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Lillemor, Inga und Eira, drei Frauen verschiedener Generationen, finden Zuflucht auf der schwedischen Schäreninsel Dikholmen: Für die völlig verzweifelte Eira, die schweren Herzens ihr bisheriges Leben hinter sich lässt, wird die Insel im Jahr 1960 zum selbstgewählten Exil. Die aus wohlhabendem Hause stammende siebzehnjährige Inga bringt dort 1968 ihr uneheliches Kind zur Welt. Und Lillemor, die Dikholmen seit ihrer Kindheit kennt, kehrt in der Gegenwart dorthin zurück, hoffnungsvoll auf der Suche nach der Frau, die sie war, bevor ein Unglück ihr alles genommen hat.
Als sie einander im Hier und Jetzt begegnen, ahnen sie nichts von dem Band, das das Leben bereits zwischen ihnen geknüpft hat ...
Auf drei Zeitebenen erzählt: ein eindrücklicher Roman voller Gefühl und Dramatik im wunderschönen Schweden
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Seitenzahl: 601
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Die Stockholmer Schäreninseln, 1960
Lillemor
Inga
Lillemor
Dikholmen, 1960
Inga
Lillemor
Inga
Lillemor
Dikholmen, 1960
Lillemor
Inga
Lillemor
Dikholmen, 1960
Lillemor
Inga
Lillemor
Dikholmen, 1960
Lillemor
Inga
Lillemor
Dikholmen, 1960
Lillemor
Inga
Lillemor
Dikholmen, 1960
Lillemor
Inga
Lillemor
Dikholmen, 1961
Lillemor
Inga
Lillemor
Dikholmen, 1961
Lillemor
Inga
Lillemor
Inga
Lillemor
Inga
Dikholmen, 1968
Lillemor
Epilog
Ein paar Zeilen zum Schluss …
ÜBER DAS BUCH
Lillemor, Inga und Eira, drei Frauen verschiedener Generationen, finden Zuflucht auf der schwedischen Schäreninsel Dikholmen: Für die völlig verzweifelte Eira, die schweren Herzens ihr bisheriges Leben hinter sich lässt, wird die Insel im Jahr 1960 zum selbstgewählten Exil. Die aus wohlhabendem Hause stammende siebzehnjährige Inga bringt dort 1968 ihr uneheliches Kind zur Welt. Und Lillemor, die Dikholmen seit ihrer Kindheit kennt, kehrt in der Gegenwart dorthin zurück, hoffnungsvoll auf der Suche nach der Frau, die sie war, bevor ein Unglück ihr alles genommen hat.
Als sie einander im Hier und Jetzt begegnen, ahnen sie nichts von dem Band, das das Leben bereits zwischen ihnen geknüpft hat ...
Auf drei Zeitebenen erzählt: ein eindrücklicher Roman voller Gefühl und Dramatik im wunderschönen Schweden
ÜBER DIE AUTORIN
Michaela Abresch wurde 1965 im Westerwald geboren. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Sie arbeitet in der pflegerischen Beratung und als Dozentin für Palliative Care. Das Schreiben ist für sie das Eintauchen in eine andere Welt. Ihr Leitsatz »Jedes Jahr an einen Ort zu reisen, an dem ich noch nie war« führte sie vor einiger Zeit in die schwedischen Schären und inspirierte sie zu Das Geheimnis von Dikholmen.
MICHAELA ABRESCH
ROMAN
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2024 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: DeiMosz | Umomos | Sonja Filitz | Kovaleva_Ka | gyn9037 | DashaDashaeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-4780-6
luebbe.delesejury.de
Die Stockholmer Schäreninseln, 1960
Ich weiß nicht, wie spät es ist. Oder besser, wie früh. Wie eine weiße Lampe hängt der Vollmond über mir, umgeben von Sternen − eine klare helle Nacht, windstill. Es müssen etwa zwei Stunden vergangen sein. Erst zwei Stunden, seit ich mich aus dem Bett gestohlen habe und auf den knarrenden Dielen bis zur Tür geschlichen bin. Seit ich erschrocken den Atem angehalten habe, als die Schlafzimmertür, die er abends ins Schloss zieht, beim Öffnen das vertraute Jammern von sich gegeben hat. Seit ich erleichtert weitergeatmet habe, als alles still blieb. Als er still blieb. Seit ich noch einmal bei den Kindern war, meinen Schätzen, mich mit Haut und Haaren in ihre leisen Atemgeräusche versenkt habe, mir die Konturen ihrer Gesichter im Halblicht eingeprägt und mich mit einem unterdrückten Schluchzen schweren Herzens von ihnen gelöst habe.
Meine Arme sind verkrampft. Die Handflächen verschwitzt. Meine Schultern verspannt. Fest halte ich die Rudergriffe umklammert, senke die Blätter zu beiden Seiten ins Wasser. Versuche, es gleichmäßig zu tun. Es gelingt nicht. Das Geräusch der Schäfte in den Ruderdollen begleitet mich. Holz, das sich an Eisen reibt. Wieder und wieder. Die Luft riecht nach Salz, nach feuchtem Holz, nach Nacht.
Manchmal werden im Schein des Mondlichts die diffusen Umrisse einer der vielen Inseln des Archipels erkennbar, und ich glaube, sie zuordnen zu können. Aber ich mache mir nichts vor. Längst habe ich die Orientierung verloren.
Ich verbiete mir zu weinen, obwohl die aufsteigenden Tränen mir beinahe den Hals zuschnüren. Nur mit Mühe gelingt es mir, sie zurückzudrängen. Keine Zeit zum Weinen. Später. Ganz sicher. Das Medaillon schaukelt bei jedem Vorbeugen an der silbernen Kette leicht hin und her. Ich trage es auf der Haut, unter der Unterwäsche, unter dem wollenen Pullover, unter der Öljacke.
Den Pullover habe ich aus seinem Schrank genommen und in der Kommode versteckt, in der ich die Wintersachen für die Kinder aufbewahre. Tagelang habe ich gehofft, er möge nicht nach seinem Pullover fragen, nach dem warmen, aus blauer und brauner Wolle gestrickten Pullover mit dem Reißverschluss, den man bis unters Kinn hochziehen kann, wenn der Wind kalt über den Kutter faucht. Bei dem Gedanken, dass ich ihn nie mehr an ihm sehen werde, presst sich eine Klammer um mein Herz.
Ich schüttle den Gedanken ab, indem ich meine Aufmerksamkeit auf das Eintauchen der Ruderblätter lege. Ich hole aus, senke sie ins Wasser, es spritzt herauf bis zu mir ins Boot. Ein paar Tropfen landen auf meiner Schläfe, bilden ein Rinnsal, das sich seinen Weg sucht. So wie ich selbst.
Die Mütze ist mir tief in die Stirn gerutscht, es stört mich nicht. Ruderblätter ins Wasser und wieder heraus, ins Wasser und wieder heraus. Das Medaillon bewegt sich in derselben Gleichförmigkeit auf meiner Haut. Rhythmisch wie auch meine Herzschläge.
Der Sack aus Segeltuch, den ich im Schuppen unseres Hauses gefunden habe, gleicht das Gewicht im Boot aus. In aller Ruhe und mit Sorgfalt habe ich ihn gefüllt. Am Morgen, als er mit dem Kutter draußen und die Kinder in der Schule waren. Eine zweite Hose. Meine warme Jacke. Unterwäsche. Strümpfe. Handschuhe. Eine Decke. Ein Taschenmesser. Ein Löffel. Zwei Karabinerhaken. Ein Seil. Ein Stück Seife. Zwei Flaschen Wasser. Brot. Äpfel und hart gekochte Eier. Ein Stück geräucherter Schinken. Getrockneter Dorsch. Dosenbohnen. Das kleine Beil aus dem Schuppen.
Am Ende war der Sack schwerer als erhofft. Noch weiß ich nicht, wie weit ich sein Gewicht werde tragen müssen. Nur das Nötigste habe ich mitgenommen. Das Nötigste … Zurück in den Schuppen hatte ich ihn gebracht, ihn zwischen die Schubkarre und das aufgeschichtete Brennholz geschoben, weit nach hinten, sodass er auf den ersten Blick nicht sichtbar gewesen war.
Die Ruderblätter klatschen ins Wasser. Allmählich schwindet meine Kraft. Die Schultern fangen an zu brennen. Ich höre mich keuchen, meine Arme verkrampfen mehr und mehr. Die Erschöpfung frisst sich in jeden Muskel. Weiß nicht, in welche Himmelsrichtung ich rudere, kenne die Namen der Inseln nicht, zwischen denen mein Boot hindurchgleitet. Über mir wacht Sirius, der hellste Stern, der einzige, den ich erkenne, der, dessen Leuchten in den Morgenstunden schwächer wird, bevor er allmählich im Westen verblasst.
Irgendwann bemerke ich die fahle graugelbe Färbung, die am Horizont den Himmel überzieht. Ich atme auf. Am nächsten Ufer werde ich anlegen. Ausruhen.
Unentwegt denke ich an mein Heim. An ihn, der in diesem Augenblick aufsteht. Der sich wundern wird, dass der Platz im Bett neben ihm leer ist. Dass Laken und Decke ausgekühlt sind.
Er wird mich suchen. In jedem Raum des Hauses. Wird in Schlafanzug und Holzschuhen nach draußen laufen. Quer über das Grundstück, zwischen den Birken hindurch, bis ans Ende, wo das Gartentor sich auf den Küstenweg hin öffnet. Er wird meinen Namen rufen. Beunruhigt. Durcheinander. Alarmiert. Wird wieder hineingehen. Keine Erklärungen finden. Wird mit mechanischen Handgriffen Feuer machen in der Küche wie immer, damit die Kinder es warm haben, wenn sie in einer Stunde aufstehen, um zur Schule zu gehen.
Sie werden fragen. Nicht verstehen. Niemand wird verstehen.
Ich allein weiß, dass es der einzige Ausweg ist, die einzige Möglichkeit, unsere Kinder zu beschützen.
Vor der eigenen Mutter.
Granzbach, 2019
Ich hab noch nie solche Schuhe besessen.«
Mit einer Mischung aus Skepsis und Unentschlossenheit sah Lillemor Kirschbaum von oben auf ihre Füße hinunter. Sie wirkten wenig grazil in den robusten Wanderschuhen, die die junge Verkäuferin ihr wortreich ans Herz gelegt hatte. Tessa, stand aufgedruckt auf ihrem kiwigrünen Shirt, unter dem Namen des Outdoorhandels, in dem sie sich befanden. Tessa war höchstens Mitte zwanzig, ein winziger Stein glitzerte in ihrem linken Nasenflügel, und sie schien sich auszukennen mit dem, was hier angeboten wurde.
Noch nie hatte Lillemor in einem Outdoorsportgeschäft eingekauft. Wie ein Fremdkörper fühlte sie sich zwischen Softshelljacken, Funktionsunterwäsche, Daunenschlafsäcken, Wanderstöcken und einer Vielzahl von Schuhen, Rucksäcken und weiterem Zubehör für die unterschiedlichsten Aktivitäten im Freien. Wasserdicht seien sie, hatte Tessa erklärt, nachdem Lillemor sich auf einen der Hocker gesetzt hatte und in die Schuhe geschlüpft war. Hinter ihr prangte eine Fototapete, die einen einsamen Wanderer auf dem Grat eines eindrucksvollen Bergmassivs zeigte. Seine Schuhe ähnelten denen, die sie gerade anprobierte. Mit routinierten Handgriffen hatte Tessa die Schnürsenkel durch die Ösen und Haken gezogen, sie im oberen Bereich auf eine Weise eingefädelt, die sich Lillemor beim besten Willen nicht erschloss, und anschließend eine Schleife gebunden. Wie ein Kindergartenkind war sie sich vorgekommen. Tessas Ausführungen waren wie Motten um sie herumgeschwirrt, ohne dass sie ihnen recht hatte folgen können. Der Fersenschutz, ein besonders flexibler Schaft, die X-Lacing-Schnürung. Nicht zu vergessen, die griffige Apptrail-Sohle für perfektes Abrollverhalten.
Sie verstand nicht viel von dem, was Tessa von sich gab. Sie war noch nie gewandert. Hatte keine Ahnung, welche Voraussetzungen ein guter Wanderschuh mitbringen musste. Mit einem Auge schielte sie auf das Preisschild am Karton.
»Sie werden es nicht bereuen«, sagte Tessa, der ihr zweifelnder Blick allem Anschein nach nicht entgangen war.
Stand da wirklich eine dreistellige Zahl, die mit einer Zwei begann? Um Himmels willen! Sie wollte doch nicht wirklich über zweihundert Euro für Schuhe ausgeben, die sie maximal acht Tage tragen, anschließend in einem Karton verstauen und im Keller deponieren würde?
»Nicht gerade ein Schnäppchen …«, hörte Lillemor sich murmeln.
Sie bückte sich, drehte den Karton so, dass sie den Preis sehen konnte. Zweihundertneunzehn Euro. Grundgütiger! Sie seufzte. Überschlug im Kopf, mit welcher Summe die beiden Sport-T-Shirts, die Wanderhose und die Regenjacke bereits zu Buche schlugen. Zum Glück hatte Mone einen Rucksack organisiert, den ihre Schwägerin vor Jahren angeschafft, aber nur selten benutzt hatte, ein riesiges Teil, das Lillemor sich ausleihen durfte und damit mindestens einen Hunderter sparte.
»Wir können da sicher am Preis noch was machen«, sagte Tessa. Sie lächelte. Ihr Nasenpiercing funkelte. »Ich spreche mit dem Chef, Sekunde.« Schon war sie zwischen den Regalen verschwunden.
Lillemor ging ein paar Schritte. Die Schuhe waren bequem. Zwar sahen sie klobig aus, und das Gehen fühlte sich fremd an, aber sie hatte guten Halt darin. Sie umrundete den Ständer mit den bunten Radtrikots. Versuchte, sich vorzustellen, wie es sein würde. Über Stock und Stein zu wandern. Viele Kilometer. Mutterseelenallein. Mit dem geliehenen Rucksack auf dem Rücken und diesen robusten Wanderschuhen an den Füßen. Jedes Mal, wenn sie intensiv darüber nachdachte, stellte sich ein merkwürdiges Gefühl ein. Auch jetzt wieder. Es war keine richtige Angst, eher eine Vorstufe davon, ein leicht mulmiges Gefühl. In ihrem ganzen Leben hatte sie so etwas noch nie gemacht. Tag für Tag stundenlang unterwegs sein. Auf Wegen, die sie nicht kannte. Und das bei ihrem miserablen Orientierungssinn.
»Der Chef lässt Ihnen auf den gesamten Einkauf fünf Prozent nach«, hörte sie Tessas Stimme hinter sich.
Lillemor drehte sich um. »Okay, ich hoffe, die Schuhe sind es wert.«
»Hundertprozentig!« Tessa strahlte. Ob sie eine kleine Provision erhielt? »Brauchen Sie sonst noch etwas? Stöcke?«
Lillemor schüttelte den Kopf. Wanderstöcke waren doch etwas für Leute in gesetztem Alter, oder nicht? Ob Tessa sie älter schätzte? Lillemor sank auf den Hocker und begann, die Schuhe aufzuschnüren. Vielleicht sah sie tatsächlich älter aus als Ende vierzig. Sie benutzte außer einer getönten Tagescreme kein Make-up, trug ihr blondes Haar seit Jahren halblang, in der Mitte gescheitelt und im Nacken zusammengebunden. Eine praktische Lösung, vor allem bei der Arbeit. Sie ging so gut wie nie aus, und in der Werkstatt war sie meistens allein. Wozu sollte sie morgens ihre Wimpern tuschen oder mit geschminkten Lippen das Haus verlassen? Für die paar Kunden, die in ihren Laden kamen?
Sie reichte Tessa die Schuhe und schlüpfte in ihre Sneaker. »Wo soll’s denn hingehen?«, hatte Tessa anfangs wissen wollen, und Lillemor hatte nicht begriffen, dass die Frage nicht der Neugier der jungen Verkäuferin oder ihrem Auftrag zu pflichtbewusstem Small Talk geschuldet war, sondern dazu diente, die Anforderungen abzuchecken, die an die Wanderschuhe gestellt werden mussten. »Ach, nichts Spektakuläres, einfach in die Umgebung«, hatte sie geantwortet.
Es hatte belanglos geklungen, und sie hatte sich geärgert, dass ihre Antwort ihr Vorhaben kleiner gemacht hatte, als es war. Als es sich innen anfühlte. Denn obwohl ihre ausgewählte Strecke gewiss dem Vergleich mit anspruchsvollen Bergtouren oder diesem Weg in Spanien, von dem sie gelesen hatte und der am Grab irgendeines Heiligen endete, nicht standhielt, war sie das Größte, was sie sich je in dieser Richtung vorgenommen hatte. Und dennoch verspürte sie von Zeit zu Zeit ein gewisses Zaudern. Es saß ihr im Ohr wie ein Kobold, der ihr zuflüsterte, dass ihr Plan nicht in Stein gemeißelt war. Sie könnte ihn jederzeit ändern. Zu Hause bleiben. In der Komfortzone. Die Idee ihrer Therapeutin verwerfen. Weiter im Kreis laufen. Niemand zwang sie.
Tessa zog mit dem Schuhkarton unterm Arm in Richtung Kasse. Lillemor folgte ihr. Ihr Blick fiel auf die Läuferin, die die gesamte Wand hinter dem Kassenbereich einnahm. Ihr Körper war sonnengebräunt, athletisch, makellos. Sie trug eng anliegende Shorts und ein bauchfreies Top, und sie lief mit königlicher Haltung auf einem kerzengeraden Weg in den Sonnenuntergang hinein, übergossen von orangefarbenem Licht, rechts und links von ihr nichts als die Weite einer roten Wüste.
Lillemor kramte in ihrer Schultertasche nach dem Portemonnaie und versuchte, ihr Entsetzen über den Preis ihrer Einkäufe hinter einer Fassade aus Gleichmut zu verbergen.
»Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß auf der Reise!«
Tessa reichte ihr das Wechselgeld und schob die Tüte über den Tresen.
Viel Spaß auf der Reise …
Lillemors Lippen verzogen sich zu einem gequälten Lächeln. Darin war sie gut. Kein Wunder, übte sie doch seit mehr als sieben Jahren. Der Schmerz hinter ihrer aufgesetzten Gemütsruhe und die leere Stelle in ihrem Herzen gingen Tessa nichts an. Niemanden gingen sie etwas an.
Mit einem Kopfnicken und beladen mit ihren Errungenschaften verließ sie den Laden. Da vernahm sie wieder das Flüstern des Kobolds. Sie könnte sich immer noch anders entscheiden. Und die Schuhe ungetragen zurückbringen.
»Die sehen aus, als wolltest du mit ihnen die Alpen überqueren«, sagte Mone mit einem Augenzwinkern. Sie hielt den rechten von Lillemors neuen Wanderschuhen in der Hand, Anja den linken.
Lillemor rang sich ein Lächeln ab. »Glaubt es oder nicht, aber es fühlt sich fast so an.«
Sie saßen beieinander an dem kleinen Tisch in ihrer Küche, wo sie in den vergangenen Jahren ungezählte Stunden zusammen verbracht hatten und wo so viele Tränen geflossen waren, dass Lillemor manchmal geglaubt hatte, die Küche irgendwann wegen Überflutung nicht mehr betreten zu können. Mone hatte eine Flasche Wein mitgebracht, Lillemor schenkte ihnen ein. Sie hatte ihren Freundinnen ausführlich vom nachmittäglichen Schuhkauf berichtet, ihre neuen Exemplare aus dem Karton geholt und anschließend probeweise den geliehenen Rucksack geschultert, den Mone ihr mitgebracht hatte. Ein unscheinbares Modell, steingrau mit roten Abnähern und allerlei Fächern und Reißverschlüssen.
»Du willst das wirklich ganz allein machen, ja?« Anja reichte ihr den linken Schuh zurück und suchte ihren Blick.
Lillemor kannte Anja lange genug, um den feinen Unterton zu bemerken, der nichts anderes als ehrliche Sorge signalisierte. Anja war der vorsichtigste Mensch, den sie kannte. Etwas riskieren, ein Wagnis eingehen, dessen Ausgang sie nicht einschätzen konnte, käme ihr nie in den Sinn. Sie waren alle drei im gleichen Alter, hatten sich viele Jahre zuvor durch ihre Kinder im Kindergarten kennengelernt, und was als Zufallsbekanntschaft begonnen hatte, war zu einer echten Freundschaft geworden, trotz ihrer Unterschiedlichkeit. Dass Anja mit ihrem Hang zu übertriebenem Sicherheitsdenken diejenige war, die ihren Plänen von der Wanderschaft von Beginn an skeptisch begegnet war, hatte daher weder Mone noch Lillemor erstaunt.
»Ach, Anja …« Mone verdrehte ihre Augen. »Du und deine Bedenken. Lil hat sich entschieden, und wir werden sie unterstützen, wie wir es versprochen haben!« Sie hob ihr Glas, lächelte ihnen aufmunternd zu, und so stießen sie auf Lillemors Pläne an.
»Ich bin eben nicht sicher, ob sie sich wirklich entschieden hat. Aus freien Stücken, meine ich«, sagte Anja, trank einen Schluck und stellte ihr Glas ab. »Immerhin ist es doch die Idee deiner Therapeutin, Lil, oder?«
Lillemor legte die Schuhe zurück in den Karton. »Irgendwie schon, ja, sie hat es zumindest angeregt.«
»Ich wundere mich ein bisschen, dass es heutzutage anscheinend zum therapeutischen Ansatz gehört, die Patienten auf eine Wanderung zu schicken.« Anja schüttelte den Kopf.
»Sie hat mich nicht geschickt«, erwiderte Lillemor.
»Was dann?«
»Sie hat mir von einem ihrer Freunde erzählt, der das gemacht und dem es sehr gutgetan hat.«
Lillemor heftete ihren Blick auf die beiden Kräutertöpfe auf dem Fensterbrett, und ihre Gedanken trieben zurück.
Es war einer der grauen Tage gewesen. Timmys Geburtstag. Sein dreizehnter. Eigentlich hatte sie den Termin bei ihrer Therapeutin absagen wollen, sich dann aber dazu durchgerungen, ihn wahrzunehmen. Meistens ging es ihr besser nach den Gesprächen mit ihr. Sturzbachartig war es aus ihr herausgebrochen an diesem Tag, eine Flut aus Worten und Tränen, und Frau Dr. Ohlig hatte sie erzählen lassen. Von Timmy und dem Kaiserschnitt, der ihm damals das Leben gerettet hatte, und dass sie es nur schwer hatte akzeptieren können, den Augenblick seiner Geburt nicht miterlebt zu haben. Von Bernhard, der das winzige Timmy-Bündel in den Armen gehalten hatte, und dass diese Einheit von Vater und Sohn das Erste gewesen war, was Lillemors schläfriger Blick nach dem Erwachen aus der Narkose wahrgenommen hatte. Von der Hebamme, die ihr zugerufen hatte: »Sie haben einen wunderschönen kleinen Jungen, Frau Kirschbaum!«, und dass Lillemor ihr wunderschönes Kind am liebsten sofort die Arme geschlossen hätte, um es nie wieder herzugeben, sich aber zu erschöpft gefühlt hatte, um diesen Wunsch zu äußern, geschweige die Arme auch nur einen Millimeter von der Bettdecke zu heben. Von Timmys Großeltern in Schweden, die vor Freude über das gesunde Enkelkind am Telefon geweint hatten. Und von der Reise mit Timmy zu ihnen nach Vaxholm ein Jahr später. Sie hatten seinen ersten Geburtstag gefeiert, mit der ganzen Familie in Lillemors Elternhaus, an einem klirrend kalten Tag im Februar, an dem die Regenrinne mit Eiszapfen geschmückt gewesen war, die wie Kunstwerke anmuteten. Sie hatte von ihrer Schwester Malin erzählt, die nicht aufgehört hatte, sie an sich zu drücken, und von ihrem Onkel Jesper, dem Bruder ihrer Mutter, der eine kleine Keramikwerkstatt auf der Insel besaß, in der er ausgefallene Skulpturen anfertigte, und der Timmy zum Geburtstag eine handgemachte Zebraffe geschenkt hatte, die Lillemor hütete wie einen Schatz.
»Aber das kann doch eine ganz andere Ausgangslage bei ihm gewesen sein.« Anjas Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
Lillemor blickte auf.
»Und als Frau so ganz allein …« Aus dem Augenwinkel bemerkte Lillemor, dass Mone einen lautlosen Seufzer ausstieß.
»Ich muss es nicht machen, okay?« Als Zeichen dafür, dass sie keine Lust auf die Diskussion hatte, hob Lillemor eine Hand. »Niemand zwingt mich.«
»Versteh mich nicht falsch, Lil, bitte, du weißt, wie sehr ich dich mag.« Anja lehnte sich nach vorn, sie griff nach Lillemors Hand, die neben dem Weinglas auf der Tischplatte ruhte. »Und ich wünsche dir von Herzen, dass du wieder ins Leben findest, so richtig, meine ich. Aber du gehst schon so wahnsinnig lange zu ihr, das ist wirklich ein bisschen seltsam, finde ich. Vielleicht solltest du dir eine andere Therapeutin suchen.«
Mit einem Lächeln senkte Lillemor den Kopf. Seit über sieben Jahren suchte sie in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen die psychotherapeutische Praxis von Dr. Henriette Ohlig auf. Damals, als sich urplötzlich ein Schatten auf sie niedergesenkt hatte, als Tage und Nächte zu einem Brei miteinander verschmolzen waren, in dem es fast nicht möglich gewesen war zu atmen, und Mone und Anja sie angefleht hatten, sich in professionelle Hände zu begeben, da war sie wöchentlich in die Praxis gegangen. Nach zwei Jahren hatte sich ihr seelischer Zustand etwas stabilisiert und es erlaubt, die Abstände zwischen den Besuchen zu vergrößern.
»Ich finde nicht, dass meine Sitzungen bei ihr umsonst sind.«
»Ach, entschuldige bitte, ich will das nicht kritisieren.«
»Komm, erzähl jetzt mal.« Mit einer angedeuteten Kopfbewegung wies Mone auf die Wanderkarte zwischen den Weingläsern in der Mitte des Tisches.
Lillemor, erleichtert über die Verlagerung des Themas, faltete sie auseinander und glättete mit der Hand die Faltkanten. Irgendwo in der Mitte hatte sie mit rotem Filzstift eine gewundene Strecke markiert. Als sie sich einige Wochen zuvor der Idee ihrer Therapeutin nicht länger hatte entziehen können und nach einem geeigneten Weg für ihr Vorhaben gesucht hatte, war sie überrascht gewesen, wie viele ausgewiesene Strecken in Deutschland zum Wandern einluden. Sie hatte sich für den Lahnwanderweg entschieden. Er führte praktisch vor ihrer Haustür entlang, die meisten Namen der Orte, die sich an diesem Weg befanden, waren ihr nicht unbekannt.
»Hier gehe ich los.« Sie stieß mit dem Zeigefinger auf den Beginn der roten Markierung. »In Wetzlar.«
»Da laden wir dich also ab.«
»Ja, wäre ziemlich nett, wenn ihr das machen würdet.«
»Kein Problem, das haben wir dir versprochen.«
»Dann folge ich diesem Weg.« Ihre Fingerspitze fuhr an der Markierung entlang.
»Und wo ist dein Ziel?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was heißt das, du weißt es nicht?« Anja hob den Kopf und suchte in Lillemors Gesicht nach einer Erklärung.
»Es kann überall sein.«
»Du entscheidest das spontan?«
»Ja, so hab ich mir das vorgestellt. Ich gehe los und jeden Tag weiter, und wenn ich merke, dass ich nicht mehr kann, breche ich ab. Spätestens nach acht Tagen höre ich auf. Aber ich glaube nicht, dass ich es so weit schaffe.«
»Vielleicht wäre es gut, wenn du vorher ein bisschen üben würdest«, sagte Anja vorsichtig. Eine Falte grub sich zwischen ihre Augenbrauen. »Und die Schuhe müssen doch auch eingelaufen werden, oder nicht?«
Lillemor trank den Rest Wein, der sich noch in ihrem Glas befand. »Wenn ihr wüsstet, was ich für die bezahlt habe!« Mit dem Glas in der Hand deutete sie auf die Schuhe. »Das sind High-Tech-Schuhe mit allem Komfort, die brauche ich sicher nicht einzulaufen.«
»Okay, das musst du wissen.« Anjas kritischer Blick veränderte sich nur leicht.
»Und wo wirst du schlafen?«, fragte Mone.
»Immer da, wo ich ankomme.«
»Das klingt schlüssig. Du suchst dir dann ein Hotel vor Ort?«
Lillemor nickte. »Es wird schon funktionieren.«
»Solltest du das nicht lieber etwas besser vorbereiten?«, fragte Anja. »Wäre es nicht sinnvoll, die Unterkünfte vorher zu buchen, damit du nicht jeden Tag suchen musst?«
»Du würdest das so machen«, erwiderte Lillemor. »Bei dir wäre das bis ins Detail geplant. Aber ich will mich nicht vorher festlegen. Lieber alles auf mich zukommen lassen.«
»Was glaubt denn deine Therapeutin, was diese Wanderung bewirken soll?«
»So genau hat sie das nicht geäußert. Sie meinte nur, ich solle mir eine Streckenwanderung aussuchen, keine Rundwanderwege. Und dass wir nach meiner Rückkehr gemeinsam analysieren wollen. Sie sagte: ›Gehen Sie los, und schauen Sie, was der Weg mit Ihnen macht.‹«
»Klingt spannend«, bemerkte Mone.
»Ist für mich gerade unvorstellbar.« Anja seufzte auf.
»Ganz ehrlich, so richtig vorstellen kann ich es mir auch nicht«, sagte Lillemor.
»Aber dein Entschluss steht fest.«
»Eigentlich schon, ja.«
»Ich nehme an, so ein Wanderweg ist ausgeschildert?«
»Ja, es gibt ein Symbol, ein rotes W auf weißem Grund, das man offenbar an Bäumen und so findet.«
»Und du nimmst dein Handy mit?«
»Sicher.«
»Du meldest dich jeden Tag, okay?«
Lillemor nickte. Sie schenkte Wein nach.
»Eine kurze Nachricht reicht. Damit wir wissen, wo du bist.«
Skarpö, 1968
Sie wusste nicht, wann sie zum letzten Mal auf Skarpö gewesen war, auf dieser südöstlich gelegenen Nachbarinsel Stegesunds im Stockholmer Schärengarten. Inga stellte den kleinen Lederkoffer neben sich ab, stemmte beide Hände in die Seiten und streckte den Rücken durch. Weitere Fahrgäste, die ebenfalls den kurzen Weg mit der Fähre von Stegesund nach Skarpö gekommen waren, strömten am Anleger in verschiedene Richtungen auseinander, ohne sie zu beachten.
Sie sah sich um. Obwohl viele der von der Ostsee umspülten Schäreninseln mit ihren zerklüfteten Felsen, den Kiefernwäldern, den flachen Stränden und rot angestrichenen Holzhäusern einander ähnelten und sie ein Kind dieser Gegend war, fühlte sie sich so fremd, als wäre sie an einem unbekannten Ufer gestrandet. Verlorenheit breitete sich in ihr aus. Wie eine Welle spürte sie sie förmlich über ihr Herz hinwegschwappen, und nur mit Mühe ließen sich die Tränen zurückhalten. Dass sie so dünnhäutig geworden war, gefiel ihr nicht. Bisher hatte sie sich nie besonders emotional erlebt, weshalb sie nicht damit umgehen konnte, dass ihr neuerdings nahezu ständig Tränen in die Augen stiegen. Sie berührte ihren Bauch, dem man noch nichts ansah. Dabei gab es keinen Zweifel. Zweimal war ihre Monatsblutung ausgeblieben, und mehr als einmal hatte sie morgens würgend vor der Kloschüssel gekniet.
Ein Kloß schnürte ihr beinahe die Kehle zu, als sie an die mit einem Wutschnauben hervorgebrachten Worte ihrer Stiefmutter dachte. »Du bist das Allerletzte!«, hatte Siw geschrien, nachdem Inga allen Mut zusammengenommen und ihr die Wahrheit gestanden hatte. »Nicht mal achtzehn!«
Die Ader an Siws rechter Schläfe war vor Zorn hervorgetreten, Inga hatte sie pulsieren sehen, während eine flammende Röte das Gesicht ihrer Stiefmutter gefärbt hatte, wie so oft, wenn sie rasend vor Wut und kurz davor war, die Kontrolle über ihre Handlungen und Worte zu verlieren. Sie hatten im Wintergarten der Villa einander gegenübergestanden, und Inga hatte sich gefühlt wie das Kind, das sie einmal gewesen war, das Kind, das unter den jähzornigen Tiraden der Stiefmutter regelmäßig auf die Größe des Däumlings aus ihren Märchenbüchern geschrumpft war. Bei der Erinnerung an die Szene kroch die Angst wieder in Inga herauf – die Angst vor dieser hochgewachsenen Frau, in deren Blick etwas Hartes lag und die ihr Vater geheiratet hatte, nachdem Ingas leibliche Mutter an einer Lungenembolie verstorben war, noch bevor Inga ein Jahr alt gewesen war.
Ihr Vater, Erik Söderberg, war Geschäftsmann. Ihm hatte es an Erfahrung in der Säuglingspflege gemangelt und erst recht an Zeit, sich rund um die Uhr um sein Kind zu kümmern. Davon abgesehen, legte er großen Wert auf das Bild einer perfekten Familie, da es seiner Außendarstellung diente, und Siw mühte sich nach Leibeskräften, diese Fassade der heilen Welt aufrechtzuerhalten. Sie hatte sich damals geschmeichelt gefühlt, dass er sie erwählt und um ihre Hand angehalten hatte. Den goldenen Ring mit dem eingefassten Brillanten an ihrem Finger hatte sie als Eintrittskarte in die gehobenen Kreise Stockholms betrachtet, und ihre Träume kreisten seitdem um ein luxuriöses Leben in der Großstadt, ohne dass Ingas Vater ihr dies explizit in Aussicht gestellt hätte.
Siws Träume waren geplatzt, einer nach dem anderen, denn sie hatte erkannt, dass sie zwar Erik Söderbergs Ring am Finger trug, er sich aber wenig für sie und sein schreiendes Kind interessierte, mit dem sie kaum fertigwurde. Nur bei den Kinderfrauen, die die kleine Inga in ihre Herzen geschlossen hatten, die aber wegen Siws cholerischen Gemüts nach kurzer Zeit das Handtuch warfen, hatte Inga sich geborgen gefühlt.
Ingas Familie lebte auf Stegesund, in einer von uralten Eichen umgebenen Villa, die ihr Großvater einst hatte erbauen lassen. Mit zehn Zimmern auf zwei Etagen, drei Bädern, einem prachtvollen Eingangsportal, einem lichtdurchfluteten Wintergarten, Parkettböden und einer Terrasse, die in den weitläufigen Garten überging, von wo aus man durch die Bäume hindurch die Ostsee in der Sonne glitzern sehen konnte. Für Inga war es nie etwas Besonderes gewesen, in einem Haus zu leben, in dem geblümte Tapeten die Wände schmückten, wertvolles Porzellan unzählige Glasvitrinen füllte, mehrflammige Kronleuchter von den Stuckdecken herabhingen und die Badewannen mit den glänzend polierten Wasserhähnen von Löwenklauen getragen wurden.
Ihr Vater, der acht Jahre zuvor das Immobiliengeschäft seines Vaters übernommen hatte und es ebenso erfolgreich fortführte, hielt sich die meiste Zeit in seiner Agentur in der Nähe des Stortorget in der Stockholmer Altstadt auf, von wo aus er seine Geschäfte betrieb, weshalb Inga ihn nur selten zu Gesicht bekam. Sie war nicht sicher, welche Bedeutung sie für ihren Vater hatte, sie schien ihm nicht zu fehlen, wenn er nicht zu Hause war, jedenfalls äußerte er nie etwas dergleichen. Umso üppiger fielen die Geschenke aus, mit denen er sie überhäufte, wenn er zurückkehrte aus der Stadt. Solange sie klein gewesen war, waren es Spielsachen gewesen, Puppen, Plüschtiere, Hörspielkassetten, Zubehör für ihr Puppenhaus, später ein Meerschweinchen und Rollschuhe. Einmal hatte er ihr ein Aquarium ins Zimmer gestellt mit exotischen Fischen in schillernden Farben, und an ihrem vierzehnten Geburtstag hatte er sie mit einer Armbanduhr überrascht, auf deren Ziffernblatt ein Diamant gefunkelt hatte.
Ingas Schränke und Regale hatten sich nach und nach bis zum Bersten gefüllt, aber ihrem Vater schien diese Tatsache einerlei zu sein. Er wurde nicht müde, immer mehr herbeizubringen, er konnte oder wollte nicht erkennen, dass Ingas Freude an seinen Geschenken rasch verflog. Wie hätte sie auch von Dauer sein können, wusste sie doch, schon bald die nächste Puppe, den nächsten Teddy, das nächste Paar Ohrringe in Empfang nehmen zu können.
Mit fünfzehn erfuhr sie per Zufall – weil sie heimlich an der Tür gelauscht hatte −, dass ihr Vater kein einziges dieser Geschenke selbst ausgesucht, sondern Linda mit dem Kauf beauftragt hatte. Linda, seine Sekretärin, die ihn gerade auf einer Geschäftsreise nach Italien begleitete, da er beschlossen hatte, luxuriöse Ferienhäuser in der Lombardei, im Piemont und in der Toskana für seine Kunden zu finden. Den Zeitraum seiner Rückkehr hatte er nicht genannt, und Siw, die in der Villa auf Stegesund geblieben war, wusste lediglich, dass die Reise ihres Mannes mehrere Wochen dauern sollte. Dass Linda ihn begleiten würde, hatte er ihr nicht gesagt, aber Inga wusste, dass ihre Stiefmutter längst begriffen hatte, dass da etwas zwischen ihr und ihrem Vater lief – die blonden Haare an seinem Jackett waren Grund für einen abendfüllenden Streit gewesen, von dem Inga beinahe jedes Wort verstanden hatte. Es faszinierte sie, mit welcher Energie Siw den Schein nach Leibeskräften wahrte und sich weiterhin in ihrem Status der Ehefrau von Erik Söderberg sonnte.
»Kann ich behilflich sein, junge Frau?« Eine tiefe, warme Stimme.
Inga fuhr herum. Sie sah sich einem bärtigen Mann gegenüber, der um die vierzig sein mochte. In seinem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht blitzten freundliche blaue Augen. Er trug einfache Arbeitshosen und eine Steppweste über einem verwaschenen Holzfällerhemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Aus einem Impuls heraus griff Inga nach ihrem Koffer.
»Vielen Dank, ich komme zurecht.«
Sie wandte sich zum Gehen, ohne dem Fremden einen weiteren Blick zu schenken. Der Koffer war schwer. Sie mühte sich mit seinem Gewicht ab. Zuerst hatte sie nur das Nötigste einpacken wollen, doch dann war ihr bewusst geworden, dass sie mehrere Wochen, vielleicht sogar Monate bleiben würde, möglicherweise bis zum Herbst, und so waren nicht nur Sommerkleider, leichte Hosen und Blusen, sondern auch Pullover, ihre Stiefel und ein gefütterter Mantel in den Koffer gewandert. Den Gedanken, dass ihr Bauchumfang zunehmen und sie in viele ihrer Kleidungsstücke schon bald nicht mehr hineinpassen würde, schob sie beiseite. Dafür würden sich Lösungen finden, wenn es so weit war. Zunächst zählte nur, dem Jähzorn und den Drohungen ihrer Stiefmutter zu entkommen und ihr Kind zu retten. Eine Windböe schlug ihr entgegen. Inga begann zu frösteln.
»Es fährt kein Bus mehr um die Zeit«, rief der Mann ihr nach.
Sie blieb stehen, schloss für einen Moment die Augen und seufzte lautlos auf. Hinter ihren Lidern begann es erneut zu brennen. Die Tränen ließen sich nicht länger zurückhalten, rannen zwischen ihren Wimpern hindurch.
»Ach je, Mädelchen, so schlimm?« Der Bärtige hatte sich ihr wieder genähert. Ohne Umstände zog er ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es Inga. »Hier, hab’s noch nicht benutzt.« Inga hob den Kopf, fing seinen freundlichen Blick auf und griff nach dem Taschentuch, in dem noch die Bügelfalten sichtbar waren. »Wenn ich helfen kann …«, sagte er, ohne den Satz zu beenden. Er wies auf ein Motorrad mit Seitenwagen auf der gegenüberliegenden Seite des Kais. »Wo soll’s denn hingehen?«
Geräuschvoll schnäuzte Inga sich die Nase. Dabei neigte sie den Kopf etwas nach vorn, sodass ihre strohblonden Haare über die Schultern nach vorn glitten und ihr Gesicht bedeckten. Sie hoffte, dem Fremden würde dadurch verborgen bleiben, dass sie ihn während des Naseputzens unauffällig musterte. Sie hatte noch nie im Seitenwagen eines Motorrades gesessen. War darin auch Platz für ihren Koffer? Und was, wenn seine Freundlichkeit nur vorgegeben war?
Inga knäulte das Taschentuch zusammen und schob es umständlich in die Tasche ihres Anoraks. Dabei ertasteten ihre Finger den Schlüssel, den sie am Morgen unbemerkt darin hatte verschwinden lassen.
»Danke«, sagte sie leise.
»Also?« Er suchte ihren Blick.
Inga wich ihm aus. Welche Wahl hatte sie? Sie kannte sich auf Skarpö nicht aus, wusste nur, dass sie vom Fähranleger dem Skarpövägen folgen musste, bis die Straße in der Inselmitte nach Süden hin abbog. Von dort war es nicht weit bis nach Dikholmen, der kleinen Insel, die zu Skarpö gehörte, aber nicht über eine Brücke oder einen schmalen Fahrweg mit ihr verbunden war, wie man es von anderen Schäreninseln kannte.
Auf Skarpö wie auf Dikholmen gab es jeweils einen Anleger mit kleinen Fährbooten, das wusste Inga, aber diese verkehrten nur selten und nach keinem festen Fahrplan. Und irgendwo auf Dikholmen stand das Haus, das sie suchte und in dessen Türschloss hoffentlich der Schlüssel passte, den sie wie eine Diebin aus der Schreibtischschublade ihres Vaters entwendet hatte.
»Passt mein Koffer denn da rein?« Mit skeptischem Blick und einer angedeuteten Kopfbewegung wies sie hinüber zu dem Motorrad.
»Das will ich meinen«, sagte der Fremde, griff mit einer Selbstverständlichkeit nach Ingas Koffer, als wäre es sein eigener, und trug ihn davon.
Inga eilte ihm nach. »Das ist sehr nett«, rief sie.
»Tja, ich bin ein gut erzogener Junge.« Inga hörte den Mann über seinen Scherz lachen. Er beugte sich zu dem Seitenwagen hinunter, nahm zwei Schutzhelme heraus und drückte sie Inga in die Hände. Sie sahen nicht sonderlich gepflegt aus und wiesen etliche Schrammen im Lack auf. Sie fragte sich, welche Köpfe schon darin gesteckt haben mochten, und beschloss, diesem Gedanken keine allzu große Beachtung zu schenken. Stattdessen sah sie dem Fremden dabei zu, wie er ihren guten Lederkoffer wenig einfühlsam in den Seitenwagen stemmte und ihn mithilfe eines abgewetzten Riemens routiniert festzurrte. Dann griff er nach einem der beiden Helme. »So, dann mal den Helm aufsetzen, Mädelchen.«
Dass er sie Mädelchen nannte, gefiel Inga nicht. Am liebsten hätte sie diese Respektlosigkeit mit deutlichen Worten kommentiert, entschied sich aber dagegen, da sie auf die Hilfsbereitschaft des Fremden angewiesen war.
Zögernd drehte sie den Helm in ihren Händen. Worauf ließ sie sich hier ein? Sie musste verrückt sein. Hatte sie erst einmal Platz auf seinem Gefährt genommen, könnte er sie wer weiß wohin bringen. Doch angesichts der einzigen Alternative, nämlich die Nacht am Fährhafen zu verbringen, blieb ihr wohl nichts weiter übrig, als sein Angebot anzunehmen. In was für eine unsägliche Situation hatte Siw sie nur gebracht! Nach ihrem letzten Aufeinandertreffen war Inga keine andere Möglichkeit geblieben, als Hals über Kopf die Flucht zu ergreifen. Neue Tränen sammelten sich in ihren Augen.
»Du lässt es wegmachen, oder du setzt keinen Schritt mehr in dieses Haus!«, hatte Siw geschrien, mit einem Hass, der den Sturm in ihrem Inneren nicht unmissverständlicher zum Ausdruck hätte bringen können. Ihre Stimme hatte sich fast überschlagen, und in ihren Augen hatte dieser gefährliche Glanz gelegen, den Inga nur zu gut kannte. »Du bist ein Schandfleck für deinen Vater und die ganze Familie! Scher dich zum Teufel!«
Inga hatte keine Zeit, herumzustehen und sich von ihren Zweifeln und den unliebsamen Erinnerungen aufhalten zu lassen. Mit dem Handrücken rieb sie sich über die Augen und setzte halbherzig den Motorradhelm auf. Ungeschickt nestelten ihre Finger am Verschluss herum. Sie ärgerte sich, dass sie nicht imstande war, ihn zu schließen.
»Ich hab noch nie … Wie geht denn das?«
Schon war er bei ihr. Sie spürte seine Finger an ihrem Kinn. Sie rochen nach einer Mischung aus Motoröl und Tabak. Inga versuchte, die Luft anzuhalten und sich nicht in etwas Widersinniges hineinzusteigern, als er die Schnalle des Kinnriemens schloss. Dann trat er einen Schritt zurück und nickte zufrieden.
»So, jetzt muss ich nur noch wissen, wohin ich dich und deinen Koffer bringen soll.«
»Ich weiß nicht … also … ich kenne den Weg nicht.« Seine Augenbrauen hoben sich. Sie sah, dass er den Schlüssel ins Zündschloss steckte. »Ich muss zu einem Gästehaus nach Dikholmen«, sagte sie. Ihre Stimme klang unsicher und hohl. Oder hörte sie sich nur so an, weil sie dieses Monstrum auf dem Kopf trug? »Ich hab es nur auf Bildern gesehen.«
Sie rief sich den Tag in Erinnerung, an dem ihr Vater mit Siw über den Kauf des Hauses gesprochen hatte. Es lag etwa zwei Jahre zurück, und es war das erste Gästehaus, das ihr Vater auf einer der Inseln gekauft hatte, um es an Urlauber zu vermieten. Für gewöhnlich gab er sich nicht mit dem Vermieten von Gästehäusern ab, sondern vermittelte sündhaft teure Wohnungen und Einfamilienhäuser in Stockholm und Umgebung. Aber dieses Haus schien aufgrund seiner abgeschiedenen Lage besonders reizvoll für überarbeitete Stadtmenschen zu sein.
»Dikholmen …«, wiederholte der Fremde. Er schwang sich auf sein Motorrad und bedeutete Inga, hinter ihm Platz zu nehmen. »Da musst du mit dem Fährboot rüber. Wir sollten uns beeilen, den Anleger zu erreichen. So viele Überfahrten machen die nicht.« Inga warf einen unsicheren Blick auf den Beiwagen mit ihrem festgezurrten Koffer. Dort zu sitzen wäre ihr lieber gewesen, aber es war müßig, darüber nachzudenken, weshalb sie es unterließ. »Ist eine einsame Gegend«, sagte er. »Dikholmen, meine ich. Da gibt’s nur wenige Häuser. Wartet wenigstens jemand da auf dich?« Sie schüttelte den Kopf. »Und wie lange willst du bleiben?«
Sie trat näher, der Fremde ließ den Motor an. »Eine ganze Weile«, murmelte sie, und ihr wurde bewusst, dass sie bei ihrem kopflosen Davonlaufen keine Sekunde darüber nachgedacht hatte, dass sie in absehbarer Zeit einen Arzt, eine Hebamme, ein Krankenhaus brauchen würde.
Ihre Antwort verlor sich im Knattern des Motors.
Granzbach, 2019
Drei Tage später kreuzte Lillemor in ihrem Taschenkalender den 12. Juni an. Ein Freitag. Bis dahin hatte sie noch einen guten Monat Zeit, um sich mental auf ihr Großprojekt einzustimmen. Auch über eine Probewanderung, wie Anja sie vorgeschlagen hatte, dachte sie nun ernsthaft nach. Immerhin könnte sie dabei feststellen, welche Streckenlänge sie in der Lage war zu leisten und wie es tatsächlich um ihre Motivation bestellt war. Sie hatte beschlossen, niemanden außer Mone und Anja in ihr Vorhaben einzuweihen. Es genügte, dass Anja nicht müde wurde, ihre Bedenken und Ängste zum Ausdruck zu bringen.
Selbst beim Telefonat, das Lillemor am Vorabend mit ihren Eltern in Schweden geführt hatte, hatte sie kein Wort über ihre Pläne verlauten lassen. Ihre Mutter sorgte sich ohnehin permanent um sie, und für ihren Vater war sie das kleine Mädchen geblieben, das es zu behüten und vor der Unbill der Welt zu beschützen galt. Bei jedem Telefonat, bei jedem ihrer seltenen Besuche gab er ihr zu verstehen, wie gern er sie näher bei sich haben würde und dass die zwischen ihnen liegenden fünfzehnhundert Kilometer für ihn nur schwer zu ertragen waren.
Sie klappte den Kalender zu, stand auf und stieg die Treppe nach oben in den ersten Stock, wo sich außer ihrem Schlafzimmer, dem Bad, einem Gästezimmer und einem Ankleideraum auch Timmys Zimmer befand. Die Tür war geschlossen. Das war sie immer. Sie zu öffnen bedeutete, sich dem Schmerz in seiner ganzen Wucht auszuliefern. Die erste Zeit war es ihr kaum möglich gewesen, die Klinke zu drücken, die Tür aufzustoßen und das Zimmer zu betreten, in dem Timmy fast sechs Jahre lang geschlafen, gespielt, gelacht und geweint hatte. In dem sie ihn gewickelt, gestillt und ihn Abend für Abend in den Schlaf gesungen hatte. In dem sie mit ihm gekuschelt, ihm vorgelesen, ihm von seiner Kusine Alva und seinem Vetter Ole erzählt hatte, die in Schweden lebten und Inselkinder waren, so, wie sie selbst früher ein Inselkind gewesen war.
Sie sah, wie sich ihre Hand auf die Klinke legte, sie herunterdrückte und wie sich die Tür öffnete. In all der Zeit hatte Lillemor nichts in diesem Zimmer verändert. Das Kinderbett mit der bunten Patchworkdecke, die Malin für Timmy genäht und zu ihnen nach Deutschland geschickt hatte, stand noch immer an seinem Platz. Darüber an der Wand die beiden gerahmten Tierbilder, ein Fuchsjunges und zwei Wolfswelpen, in der Ecke der kleine Tisch mit dem blau angestrichenen Holzstuhl. Das Feuerwehrauto, die Kiste mit den Legosteinen, Kinder- und Malbücher im Regal. Die Deckenlampe, die aussah wie ein rotes Rennauto. Und die Zebraffe von Jesper auf der Fensterbank, halb Zebra, halb Giraffe. Ihr Anblick zauberte ein flüchtiges Lächeln auf Lillemors Gesicht. Timmy hatte jahrelang geglaubt, in Schweden lebten diese seltsamen Zebraffen, wie sonst hätte Jesper sie aus Ton formen können?
Lillemor trat ans Bett, sank auf die Knie und beugte sich vor, sodass ihr Oberkörper auf der Matratze mit der bunten Decke zu liegen kam. Sie streckte einen Arm aus und tastete, ohne hinzusehen, nach dem kleinen Kissen, auf dem Timmys Name eingestickt war und das er jeden Abend in der Nähe hatte wissen wollen, weil er beim Einschlafen einen Zipfel in der kleinen Faust gehalten hatte, so lange, bis er über die Schwelle des Schlafs geglitten war und seine Hand sich entspannt hatte. Sie zog es zu sich heran, bettete ihren Kopf darauf, sog seinen Duft ein. Und während die Sehnsucht nach ihrem Kind sie innerlich zu zerreißen drohte, stiegen die Bilder der Erinnerung auf. Sie musste nicht nach ihnen rufen, sie kamen von allein, zerlegt in einzelne Sequenzen, ungeordnet wie ein Film, der beliebig vor und zurück lief. Und obwohl die Jahre ohne Timmy sie hinreichend gelehrt hatten, dass ihre Erinnerungen die nie ganz verheilende Wunde stets von Neuem aufrissen und zum Bluten brachten, ließ sie es zu, dass sie eintraten wie Gäste, die regelmäßig zu Besuch kamen, sich unaufgefordert niederließen und blieben. Wenn sie Timmy sehen wollte, blieb ihr nichts anderes, als den Erinnerungen die Tür zu öffnen und sich dem Schmerz auszuliefern.
Die Tränen rannen zwischen ihren Wimpern hindurch und sickerten ins Kissen, zwischen den ersten und den zweiten Buchstaben seines Namens. Und hinter ihrer Stirn sah sie ihren kleinen Jungen, wie er lachend auf sie zulief. Sie hörte ihn Mama, fang mich! rufen, und sie breitete die Arme aus und fing ihn auf, immer wieder fing sie ihn, drückte ihn an sich und küsste seine hellblonden Strubbelhaare und die vom Toben erhitzten Bäckchen. Fest umklammerte sie das Kissen, während sie lautlos hineinschluchzte und sich verzweifelt wünschte, es möge Timmy selbst sein, den sie in den Armen hielt.
Und während sie aus den Augenwinkeln den Sonnenstrahl wahrnahm, der Jespers Zebraffe am Fenster in einen Kranz aus Gold tauchte und einen hellen Streifen auf den Teppich malte, da überrollte das Heimweh nach Schweden Lillemor mit aller Macht.
Sie wuchsen auf Vaxön auf, einer Insel inmitten des Schärengartens, in der Sjögata, einer der kopfsteingepflasterten Straßen im alten Ortsteil der kleinen Stadt Vaxholm, nur eine halbe Autostunde von Stockholm entfernt. Auf Vaxön tickten die Uhren langsamer, bewegten sich die Leute ohne die Hast derer, die durch die nahe Großstadt eilten. Lillemor und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Malin lernten früh, was es bedeutet, Inselmädchen zu sein.
Ihre Eltern Carl und Henrika hatten das Haus gekauft, als Lillemor wenige Monate alt und Malin noch nicht auf der Welt gewesen war. Es war nicht groß, aber geräumig genug für eine vierköpfige Familie und einen zotteligen schwarzen Hund, der keiner Rasse zuzuordnen war. Im Garten, dessen rückwärtige Seite an die felsige Küste grenzte, gediehen ohne großes Zutun Margeriten, Klatschmohn und Rittersporn in Beeten entlang des Holzzauns. Ein Baumriese von knorrigem Aussehen schien über sie zu wachen, seine Astgabeln waren viele Jahre ein wunderbarer Spielplatz für Lillemor und Malin. Carl hatte es nicht gern, wenn seine Töchter auf den Baum klommen und rittlings auf den Ästen saßen. Nicht weil es sich für Mädchen nicht gehörte, sondern weil er sie jedes Mal im Geiste mit blutig geschlagenen Knien oder schlimmeren Verletzungen am Fuß des Riesen liegen sah und allein die Vorstellung ihn nervös machte.
Auf die Feriengäste, die mit den Fährschiffen vom Mälarsee durch die Fahrrinnen des Schärengartens kamen und in Vaxholm an Land gingen, musste die Stadt mit den rot angestrichenen Häusern in den kleinen wilden Gärten beschaulich und märchenhaft wirken. Für Lillemor und Malin war es nichts Besonderes, sie kannten nichts anderes. Im Gegenteil, je älter sie wurden, desto mehr entflammten ihre Träume von einem Leben jenseits dieser verschlafenen Insel, von einem Studium in der Stadt – in Stockholm oder Göteborg oder gar im Ausland.
Im Gegensatz zu Malin, die sich schließlich für das Bleiben entschied, weil Jan Olof, mit dem sie schon als Zehnjährige aufs Meer hinausgefahren war, ebenfalls blieb, setzte Lillemor alles daran, ihren Traum zu verwirklichen. Niemanden überraschte es, dass sie nach der Schule in die Fußstapfen ihres Onkels trat, bei ihm in die Lehre ging und ihren Abschluss zur Keramikerin mit Bestnote absolvierte. Warum es sie aber anschließend ausgerechnet ins Ausland zog, nach Deutschland, um dort am Institut für Künstlerische Keramik und Glas zu studieren, verstand niemand. Ihre Eltern wurden nicht müde, auf sie, ihre Älteste, einzureden und sie so wortreich wie vergebens zum Bleiben zu bewegen. Mit harten Worten wies Henrika ihren Bruder Jesper zurecht, der Lillemor ihrer Meinung nach den Floh vom Auslandsstudium ins Ohr gesetzt hatte. Doch der zuckte nur mit den Schultern und führte Lillemors außerordentliches Geschick im Umgang mit Ton ins Feld, das er in jeder Hinsicht zu fördern gedachte, daher ihre Entscheidung guthieß und unterstützte.
Ihr Onkel Jesper war der Einzige, von dem Lillemor sich verstanden fühlte, und so zog es sie häufig in das windschiefe Haus etwas außerhalb Vaxholms, das ihm zum Wohnen und Arbeiten diente. Er hatte es selbst entworfen und mit daran gebaut, und obwohl es wirkte, als passte eins nicht richtig zum anderen, war es auf eine besondere Weise interessant und heimelig. Durch einen Durchlass gelangte man vom ebenerdigen Wohnbereich in die Werkstatt. Zwei Töpferscheiben und ein wuchtiger Arbeitstisch befanden sich darin. Den Brennofen hatte ihr Onkel aus Ziegelsteinen in einem Anbau errichtet, der unmittelbar an die Werkstatt angrenzte. Schon als kleines Mädchen hatte Lillemor es gemocht, wenn Onkel Jesper mit einer Handbewegung Platz auf dem Tisch geschaffen und sie dann hinaufgehoben hatte, damit sie ihm von dort aus zusehen konnte. Manchmal hatte er ihr etwas Ton überlassen, den sie zu kleinen Würmern oder Käfern geformt hatte, und es war die Anmut ihrer kleinen Hände gewesen, mit der sie ihren Onkel beeindruckt hatte, ohne es zu ahnen.
Später hatte er sie an die Töpferscheibe gelassen und ihr beigebracht, wie sich aus einem Klumpen Ton ein Gefäß formen ließ. Ihr erster Milchkrug war etwas schief geraten, und sein Inneres war nicht sauber ausgehöhlt. Aber sie hatte einen recht passablen Henkel geformt und war fast geplatzt vor Stolz, weil Onkel Jesper nicht mit Lob gespart hatte.
Ihr Onkel war nie verheiratet gewesen, aber Lillemor und Malin sahen oft Frauen in seinem Haus. Sie kamen nur zu Besuch, keine von ihnen blieb, auch wenn er sie alle liebte, wie er stets beteuerte. Onkel Jesper trug sein langes Haar geflochten wie die Indianer in ihren Kinderbüchern früher, ein Lederband mit einer silbernen Feder um den Hals und Mokassins mit Fransen. Als Lillemor noch ein kleines Mädchen gewesen war, waren ihr seine Hände riesig erschienen, wenn sie sich um den feuchten Ton geschmiegt hatten, der sich auf der Scheibe drehte und der wie durch Zauberei mit jeder Runde seine Form verändert hatte. »Du hast die Kontrolle«, hatte er immer wieder zu ihr gesagt, das Werkstück auf der Scheibe bergend in seinen feuchten, tonverschmierten Händen. »Beides liegt in deinen Händen: das Werden und das Nichtwerden.«
Onkel Jesper war bekannt für seine ungewöhnlich geformten Gefäße und Skulpturen, für die Leute vom Festland eigens zu ihm in die Werkstatt kamen und einen Haufen Geld zahlten. In seinem Garten stellte er seine Werke aus, und wenn Spaziergänger vorbeikamen, blieben sie stehen und bewunderten sie. Die Zebraffen waren sein Markenzeichen. Er schuf sie in allen Größen und Variationen. Für eine von ihnen verlieh ihm die Keramikakademie Uppsala sogar einmal einen Preis. So wurde aus Onkel Jesper der Preisträger Jesper Jansson, was seinen Bekanntheitsgrad in der Fachwelt über Nacht enorm steigerte. Das Preisgeld steckte er in die Anschaffung eines kleinen Motorbootes, das er MIN KÄRLEK nannte, meine Liebe. Den Namen pinselte er hingebungsvoll mit blauer Farbe aufs Heck und schenkte das Boot einer seiner Frauen, die mit ihrem kleinen Sohn auf einer der Nachbarinseln lebte und ihn häufig besuchte.
Bestärkt von den Ermutigungen und inspiriert vom Schaffen ihres Onkels hielt Lillemor an ihrem Entschluss fest. Sie gab ihr Dasein als Inselmädchen auf und ging zum Studium nach Deutschland.
Dikholmen, 1960
Auf der Schwelle zwischen Nacht und Tag schälen sich die Konturen einer der Inseln aus dem Grau der Morgendämmerung. Ich kenne ihren Namen nicht, weiß nicht, wo ich bin. Im Vertrauen darauf, mich nach drei Stunden weit genug von zu Hause entfernt zu haben, rudere ich auf ihre Küste zu, auf eine kleine Bucht. Mit zusammengekniffenen Augen spähe ich hinüber. Keine Lichter. Keine Häuser. Aufatmen. Nur noch ein paar Meter und das Boot schrammt über den steinigen Grund. Umständlich klettere ich heraus, mit den ungelenken Bewegungen wie denen einer alten Frau, voller Angst, nicht wissend, wohin ich gehen werde. Eiskaltes Wasser dringt in meine Schuhe, durchnässt meine Hose bis zu den Knien. Schwer schmiegt sie sich an meine Beine. Den Sack presse ich fest an mich, während ich an Land wate.
Niemals wirst du uns entkommen. Wir bleiben bei dir, in dir, wohin auch immer du fliehst …
Urplötzlich sind sie wieder da, überlagern das Pochen meines Herzens. Ich will mir die Ohren zustopfen, ein Reflex, den ich nicht ablegen kann. Ein sinnloser Wunsch. Völlig entkräftet erreiche ich das Ufer. Felsen, glatt geschliffen von Meer und Wind. Atemlos gestatte ich mir einen Moment des Ausruhens, einen einzigen, lasse den Sack zu Boden gleiten und drehe mich noch einmal zu meinem Boot um. Sehe es in den Wellen schaukeln, nah beim Ufer. Bei seinem Anblick überfällt mich die Angst plötzlich mit aller Macht. Früher oder später wird jemand es entdecken, und wenn das Boot entdeckt wird, werde auch ich entdeckt! Mein Herz beginnt zu rasen, seine Schläge hämmern in meinen Schläfen. Ich muss doch unauffindbar bleiben! Deshalb muss das Boot verschwinden. Unser Boot.
Ich weiß, dass ich keine Wahl habe. Sehe mir dabei zu, wie meine Hände mit fahrigen Bewegungen den Sack öffnen, hineingreifen, das Beil finden. Über den Felsen eile ich zurück zum Boot, stehe gleich darauf wieder im Wasser. Im Nu füllen sich meine Augen mit Tränen, sie laufen mir übers Gesicht wie der Rotz aus der Nase, ich kann nicht aufhören zu weinen. Hebe den Arm mit dem Beil, schlage mit der letzten Kraft, die ich noch aufbringen kann, immer wieder ins Holz. Bis zu den Oberschenkeln stehe ich im Wasser, umspült von der kalten See, umgeben von der heraufziehenden Dämmerung, während ich die Schneide wieder und wieder in den Rumpf schlage. Das Boot erbebt unter der Wucht, mit der ich die Klinge ins Holz treibe. Es schaukelt und tanzt in der schaumigen Gischt, die an die Felsen brandet, und ich habe Angst, dass es davontreiben könnte, bevor ich fertig bin. Es ist, als wollte es sich zur Wehr setzen, als wollte es sich retten vor meiner Gnadenlosigkeit. Späne fliegen. Die Wellen zerren an meiner Öljacke, meinen Hosenbeinen, am Bootsrumpf. Das dumpfe Geräusch, wenn die Schneide tiefe Kerben in das Holz schlägt und es zum Splittern bringt, zerreißt die Stille um mich herum. Alles an mir ist starr vor Kälte, meine Hände fühlen sich taub an.
Auf einmal gleitet mir das Beil aus den Händen, klatscht ins Wasser und versinkt darin. Ohne einen Gedanken zu verschwenden, beuge ich mich nach vorn, um es wiederzufinden. Wie Feuer brennt das Salz in meinen zerschundenen Händen. Aber ich umklammere den Stiel des Beils so fest ich kann und mache weiter.
Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis ich Wasser durch die beiden hineingehauenen Spalten ins Innere des Bootes eindringen sehe. Ich will schreien. Schreien vor Erleichterung. Ich lasse meine Arme sinken, spüre, wie die Kraft vollends aus ihnen weicht. Ein heftiges Zittern erfasst mich, die Kälte, die Nässe, die Müdigkeit, der ich so gern nachgeben würde. Das Boot füllt sich nur langsam mit Wasser. Wenn ich es mit Steinen beschwere, wird es schneller kentern. Hastig und mit bebenden Schultern schaue ich zum Ufer, frage mich, wie viele Steine ich wohl hertragen muss, wie viel Gewicht notwendig sein wird, damit das Boot sinkt, doch ich verwerfe die Idee, weil ich nicht mehr dazu imstande bin.
Eines der beiden Holzruder lasse ich im Boot liegen, mit dem anderen gebe ich ihm einen Schubs, dann noch einen, bis die Wellen es mit hinausnehmen. Atemlos wate ich zurück zur Küste, sinke auf einen Felsen, schmecke Salz auf meinen Lippen, streiche mir nasse Haarsträhnen aus der Stirn. Inzwischen ist das fahle Licht der Morgendämmerung aufgezogen. Ich sehe zu, wie Wind und Wellen das Boot mitnehmen. Wie es irgendwann in eine Schieflage gerät, weiter trudelt, sich dreht, wie der Bug höher steigt. Was habe ich nur getan? Es verschwimmt vor meinen Augen, die Tränen laufen mir in Strömen übers Gesicht. Ich stehe auf, schultere den Sack und greife nach dem Ruder. Aus zusammengekniffenen Augen erkenne ich die Umrisse eines Waldes, der sich an die Bucht anschließt.
Den Sack über die Felsen und zwischen den vom Wind gebeugten Baumstämmen hindurch zu schleppen, kostet mich eine unglaubliche Kraft. Meine Schultern fühlen sich an wie zerschlagen, die Arme, als gehörten sie mir nicht. In meinem Rücken pocht es, und meine Füße in den durchnässten Schuhen sind kalte, gefühllose Anhängsel.
Da taucht mit einem Mal eine Lichtung vor mir auf. Ich setze den Sack ab, das Ruder fällt mir aus der Hand, und ich lasse mich ins Moos sinken, unfähig, meine Augen nur eine Sekunde länger offen zu halten.
Als ich erwache, ziehen schneeweiße Wolkenfetzen über mich hinweg, der Wind treibt sie auseinander, zerrt so lange an ihnen, bis sie ihre Form verändern. Ab und zu blitzt ein Stück vom hellen Morgenhimmel durch, fällt ein Sonnenstrahl durch die Wipfel zu mir herunter, wärmt für einen Moment meine Stirn, die sich kalt anfühlt vom Schweiß, der noch nicht getrocknet ist. Feuchte Haarsträhnen kleben an meinen Schläfen. Ausgestreckt liege ich da. Alles an mir zittert. Mein Herz jagt nicht mehr wie in der letzten Stunde, aber beruhigt hat es sich nicht. Unter mir fühle ich das Moos, weich und saftig grün, gespickt mit weißen Sternen, ein Moosbett. Mit geöffneten Händen liege ich da, ein Luftzug kühlt die aufgeplatzten Blasen, die blutigen Wunden darin. Durch den schmalen Spalt meiner Augenlider sehe ich, wie sich die Spitzen der Tannen im Wind ganz leicht hin- und herbewegen. Ihre Stämme knarzen. Vögel singen. Das Meer kann ich nicht hören, es müssen mindestens fünfhundert Meter zwischen der Lichtung und der felsigen Küste liegen, an der ich gestrandet bin. Doch der gleichförmige Wellenschlag der letzten Stunden hallt wie ein Echo in meinen Ohren nach.
Immer wieder treibt die Erinnerung mir die Bilder der Augenblicke in den Kopf, in denen ich mir jede Möglichkeit zur Rückkehr genommen habe. Nehmen musste. Die Bilder versetzen mich in eine Unruhe, die ich nicht gebrauchen kann. Ich muss klar denken. Darf mich nicht von Zweifeln oder Angst bestimmen lassen.
Mit einer Hand taste ich nach der Stelle über der Brust, an der das Medaillon auf meiner Haut ruht, finde es nicht. Wo ist es? Ich werde es doch nicht verloren haben? Beunruhigt ziehe ich den Reißverschluss der Öljacke etwas auf, schiebe meine Hand hinein, taste weiter. Da! Über der rechten Schulter. Ich ziehe es nach vorn, umschließe es mit meinen Fingern, atme tief ein und wieder aus.
Das Zittern vergeht nicht. Ich muss aus den nassen Kleidern. Langsam richte ich mich auf. Sehe mich um. Die Lichtung ist nicht sicher. Ich brauche Schutz. Ein Versteck. Einen Ort zum Bleiben. Und dann höre ich sie plötzlich wieder.
Du kannst uns nicht entkommen. Niemals!
Dikholmen, 1968
Wie unwohl sie sich fühlte, merkte Inga schon nach wenigen Augenblicken. Sie wünschte sich, den Abstand zu dem Fremden vergrößern zu können, aber diesen Spielraum bot der Platz auf der Motorradsitzbank ihr nicht. So blieb ihr nichts übrig, als die unangenehme Nähe zu ihm zuzulassen. Seine Aufforderung, dass sie gut daran täte, während der Fahrt beide Arme um seinen Oberkörper zu legen, hatte blankes Entsetzen in ihr ausgelöst. Aber schon nach den ersten Metern hatte sie begriffen, dass ihre Hände nirgendwo anders Halt finden würden. So befand sie sich in einer ausgesprochen misslichen Lage, weil sie zwar erkannte, dass sie auf die Hilfe des Mannes angewiesen und daher gezwungen war, ihm einen gewissen Vertrauensvorschuss entgegenzubringen, er aber andererseits ein Unbekannter war, den sie weder einschätzen konnte noch berühren wollte.
Die Vibration des Motors übertrug sich bald auf ihren Körper, sodass die Muskulatur ihrer Arme und Beine verkrampfte. Mit der Zeit gewöhnte sie sich an den Helm, der ihren Kopf umschloss, und an den Lederriemen unter ihrem Kinn. Im Stillen hoffte sie, der Fremde möge ein rechtschaffener Mensch sein, der sie, wie abgesprochen, zur Fähre nach Dikholmen bringen würde.
Sie folgten dem Skarpövägen, der von der Küste wegführte und sich zwischen Wiesen, Viehweiden und Nadelwäldchen entlangschlängelte. Hier und da passierten sie einsame Gehöfte und rote Holzhäuser, die trotz des nachlassenden Lichtes aus dem Grün der Umgebung heraus leuchteten wie bunte Bausteine.
Irgendwann verringerte der Motorradfahrer das Tempo, schließlich brachte er die Maschine zum Stehen. Das Motorengeräusch verstummte, Inga atmete auf. Sie glitt von der Sitzbank, erleichtert, wieder Boden unter den Füßen zu spüren. Tief sog sie die kühle Luft in die Lungen.
»Hier ist es«, hörte sie den Fremden sagen, noch bevor sie Einzelheiten der Umgebung wahrgenommen hatte.
Mit einem Ächzen stieg er vom Motorrad. Vor ihnen schälten sich die Umrisse eines verwinkelten Gebäudekomplexes aus der Dämmerung, Holzhäuser mit rotem Anstrich und weißen Fensterrahmen, umgeben von Grundstücken mit hochgewachsenen Birken und Lattenzäunen. Einige Fenster warfen Licht aus dem Inneren nach draußen. In unmittelbarer Nähe erkannte Inga einen Landungssteg, daneben ein Fährboot, zwei Segel- und etliche Motorboote, die am Anleger vertäut waren.
»Der Hafen«, murmelte sie erleichtert.
Entschlossen öffnete sie die Schnalle des Kinnriemens und streifte sich den Helm vom Kopf. Sie legte ihn auf die Motorradsitzbank und ordnete ihr Haar, als wären Äußerlichkeiten in diesem Augenblick von höchstem Belang.
»Übertreib nicht«, sagte der Fremde.
»Was?«
»Hafen …«
Er stieß ein verächtliches Schnauben aus, und Inga hörte ihn etwas vom Containerhafen in Göteborg brummeln, wo er über zwanzig Jahre lang Schiffe mit dem Kran beladen habe.
Seine Worte drangen zwar an ihre Ohren, erreichten ihren Geist jedoch nur bruchstückhaft. In Gedanken war sie bereits einen Schritt weiter. Unter allen Umständen wollte sie an diesem Tag noch Dikholmen erreichen. Sie wusste, dass es nur ein kurzer Weg bis zu der Nachbarinsel war, höchstens eine Viertelstunde mit dem Fährboot, fürchtete aber, dass sie die letzte Überfahrt verpasst hatte. Um diese Zeit würde sicher niemand mehr von Skarpö ablegen. Wie ließe sich das herausfinden? Wahrscheinlich war das vor ihnen liegende Haus die einzige Möglichkeit, es in Erfahrung zu bringen. Unentschlossen wanderte ihr Blick zurück zu dem Fremden, der sie abwartend ansah, und streifte gleich darauf ihren Koffer im Beiwagen.
Nun erst nahm sie die Kälte wahr, die ihr unaufhaltsam unter die Kleider kroch, ihre eisigen Füße, ihren schmerzenden Rücken. Der Fahrtwind musste sie ausgekühlt haben, ohne dass sie es bemerkt hatte.
»Hör mal, Mädelchen.« Der Mann trat einen Schritt auf sie zu. »Ich hab ein denkbar schlechtes Gefühl, dich hier mit deinem Koffer abzusetzen. Ich fürchte, niemand bringt dich heute noch rüber nach Dikholmen.«
Inga erstarrte. Prophezeiungen dieser Art waren das Letzte, was sie hören wollte. In einem stillen Winkel ihres Herzens fürchtete sie jedoch, dass er recht hatte. Wie naiv war sie nur gewesen! Warum hatte sie bei ihrem Aufbruch nicht einkalkuliert, dass es möglicherweise zu spät sein könnte für eine Überfahrt von Skarpö nach Dikholmen? Wo würde sie schlafen, wenn sie bis zum Morgen hier festsitzen würde?