man sich von einem so guten Arbeiter?«

»Vielleicht hat der Österreicher den Mann aus Dalmatien um eine Empfehlung gebeten?«, fragte sich Gundula. »Obwohl … also logisch wäre das nicht, es gab hier garantiert ebenso gut ausgebildete Arbeitskräfte, die nicht erst Deutsch lernen mussten.«

»Und dann hätte der Verfasser auch Bezug auf die Anfrage genommen«, fügte Ellinor hinzu. »Stattdessen spricht er von einem Anliegen, das er an den Adressaten richtet. Er bittet den Wiener Winzer Alfred Erlmeier, Guran eine Anstellung auf seinem Weingut zu geben.«

Gundula sah weitere Papiere durch. »Was der dann tatsächlich getan hat«, stellte sie fest. »Guran hat sein ganzes Leben bei Erlmeier gearbeitet, zu beidseitiger größter Zufriedenheit. Was beweist, dass der dalmatinische Winzer nicht übertrieben hat in seinem Schreiben. Er hat ihn nicht weggelobt. Wie hieß der überhaupt?«

»Maksim Vlašić«, entzifferte derweil Ellinor. »Und Vlašić … Tante Gundula, das war der Name, den Mama genannt hat! Oma Danas Mädchenname! Das kann kein Zufall sein!«

Gundula schüttelte den Kopf und griff gespannt nach dem Brief. »Nein«, sagte sie. »Da lag mit ziemlicher Sicherheit ein Handel vor: Guran und Milja haben Maksim Vlašić sein uneheliches Kind abgenommen, dafür hat der ihnen eine bessere Anstellung in Österreich verschafft. Fragt sich nur noch, ob die Auswanderung Gurans oder Vlašić’ Idee war.«

»In diesem Fall hätte das Kind nur nicht Vlašić geheißen«, gab Ellinor zu bedenken. »Es hätte den Nachnamen der Mutter gehabt. Lass uns einfach noch mal weitersuchen. Bisher vermuten wir lediglich, dass der Umzug der Parlovs nach Wien mit Dana zu tun hatte. Wer ihre Eltern waren, geht aus dem Brief nicht hervor und auch nicht, was sie mit den Parlovs verband. Die Theorie mit dem ›Handel‹ ist schließlich ziemlich weit hergeholt. Wer kommt denn auf so eine Idee?«

»Vor hundert Jahren war man mit Kindern nicht zimperlich«, bemerkte Gundula. »Wer unerwünscht war, wurde ohne große Überlegung irgendwohin in Pflege gegeben. Aus den Augen, aus dem Sinn. Da wurde nicht groß geprüft, wie es den Kleinen in der Pflegefamilie ging.« Gundula war Sozialarbeiterin und kannte sich in der Geschichte der Betreuung von Sozialwaisen gut aus.

»Aber die Parlovs haben sich liebevoll um Dana gekümmert«, wandte Ellinor ein. »Sie haben sie aufgezogen wie ihre eigene Tochter. Sicher, sie waren gutherzig, aber vielleicht lag ihnen auch etwas an dem Kind, auf das wir bisher noch nicht gestoßen sind.«

»Hier sind noch mehr Geburtsurkunden«, stellte Gundula fest und angelte weitere Papiere aus der Truhe. »Die der beiden leiblichen Töchter der Parlovs, Evica und Gavrila …«

»Und da ist Danas!« Aufgeregt griff Ellinor nach dem dritten Dokument. »Auf Deutsch. Und nicht von einem Pfarrer ausgestellt, glaube ich, da steht Standesamt Zadar.«

»Zadar war damals die Hauptstadt Dalmatiens«, wusste Gundula. »Und?«

»Die Mutter war eine Liliana Vlašić. Und sie hat das Kind nicht auf Pelješac zur Welt gebracht, wo sie unzweifelhaft jeder kannte, sondern in der Hauptstadt. Und dann wurde es vermutlich gleich an die Parlovs weitergegeben. Komisch, dass es nicht auf ihren Namen registriert wurde … Aber das wollten sie vielleicht nicht.«

»Das konnten sie nicht«, meinte Gundula nach genauerem Studium der Urkunden. »Evica und Dana waren praktisch gleichaltrig. Evica kam nur zwei Monate vor Dana auf die Welt. Milja konnte nicht mit Dana schwanger gewesen sein.«

»Liliana war dann sicher die Tochter oder die Schwester von diesem Maksim«, überlegte Ellinor. »Und ihr Kind kam 1905 unehelich zur Welt, Angaben zum Vater gibt es nicht.«

»Eine kleine Tragödie am Ende der Welt, die jemand elegant aus selbiger geschafft hat«, fasste Gundula zusammen. »Was Liliana wohl dabei empfunden hat? Na ja, das werden wir nie erfahren.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wollen wir mal wieder runtergehen? Hier wird es mir langsam kalt. Und mit den Papieren sind wir ja durch.«

Ellinor nickte. Allerdings mochte sie nicht so schnell aufgeben. Ihre Neugier war inzwischen nicht nur als Lilianas Urenkelin, sondern auch als Historikerin geweckt. Sie wollte wissen, was damals in Dalmatien geschehen war.

Fast etwas ungeduldig trank sie einen weiteren Kaffee mit Gundula und entschuldigte sich dann, nachdem diese ihr erlaubt hatte, die Schriftstücke mitzunehmen. Sie kannte einen jungen Austauschstudenten aus Kroatien, der ihr helfen würde, die fremdsprachigen Texte zu übersetzen. Auf die drängendsten Fragen, die ihr im Kopf herumgeisterten, würden die Urkunden aber sicher keine Antwort geben.

Ellinor fuhr zurück in die Wiener Innenstadt und ertappte sich dabei, dass sie nicht gleich ihre Wohnung ansteuerte, sondern das Krankenhaus. Sie wollte die neuen Erkenntnisse mit Karla teilen. Ihre Cousine genoss immer noch den Luxus eines Einzelzimmers. Das zweite Bett im Raum war zurzeit nicht belegt.

»Du siehst so viel besser aus!«, erklärte Ellinor zur Begrüßung und meinte es ehrlich.

Karla hatte sich weiter erholt, die Schwestern schienen ihr beim Duschen und Haarewaschen geholfen zu haben. Sie trug ein hübsches Nachthemd. Ihre langen dunklen Locken waren ordentlich gekämmt und ihr Gesicht endlich wieder abgeschwollen. Zwar war sie immer noch blass und hatte bestimmt abgenommen, aber es ging erkennbar aufwärts.

»Ich hatte auch Herrenbesuch.« Karla lächelte und wies auf einen riesigen Blumenstrauß. »Sven hatte sich gleich testen lassen, als er von der möglichen Transplantation erfuhr. Und war ganz unglücklich, dass seine Werte nicht mit meinen übereinstimmten. Dafür möchte er nun ganz bald heiraten. Was er sich davon für meine Nierenfunktion verspricht, weiß ich nicht, aber mein Herz hat der Antrag jedenfalls zum schnelleren Schlagen gebracht.« Ellinor lachte und gratulierte. Karla und Sven hatten eine Heirat immer vor sich hergeschoben, doch nun schien es ernst zu werden. »Und du? Hast du was rausgefunden?« Karla blickte interessiert auf den Stapel Papiere, den Ellinor jetzt aus ihrer Tasche holte und auf den Nachttisch legte.

Ellinor nickte und berichtete von ihrer Spurensuche. »Die Familie Vlašić hat Dana ganz elegant entsorgt, indem sie den Parlovs das Kind in Pflege gab und sie nach Österreich weglobte«, endete sie schließlich. »Fragt sich nur, was aus Liliana wurde. Was wird sie dazu gesagt haben? Ob sie irgendein Mitspracherecht hatte, was die Pflegefamilie anging? Und wer kann der Vater gewesen sein?«

»Ich hoffe mal, nicht Urgroßvater Guran«, bemerkte Karla. »Ich meine … das wäre doch naheliegend …«

Ellinor schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Vielleicht aus heutiger Sicht. Aber 1905 in Dalmatien? Wenn da ein Arbeiter die Tochter oder Nichte des Arbeitgebers entehrt hätte, da wäre Blut geflossen! Wahrscheinlich hätte Vlašić Urgroßvater Guran umgebracht und seine Familie mit Schimpf und Schande aus dem Dorf gejagt. Stattdessen hat er ihn in eine bessere Stelle empfohlen. Und Urgroßmutter Milja hat Dana wie eine eigene Tochter geliebt. Das wäre auch kaum der Fall gewesen bei der Frucht eines Ehebruchs.«

Karla ging bereits anderen Überlegungen nach. »Du meinst wirklich, Lilianas Vater oder Bruder oder was dieser Maksim für sie war, könnte den Erzeuger ihres Kindes getötet haben?«, fragte sie schaudernd.

Ellinor zuckte mit den Schultern. »Das wäre nicht unmöglich«, sagte sie. »Auf dem Balkan soll Blutrache bis heute verbreitet sein. Wer weiß, vielleicht gehörte der Mann ja einem verfeindeten Clan an oder was weiß ich. Jedenfalls werde ich versuchen, es herauszufinden. Sobald ich mich freimachen kann, fliege ich nach Dubrovnik.«

Gernot Sternberg war nicht begeistert von den Reiseplänen seiner Frau. »Obwohl es mir natürlich lieber ist, dass du nach Kroatien fliegst, als dass du dir eine Niere herausschneiden lässt«, kommentierte er spöttisch. »Bei den seltsamen Anwandlungen, die dich zurzeit umtreiben, muss man für kleine Dinge dankbar sein.«

»Das sind keine Anwandlungen!«, verteidigte sich Ellinor. »Das ist meine Familiengeschichte. Es interessiert mich einfach, wo ich herkomme, ich möchte wissen, was damals in Dalmatien geschehen ist.«

»Und das wird sich dir dort wie durch Zauberhand erschließen?«, fragte Gernot. »Sobald du dieses Kaff betrittst? Du kannst kein Wort Kroatisch, Elin. Du weißt überhaupt nicht, wo du anfangen sollst.«

»Natürlich weiß ich, wo ich anfangen muss!«, ereiferte sich Ellinor. »Ich bin Historikerin, falls du das vergessen haben solltest. Quellenstudium ist mir absolut nicht fremd. Ich werde Stadtarchive aufsuchen, falls es so was gibt, Kirchen … Damals wurden Todesfälle, Geburten, Eheschließungen und so weiter in Kirchenbüchern verzeichnet, man wird da sehr oft fündig. Zumal diese Vlašićes sicher eine wichtige Rolle im Dorf gespielt haben. Ein großes Weingut …«

»Aber alles auf Kroatisch«, wiederholte Gernot.

Ellinor holte tief Luft. Die nächste Enthüllung machte sie ungern, sie kannte Gernots Neigung zur Eifersucht. »Ich werde Milan Potoćnik mitnehmen. Milan ist ein Austauschstudent aus Dubrovnik, der nicht nur Kroatisch spricht, sondern auch Serbisch. Er versteht sogar die Dialekte der Gegend. Milan hat früher schon die Geschichte Dalmatiens erforscht. Die Sprache ist also kein Hindernis.«

»Du fliegst mit einem Mann?« Gernot fuhr auf.

Ellinor verdrehte die Augen. »Milan ist zehn Jahre jünger als ich. Mindestens. Er ist ein netter Kerl, aber das ist auch schon alles. Gernot, du kannst nicht ernsthaft eifersüchtig auf die Studenten sein, die bei mir ein und aus gehen. Jeden Tag suchen mich irgendwelche jungen Männer in meinem Büro auf, oder sie sitzen in meinen Seminaren. Wenn ich da mit einem was anfangen wollte, bräuchte ich wirklich nicht mit ihm nach Kroatien zu fliegen!«

»Aber dem guten Milan bezahlst du den Flug, oder?«, fragte Gernot. »Und plötzlich ist es egal, was es kostet. Wollten wir nicht sparen, Elin? Für … für das Baby …« Er schien seinen Zorn plötzlich zu vergessen, und auch Ellinors Ärger verrauchte, als er sie an sich zog.

»Es ist ein Billigflug«, beschwichtigte sie ihn. »Und ja, natürlich tut mir die Geldausgabe weh. Aber ich will es einfach wissen. Ich muss diese Geschichte kennen – und ich möchte sie unserem Kind eines Tages erzählen. Es sind seine Wurzeln, Gernot. Also bitte, mach’s mir nicht so schwer.«

Ellinor stand auf und schmiegte sich an ihren Mann. Er musste verstehen, wie sie sich fühlte! Und dann legte Gernot tatsächlich die Arme um sie, und der Abend verlief unerwartet harmonisch. Erneut entzückte er sie durch ein erregendes Liebesspiel, und sie berauschte sich an der Möglichkeit, dass ihr heiß ersehntes Baby vielleicht gerade in dieser Nacht gezeugt werden könnte. Es war einer ihrer fruchtbaren Tage, und sie hatte schon befürchtet, dass Gernot sich über ihre Reise ärgern und die kostbare Maybe-Baby-Nacht ungenutzt verstreichen lassen würde. Als er sie nun so zärtlich liebte, sah sie das als weiteren Beweis dafür an, dass er sich das Kind ebenso sehr wünschte wie sie. Ellinor atmete auf und ergab sich ganz dem Glück ihrer Liebe.

KAPITEL 4

In Dubrovnik strahlte die Sonne vom Himmel, obwohl es in Österreich um diese Jahreszeit längst empfindlich kalt war. Ellinor empfand fast Urlaubsstimmung, als sie aus dem Flieger stieg, und Milan, ihr Übersetzer, strahlte vor Freude über die unerwartete Gelegenheit zu einem Kurztrip in sein Heimatland. Auf dem Flug hatte sich der dunkelhaarige junge Mann als angenehmer Begleiter erwiesen. Er hatte lebhaft über sein Studium, seine Familie und seine Zukunftspläne geplaudert. Ellinor bewunderte seinen unangefochtenen Optimismus und seine Abenteuerlust. Er plante weitere Auslandsaufenthalte, vielleicht gemeinsam mit seiner österreichischen Freundin. In Dubrovnik machte er sich beim Abholen des Leihwagens nützlich und bot sich bereitwillig an, das Auto auch zu fahren. Ellinor konnte die Aussicht genießen.

»Wir können gleich nach Pelješac aufbrechen«, schlug er vor. »Nach Pijavićino ist es nur etwa eine Stunde Fahrt. Ob es da allerdings Hotels gibt, weiß ich nicht. Am besten, wir machen es wie Ihr Onkel und suchen uns ein Hotel an der Küste.« Ellinor hatte ihm auf dem Flug von Friedrichs und Gundulas Reise erzählt. Nun nickte sie zu seinen Vorschlägen und erfreute sich am Anblick des Meeres, das bald zu sehen war. Ein großer Teil der Strecke führte an der Küste entlang. Ellinor genoss die Aussicht auf felsige Abgründe, unter denen das Meer tobte, und Buchten mit ruhiger See, tiefblauem Wasser und weißen Stränden. Die Landschaft war mediterran, kein großer Unterschied zu anderen Urlaubsländern wie Spanien oder Italien. Viele Regionen wirkten ausgedörrt, in der letzten Zeit hatte es wohl nicht oft geregnet. Die Ortschaften an der Küste lebten hauptsächlich vom Tourismus, doch schließlich durchfuhren sie auch Weinbaugebiete. Pelješac war gebirgig und wirkte grüner als die Gegend um Dubrovnik.

»Pelješac hat eine lange und sehr wechselvolle Geschichte«, erklärte Milan, als sie über die einzige große Straße der Halbinsel nach Westen fuhren. »Sie war schon lange vor Christus besiedelt, später kam sie unter römische Herrschaft und gehörte zum Byzantinischen Reich. Im 9. Jahrhundert wanderten slawische Stämme ein. Pelješac gehörte zu Bosnien und später zu Dubrovnik, einem wichtigen Mittelmeerhafen, ähnlich wie Venedig und Florenz. Der Handel florierte … Na ja, das Ganze endete mit dem Einfall Napoleons. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel Pelješac dann mit ganz Kroatien an Jugoslawien, und die neuere Geschichte kennen Sie ja. Kroatien erklärte sich 1991 zum unabhängigen Staat.«

Ellinor nickte. »Das Land war also einmal reich?«, fragte sie.

Milan nickte. »Ja, aber das ist lange her. Und die reichen Handelsherren werden sich auf die Städte beschränkt haben. Dort sprach man Italienisch, orientierte sich an den anderen Stadtstaaten im Mittelmeerraum und war sehr kosmopolitisch. Auf dem Land sah es sicher anders aus. Orte wie Pijavićino haben sich wahrscheinlich seit dem 9. Jahrhundert nicht großartig verändert. Und reich? Ein paar große Weinbauern waren zweifellos vermögend. Der Durchschnitt der Bevölkerung darbte. Deshalb wanderte man ja auch aus. Nach Amerika und nach Neuseeland! Ich hab mal ein bisschen was gelesen über diese Gumdigger – das ist echt ein faszinierendes Thema. Und noch so gar nicht ausgeschöpft. Könnte man fast drüber promovieren oder so … Wenn die Recherchereisen nicht so kostspielig wären.« Milan lachte spitzbübisch, seine nussbraunen Augen blitzten.

»Sie können sich ja bei einer Uni in Neuseeland bewerben«, schlug Ellinor vor, und Milan sah aus, als zöge er das in Erwägung.

Jetzt fuhren sie erst einmal nach Dingać Borak, einem winzigen idyllischen Küstenort. Zurzeit, lange nach der Hauptsaison, fand sich dort schnell eine preiswerte Pension mit einem atemberaubenden Blick über das Meer. Ellinor fühlte sich erneut wie im Urlaub, als sie den Tag bei einem Glas Rotwein ausklingen ließen. Milan erzählte, dass Dingav-Reben hier schon seit der Antike gezüchtet wurden.

»Die baut man wahrscheinlich auch in Pijavićino an«, erklärte er.

Ellinor genoss den schweren Wein, der kräftig im Geschmack war. Sie konnte ihn ohne Bedenken genießen – der letzte Versuch, auf natürliche Weise ein Kind zu zeugen, war misslungen wie so viele andere zuvor. Ihre Regel hatte zwei Tage zuvor eingesetzt, und wie immer war sie am Boden zerstört gewesen. Lediglich die Aussicht auf die Reise hatte ihre Stimmung ein wenig gehoben. Die Spurensuche würde sie auf andere Gedanken bringen, und verpassen würde sie nichts – bis zu ihrem nächsten Eisprung war sie längst wieder zu Hause.

Jetzt sandte sie schnell ein paar E-Mails nach Österreich, bevor ihr der Wein zu Kopf stieg. Karla bekam ein Foto von der Terrasse der Pension, Gernot nur liebe Grüße und die Nachricht, dass sie gut angekommen war. Weintrinken mit Milan hätte er zweifellos missbilligt. Ellinor lächelte in sich hinein über die Eifersucht ihres Mannes.

Milan chattete derweil mit seiner Freundin in Wien und seiner Familie in einer Kleinstadt bei Dubrovnik. Er würde etwas länger in Kroatien bleiben als Ellinor und seine Eltern besuchen.

Die beiden trennten sich früh an diesem Abend. Sie planten, am nächsten Morgen gleich um neun nach Pijavićino aufzubrechen.

»Der Pfarrer wird ja zeitig auf sein«, meinte Milan. Auch er war der Ansicht, dass man in dem Dörfchen eher alte Kirchenbücher finden würde als ein modernes Stadtarchiv. »Er hält sicher jeden Morgen eine Frühmesse.«

Ellinor zuckte mit den Schultern. Weder sie noch Gernot waren gläubig. Allerdings hatte sie einiges über das mittelalterliche Klosterleben gelesen und von Stundengebeten gehört. Wenn das heute noch galt, musste der Geistliche die halbe Nacht auf den Beinen sein.

»Wir versuchen es«, erklärte sie und wünschte ihrem jungen Übersetzer eine gute Nacht.

Sie selbst stand schließlich noch eine Weile am Fenster ihres gemütlichen Zimmers und schaute hinaus übers Meer, das im Licht des Vollmonds unwirklich schimmerte. Es war wunderschön romantisch, die Welt war wie verzaubert. Ellinor hätte sich gewünscht, Gernot jetzt bei sich zu haben, sich an ihn schmiegen zu können und mit ihm zu verschmelzen wie das Mondlicht mit den Wellen.

Die melancholische Stimmung ließ sie an Liliana Vlašić denken. Hatte auch sie in einer warmen Nacht aus ihrem Fenster gesehen und an ihren Liebsten gedacht? Der sie verlassen oder den sie verloren hatte? War sie gefangen gewesen, verzweifelt? Sie hatte ein Kind empfangen, hatte das gehabt, was Ellinor selbst sich so sehnlichst wünschte. Aber für Liliana war es ein Fluch gewesen, und letztlich hatte sie das Kind weggeben müssen.

Ellinor rieb sich die Augen. Es brachte nichts, Spekulationen anzustellen. Vielleicht würde sie ja am kommenden Tag mehr über das Schicksal ihrer geheimnisvollen Urgroßeltern erfahren.