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"Als Kind war ich davon überzeugt, von uns dreien die unwichtigste, die nutzloseste, die wertloseste Tochter zu sein. Warum sonst durftet ihr bleiben, während er mich fortgab?" Janes Krankheit zwingt sie dazu, ihre Arbeit für ein humanitäres Hilfsprojekt im Südsudan zu beenden. Die Angst davor, nach ihrem Tod in Vergessenheit zu geraten, weckt in ihr den Wunsch, nach zwanzig Jahren des Schweigens Kontakt zu ihren beiden Schwestern aufzunehmen. Sie lädt sie nach Rømø ein, auf die dänische Insel, wo sie als Kinder unbeschwerte Ferien verbrachten. Notdürftig knüpfen die Schwestern das einst zerrissene Band zusammen, um Antworten auf Fragen zu finden, die in der Familie nie gestellt werden durften. Die eigenwillige Selma vermeidet alles, was alte Wunden aufreißen könnte. Mascha sieht sich unvorbereitet mit einer Schuld konfrontiert, die sie zutiefst erschüttert. Und Janes Zustand verschlechtert sich Tag für Tag. Michaela Abresch erzählt die berührende Geschichte einer Familie, die geübt darin ist, den Mantel des Schweigens über störende Risse im Familiengefüge zu breiten – ohne zu merken, dass die verschwiegenen Wahrheiten sie alle an einem erfüllten Leben hindern.
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Seitenzahl: 609
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Michaela Abresch
All die ungelebten Leben
Roman
Abresch, Michaela: All die ungelebten Leben.
Hamburg, acabus Verlag 2020
Originalausgabe
PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-734-3
Dieses eBook ist auch als Printversion erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
Print: ISBN: 978-3-86282-733-6
Lektorat: Lea Oussalah, acabus Verlag
Satz: Lea Oussalah, acabus Verlag
Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag
Covermotiv: pixabay.com; von Ricardo / stock.adobe.com
„Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“, aus:
Hans Christian Andersen: Ausgewählte Märchen
© 2017 SEVERUS Verlag, Hamburg
„Ich werde fortgehn im Herbst“ und „Der Sternanzünder“, aus:
Mascha Kaléko: Die paar leuchtenden Jahre
© 2003 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
„The Logical Song“
mit freundlicher Genehmigung des Managements von Roger Hodgson
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,
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https://www.verlags-wg.de
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© acabus Verlag, Hamburg 2020
Alle Rechte vorbehalten.
http://www.acabus-verlag.de
Inhalt
Widmung
1 – Jane
2 – Mascha
3 – Gitte
4 – Selma
5 – Jane
6 – Mascha
Vergangenheit
7 – Selma
8 – Jane
Vergangenheit
9 – Gitte
10 – Jane
11 – Mascha
Vergangenheit
12 – Jane
13 – Selma
Vergangenheit
14 – Gitte
15 – Mascha
16 – Jane
17 – Selma
Vergangenheit
18 – Gitte
19 – Selma
Vergangenheit
20 – Mascha
21 – Jane
22 – Selma
23 – Gitte
24 – Mascha
Vergangenheit
25 – Selma
Vergangenheit
26 – Mascha
Vergangenheit
27 – Jane
28 – Gitte
29 – Selma
30 – Jane
31 – Gitte
32 – Jane
33 – Mascha
Vergangenheit
34 – Selma
35 – Jane
36 – Mascha
Vergangenheit
37 – Selma
Vergangenheit
38 – Gitte
39 – Jane
40 – Gitte
41 – Jane
42 – Mascha
43 – Jane
Die letzten Tage I
Die letzten Tage II
Epilog
Zum Schluss ein paar Zeilen …
Die Autorin
sie raunen und flüstern
sie säuseln und wispern
vor menschenaug’ verborgen
gestern, heut und morgen
trägt sie der wind
hörst du mein Kind
ihren ewigen hauch
in halmen und rauch
windgeister singen im dünengras
ihr ewiges lied
mit stimmen aus glas
1
Jane
Sie hatte nicht vorgehabt, das Geschriebene noch einmal zu lesen, sondern den Briefbogen gleich zusammenfalten und im ersten Kuvert verschwinden lassen wollen. Es war an Selma Melchior adressiert, ihre zehn Jahre ältere Schwester.
Das Vorhaben scheiterte. Janes Blick glitt über die Zeilen, die sie soeben niedergeschrieben hatte.
Liebe Selma, liebe Mascha,
wisst Ihr, dass es für den richtigen Zeitpunkt im Leben einen Begriff gibt? Ein Pater, mit dem ich in Afrika zusammengearbeitet habe, lehrte ihn mich. Kairos. Der bestmögliche Zeitpunkt für das Treffen einer Entscheidung oder für eine Gelegenheit, die man erkennen und nicht verstreichen lassen sollte. Es geht also nicht nur darum, diesen Zeitpunkt zu erkennen, sondern vor allem, ihn nicht ungenutzt dahinziehen zu lassen und im besten Fall etwas Gutes daraus zu machen.
Für mich fühlen sich diese Tage kurz vor Papas zwanzigstem Todestag an wie mein persönlicher Kairos. Und nur deshalb kann ich Euch schreiben.
Bei seiner Beisetzung waren wir zum letzten Mal zu dritt. Ich war Mitte zwanzig. Alt genug, dachte ich damals, um in ganzer Tragweite zu verstehen, was es bedeutet, plötzlich nicht mehr nur ohne Mutter, sondern auch ohne Vater zu sein. Mein Dasein als Tochter war beendet. Offiziell beendet. Danach angefühlt hat es sich ja schon lange vorher. Sie mochten mich nie so wie Euch, vielleicht war nach zwei Kindern für das Jüngste einfach nicht mehr so viel Liebe übrig. Und nach Papas Tod verlor ich auch Euch. Ich fühlte mich entwurzelt. Heimatlos. Abgeschnitten. Niemandem mehr zugehörig. Die Erkenntnis tat weh, obwohl ich mich zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr als Teil unserer Familie gefühlt hatte. Aber mit Papas Tod wurde ein Band durchschnitten, das uns trotz der räumlichen Trennung bis dahin zusammengehalten hatte. Wahrscheinlich war dies der Grund, warum ich einen anderen als den »üblichen« Weg gewählt habe, fortging, mein Leben fernab von Euch und von den Gräbern unserer Eltern lebte, die ich beide nie so betrauern konnte, wie ich glaubte, dass eine Tochter es tun sollte. Konntet Ihr es?
Hätte ich Tante Gitte nicht gehabt, wäre ich vielleicht im Ausland geblieben. Wegen ihr kam ich immer wieder zurück, wie ein Schiff in seinen Heimathafen.
Das Zeitrad läuft weiter. Weder kann ich es zurückdrehen, um Versäumtes nachzuholen, noch es anhalten, in der Hoffnung, die Dinge dann besser zu verstehen. Dabei wünsche ich mir nichts mehr als das! Ich möchte die Zeit festhalten mit ganzer Kraft, damit ich die Möglichkeit habe, zu begreifen, warum die Dinge sich so entwickelt und wir einander aus den Augen verloren haben.
Manchmal beobachte ich Frauen auf der Straße, im Supermarkt, in der Warteschlange am Flughafenschalter, und ich frage mich, ob Du es bist, Mascha, oder Du, Selma. Würde ich nach all den Jahren noch etwas von denen, die Ihr wart, als ich Euch zum letzten Mal gesehen habe, erkennen?
Möglicherweise überrumpele ich Euch mit diesem Brief. Bitte entschuldigt, falls es so sein sollte. Wahrscheinlich hoffe ich, dass Ihr inzwischen ähnlich denkt und fühlt wie ich und dass Euch die Lieblosigkeiten leidtun, die ausgesprochen wurden. Nur deshalb kann ich Euch schreiben, wegen der Hoffnung – und Euch einladen nach Lakolk. Tante Gittes Sommerhaus ist angefüllt mit guten Erinnerungen, mit den Gerüchen und dem Lachen unserer Kindheit. Gibt es einen besseren Ort für ein Wiedersehen? Hier ist alles bereit für Euch. Wenn Ihr mit dem Zug anreist und abgeholt werden müsst, setzt Euch mit Tante Gitte in Verbindung, sie wird sich kümmern. Ihre Handynummer findet Ihr am Ende dieses Briefes.
Ich bin übrigens schon dort, in Tante Gittes kleinem Haus am Meer, und ich schreibe diese Zeilen auf der Veranda, an dem Holztisch, auf dem wir seinerzeit unsere Muscheln ausgelegt haben, nachdem wir mit gefüllten Eimern vom Strand gekommen waren. Die Sonne wärmt meine Hände, und im Strandhafer wispern die Windgeister wie früher, erinnert Ihr Euch?
Ich wünsche mir, noch einmal mit Euch am Muscheltisch zu sitzen und Euch den Sand aus den Haaren zu kämmen, wenn Ihr vom Schwimmen zurückkommt.
In Erwartung, mit Hoffnung und großer Vorfreude
Jane
Erneut wanderte ihr Blick zu den Worten über den Kairos. Klangen sie zu theatralisch? Hätte sie eine Erklärung hinzufügen sollen? Absichtlich hatte sie auf Einzelheiten verzichtet und es vermieden, die Wahrheit bei ihrem bösartigen, unheilbaren Namen zu nennen. Mitleid zu wecken, lag ihr fern, es sollte nicht der Grund für ihre Schwestern sein, der Einladung zu folgen.
Sie sank im Stuhl zurück und schloss die Augen, die rechte Hand schützend auf dem Bogen Papier. Eine Windböe zerrte an den Ecken, hätte genügend Kraft, Selmas Brief in einem einzigen Augenblick vom Tisch zu heben und mitzunehmen, wenn Janes Hand sie nicht daran hindern würde. Dies vermochte sie gerade noch – einen Bogen Papier vor dem Wind zu retten.
Ich nenne mich wieder Jane, gesprochen, wie man es schreibt … hätte sie gern dazugesetzt, so wie Mama mich nannte, weil sie die englische Form des Namens nicht mochte.
Die Junisonne strich über ihr Gesicht. Ein vergänglicher Moment von Wärme, bevor die nächste Brise wieder ihre Stirn kühlte. Sie ließ die Enden des Tuches flattern, das Jane sich um den Kopf geschlungen und hinter dem Ohr verknotet hatte. Baumwolle, handgewebt, braun, ockergelb, dunkelrot. Jane ließ ihre Hand über den Stoff gleiten, und die Erinnerungen holten sie ein.
Das Tuch hatte einer jungen Frau aus dem Südsudan gehört, einer Dinka. Ihr Name war Nyakuma, sie war groß und schmalgliedrig, wie die meisten Frauen ihres Stammes, und sie trug die fächerförmigen Narben auf ihrer Stirn voller Stolz. Während der Cholera-Epidemie hatte sie ihr vier Monate altes Baby ins Hospital gebracht. Es war während der Trockenzeit, die Luft flirrte vor Hitze. Barfuß war sie viele Stunden durch den Busch und roten Staub gelaufen, das Kind in einem Tuch auf dem Rücken. Schweiß rann ihr die Schläfen herunter, ihre Lippen zitterten, und ihre Schultern bebten, als sie ihr Kind ohne ein Wort und mit flehendem Blick in Janes Arme legte. Nyakuma war eine von Hunderten. Und ihr Kind eins von Tausenden, denen die Epidemie den letzten Lebensfunken zu rauben drohte. Der Junge hatte Gliedmaßen wie Streichhölzer, und durch die großen Mengen wässrigen Durchfalls war sein Körper welk wie ein ausgetrockneter Halm. Er befand sich in einem Dämmerzustand, als Jane ihn entgegennahm. Die einzige Regung war ein kaum merkliches Zucken seiner Nasenflügel. Zum Glück ließ sich eine Vene an seinem Fuß punktieren, in die man ihm eine Kanüle legte. Tagelang tropften Elektrolyt- und Glukoselösungen hinein, und glücklicherweise hatte die Apotheke des Hospitals in jenen Tagen genügend Antibiotika vorrätig. Nyakuma saß bei ihm, Tag und Nacht, in dem eigens für die Cholerakranken errichteten Zelt, in dem die meisten Matratzen doppelt belegt waren, weil die Kinder schmächtig und es so viele waren. Nyakuma betrachtete ihr Kind, das verloren am Kopfende ruhte, während sie weiter unten saß. Sie legte jeden Tag einen verknoteten Grasbüschel auf den Bauch des Jungen, wie es die Riten ihres Stammes vorschrieben, und wirklich – die Dämonen ließen von ihm ab! Nyakuma nahm ihn auf, mit glänzenden Augen, und tastete gleichzeitig nach Janes Hand. Es war das erste und einzige Mal, dass Jane den vorgeschriebenen, dem persönlichen Schutz dienenden Sicherheitsabstand missachtete. Sie konnte nicht anders, fühlte sich außerstande, der jungen Dinka-Mutter ihre Hand zu entziehen und auf die Behutsamkeit, mit der die dunkelhäutigen Finger ihre hellen umschlossen, mit Abwehr zu reagieren. Nyakuma hatte die Lider gesenkt und leise zu singen begonnen. Die gleichförmige Melodie, ihre weiche Stimme und die Zartheit der Berührung verschmolzen miteinander und schufen eine Nähe zwischen den beiden Frauen, die Jane zutiefst ergriff.
»It’s an old traditional song«, flüsterte eine einheimische Ärztin ihr im Vorübergehen zu. Jane sah ihr nach, lächelte und wandte sich wieder Nyakuma zu, die noch immer sang. Ein Lied ihres Stammes als Zeichen ihrer Dankbarkeit. Mit zwei Fingern löste sie den Knoten des Baumwolltuches, mit dem sie ihr krauses Haar gebändigt hatte, und legte es Jane in die Hand. In dieselbe, die sie zuvor berührt hatte. Beschämt senkte Jane den Blick. Aber sie hatte gewusst, dass sie es annehmen musste, um die junge Dinka nicht zu beleidigen. »Ich werde es in Ehren halten«, hatte sie auf Englisch geflüstert und das Tuch zur Bekräftigung an ihre Brust gedrückt. Dass sie es den Frauen im Südsudan einmal gleichtun und es als Kopfbedeckung tragen würde, hatte sie an jenem Tag nicht geahnt.
Noch immer ruhte Janes Hand auf dem Briefbogen. Am Mittag hatte der Wind aufgefrischt, nicht unüblich für diese westlich gelegene Inselregion auf Rømø. Er hatte Jane jedoch nicht davon abhalten können, die beiden Briefe im Freien am Muscheltisch zu schreiben. In all den Jahren hatte er seinen Platz in der Ecke der Veranda behalten, ein quadratischer Holztisch, an dem früher drei Hocker gestanden hatten. Für jede Schwester einer. Mit wasserfesten Stiften hatten sie die Anfangsbuchstaben ihrer Namen auf jeweils ein Stuhlbein geschrieben. Sie wollten Verwechslungen ausschließen. Tante Gitte hatte Stuhlkissen genäht, aus weißer, mit hellblauen Seesternen bedruckter Baumwolle und mit blauen Schleifen, mit denen die Mädchen sie an der Sitzfläche befestigt hatten.
Leider hatten die Hocker aus Kindertagen die Jahre nicht überdauert. Heute hatte nur noch ein einziger Stuhl seinen Platz am Muscheltisch. Seine Sitzfläche bedeckte ein weiches Kissen, auf dem Jane halbwegs bequem sitzen konnte. Er hatte Armlehnen zum Aufstützen, was praktisch war, wenn sie wenig Luft bekam, und an dem nachträglich anmontierten Haken an der Rückenlehne baumelte eine Leinentasche. Sie enthielt Janes Notfallausrüstung. Einen Handventilator samt Ersatzbatterie, eine steril verpackte Spritze mit integrierter Kanüle, eine Ampulle Morphin, zwei Lorazepam-Tabletten und eine Flasche Mineralwasser. Jane ging auf Nummer sicher. Sie kontrollierte die Tasche morgens und abends auf Vollständigkeit.
Mit der freien Hand hielt sie ihre Strickjacke vor der Brust zusammen. Beige mit braunem Norwegermuster, ein Geschenk von Tante Gitte und inzwischen so weit geworden, dass Jane beinahe darin verschwand, aber das störte sie nicht. Gitte hatte sie während der ersten Chemotherapie gestrickt. Flink hatte sie die Nadeln in ihren Händen bewegt, und Jane hatte beobachtet, wie das Muster entstanden war, die Leiste mit den Knopflöchern, die Ärmel, der Kragen.
»Du wirst sie tragen, wenn das hier vorbei ist«, hatte Gitte gesagt, in den stillen Stunden, als Jane zum wer weiß wievielten Mal zitternd und mit kalkweißem Gesicht in die Laken zurückgesunken war, weil sie so lange gewürgt und gallige Flüssigkeit erbrochen hatte, bis eine gnädige Erschöpfung sie in die Arme des Schlafs getrieben hatte. Gitte war bei ihr gewesen, hatte ihr die Schüssel gehalten, ihr aus dem schweißnassen T-Shirt geholfen, ihr das Gesicht, ihre Hände gewaschen, ihren kahlen Schädel geküsst, ihre Tränen getrocknet und an ihrem Bett gewacht, wenn Jane für ein paar Minuten weggedämmert war, bevor der nächste Krampf sie geschüttelt hatte. Du wirst sie tragen, wenn das hier vorbei ist … Als sei die Chemotherapie eine überflüssige Episode, die es galt, mit zwei Stricknadeln so schnell wie möglich zu Ende zu bringen. Doch es hatte unbeirrbar geklungen und war in jenen Tagen zu einem Hoffnungslicht für Jane geworden. So wie die Jacke.
Sie schüttelte die Erinnerungen ab, faltete den Brief und schob ihn in das Kuvert mit Selmas Adresse, der letzten, die sie von ihrer Schwester hatte, in der Hoffnung, dass sie noch immer in dieser kleinen Stadt im Norden Deutschlands lebte. Eine Hand berührte ihre Schulter.
»Tee?«
Jane nickte, ohne sich umzudrehen. Gitte stellte ein Tablett auf den Tisch. In zwei Teegläsern dampfte frisch aufgebrühter Kräutertee.
»Kommst du voran?«, fragte sie.
»Der für Selma ist fertig.« Jane befeuchtete die Haftfläche des Kuverts mit der Zunge, klebte es zu und beschwerte es mit dem Stein, den Gitte ihr von einem Strandspaziergang mitgebracht hatte.
»Mach eine Pause, wenn es dich anstrengt.« Gitte reichte ihr eines der beiden Teegläser.
»Zitronenmelisse?«, fragte Jane, als ihr das Aroma in die Nase stieg.
Über das Gesicht ihrer Tante zog ein Lächeln. »Du hast ein feines Näschen.«
»Nicht alles an mir ist funktionsunfähig geworden.« Jane legte beide Hände um das Teeglas und spürte die Wärme, die sich auf ihre Handflächen übertrug.
»Setz dich zu mir«, bat sie. Sie beobachtete ihre Tante, die in dem alten Schaukelstuhl Platz nahm, den Jane immer geliebt hatte, inzwischen aber mied, weil das Sitzen darin sie schwindelig machte.
Gitte war dreiundsiebzig, eine agile Person mit zierlichem Körperbau und schulterlangem, ergrautem Haar, das sie zu einem kurzen Zopf am Hinterkopf zusammenband, wie sie es seit jeher getan hatte. Ihr Äußeres ließ eine zerbrechliche Persönlichkeit vermuten, doch dieser Eindruck trog. Janes Tante war eine starke Frau, die ihre Eigenständigkeit schätzte. Gitte hatte nie in der Abhängigkeit eines Mannes gelebt, im Gegensatz zu den meisten Frauen ihres Alters, die geheiratet hatten, um versorgt zu sein. Gitte versorgte sich selbst. Bis zu ihrer Pensionierung hatte sie Deutsch an einem katholischen Mädchengymnasium unterrichtet. Sie kochte hervorragende Marmeladen, kannte gegen jede Krankheit ein Kraut, war in der Lage, mit einer Bohrmaschine umzugehen, konnte einen Bilderrahmen mit Hilfe einer Wasserwaage exakt ausgerichtet an der Wand befestigen und kannte Strategien, um einem verstopften Abfluss zu Leibe zu rücken. Sie brachte die kompliziertesten Strickmuster zustande, konnte ein von einem Marder angebissenes Zündkabel notdürftig zusammenflicken, und sie liebte Jane wie eine Mutter ihr Kind.
Mit einem Fuß hielt sie den Schaukelstuhl in Bewegung. Der Holzrahmen knarrte leise. Sie nippte an ihrem Tee. »Ich habe sie heute früh geerntet«, sagte sie.
»Im Mittelalter hätte man dich auf dem Scheiterhaufen verbrannt«, erwiderte Jane. Sie spitzte die Lippen und trank einen winzigen Schluck.
»Wusstest du, dass man die Zitronenmelisse auch Herztrost nennt?«, fragte Gitte.
Jane schüttelte den Kopf. Der Tee war noch heiß und schmeckte nach nichts. Wie das Meiste, das sie zu sich nahm. Sie schloss die Augen, sog den Duft ein und versuchte, sich an den Geschmack von Tee aus Zitronenmelisse zu erinnern. »Klingt schön«, sagte sie. »Ein Trost für das Herz.«
»Und für deinen Magen«, fügte Gitte hinzu.
Wieder legten sich Janes Hände schützend um das warme Teeglas. Sie ließ ihren Blick über die grüne Dünenlandschaft wandern, an die das Sommerhaus ihrer Tante auf der rückwärtigen und an der Westseite grenzte. Man hatte das Haus seinerzeit als eines der ersten in Lakolk errichtet, in unmittelbarer Nähe zu den sanft ansteigenden und abfallenden, mit Heidesträuchern und Strandhafer bewachsenen Hügeln, die eine natürliche Grenze zum Meer bildeten. Es war ein rot angestrichenes Holzhaus mit weißem Giebel und dunklen Dachschindeln. Die aus Holz gezimmerte Veranda verlief ringsherum und schrie, ebenso wie die Fensterläden, nach einem frischen Anstrich. Eins von den drei Schlafzimmern hatten sie vor wenigen Tagen für Selma und Mascha hergerichtet. Zwei Betten standen darin, an jeder Längsseite eines, mit Patchworkdecken und vielen Kissen. Gitte hatte sie bezogen, anschließend den Holzboden gewienert und den Flickenteppich ausgeschüttelt, während Jane Kerzen und Karamellkonfekt gebracht hatte. Ihre Schwestern sollten sich wohlfühlen.
»Wenn sie hier sind, wird es wie früher sein«, sagte sie, ohne den Blick abzuwenden. Es klang unbeirrbar, ließ nicht den geringsten Zweifel zu. In Erwägung zu ziehen, ihre Schwestern könnten ihre Einladung ignorieren, verbot Jane sich. Der Vorstellung, schon bald gemeinsam mit ihnen am Muscheltisch zu sitzen, wohnte eine Kraft inne, die stärker war als die Bedenken. Stärker als die Lieblosigkeiten, die sie entzweit hatten. Stärker als die Angst, sie könnten ihre kleine Schwester vergessen haben.
»Wir brauchen zwei weitere Stühle hier auf der Veranda«, sagte sie an ihre Tante gewandt.
Gitte nickte. »Ich weiß. Ich habe dir versprochen, mich darum zu kümmern.«
Jane stellte das Teeglas ab und schraubte die Kappe von ihrem Füllfederhalter. Dann zog sie den Block, auf dem sie den Text vorgeschrieben hatte, näher zu sich heran und begann den Brief an Mascha, die mittlere der drei Schwestern.
2
Mascha
Sie warf sich ihren abgewetzten Lederrucksack über die Schulter. Mit der linken Hand griff sie nach der in Papier eingeschlagenen Pflanzschale und schloss mit der rechten die Ladentür ab. Mascha war die Letzte, wie meistens, und wie so oft durchfuhr sie beim Abschließen der Tür ein mit Wehmut getränkter Wunsch. Könnte es doch ihre eigene Ladentür sein, die sie morgens auf- und abends zusperrte! Der Traum von einem kleinen Blumenladen gedieh beharrlich seit vielen Jahren, und Mascha war eine Meisterin darin, ihm imaginär das Überleben zu sichern. Sie schmückte ihn gedanklich aus mit einem Rausch aus Farben, mit blühenden Hyazinthen und Ranunkeln, mit Freesien, Hortensien, Phlox und mit Eimern voller Freilandrosen in rosa, orange, gelb, dunkelrot, pink und weiß, kunterbunte Sträuße oder Ton in Ton. Und sie nährte ihren Traum mit der unbändigen Sehnsucht nach einem Lebensgefühl, das nur eine Ahnung war. Sie träumte weiter, auch wenn die Aussicht auf Erfüllung aufgrund fehlender finanzieller Möglichkeiten gleich Null war. Ein paar Mal hatte sie den Versuch unternommen, Oliver für ihre Idee zu begeistern, es lag lange zurück, und er hatte ihr stets deutlich zu verstehen gegeben, was er von diesem irrsinnigen Floh in ihrem Ohr hielt. Irgendwann hatte sie aufgehört, mit ihm darüber zu sprechen.
Eilig überquerte sie den Parkplatz, der wie leer gefegt war um diese Zeit. Sie warf einen raschen Blick hinauf zum Himmel, der verhangen von schweren Wolken Regen verhieß. Mascha hoffte, dass der Guss sie verschonen würde. Sie entriegelte das Fahrradschloss. Die Pflanzschale deponierte sie zusammen mit ihrem Rucksack im Korb vor dem Lenker. Kurz darauf verließ sie den Parkplatz der Gärtnerei und folgte der Ortsdurchfahrt, die sich in weiten Kehren aus dem Dorf heraus schlängelte. Jeden Morgen fuhr sie sechs Kilometer von Fürstenried bis zur Gärtnerei im Nachbardorf und am Nachmittag wieder zurück. Seit fast zehn Jahren bei jedem Wetter. Der Fahrtwind kühlte ihr Gesicht, während sie zügig durch die baumbestandene Allee in Richtung Waldfriedhof radelte. Sie ärgerte sich, dass sie den Laden wieder nicht hatte rechtzeitig verlassen können. Jeden Donnerstag hoffte sie auf einen pünktlichen Feierabend, um ohne Schweißränder unter den Armen und ohne von der Hetze gerötete Wangen im Zeichenkurs zu erscheinen. Sie ahnte, dass es ihr auch dieses Mal nicht gelingen würde, was aber nicht allein an der halben Überstunde lag.
Sie folgte der Lindenallee, die sich etwa einen halben Kilometer geradeaus erstreckte und an deren Ende der Waldfriedhof grenzte. Kein Fahrzeug kam Mascha entgegen, kein Fußgänger, kein Radfahrer. Kräftig trat sie in die Pedale, um keine Sekunde zu vergeuden. Zum ersten Mal seit dem Tag vor neunzehn Jahren, an dem sich die jährlichen Friedhofsbesuche zu ritualisieren begannen, stellte Mascha sich kurz die Frage nach dem Sinn. Oder vielmehr nach der Priorität. Setzte sie sich nicht selbst unter unnötigen Druck, indem sie Jahr für Jahr an dieser Gewohnheit festhielt? War ihr der Zeichenkurs nicht wichtiger als dieser Besuch auf dem Friedhof, den sie ebenso gut einen Tag später noch erledigen könnte? Sie schob die auftauchenden Zweifel beiseite und brachte ihr Fahrrad vor der Friedhofsmauer zum Stehen. Sie verriegelte das Schloss und griff nach Rucksack und Pflanzschale.
Stille umfing sie, als sie durch das aus Eisen geschmiedete Tor trat. Was für ein wohltuender Kontrast zu dem Betrieb, der tagsüber im Laden geherrscht hatte! Obwohl der Arbeitstag inzwischen hinter ihr lag, meinte Mascha, den Klang der Glocke über der Tür, die mit ihrem nervenden Gebimmel jeden Eintretenden und Hinausgehenden begleitete, noch immer hören zu können. Das Pfingstwochenende stand bevor, und Mascha hatte Sträuße im Akkord gebunden, was man ihnen jedoch nicht angesehen hatte. Sie liebte es. Sie war gut darin. Zuweilen verlangten die Kunden explizit nach ihr, wenn sie den Laden betraten. Dann stahl sich jedes Mal ein stilles Lächeln auf ihre Lippen, und sie wünschte sich, Dreisam, ihr Chef, der vor lauter Aufgeblasenheit jeden Tag kurz vor dem Platzen stehen musste und dem niemals ein anerkennendes Wort über die Lippen kommen wollte, möge zugegen sein und registrieren, dass die Kunden es bevorzugten, von ihr bedient zu werden.
Der Kies knirschte unter den Bastsohlen ihrer Schuhe, während sie die Grabreihen durchschritt, wie sie es zahllose Male zuvor getan hatte. Sie hätte den Weg mit verbundenen Augen gefunden. Die Stille über den Gräbern wurde nur vom Gesang der Vögel in den alten Bäumen unterbrochen.
In einiger Entfernung bemerkte Mascha eine ältere Dame, die mit einem Lappen über einen Marmorgrabstein rieb, und ein paar Schritte weiter zwei junge Männer mit gesenkten Köpfen vor einem Grabhügel.
Sie ging weiter bis zu einer Linde, die schutzspendend ihre Äste über einem Dutzend Gräber ausbreitete. Wie oft hatte Mascha sich gewünscht, in einem davon könnten die sterblichen Überreste ihres Vaters ruhen! Manchmal stand sie vor einem der Grabsteine und stellte sich vor, der Name ihres Vaters sei dort hinein gemeißelt.
Emil Molander. Apotheker. Geboren 1923. Gestorben 1995.
Eine Wunschvorstellung. Emil Molanders Grab befand sich viele hundert Kilometer entfernt. Zu weit, um ihm an seinem Todestag Blumen zu bringen.
Mascha verließ die Grabreihen. Nur wenige Schritte neben der Linde hatte die Stadt einen Gedenkstein errichten lassen, die Skulptur eines Engels, grau verwittert, so groß wie Mascha selbst. Die Falten seines Gewandes und die ausgebreiteten Flügel hatten im Lauf der Zeit Moos und Flechten angesetzt. Mit einem milden Lächeln im Antlitz blickte er von seinem Steinsockel auf Mascha herab. Ins Fundament hatte der Steinmetz einen Psalmvers eingearbeitet: Denn er hat seinen Engeln befohlen, dich zu beschützen, wohin du auch gehst. Und darunter in etwas kleineren Buchstaben: In stillem Gedenken an unsere lieben Verstorbenen auf den Friedhöfen dieser Welt.
Maschas Blick glitt über die beiden ausgebrannten Grablichter zu Füßen des Engels, die verdorrten Margeriten daneben und die dunkelrote Rose, die offensichtlich erst kürzlich gebracht worden war.
Mascha hockte sich nieder, die Blumen für ihren Vater im Schoß. Sie streifte das Papier ab. Mit den Fingerspitzen strich sie über die Vergissmeinnichtblüten, die darunter zum Vorschein kamen. Sie brachte ihm immer Vergissmeinnicht. Jahr für Jahr am vierundzwanzigsten Mai.
Den Steinengel hatte man nur ein paar Monate nach dem Tod von Emil Molander an diesem Platz errichtet, und für Mascha, die nicht an Zufälle glaubte, aber unbeirrbar an Zeichen, war dies Grund genug, in jedem Jahr hierherzukommen. Auf unerklärbare Weise fiel es ihr leicht, sich an diesem Ort mit ihrem Vater verbunden zu fühlen. So verbunden, wie sie es zu seinen Lebzeiten nie gewesen waren.
Zwanzig Jahre. Wäre er hier auf dem Waldfriedhof begraben worden, hätte sie wahrscheinlich dieser Tage eine Mitteilung der Friedhofsbehörde erhalten, in der man sie höflich auf den Ablauf der Liegedauer hingewiesen und darüber informiert hätte, dass die Grabstelle vor dem Winter aufgelöst und neu vergeben würde. Mascha seufzte. Die Erinnerungen zerrten an ihr. Mama. Ihre Grabstätte existierte schon etliche Jahre nicht mehr. Mascha erinnerte sich nicht einmal daran, wie das Grab ihrer Mutter ausgesehen hatte, so selten war sie dort zu Besuch gewesen. Und stets hatte sie mit einem namenlosen Gefühl dagestanden, mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Pflichtgefühl und einer seltsamen Art von Dankbarkeit, dass ihre Tante Gitte sich der Pflege des Grabes angenommen hatte. So war Mascha nicht gezwungen gewesen, den Platz eines Menschen in Ordnung zu halten, der in ihrem Herzen nichts als Unordnung hinterlassen hatte.
Sie entfernte die vertrockneten Blütenköpfe der Margeriten und platzierte die Schale mit den Vergissmeinnicht auf dem Sockel zwischen den bloßen Füßen des Engels. Dann setzte sie sich, wie in jedem Jahr, auf die von Sonne und Regen verwitterte Bank, die nur wenige Schritte entfernt stand und von der aus sie den Engel im Blick behalten konnte. Mitunter kam es ihr vor, als sei diese Bank eine Schwelle, die es ihr ermöglichte, in eine andere Zeit zu gelangen. In eine Zeit, in der sie eine Schwester gewesen war. Eine Tochter. Eine Nichte. Möglicherweise nahm sie nur deshalb jedes Mal hier Platz. Und möglicherweise suchte sie nur deshalb jedes Jahr an Emil Molanders Sterbetag den Steinengel auf. Um sich für eine Weile zu erinnern, wie es gewesen war.
Der Tag seines Begräbnisses. Ein ungewöhnlich heißer Tag Ende Mai, die Sonne hatte auf die schwarz gekleidete Schar der Hinterbliebenen herabgebrannt. Sie selbst war schwanger mit Kat gewesen, wie der Test ein paar Tage vorher gezeigt hatte, aber die Bestätigung vom Gynäkologen hatte noch ausgestanden. Judith, gerade zwei geworden, hatte während der Beisetzung unablässig gequengelt und sich unruhig in Maschas Armen gewunden, nicht vor Traurigkeit, weil ihr Opa gestorben war, sondern wegen einer beginnenden Mittelohrentzündung, wie sich tags darauf beim Kinderarzt herausgestellt hatte. Damals hatten Mascha und Oliver noch in Lahnstein gewohnt und daher eine fünfstündige Fahrt nach Nordenham zurücklegen müssen, wo Emil Molander dank der einsamen Entscheidung seiner ältesten Tochter beigesetzt worden war. Die Fahrt war eine Tortur gewesen. Für Judith wegen der Ohrenschmerzen. Für Mascha, weil sie stundenlang damit beschäftigt gewesen war, ihr quengelndes Kind zu beruhigen. Und für Oliver, der sich auf den Verkehr hatte konzentrieren wollen und dem das Jammern seiner Tochter auf die Nerven gegangen war.
Inzwischen war Judith zweiundzwanzig und ohne Erinnerung an ihren Großvater Emil. Er war unsichtbar für sie gewesen, unnahbar, unerreichbar.
Mascha erinnerte sich, wie verlassen sie sich während der Beisetzung gefühlt hatte, neben ihren Schwestern, neben Oliver, neben Tante Gitte und den wenigen anderen, die sich Emil Molander nach den Jahren seines langsamen Abschieds aus der Welt noch immer so verbunden gefühlt hatten, dass sie die Fahrt in den Norden Deutschlands auf sich genommen hatten. Jeder trauerte auf seine Weise, die einen mehr, die anderen weniger. Seine Töchter gehörten zu letzteren. An jenem Tag zerbröselte der letzte Rest Mörtel, der die Familie zusammengehalten hatte. Tief grub sich eine Sprachlosigkeit zwischen die drei Molander-Mädchen, die noch immer anhielt.
Bis heute war Mascha in der Lage, sich den Anblick ihrer Schwester Selma mit dem zu einer Maske versteinerten Gesicht am Tag des Begräbnisses ins Gedächtnis zu rufen. Tadelloses Äußeres, wie immer. Schwarzes, figurbetontes Kleid, Pumps und Handtasche einer teuren Modemarke und ein Mann an der Seite, der ihr all dies ermöglichte. Aber Selmas stumpf blickende Augen und die zusammengepressten Lippen hatten nicht darüber hinwegtäuschen können, dass die nach außen getragene Makellosigkeit ein Trugbild war und sie darunter etwas verbarg, das sie niemandem preisgab. Wahrscheinlich hatten die meisten Anwesenden Selmas Züge als Ausdruck der Trauer gedeutet. Damit hätte wenigstens eine Tochter des Apothekers Molander den gesellschaftlichen Erwartungen entsprochen, darin war Selma ohnehin die Geübteste.
Mascha aber war damals schon von dem untrüglichen Gefühl beschlichen worden, dass da noch etwas anderes sein musste, etwas, das Selma in sich verschlossen hatte. Wie sonst war ihr Rückzug von der Familie zu erklären, der von ihr herbeigeführte Bruch zwischen den Schwestern, sobald der Vater unter die Erde gebracht worden war?
Nach der Beisetzung waren die Trauergäste in Stille auseinandergegangen – dies hatte Emils Halbschwester Gitte verfügt, weil es dem Wesen des Verstorbenen am ehesten entsprochen hatte. Und so waren auch Selma, Jane und Mascha in Stille auseinandergegangen. In einer schwarzen beklemmenden Stille, die sie in all den Jahren nicht zu unterbrechen gewagt hatten.
Keine von ihnen war daran interessiert gewesen, das Elternhaus zu behalten, das sie zu gleichen Teilen geerbt hatten, weshalb Selma einen Makler mit dem Verkauf betraut hatte. Die Formalitäten wurden per Post erledigt und die Verkaufssumme gedrittelt.
Mascha hatte nicht um ihren Vater weinen können. Weder am Tag seines Todes, als er so still, wie er gelebt hatte, gegangen war, noch als man den Eichensarg mit dem Lilienbukett in die schwarze Tiefe herabließ, und auch später nicht.
Ein Geräusch ließ Mascha zusammenzucken, sie wandte sich um, aber es war niemand zu sehen. Sie schalt sich eine Verrückte, weil sie in ihren Erinnerungen gegraben und sich ihnen hingegeben hatte, als habe sie alle Zeit der Welt. Hastig sprang sie auf. Wenn sie sich beeilte, würde sie zuhause rasch ihr T-Shirt wechseln und ihre Mähne bändigen können. Im Gehen dachte sie an Miquel. An sein Lachen, das Funkeln in seinen Augen, wenn er sie im Kurs mit seinem katalanisch gefärbten »Bona tarda, princesa« begrüßte.
»Nur einer princesa ist es erlaubt, sich zu verspäten«, sagte er oft, wenn sie als Letzte erschien, und während um sie herum alle über seine Bemerkung witzelten, bemühte Mascha sich jedes Mal, die aufflammende Röte zu verbergen, die ihr in die Wangen schoss.
Noch immer war es ihr unerklärlich, warum sie sich in Miquels Gegenwart aus einer abgenutzten Haut zu schälen schien, unter der die schillernden Farben der wahren Mascha zum Vorschein kamen. Niemand außer Miquel hatte diese Farben jemals gesehen, nicht einmal der Mann, mit dem Mascha seit sechsundzwanzig Jahren verheiratet war.
Die ersten Tropfen fielen nieder, als sie den Friedhof verließ und sich auf ihr Fahrrad schwang.
Durchnässt bis auf die Haut kam sie zuhause an. Die blonden Locken klebten ihr nass an den Schläfen, und ihr T-Shirt schmiegte sich feucht an ihren Oberkörper. Donnerstags arbeitete Oliver länger, weshalb sie einander für gewöhnlich erst nach Maschas Rückkehr vom Zeichenkurs begegneten. Kat war wie üblich um diese Zeit beim Handballtraining, und Judith wohnte seit ein paar Monaten in einer WG in der Nähe der Uni.
Das Haus in Fürstenried hatten Mascha und Oliver vor achtzehn Jahren gekauft und renoviert. Maschas Erbteil vom Verkauf ihres Elternhauses war wie ein warmer Regen für die Finanzierung gewesen.
Sie schob ihr Fahrrad in die Garage und rieb sich die Hände notdürftig an den feucht gewordenen Hosenbeinen trocken. Gewohnheitsmäßig fischte sie, während sie die Haustür aufschloss, die Post mit drei Fingern aus dem Schlitz des Briefkastens. Sie betrat die Diele, ließ ihren Rucksack auf die Fliesen fallen und schlüpfte aus den Schuhen. Auf dem Weg ins Bad glitt ihr Blick über die Kuverts und Reklameblättchen. Rabattaktion beim Optiker, Rechnung von der Autowerkstatt und ein Brief in hellgelbem Kuvert. Eine fein geschwungene, gut leserliche Handschrift, adressiert an Mascha Löwenstein. Auf der Suche nach einer Absenderangabe drehte sie den Brief, doch der Schreiber hatte keine hinterlassen. Wasser tropfte aus ihren Haaren auf den Umschlag. Im Gehen öffnete sie ihn mit dem rechten Zeigefinger. Dabei bemerkte sie, dass der Brief nicht mit einer deutschen, sondern mit einer dänischen Briefmarke frankiert war. Stirnrunzelnd angelte sie nach der Lesebrille, die sie im Badezimmer in ihrer Schublade verwahrte, und schob sie sich auf die Nase. Mit einer Hand griff sie nach dem Frotteehandtuch am Knauf neben dem Waschbecken, mit der anderen entfaltete sie den Bogen Papier.
Liebe Selma, liebe Mascha …
Sie glaubte, ihre Herzschläge in den Ohren zu spüren, während ihr Blick über die Zeilen flog.
»Das ist nicht möglich …«, murmelte sie, sank auf den Rand der Badewanne und saugte die Worte ihrer jüngsten Schwester auf wie ein Schwamm.
3
Gitte
»Ich bin erleichtert, dass die Briefe unterwegs sind.«
Jane sprach leise, aber die handbreit geöffnete Tür ermöglichte es Gitte, jedes Wort zu verstehen. Und das, obwohl sie sich bemühte, alles zu überhören. Sie wusste nicht, mit wem Jane telefonierte. Alle drei Tage etwa. Für eine Viertelstunde. Gitte fragte nicht danach, und Jane sprach nicht darüber.
Gitte hatte den Abwasch beendet, hängte das Küchenhandtuch an den Haken und setzte sich wie immer am Abend für ein paar Augenblicke auf das altgediente Sofa im Salon. Es war noch immer das erste, das sie für das Sommerhaus angeschafft hatte. Dunkelrote Polster, tiefe Sitzflächen, ausladende Lehnen. Früher hatten die Mädchen zu dritt Platz darauf gefunden und mit Kissen und Decken ein Nest gebaut, das groß genug war, um auch Gitte noch darin aufzunehmen. Der Stoff war inzwischen an einigen Stellen verschlissen und die Polster durchgesessen, aber es hatte nichts von seiner Bequemlichkeit eingebüßt. Gitte sah nicht ein, es zu ersetzen. Sie hatte stattdessen zwei bunte Decken gestrickt, die die schadhaften Stellen verbargen. Es stand an der zartrosa getünchten Wand gegenüber der zweiflügeligen Verandatür, die aus dem Salon nach draußen führte. Der Salon war nichts weiter als das Wohnzimmer des Sommerhauses. Der imponierende Begriff stammte von Mascha, die als Zehnjährige beschlossen hatte, das Haus einer Königin müsse einen Salon vorweisen. Hingebungsvoll hatte sie einen Nachmittag lang mit Zeichenblock und Filzstiften am Muscheltisch gesessen und ein entsprechendes Schild angefertigt, mit Ranken, Blüten und ineinander verschlungenen Ornamenten, das daraufhin jahrelang die Tür des Salons geziert hatte.
»Nein«, hörte sie Jane in diesem Augenblick sagen, »Tante Gitte hat sie für mich zum Briefkasten gebracht. Ich habe es nicht geschafft, bis zur Straße zu gehen, habe es versucht, mit vier Unterbrechungen, aber es war zu weit.«
Pause.
»Ja, ein Rollstuhl, ich weiß. Vielleicht hätte ich auf Tante Gittes Rat hören sollen. Aber, ganz ehrlich, wie hätte ich mich dazu durchringen können? Schließlich wäre sie diejenige gewesen, die mich darin hätte schieben müssen. Du weißt, dass ich ihr das nicht auch noch zumuten will. Außerdem ist das Sommerhaus mit den Treppen zur Haustür und zur Veranda nicht gerade rollstuhltauglich.«
Pause.
Gitte fühlte sich unbehaglich, weil sie jedes Wort des Telefonates ungebeten mithörte. Ob Jane die Tür bewusst nicht geschlossen hatte, wie sie es sonst tat?
»Natürlich, aber sie nimmt meinetwegen schon genug auf sich.«
Pause.
»Ja, ist ganz okay hier. Ich mag es, auf der Veranda zu sitzen, hinter dem Windschutz, den sie extra für mich hat anbringen lassen. ›Damit der Wind dich nicht mitnimmt‹, hat sie gesagt, und du kannst dir denken, dass sie damit auf mein Untergewicht angespielt hat. Ich hab ihr geantwortet, dass er mich ruhig mitnehmen soll.«
Ein leises Lachen, ein raues Husten. Pause. Gitte atmete tief ein, lenkte ihren Blick durch die Scheibe der Verandatür hinaus in die Weite der mit Strandrauke und Heidesträuchern bewachsenen Dünen, die sich an ihr Grundstück anschlossen und von der Nachmittagssonne beschienen wurden.
»Warum nicht? Manchmal wünsche ich mir das wirklich. Soll doch ein Windstoß kommen und mich von der Erde heben, über die Dünen tragen und weiter übers Meer! So wie die Kites, die heute wieder in allen Farben drüben am Strand in die Luft steigen. Oh, sie würden dir gefallen! Es sieht so hübsch aus, wie sie sich vom Himmel abheben, ab und zu kann ich welche von der Veranda aus sehen!«
Wem erzählte Jane all dies? Sie hatte nie eine Freundin erwähnt oder einen Mann, der in ihrem Leben eine Rolle spielte. Außer diesem … In Gedanken forschte Gitte nach dem Namen des jungen Krankenpflegers, mit dem Jane zusammen im Südsudan im Einsatz gewesen war. Sie erwähnte ihn so selten, dass sein Name Gitte nicht einfallen wollte.
»Nein, nicht mehr so weh wie noch vor ein paar Monaten«, hörte sie nun wieder Janes Stimme. »Aber zu lange darf ich darüber nicht nachdenken, sonst kommt die Angst und schnürt mir die Luft ab.«
Pause.
»An manchen Tagen mehr, an manchen weniger. Das Morphin hilft zuverlässig. Es ist gut, dass ich von der Veranda aus die dänische Flagge auf einem der Grundstücke in der Nähe sehen kann. Sie dient mir zum Abschätzen, ob ich einen Spaziergang in den Dünen wagen kann. Wenn der Wind stark ist, fällt mir das Gehen schwer, und ich muss Kraft aufbringen, die ich an manchen Tagen nicht habe. Ich spritze mir dann eine Zusatzdosis.«
Pause. Husten.
»Nein, subkutan. Ich habe genug Vorrat dabei.«
Gitte runzelte die Stirn. Mit wem auch immer Jane telefonierte, es musste jemand sein, der kein medizinischer Laie war. Was unter einer subkutanen Injektion zu verstehen war, hatte auch Gitte erst gelernt, nachdem Doktor Lindauer, der Arzt des Palliativ-Teams, Morphin gegen die Atemnotkrisen verordnet hatte. Jane spritzte sich das Serum ins Fettgewebe einer Bauchfalte. Auch Gitte war inzwischen darin geübt, Morphin zu verabreichen. Es war nichts dabei. Zu erkennen, dass die Spritzen Janes Schmerzen linderten oder eine plötzliche Atemnotattacke eindämmten, hatte Gitte dazu befähigt, über ihren Schatten zu springen und sich anzueignen, was sie nie für möglich gehalten hatte.
»Vorhin, ja. Fünf Milligramm. Ich hab meine Einstellung dazu etwas geändert. Bis vor wenigen Wochen hätte ich in so einem Fall lieber auf den Spaziergang verzichtet, aber ich habe gelernt, mir nichts mehr zu versagen und lieber auf meine Medikamente zurückzugreifen. Mir ist bewusst, dass jeder Spaziergang in den Dünen der letzte sein kann, deshalb unternehme ich ihn, wann immer ich dazu in der Lage bin.«
Pause. Lachen.
»Ja, du müsstest sie sehen! Sie sind wunderbar gewachsen! Gestern haben Tante Gitte und ich sie zum ersten Mal gewaschen, richtig gewaschen! Nicht nur die Kopfhaut, sondern meine neuen Haare, es war ein Fest! Ich habe anschließend zum ersten Mal keins meiner Tücher um den Kopf gebunden, sondern bin oben ohne gegangen, wie unglaublich es sich angefühlt hat! Sie sind noch ziemlich kurz, aber wenn sie weiter so wachsen, werde ich meine Schwestern nicht kahlköpfig begrüßen müssen, wie ich es angenommen hatte. Sie werden sich hoffentlich bei meinem Anblick nicht erschrecken. Weißt du, das …«
Ein Hustenanfall zwang Jane dazu, ihren Satz abzubrechen. Gitte dachte an das tragbare Inhaliergerät, das sie von zuhause mitgebracht hatten. Sie würde es ihrer Nichte bringen, sobald sie das Telefonat beendet hatte.
»Geht schon wieder, bleib bitte noch ein paar Minuten!«
Pause.
»Müde, ja, immer noch. Das gehört dazu, lieber müde sein, als um Luft ringen. Ich will jede Sekunde mit Selma und Mascha verbringen und hoffe, ich brauche nicht allzu viele Ruhepausen.«
Wieder dieser raue, erschöpfende Husten.
»Ja, sprechen kostet Kraft, aber du weißt, dass ich sie gern aufbringe, wenn ich dafür deine Stimme am Ohr haben darf. Manchmal wünsche ich mir, meine Kräfte im Vorhinein sammeln zu können, damit sie ausreichen, wenn ich mit meinen Schwestern zusammen am Muscheltisch sitzen werde.«
Pause.
»Natürlich, das weiß ich doch. Ein Brief von Dänemark nach Deutschland braucht bis zur Zustellung fast eine Woche.«
Pause.
»Jetzt haben wir wieder nur über mich gesprochen. Tut mir leid.«
Pause. Ihre Stimme wurde leiser.
»Ich dich auch. War sehr schön.«
Pause.
»Versprochen.«
Pause.
»Ich auch. Ganz fest.«
Jetzt senkte Jane die Stimme zu einem Flüstern. Es wurde still. Gitte wartete einen Augenblick. Dann erhob sie sich, durchquerte den Salon und ging bis zu Janes Zimmertür. Sie hielt inne, lauschte. Das Telefonat schien beendet zu sein.
»Jane?«
»Komm rein!«
Gitte steckte den Kopf durch den Türspalt. »Alles okay?«
Jane lag mit ausgestreckten Beinen in ihrem Bett, das Kopfteil leicht erhöht, ein Kissen im Rücken. Das Telefonat hatte sie sichtlich angestrengt, ihr Brustkorb hob und senkte sich rasch, so, als sei sie die höchste der weißen Dünen hinauf- und auf der anderen Seite wieder heruntergelaufen. Sie hielt die Augen geschlossen, auf ihren Lippen lag ein zufriedenes Lächeln.
»Bin müde, ich ruhe mich ein bisschen aus.«
»Möchtest du inhalieren? Dein Husten …«
Jane antwortete mit einer wegwerfenden Handbewegung und einem leichten Kopfschütteln, ohne die Augen zu öffnen.
»Fahr zu Torolf«, sagte sie, »und mach dir zwei schöne Stunden.«
»Heute ganz alleine hier?« Er brachte ihr den bestellten Cappuccino. Mit einem Herz aus Kakao im Milchschaum und einem Mandelkeks auf dem Kaffeelöffel. Wie eine Mischung aus Trost und süßer Erinnerung stieg der Duft aus der Tasse in Gittes Nase.
»Meine Nichte ist im Sommerhaus geblieben«, erwiderte sie, ohne den Blick zu heben. Janes quälender Husten fiel ihr wieder ein. Und das Linderung versprechende Gerät zum Inhalieren. Sie hätte es Jane ans Bett stellen sollen.
»Sie hustet sehr oft heute, und die Müdigkeit setzt ihr zu.«
Mit dem Zeigefinger schob sie den Mandelkeks vom Löffel und begann gleich darauf mit diesem das Kakaoherz nachzuziehen. Im Kastanienbaum über ihr sang eine Amsel.
»Ich habe das Gefühl, seit wir auf Rømø sind, haben ihre Beschwerden sich verändert. Vielleicht war es ein Fehler, hierherzukommen. Ihr Arzt zuhause …« Sie unterbrach sich. Meine Güte, das interessierte Torolf wahrscheinlich überhaupt nicht! Sie sollte ihren Mund halten.
»Entschuldigen Sie, Torolf«, fügte sie rasch hinzu. Sie legte den Löffel auf die Untertasse und hob den Kopf. Erst jetzt bemerkte sie Torolfs Blick und den Ernst in seinem Gesicht, der alles andere als Desinteresse oder Langeweile signalisierte. Mit einer Hand strich er sich eine Haarsträhne hinters Ohr, eine Geste, die Gitte seit langem vertraut war. Er trug seine Haare noch immer schulterlang, früher waren sie blond gewesen, inzwischen jedoch ergraut, so wie ihre eigenen. Für einen Moment wurde der silberne Ring im Bogen seiner linken Ohrmuschel sichtbar.
»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, sagte er mit der Andeutung eines Kopfschüttelns. Gitte schätzte ihn auf Mitte sechzig, etliche Jahre jünger als sie selbst.
»Und Sie sind immer noch ganz allein für Ihre Nichte da? Ich meine, ohne Hilfe?«, fragte er.
Ein junges Pärchen belegte den Nachbartisch und zog Gittes Aufmerksamkeit für einen Moment auf sich. Das Mädchen wand sich aus seiner Jeansjacke und hängte sie über die Stuhllehne. Der Junge beugte sich zu ihr herüber. Er küsste sie auf die rosa geschminkten Lippen. Sie kicherte. Ihr Haar fiel lang, blond und seidig über ihren Rücken. Wie bei Jane früher. Gitte zwang sich, den Blick abzuwenden.
Nur zwei von den kleinen runden Tischen unter den Kastanienbäumen waren besetzt. Gitte kannte Torolfs Café seit vielen Jahren. Es befand sich etwas abseits an der Straße nach Tvismark, nur wenige Autominuten vom Sommerhaus entfernt, in einem über zweihundert Jahre alten Gebäude, das ehemals an einen Bauernhof angeschlossen war und in jenen Tagen als Viehstall gedient hatte. Der unebene Fußboden aus abgenutzten, roten Ziegelsteinen und das Stützgebälk unter der hohen Decke zeugten davon. Gitte mochte die Einrichtung aus antiken und modernen Möbelstücken, die den Eindruck erweckte, als seien Stühle, Tische und die Kommoden an den Wänden beliebig zusammengestellt worden. Im Sommer steckten Wiesenblumen in bauchigen Gläsern, an trüben Tagen brannten Kerzen darin.
Bei Torolf gab es den besten Cappuccino der Insel und Kokoskuchen mit hausgemachtem Orangenkompott, eine Kombination, die Jane liebte. Geliebt hatte. Früher, als Kokoskuchen für sie noch nach Kokos und Orangenkompott nach Orangen geschmeckt hatten.
Gitte und Jane kamen gern hierher. Sie mochten es, an einem der Tische im Garten zu sitzen, wo die Vögel in den belaubten Kronen der alten Bäume sangen, während der Duft von gerösteten Kaffeebohnen die Luft schwängerte.
»Wir haben in den beiden letzten Jahren so oft zu zweit gekämpft, da werden wir es hier auch schaffen«, antwortete Gitte. Sie stellte fest, dass ihre Stimme nicht so zuversichtlich klang, wie sie es sich wünschte.
»Darf ich?«, fragte Torolf. Er zog sich einen Stuhl heran.
Gitte nickte und spürte, dass ihre Zustimmung nicht allein der Höflichkeit geschuldet war. Torolf strahlte eine wohltuende Ruhe aus, die sie nicht nur schätzte, sondern heute Nachmittag auch brauchte.
»Haben Sie denn alles, was nötig ist?«, fragte er. Meine Güte, er schien sich tatsächlich für sie und Jane zu interessieren!
»Mein Sommerhaus ist ausgestattet wie eine Krankenstation«, erwiderte sie. Während sie sprach, tauchte sie den Kaffeelöffel in den Milchschaum. »Zuhause wird Jane von einem Palliativ-Team betreut. Ihr Arzt hat sie eingedeckt mit Medikamenten gegen alles, was man sich vorstellen kann: Atemnot, Angst, Schmerzen, Übelkeit, Verstopfung. Auf einem Plan kann sie nachlesen, welche Medikamente sie regelmäßig zu nehmen hat und welche bei Bedarf. Wir haben einen Inhalator mit Kochsalzlösung und den entsprechenden Medikamenten bei uns, außerdem Salben gegen Entzündungen der Haut und Spülungen für den Mund. Wir sind ausgerüstet mit einem Krankenbett, mit Kissen zum Stützen und Lagern, und ich besitze einen Kräutergarten, der das Herz jedes Heilkundigen vor Freude tanzen lässt. Sie sehen, wir haben alles, was notwendig ist, und glauben Sie mir, Torolf, ich habe in den letzten fünf Jahren so vieles gelernt, dass ich einer Krankenschwester spielend das Wasser reichen könnte!« Es gelang ihr, zu lächeln, und Torolf hob anerkennend die Augenbrauen.
»Die Tochter einer Bekannten arbeitet in Skærbæk bei einem Pflegedienst«, sagte er. »Wenn Sie mögen, bringe ich Ihnen beim nächsten Mal die Telefonnummer mit, nur für den Fall, dass …«
»Das ist sehr liebenswürdig.« Gitte hatte das Kakaoherz inzwischen untergerührt. Sie legte den Löffel auf ihre Serviette. »Ich hoffe zwar, dass es nicht nötig sein wird, aber Sie haben Recht, man weiß nie.« Sie führte die Tasse zum Mund. Ein kleiner weißer Schaumrest setzte sich auf der Mitte ihrer Oberlippe ab.
»Jane ist Krankenschwester«, sagte sie. »Das ist Fluch und Segen zugleich.«
Torolf lächelte. »Möchten Sie mir etwas über Ihre Nichte erzählen?«
Möchte ich das?Darf ich das? Hätte Jane etwas dagegen, wenn sie Torolf ohne ihr Wissen, ohne ihr Einverständnis ein paar Dinge erzählen würde? Gitte und Torolf kannten einander seit vielen Jahren, aber was wusste sie schon von ihm?
»Wie lange kennen wir uns inzwischen, Torolf?«, fragte sie. Mit der Fingerspitze wischte sie den Schaumrest von der Oberlippe.
»Ich habe die Jahre nicht gezählt«, erwiderte er. »Es dürften eine Menge sein. Als Sie zum ersten Mal hierher ins Café kamen, waren Ihre Nichten noch kleine Mädchen, und wenn ich mich richtig erinnere, hatten Sie nur die beiden älteren bei sich.«
Und heute ist nur die Jüngste bei mir …
Erstaunt über sein Gedächtnis erwiderte sie seinen Blick. »Daran erinnern Sie sich! Ja, ich habe das Haus gekauft, bevor Jane geboren wurde. Selma war neun und Mascha vier, als wir zum ersten Mal die Ferien in Lakolk verbrachten. Damals standen hier längst nicht so viele Ferienhäuser wie heute. Wir stromerten ganze Vormittage mit Eimern am Strand entlang und sammelten Muscheln und Treibholz. Die Mädchen mochten es, wenn wir abends ein Feuer neben dem Haus machten, Würstchen brieten und Kartoffeln in der Glut garten, bis die Schale verkohlt war. Ich verbrachte fast die gesamten Sommerferien mit den Mädchen hier, und mir ging das Herz auf, ihnen zuzusehen, wie sie aufblühten. Als Jane drei war, nahm ich auch sie mit. Aber vorher war ein Kampf auszufechten. Ich erinnere mich an einen Streit mit Therese, der mir fast das Herz zerrissen hat, weil sie so ein Sturkopf war und ich … na ja, ich wohl auch.«
»Therese?«
»Die Mutter der Mädchen, die Frau meines Halbbruders Emil. Und meine Freundin. Im Grunde andersherum.«
Torolf runzelte die Stirn.
»Die Reihenfolge ist falsch«, fügte Gitte erklärend hinzu, aber sie sah ihm an, dass ihn die zusätzliche Aussage noch mehr verwirrte.
»Zuerst war Therese meine Freundin. Sie lernte durch mich meinen Halbbruder kennen.«
»Und sie erlaubte nur ihren beiden ältesten Töchtern, mit Ihnen zu verreisen?«
»Zuerst ja, aber das ist eine andere Geschichte«, antwortete Gitte mit einem heftigen Kopfschütteln, als könne sie damit die Erinnerungen an die unliebsamen Auseinandersetzungen mit ihrer Freundin vertreiben. »Mir wird gerade bewusst, wie lange wir beide uns tatsächlich bereits kennen, Torolf.«
»Sie wollen sagen, wir sind gemeinsam gealtert?« Er zwinkerte ihr zu.
»Wenn ich schon keinen eigenen Mann habe, mit dem ich altern kann, dann wenigstens einen dänischen Cafébesitzer, der sich dazu bereit erklärt, es mit mir zu tun.« Sie lachten, und eine Woge des Wohlbefindens durchströmte Gitte. Wie erfrischend es sich anfühlte, über etwas so Albernes und Profanes zu lachen! Aber es dauerte nur einen Moment. Schon schlug ihre Ausgelassenheit um, und der Ernst kehrte zurück.
»Es sieht so aus, als kenne ich Sie lange genug, um Ihre Frage zu beantworten«, sagte sie. »Nicht jedem würde ich etwas über Jane erzählen. Aber bei Ihnen ist es anders. Was möchten Sie wissen?«
»Was ist sie für ein Mensch? Ist sie ebenso liebenswert wie ihre Tante?« Sein Blick ruhte auf Gittes Gesicht, und sie erwiderte ihn, obwohl sich in ihrem Inneren eine Welle der Unsicherheit ausbreitete.
Gütiger Himmel, wann hat mich zum letzten Mal ein Mann so angesehen? Dass sie plötzlich eine Verlegenheit verspürte, die sie gern vor ihm verborgen hätte, konnte nur an dem strahlenden Blau seiner Augen liegen, die er nicht von ihr abwandte.
»Torolf, lassen Sie das Süßholzraspeln, damit kommen Sie bei mir nicht weiter!« Im Stillen hoffte sie, er möge ihr ihre schroffe Art nicht übelnehmen. Bitte entschuldigen Sie, aberich kann nicht anders, hätte sie gerne kleinlaut hinzugefügt und ihm erklärt, dass ihre etwas patzig klingende Antwort nichts weiter als ein unsichtbarer Schutzmantel gegen die plötzliche Seelenblöße war.
»Dachte ich mir, bitte entschuldigen Sie.« Dass er sie dennoch weiter anlächelte und seine Augen dabei noch blauer wirkten – jedenfalls schien es Gitte so – trug nicht gerade dazu bei, ihre Verlegenheit zu bezwingen. Sie rief sich zur Ordnung, streckte die Schultern, trank von ihrem Cappuccino. Wechsele das Thema, erzähl ihm was über Jane …
»Lange habe ich mir Gedanken darüber gemacht, ob Jane überhaupt ein fröhliches, lebensfrohes Mädchen werden kann.« Sie hielt die Tasse in beiden Händen, während sie sprach. Die Verlegenheit zog davon, Gitte atmete innerlich auf.
»Ich habe alles dafür getan, ihr eine normale Kindheit zu schenken. Kindertheater, Ballettstunden, Geburtstage im Schwimmbad, ein Indianerzelt im Garten, Rollschuhe im Sommer, Schlittenfahren im Winter … Sie wissen schon, alles, was Kinder mögen. Die ersten Jahre, in denen ich sie bei mir hatte, war das kaum möglich. Sie zog sich häufig zurück, sprach stundenlang nicht mit mir, und ich hörte ihr Schluchzen durch die geschlossene Tür. Ich sorgte mich, etwas falsch zu machen, aber es konnte passieren, dass sie Stunden später wie ausgewechselt war und ich wieder Hoffnung schöpfte. Ich unterrichtete an einem Mädchengymnasium und hatte nach der Schule zu korrigieren und den Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten. Ich zerriss mich in diesen Jahren beinahe, um Jane und mir selbst gerecht zu werden.
Sie und ich, wir haben eine sehr innige Verbindung. Enger könnte sie zwischen Mutter und Tochter nicht sein. Sie war zehn, als ich sie zu mir nahm. Ich habe sie damals durch die schlimmste Zeit ihres Lebens begleitet. Zumindest dachte ich, dass es schlimmer nicht werden könnte.« Sie unterbrach sich, hob mit beiden Händen die Tasse an die Lippen und trank einen Schluck. »Ich hatte den Krebs nicht eingeplant, nicht die kräftezehrende Prozedur der Chemotherapien, nicht die Hautverbrennungen nach den Bestrahlungen, nicht die Schmerzen und nicht die Sprachlosigkeit zwischen uns, als der Krebs nach nicht einmal zwei Jahren zu Jane zurückkehrte und sich herausstellte, dass er nicht alleine war, sondern multiple Rundherde im linken Lungenflügel bei sich hatte, wie es im Befund hieß.«
Das Pärchen am Nachbartisch gab seine Bestellung auf. Gitte sah, wie die Hand des Jungen sich sanft in den Nacken seiner Freundin legte und von dort langsam über ihr Haar glitt. Ob es jemanden in Janes Leben gab, der sich danach sehnte, seine Hand in ihrem Haar vergraben zu können? Dem sie erlauben würde, sie ohne ihre bunten Tücher oder ihre Kappe anzusehen? Dem sie voller Stolz ihre flaumigen, neuen, schneeweißen Haarbüschel präsentieren würde, ohne sich zu schämen? Das Telefonat von vorhin fiel ihr wieder ein. Es hatte, vor allem am Ende, von großer Vertrautheit gezeugt.
»Fröhlich und ausgelassen war Jane nie«, fuhr sie fort. »Ihr haftete immer etwas Ernstes und Nachdenkliches an, schon als Elfjährige machte sie einen viel reiferen Eindruck als ihre Schulkameradinnen. Sie begann sehr früh, Bücher zu lesen. Keine Kinderbücher wie andere Mädchen in ihrem Alter. Sie liebte Klassiker, verschlang Romane von Jane Austen, von der sie ihren Namen hat. Kennen Sie Jane Austen?« Gitte bemerkte sein Nicken, aber er sagte nichts, und so sprach sie weiter. »Mein Halbbruder hat seinen Töchtern die Liebe zur Literatur vermittelt, wenigstens das ist ihm gelungen. Er bestand darauf, ihnen die Vornamen bekannter Schriftstellerinnen zu geben, ist das nicht verrückt? Bei den ersten beiden willigte Therese ein, aber mit Jane konnte sie sich nicht anfreunden, es klang ihr zu britisch, zu neumodisch, sie weigerte sich hartnäckig. Deshalb einigten sie sich darauf, Janes Namen einzudeutschen und ihn so auszusprechen, wie er geschrieben wird, woran mein Bruder sich allerdings dann nicht hielt. Wenn er Jane rief, dann stets in der englischen Version, und eines Tages übernahm sie es von ihm. Erst nachdem ihr Vater gestorben war, legte sie das wieder ab.«
»Dann sind Sie eine Mutter für Jane geworden?«
»Es schien uns in den Jahren dieser Tragödie um Therese die einzige Lösung zu sein, Jane zu mir zu nehmen. Selma und Mascha waren junge Heranwachsende, sie hatten in dieser Zeit genug mit sich selbst zu tun. Gerade für Selma, die eine fast krankhafte Hilfsbereitschaft an den Tag legte und die rund um die Uhr die Versorgung ihrer Mutter übernommen hatte, war es wichtig, sich nicht auch noch in der Verantwortung für ihre jüngste Schwester zu sehen.« Sie bemerkte Torolfs fragenden Blick. Natürlich. All die Andeutungen … Wie sollte er Zusammenhänge herstellen, wenn sie ihm nur Fragmente der vertrackten Familiengeschichte verriet? Unmerklich schüttelte sie den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um auf den Grund der Vergangenheit zu tauchen und auszugraben, was seit Jahren dort ruhte. Eines Tages würden die Erinnerungen und mit ihnen all die verborgenen, ungesagten, geheim gehaltenen Dinge ans Licht gelangen, spätestens bei Selmas und Maschas Eintreffen auf Rømø. Gitte zweifelte nicht daran, dass vor allem Selma, die den Kontaktabbruch erzwungen hatte, eine Last ungeahnter Schwere auf der Seele trug. Doch auch Gitte hütete ein Geheimnis. In einem dunklen Winkel ihres Herzens, von dessen Vorhandensein niemand wusste. Nicht einmal Jane.
»Ich habe keine eigenen Kinder«, beeilte sie sich zu sagen, weil sie spürte, dass ihre Gedanken sie wie in einem Strudel hinabzuziehen drohten. »Insofern war Jane ein Geschenk für mich, die Tochter, die ich nie hatte. Sie wird es immer sein.«
Ihre Blicke begegneten einander über die Cappuccinotasse hinweg, die Gitte mit auf den Tisch aufgestützten Ellenbogen in beiden Händen hielt. Sie sagten nichts, ließen die Bilder, die durch Gittes Worte in ihren Köpfen entstanden waren, davontreiben, und jetzt erst nahm Gitte die Geräusche um sich herum wieder wahr, das Klirren von Gläsern, das Kichern des Mädchens am Nachbartisch, das Brummen der Espressomaschine im Hintergrund.
»Was für eine starke Frau Sie sind!« Es klang nicht anbiedernd, nicht pathetisch. Im Gegenteil. Gitte fühlte, dass die Worte tief aus Torolfs Herzen kamen, weshalb sie sie stumm mit einem Lächeln annehmen konnte. Er kannte den dunklen Winkel in ihrem Herzen nicht. Sie schob die Erinnerung daran beiseite. Torolf erhob sich und rückte den Stuhl an den Tisch.
»Fühlen Sie sich eingeladen, Gitte. Der Cappuccino geht aufs Haus.«
Was für ein Tag! Schmerzen im Sitzen, im Liegen, beim Gehen. Mein rechtes Bein fühlt sich seit Stunden taub an, und ich kann nicht mal den Fuß vernünftig anheben, er schleift über den Boden, als gehöre er nicht zu mir. Ich vermute, es sind die Scheißmetastasen, die aufs Rückenmark drücken und die Nerven ärgern. Das sind die Momente, in denen ich unsagbare Angst vor einer Lähmung habe, Querschnitt, eine Horrorvorstellung! Wie soll ich das schaffen? Wie soll Tante Gitte, die Allerbeste von allen, es dann mit mir schaffen?
Ich hatte vor, nach dem Aufstehen einen Spaziergang in den Dünen zu unternehmen, weil ich ausnahmsweise nicht so kurzatmig bin. Der Himmel ist wahnsinnig blau heute! Nur ein paar zerrupfte Wolken treiben am Horizont über den weißen Hügeln. Es ist dieser Farbton, für den Tante Gitte früher das Wort Inselblau erfand. »Hebt die Köpfe, Mädchen, und seht euch dieses Inselblau an!«, sagte sie dann, oder: »Was für ein wunderschöner, inselblauer Tag!« Jahrelang war Inselblau für mich ein Synonym für Lakolk, für das Meer hinter den Dünen, für Ferien in Tante Gittes Sommerhaus.
Und jetzt … kein Spaziergang möglich. Die Schmerzen machen mir einen dicken, fetten Strich durch den inselblauen Plan.
Frau Doktor Mensberg hat mir zuhause ja schon weitere Bestrahlungen ans Herz gelegt. Palliative Bestrahlung nennt sie das, zum Verkleinern der Absiedelungen und zum Lindern der Beschwerden. Verschwinden werden sie nicht.
Sie sagt immer Absiedelungen, vielleicht glaubt sie, dass das schonender in den Ohren ihrer Patienten klingt als Metastasen. In meinen Ohren klingt das eine so absonderlich wie das andere.
Sie musste mir nicht sagen, dass Knochenmetastasen ein Spätsymptom sind und auf ein fortgeschrittenes Stadium der Krebserkrankung hinweisen. Wie sich doch die Bedeutung von Worten verändert, sobald etwas Bösartiges in einem wächst. Fortgeschritten sein habe ich früher immer mit etwas Positivem verbunden. Als ich vor meinem ersten Auslandseinsatz an der Volkshochschule mein Schulenglisch aufbessern wollte, buchte ich einen Kurs für Fortgeschrittene. Weil ich besser war als die blutigen Anfänger. Weil meine Kenntnisse gut genug waren, direkt eine Stufe höher einzusteigen. Ein Krebsgeschwür im fortgeschrittenen Stadium zu beherbergen, hat aber absolut nichts damit zu tun, gut zu sein, besser zu sein als die anderen, einen Vorsprung zu haben. Na ja, wie man’s nimmt. Wer einen Vorsprung hat, ist der Krebs. Je fortgeschrittener er ist, desto schneller ist er am Ziel. Das ist das eigentlich Blöde, dass er ein anderes Ziel verfolgt als ich.
Wie auch immer, ich weiß, dass Metastasen auf ein fortgeschrittenes Stadium hindeuten. Krankenschwestern wissen so etwas. Und es ist ja nicht so, dass ich noch keine Bestrahlungen gehabt hätte. Rechte Brust, linke Brust, Lendenwirbelsäule. Die Tumormasse verkleinerte sich. Und fing nach Bestrahlungsende sofort wieder an zu wachsen. Außerdem löste sich beim zweiten Mal die bestrahlte Haut in Fetzen ab und brannte wie Feuer. Höllenqualen! Ich will nicht dran denken.
In einer von Tante Gittes Zeitschriften las ich von einer Theorie, die behauptet, es sei heilsam, den Krebs nicht als Feind, sondern als Freund zu betrachten, weil er Teil des Körpers sei, und so sei es leichter, keinen Ekel, keine Ablehnung vor dem eigenen Körper zu empfinden. So schräg das auch klingt, ich habe mich darauf eingelassen, mit meinen Metastasen gesprochen, als seien sie lebendige Wesen, imstande mich zu hören, mir zu antworten, und ich redete mir geduldig ein, dass sie verschwinden würden, wenn ich nur nett zu ihnen wäre.
Hallo liebe Metastasen, schön, dass ihr zu mir gefunden habt, fühlt euch wohl bei mir! Soll ich euch Namen geben, damit wir ein bisschen persönlicher miteinander kommunizieren können? Wie viele seid ihr, wie viele Namen braucht ihr?
Nur wenige Tage habe ich das Theater durchhalten können. Wie kann ich etwas mögen, das mich von innen auffrisst und sich von meinen Knochen und meiner Angst ernährt? Ich brach ab und versuchte eine andere Strategie. Gleichgültigkeit. Die Vorstellung, alle Absiedelungen in meinen Knochen und in der Lunge könnten schrumpfen, wenn ich ihnen nur ein ordentliches Maß Desinteresse entgegenbringen würde, erschien mir etwas leichter durchführbar als die Sache mit der falschen Freundlichkeit. Aber, ganz ehrlich, es ist einfach nicht möglich, stumpf und ungerührt hinzunehmen, was mir Schmerzen bereitet und Wasser in die Lunge spült.
Im Endeffekt bin ich dort gelandet, wo ich vor all diesen Versuchen war. Bei der Ablehnung. Krebs, ich will dich nicht. Ich hasse dich. Hau endlich ab, und LASS MICH LEBEN!
Nachsatz: Ich werde den kümmerlichen Rest meines Lebens mit ihm verbringen. Daran geht kein Weg vorbei, und daher bleibt mir nichts anderes, als ihn zu dulden. Wie einen lästigen Mitbewohner, dessen Nähe man meidet, weil er sich nicht wäscht und seine stinkenden Klamotten überall herumliegen lässt.
4
Selma
Ein letzter Zug an der zur Hälfte gerauchten Zigarette. Vor Jahren hatte sie es einmal für vier Wochen mit großer Anstrengung geschafft, nicht mehr im Auto zu rauchen. Die Kombination Autofahren und Rauchen löste aber ein solches Wohlbefinden in Selma aus, dass sie nicht darauf verzichten wollte. So hatte sie ihr Vorhaben als Schnapsidee verworfen und nie wieder aufgegriffen.