Kalt ruht die Nacht. Historische Kriminalgeschichten aus dem Westerwald - Michaela Abresch - E-Book

Kalt ruht die Nacht. Historische Kriminalgeschichten aus dem Westerwald E-Book

Michaela Abresch

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Beschreibung

Kalt ruht die Nacht über dem Westerwald und lautlos wird in scheinbarer Beschaulichkeit erwürgt, erstickt und Gift gemischt. Schwester Lucardis fährt der Schreck in die Glieder, als sie in der Nähe des Klosters Seligenstatt eine grausige Entdeckung macht. In Dernbach verbreitet ein Mädchenmörder nackte Angst unter den Dorfleuten. Wer kennt den Toten, den die Spielleute im Daubacher Stelzenbachforst finden? Und weiß die Hugenottin Josephine mehr über den mysteriösen Todesfall auf Burg Greifenstein, als sie zugibt? Ob im Schutz des Dierdorfer Märkerwaldes oder im Schatten der Burg Grenzau … Michaela Abresch fädelt ihre Geschichten um Mörder, Opfer und Spürnasen gekonnt in die Atmosphäre Westerwälder Schauplätze ein. Sechsmal Spannung, sechsmal Nervenkitzel, sechsmal historisches Krimivergnügen.

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Michaela Abresch

Kalt ruht die Nacht

Historische Kriminalgeschichten aus dem Westerwald

Abresch, Michaela: Kalt ruht die Nacht. Historische Kriminalgeschichten aus dem Westerwald. Hamburg, acabus Verlag 2017

1. Auflage

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-540-0

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-539-4

Print: ISBN 978-3-86282-538-7

Lektorat: Eva-Maria Bergerbusch, Silke Seibold, acabus Verlag

Satz: Theresa Saretz, Silke Seibold, acabus Verlag

Cover: © Marta Czerwinski, acabus Verlag

Covermotiv: © Freesurf - Fotolia.com

Karte: © Veronika Adams

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© acabus Verlag, Hamburg 2017

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Inhalt

Bis zum Ende des Winters

Schrei nicht, kleine Schwester

Der Fingersammler

Josephines Vermächtnis

Schwalbenkind

Die Scherbe

Wenn sich Fakten und Fantasie vermischen …

Nachwort

Die Autorin

Bis zum Ende des Winters

Seck, im Jahr 1410

Eine Windböe wirbelt die Flocken umher. Sie trudeln lautlos, dicht an dicht. Wie ein Vorhang teilen sie die Umgebung in Hell und Dunkel. Kein Geräusch zerschneidet die Stille, sieht man von dem kaum hörbaren Klopfen ab, mit dem die Schneeflocken dumpf das gefallene Laub küssen. Aufgehäuft am Feldrain verschwindet es zusehends unter der weißen Decke. Unablässig tanzt der Schnee aus den tief hängenden Wolken herab, schmilzt auf seiner emporgereckten Stirn, auf seinen Wimpern, seinen Lippen, pudert den rotblonden Schopf. Sanfte, weiße Stille. Wenn es weiterschneit, wird am Abend alles verwandelt sein: die Ackerfurchen ebenso wie der Eichwald, der das Feld zu zwei Seiten säumt. Schnee macht die Luft still. Wie gern würde er diese Stille in sich aufnehmen, damit sie sich auf sein Herz überträgt! Es schlägt zu laut, zu wild. Noch immer. Sein Atem hat sich beruhigt, aber nicht sein Herz. Er leckt eine Schneeflocke von den Lippen. Mach mein Herz still!, flüstert er ihr zu. Sie löst sich auf, aber das Pochen in seiner Brust bleibt.

Seine Füße fühlen sich kalt an. Er sieht auf sie hinunter. Die Holzschuhe passen ihm nicht, zwingen ihn dazu, die Zehen einzukrallen, gehörten vorher jemand anderem – wie alles, was er am Leib trägt. Almosen. Wieder hebt er den Kopf, blinzelt in den herabrieselnden Schnee. Er schließt die Augen, spürt die Kälte auf seinen Wangen und weiß, dass sein Herz sich erst beruhigen wird, wenn in der Nacht der Frost mit seinem eisigen Atem über das Land jagt und Acker, Wald und Laubhügel gefrieren lässt.

»Allmählich mache ich mir Sorgen um sie.«

Schwester Lucardis balancierte eine große Anzahl Holznäpfe in den Armen. Geräuschvoll lud sie sie auf der Anrichte ab. Auf den ersten Blick hätte man glauben können, sie seien unbenutzt. Erst bei näherem Hinsehen erinnerten Rückstände, die sich beim besten Willen nicht mit dem Brotkanten hatten herauswischen lassen, an den Gerstenbrei, mit dem sie kurz zuvor gefüllt gewesen waren. Schwester Edmunda hatte die weiten Ärmel ihres Habits bis zu den Ellenbogen hinaufgeschoben und die Säume weiter oben mit kleinen Holzklemmen befestigt. Die beiden Enden ihres Schleiers hatte sie sicherheitshalber über die Schultern nach hinten geschlagen. In einer Hand hielt sie einen Lappen, mit der anderen griff sie nach dem obersten Breinapf. Sie tauchte ihn in die mit dampfendem Wasser gefüllte Blechwanne, in der sie das Geschirr nach der Armenspeisung abspülten, damit sie es nicht hinüber zur Klosterküche tragen mussten. Zu ihrer Rechten wartete Martha mit einem trockenen Leinentuch.

»Sie war schon dreimal hintereinander nicht hier, das ist ungewöhnlich«, fügte Schwester Lucardis hinzu. Unmerklich schüttelte sie den Kopf.

»Vielleicht ist sie krank«, erwiderte Schwester Edmunda. »Du weißt doch, wie viele Dorfleute in diesen Tagen vom Fieber befallen sind und gelben Schleim husten.«

Sie reichte Martha den tropfenden Napf und tauchte mit der anderen Hand gleichzeitig den nächsten ins Spülwasser. Währenddessen trug Schwester Lucardis weiteres Geschirr herbei und stapelte es auf der Anrichte.

»Warum liegt Euch das Mädchen so am Herzen, Schwester Lucardis?«, fragte Martha, die Jüngste von ihnen. Sie war eine Tochter aus wohlhabender Familie, wie die meisten der Seligenstatter Benediktinerinnen, die zusammen mit einer beachtlichen Mitgift in die Obhut des Konvents gegeben wurden. Dank Marthas Aufnahme als Novizin hatte die klösterliche Gemeinschaft einmal mehr ihre Ländereien vergrößern können.

Sie war ein stilles Mädchen, das immer auf sonderbare Art unsichtbar wirkte. Nie plapperte sie gedankenlos daher, wie andere Novizinnen es manchmal taten, wenn sie für einen Moment die benediktinische Regel der Schweigsamkeit vergaßen, die müßiges und zum Gelächter reizendes Geschwätz verbot. Nein, Martha sprach nur, wenn sie ihre Worte zuvor wohlüberlegt hatte. Lucardis schätzte die besonnene Art der jungen Novizin. Wenn sie erst die Gelübde abgelegt hatte, würde sie eine hingebungsvolle Ordensschwester abgeben und eine Bereicherung für die Gemeinschaft sein.

»Sie liegt mir nicht mehr am Herzen als die anderen Bedürftigen, die uns um Essen und Obdach bitten«, erwiderte Lucardis, allerdings ohne den Nachdruck, den sie ihrer Antwort gern verliehen hätte. Dass das Gesagte nicht der Wahrheit entsprach, behielt sie für sich, bat aber im Stillen den Herrn um Vergebung für diese Unaufrichtigkeit. Natürlich lag Theresia ihr mehr am Herzen, das hatte Martha in ihrer feinfühligen Art richtig erkannt. Lucardis war sich im Klaren darüber, dass sie keine Unterschiede machen sollte, keinen der Bedürftigen, die zum Tisch der Armenküche kamen, dem anderen vorziehen durfte. Für gewöhnlich gelang ihr dies recht gut, bei Theresia aber war es anders. Der kummervolle Blick in ihren Augen weckte in Lucardis das Bedürfnis, dem Mädchen besondere Fürsorge angedeihen zu lassen. Theresia war vierzehn Jahre alt und von knabenhafter Statur. Ihre hängenden Schultern und die Augen in den tiefen, dunkel umschatteten Höhlen erweckten den Eindruck, als sei sie krank oder stets übermüdet. Manchmal schlief sie gar am Tisch ein. Daher nahm Lucardis an, dass sie nachts nicht genügend Schlaf fand oder man sie zu schwer arbeiten ließ.

»Was weißt du über sie?« Edmundas Stimme beendete Lucardis’ Grübeleien. Sie beeilte sich, die letzten Krümel von der Tischplatte zu kehren, an der bis vor wenigen Augenblicken ein Dutzend ausgehungerter und verwahrloster Menschen gesessen hatte, um sich gierig über die ihnen zugeteilte Portion Gerstenbrei herzumachen.

»Theresia war ein unerwünschtes Kind. Kaum dass sie ein paar Tage alt war, wickelte ihre Mutter sie in eine Decke und legte sie in einem Korb vors Kirchenportal, um sich aus dem Staub zu machen. Mit einem Burschen. Keiner wusste damals, ob’s der Kindsvater war. Über den hat Theresias Mutter nie gesprochen«, sagte Lucardis. Sie richtete ihren Blick aus der kleinen, rechteckigen Fensteröffnung, von der sie kurz zuvor den Lederbehang entfernt hatte. Er hielt im Winter die Kälte draußen, worauf sie in Anbetracht des üblen Geruchs, der nach der Armenspeisung in der Luft waberte, jedoch gern für eine Weile verzichteten.

»Jemand hatte beobachtet, wie sie ihr Kindchen vor die Kirche legte. Aber bevor man sie zur Rechenschaft ziehen konnte, war sie verschwunden«, fuhr Lucardis fort. Ihr Blick verlor sich im Schneetreiben vor der Fensteröffnung. Sollte es so heftig weiterschneien, wäre der Zugangsweg zum Klostergelände in wenigen Stunden nicht mehr passierbar. Wohn- und Wirtschaftsgebäude waren neben der Klosterkirche in einer Senke errichtet worden, zu der man über einen abschüssigen Weg gelangte. Schneereiche Winter sorgten dafür, dass der Konvent vom Dorf abgeschnitten wurde, weil niemand sich den Weg herauf oder herunter wagte.

»Pfarrer Richwin spendete dem Kind die Nottaufe und gab ihm einen Namen«, fuhr Lucardis fort, ohne den Blick von dem Schneegestöber abzuwenden.

»Was geschah mit ihr?« Schwester Edmunda hielt mit der Arbeit inne und lenkte ihren Blick auf Lucardis. Martha verharrte ohne eine Bewegung neben ihr. Lucardis wandte sich ihnen zu. »Pfarrer Richwin hat sich kurz darauf für sie beim Schäfer-Wenzel und seiner Frau eingesetzt. Die beiden haben keine eigenen Kinder und brauchen jede Hand. Sie nahmen das Kind wie ein eigenes an und jetzt ist Theresia alt genug, um mit anzupacken. Wenzel ist bei Wind und Wetter mit den Schafen draußen und seine Frau hat es mit den Knochen, da ist es gut, dass sie Theresia im Haus haben.«

Ein Hocker scharrte über die Dielen. Martha zuckte zusammen, Schwester Edmunda warf einen Blick über die Schulter.

»Das ist nur Lazarus«, sagte Lucardis und drehte sich nun ebenfalls nach dem letzten Gast um, der sich noch in der Armenküche aufhielt. Unbemerkt hatte Lazarus in der Ecke nahe beim Kochfeuer gesessen, wo in der Asche die letzten Funken glommen und noch ein Hauch von Wärme spürbar war, wenn man dicht genug herantrat.

»Immer der Letzte.«

Der Junge mit dem Karottenschopf kam seit einem guten Jahr zu den Speisungen. Lucardis schätzte ihn auf nicht einmal zwanzig Jahre. Er lebte im Wald, zumindest sagte er das. Bisher hatte niemand bezeugen können, dass stimmte, was er erzählte, aber die Secker und die Benediktinerinnen aus dem Kloster glaubten ihm. Lazarus hatte ein freundliches Gemüt, war höflich und hilfsbereit, was dazu beitrug, dass die Leute ihn während der Saat- und Erntezeit gern als Tagelöhner einstellten. Dass er ein Heimat- und damit ein Rechtloser war, vergaßen sie dabei. So kam es, dass sie ihn nicht vertrieben – nicht einmal, wenn er nach Schlachttagen vor den Einfriedungen ihrer Häuser herumlungerte. Im Gegenteil, sie riefen ihn herein und tischten ihm eine Portion von der dampfenden Wurstsuppe auf oder steckten ihm ein Stück Blutwurst zu. Der Hunger war allgegenwärtig in jener Zeit und nur an Tagen wie diesen ließ er sich etwas besänftigen.

Wenn Lazarus in die Klosterküche kam, setzte Schwester Lucardis sich manchmal zu ihm. Mit ihrer freundlichen Art ermunterte sie ihn zum Erzählen. So wusste sie, dass er mit der Schleuder umgehen konnte und sich hin und wieder einen Hasen oder eine Wachtel über dem Feuer briet. Dessen ungeachtet ließ er dennoch nie eine Armenspeisung aus. Lucardis beschlich schon lange der Verdacht, dass der Grund für seine Besuche nicht nur die dünne Suppe und der Getreidebrei waren.

In diesem Augenblick trat er an den Schwestern vorbei, dankte mit einem knappen Kopfnicken für die Mahlzeit und öffnete die Tür. Sogleich fuhr ein Flockenwirbel in den Raum und brachte eisige Schneeluft mit herein. Rasch trat der Junge hindurch und zog die Tür hinter sich ins Schloss, ohne sich noch einmal umzudrehen.

»Es ist nicht das Essen allein«, murmelte Lucardis, während sie ihm hinterhersah. Sie dachte an das schäbige Wams und die löchrigen Beinkleider, die er am Leib trug, und fragte sich, ob er den Winter im Wald überleben würde.

»Was meinst du?«, fragte Edmunda. Sie griff nach den letzten Näpfen und begann sie mit dem Lappen zu säubern.

»Ich denke, dass er nicht allein der Mahlzeiten wegen zu uns kommt.«

Eine der Holzschüsseln fiel polternd zu Boden und rollte unter den Tisch. Edmunda und Lucardis wandten die Köpfe. Marthas Wangen röteten sich.

»Verzeiht, ich war unachtsam«, murmelte sie und beeilte sich, den heruntergefallenen Napf unter dem Tisch hervorzuangeln. Edmunda wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, ohne das Missgeschick weiter zu beachten.

»Natürlich nicht!«, erwiderte sie. »Hier findet er für eine Stunde alles, was ihm draußen fehlt. Bei uns brennt ein Feuer, an dem er sich wärmen kann, und die Mahlzeit wird ihm vor die Nase gestellt.«

Aus dem Augenwinkel beobachtete Lucardis die fahrigen Handgriffe der jungen Novizin. Ob sie sich ebenfalls um Theresia sorgte? Feinfühlige Menschen wie Martha waren ein Segen für andere, denn sie spürten die Dinge, ohne dass viele Worte nötig waren. Lucardis lächelte ihr zu.

»Ich gebe dir Recht«, wandte sie sich wieder an Edmunda, »aber da ist noch etwas anderes, glaub mir.«

Schwester Edmunda schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr die Zipfel des Schleiers über die Schultern nach vorn glitten.

»Ach Lucardis, ich hoffe, deine Ahnungen und dein Spürsinn bringen dich nicht eines Tages einmal in Schwierigkeiten!«

Seit zwei Tagen fällt der Schnee ohne Unterbrechung. So kommt es ihm jedenfalls vor. Wege und Felder sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden, verschmelzen zu einer Einheit, in der sein Blick vergeblich nach einem Kontrast sucht. Hier und da ein paar Spuren. Hungriges Wild. Auch Menschenspuren. Erfindet die Abdrücke seiner Holzschuhe, die er am Morgen hinterlassen hat, als er ins Dorf gegangen ist. Jetzt schneien sie allmählich zu.

Flocken tanzen um ihn herum, setzen sich in seinen Nacken, der ungeschützt ist, und pudern seine Augenbrauen. Unter dem Wams verbirgt er einen halben Laib Brot. Einen halben Laib! Trotz der Kälte ziehen sich seine Mundwinkel nach oben, als er daran denkt, dass er drei Tage satt werden wird. Ohne ein Wort, dafür mit einem scheuen Lächeln hatte Martha, die hübscheste der Novizinnen, ihm das Brot gereicht, vorhin, bevor er den Kragen seiner Jacke nach oben geschlagen und die Armenküche verlassen hatte. Niemand außer ihnen beiden war mehr im Raum gewesen. Die Überraschung hatte ihn sprachlos werden lassen und Martha scheinbar auch, denn sie hatte stumm die Augen niedergeschlagen und den Kopf gesenkt, um die aufflammende Röte zu verbergen.

Als er seine Höhle erreicht, atmet er auf. Er zwängt sich durch den Spalt, der gerade breit genug ist, eine Person von seiner Statur hineinzulassen. Er wartet, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnen. Der auf der Haut geschmolzene Schnee rinnt ihm den Rücken herunter. Sein Hemd ist durchnässt, die Füße fühlen sich taub an, seine Finger sind dunkelrot verfärbt, fast bläulich. Sie brennen vor Kälte. Mit leisem Klappern schlagen seine Zähne aufeinander. Er tastet sich ein paar Schritte weiter ins Innere der Höhle. Dort, wo zusammengeknäult die Decke liegt, die Schwester Lucardis ihm zu Beginn des Winters in die Arme gedrückt hat, sinkt er auf die Knie. Er findet den Feuerstein, das Schlageisen und bricht etwas von dem Zunderschwamm ab, den er im Herbst von den Rotbuchen geschnitten hat. Sein Schatz. Ohne Feuer wird er den Winter nicht überleben, das weiß er. Durch die Kälte in den Fingern sind seine Handgriffe unbeholfen, wie die eines kleinen Jungen, der sich zum ersten Mal im Feuerschlagen versucht. Er ärgert sich, stößt einenFluch aus, als ihm der Feuerstein in einem unachtsamen Augenblick aus der Hand gleitet und davonrollt. Er streckt den Arm aus, tastet nach dem Stein, findet ihn. Dieses Mal passt er besser auf. Fest wickelt er den Zunder um einen Teil des Steins und schlägt dann das Eisen dagegen, zweimal, dreimal, noch einmal. Die Schläge erzeugen harte, metallisch klingende Laute, die von den Höhlenwänden zurückgeworfen werden. Endlich steigt eine winzige, fast durchscheinende Rauchsäule auf. E r lässt das Schlageisen fallen, beschirmt den Zunder mit der freien Hand und kriecht zum Höhleneingang, wo kreisrund angelegte Steine eine Feuerstelle markieren. Trockenes Stroh liegt darin, nicht mehr als zwei Hände voll, gestohlen aus einem Secker Heustall und unter dem Wams versteckt. Rasch bringt er es mit dem rauchenden Zunder in Berührung und pustet kräftig hinein, so lange, bis das Stroh zu rauchen, zu glimmen und schließlich zu brennen beginnt. Ein Hustenanfall schüttelt ihn. Er wendet den Oberkörper zur Seite, hält schützend einen Arm vor Mund und Nase. Dann wirft er Reisig auf die kleine Flamme. Die dürren Äste knacken, als das Feuer an ihnen leckt. Er sieht der Rauchwolke hinterher, die durch den ins Freie führenden Spalt abzieht. Er setzt sich dicht an die auflodernden Flammen, streckt seine Hände aus. Das Feuer wärmt und erhellt die Höhle. Sie misst nicht mehr als fünf mal fünf Schritte, ist daher nicht geräumig, nicht zu vergleichen mit einem Haus aus Stein, hat keine Fensteröffnung und keinen lehmgestampften Boden, aber sie ist sein Zuhause, seit er im Frühjahr in diese Gegend kam. Der Feuerschein taucht das Innere der Höhle in warmes Licht. Er wirft flackernde Schatten an die Höhlenwände, auf den Boden, auf den dunklen Fleck nur einen Schritt von ihm entfernt. Mit Schnee hat er versucht, ihn wegzureiben, getrieben vom Verlangen, ihn und die damit verbundenen Erinnerungen zum Verblassen zu bringen. Wie einfältig!

Nachdem Theresia auch bei den beiden folgenden Armenspeisungen nicht mit den anderen am Tisch gesessen hatte, beschloss Schwester Lucardis, der Sache auf den Grund zu gehen.

Es war um die Mittagszeit, zwei Wochen vor dem Christfest. Im Kloster Seligenstatt befolgte man, wie in jedem Jahr, seit dem fünfundzwanzigsten November die Regeln des Fastens, das erst am Christtag mit der Geburt des Erlösers aufgehoben werden durfte. Die benediktinische Vorschrift für das Maß der Speisen erlaubte keine Unmäßigkeit, erst recht nicht während der Fastentage. Die Brotsuppe, die Lucardis gemeinsam mit ihren Mitschwestern aus den kleinen Holzschüsseln löffelte, war dementsprechend wässrig, da nur eine überschaubare Menge an Brotresten Eingang in den Suppenkessel gefunden hatte.

Als die Stimme der Vorbeterin die Mahlzeit beendete, setzte sich ein Meer aus schwarzen Ordenskleidern in Bewegung, um das Refektorium zu verlassen. Lucardis zupfte ihre Mitschwester Edmunda beim Hinausgehen am Ärmel.

»Ich gehe ins Dorf«, raunte sie ihr zu. Edmundas Augenbrauen hoben sich. »Keine Mittagsruhe?«

»Ich muss nach dem Mädchen sehen«, erwiderte Lucardis. »Es beunruhigt mich, dass sie so lange nicht hier war.«

»Du willst zum Schäfer-Wenzel?«

Lucardis nickte und schob sich vor Edmunda zur Tür heraus.

»Dann geh mit Gott«, flüsterte Edmunda, aber Lucardis war bereits davongeeilt.

Während ihre Mitschwestern sich für die Dauer einer Stunde zur Ruhe oder zum Gebet in ihre Zellen zurückzogen, meldete Lucardis sich bei der Pförtnerin ab – einer uralten Ordensschwester, die wie eine Nebelkrähe auf ihrem Stuhl in einer Nische hinter der Eingangstür saß. Sie nickte nur. Es war nicht unüblich, dass Lucardis, der die Armen und Notleidenden am Herzen lagen, das Kloster bisweilen verließ, um im Dorf nach den Kranken zu sehen.

Lucardis trat ins Freie. Schneegestöber umfing sie. Sie wickelte ihr wollenes, schwarzes Tuch eng um ihren Oberkörper und verbarg beide Hände darunter. Scharf blies der Wind von vorn und zwang sie, sich mit aller Kraft dagegenzustemmen.

Der Weg vom Kloster ins Dorf betrug etwa fünfhundert Schritte. Er führte zuerst leicht bergan und fiel nach halber Strecke ab. Wagenspuren und die Fußabdrücke der Armen hatten den Schnee zerfurcht. Zweimal verlor Lucardis beinahe den Halt auf dem rutschigen Weg und sie dankte ihrem Schutzengel, als sie wohlbehalten das Dorf erreichte.

Das Haus, das Wenzel und Elsbeth bewohnten, unterschied sich durch nichts von den anderen gemauerten und mit Kalk getünchten Fachwerkgebäuden, die dicht beieinander zu beiden Seiten der Gasse errichtet worden waren. Die winzigen Fensteröffnungen ließen schon in den warmen Monaten kaum Licht herein, waren aber im Winter geölte Leinentücher oder Tierhäute zum Schutz vor der Kälte darin befestigt, blieb das Innere der Häuser von morgens bis abends im Dämmerlicht.

Lucardis klopfte. Die hölzerne Türe war kürzlich erneuert worden, wie unschwer zu erkennen war. Von drinnen rief jemand etwas, das sie nicht verstand. Es folgte ein Scharren auf der anderen Seite der Tür, dann öffnete sie sich. Elsbeth – blass wie ein Gespenst, wodurch ihr verhärmtes Gesicht noch kantiger wirkte. An Tagen wie diesen konnte Lucardis ihr die Schmerzen im Gesicht ablesen, bevor sie auch nur ein Wort mit der Schäfersfrau gewechselt hatte.

»Schwester Lucardis?« Elsbeth runzelte die Stirn, als sie die Ordensschwester erkannte. Lucardis hörte das leise Brodeln beim Einatmen.

»Was führt Euch zu uns?«

Elsbeth trug ein einfaches, grob gewebtes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte und etliche Flecken aufwies. Sie war barfuß. Ihr graubraunes Haar hing ihr ungewaschen und in wirren Strähnen über die Schultern. Schwester Lucardis grüßte mit einem Kopfnicken.

»Ich vermisse Theresia seit einiger Zeit bei den Armenspeisungen«, begann sie ohne Umschweife. »Ich mache mir Sorgen um sie. Darf ich kurz mit ihr sprechen?«

»Theresia?« Elsbeth sprach den Namen ihrer Ziehtochter aus, als höre sie ihn gerade zum ersten Mal. »Sie ist schon seit über sieben Tagen nicht mehr hier gewesen.«

»Nicht mehr hier gewesen? Was heißt das?«

»Was soll das wohl heißen? Eine Ausreißerin ist sie! Da tut man alles für dieses undankbare Balg, aber sie schleicht sich aus dem Haus und kommt nicht zurück.«

»Das passt nicht zu Theresia«, murmelte Schwester Lucardis mit dem Anflug eines Kopfschüttelns.

»Manchmal täuscht man sich in den Menschen, Schwester«, erwiderte Elsbeth. »Wollt Ihr in die Stube kommen? Hier draußen erfriert Euch das Fleisch.«

Lucardis nickte ihr zu und trat hinter der Schäfersfrau ins Innere des Hauses. Es roch nach einer Mischung aus Rauch, saurer Milch und abgestandener Luft. Lucardis’ Magen krampfte sich zusammen. Sie bemühte sich, dem üblen Geruch keine allzu große Aufmerksamkeit zu schenken.

Elsbeth wies auf einen der zwei Stühle, die zu beiden Seiten eines Tisches standen. Lucardis schüttelte den Kopf.

»Danke, Elsbeth, aber ich bleibe nicht lange. Ist der Wenzel nicht zu Hause?«

»Wo kann er um diese Zeit schon sein? In der Wirtschaft! Da versäuft er das Geld, das er mit dem Schafehüten verdient hat.«

»Habt ihr euch gestritten, du und die Theresia?«

»Warum fragt Ihr das?«

»Ich will dir nicht zu nahe treten, bitte missversteh mich nicht. Aber es könnte ja sein, dass ihrem Fortlaufen etwas vorangegangen ist, ein Streit oder etwas in der Art.«

»Nein, ich kann mich nicht erinnern, dass wir gestritten hätten. Sie ist ohne Grund auf und davon.«

»Ist dir denn sonst irgendetwas aufgefallen, was anders war als sonst?«

»Nein, alles war wie immer. Außer dass sie in der letzten Zeit ständig Löcher in die Luft starrte.«

Lucardis legte den Kopf schräg.

»Wenn ich sie dann rief«, fügte Elsbeth hinzu, »zuckte sie zusammen, als hätte ich sie aus dem Schlaf geweckt.« Sie zog sich einen Stuhl heran und ließ sich, eine Hand als Stütze im Rücken, mit einem leisen Ächzen auf ihm nieder.

»Wie erklärst du dir ihr Verhalten?«

Elsbeth zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich. Sie erzählt ja nichts. Hat nie gesagt, wohin sie geht.«

»Ging sie oft aus dem Haus?«

»Fast jeden Tag. Immer nachmittags. Ich wollte sie nicht einsperren, aber geheuer war mir das nie. Wenzel hat immer gesagt, ich soll sie gehen lassen, sie käme schon zurück.«

»Aber ihr wusstet beide nicht, wohin sie ging? Traf sie sich vielleicht mit jemandem?«

»Wer soll das gewesen sein?« Wieder zuckte Elsbeth mit den Schultern. »Möglich ist es, aber beschwören würde ich es nicht. Wenzel sagt, sie wird schon wieder auftauchen eines Tages.«

Lucardis nickte und wandte sich zur Tür um. »Ich danke dir, Elsbeth.«

Sie trat ins Freie, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Theresia.« Sie hatte geflüstert, als sei es dringend notwendig, um eine Spur sichtbar werden zu lassen, die zu ihr führte. Dass Theresia aus Starrköpfigkeit fortgelaufen war, schloss Lucardis aus. Dazu war das Mädchen zu folgsam.

Lucardis eilte die Gasse hinunter, in Richtung der wuchtigen Kirchenmauern von Sankt Kilian. Um den Saum ihres Habits vor dem schmutzigen Schneematsch zu schützen, hob sie ihr Ordenskleid mitsamt dem Skapulier etwas an. Sie umrundete die dreischiffige Basilika, bis sie vor dem Wohngebäude stand, das sich an der Westseite der Kirche befand. Noch bevor sie den Weg zur Haustür einschlagen konnte, wurde diese von innen geöffnet. Heraus trat Pfarrer Richwin. Er war nicht mehr ganz jung, von untersetzter Gestalt und nicht größer als sie selbst. Sein spärliches Haupthaar war bereits ergraut.

»Schwester Lucardis!«, rief er, sichtlich erfreut, die Ordensschwester zu sehen. Er zog die Tür hinter sich ins Schloss, verriegelte sie und eilte Lucardis mit staksigen Schritten entgegen.

»Bei diesem Wetter wagt Ihr Euch ins Dorf!« Die beiden kannten einander seit vielen Jahren, denn Richwin zelebrierte nicht nur die Messen in der Klosterkirche, sondern diente den Seligenstatter Schwestern auch als Seelsorger.

»Was führt Euch zu mir?«

»Wusstet Ihr, dass Theresia verschwunden ist?«

»Das Mädchen, das ich damals in die Obhut von Wenzel und Elsbeth gegeben habe?«

Lucardis nickte. »Elsbeth berichtete, sie sei fortgelaufen. Aber das glaube ich nicht. Und es ist doch seltsam, dass weder Elsbeth noch Wenzel sich dazu berufen fühlen, nach ihr zu suchen!«

Der Pfarrer wog den Kopf hin und her. Mit ausgestrecktem Arm wies er hinüber zum Kirchenportal. »Ich bin auf dem Weg in die Sakristei, kommt doch mit mir, dann können wir unser Gespräch fortsetzen.«

Lucardis folgte ihm. »Ihr habt Recht«, hörte sie den Pfarrer sagen. »Theresia ist ein ängstliches Mädchen, sie würde niemals fortlaufen, noch dazu allein und im Winter.« Um seine Einschätzung zu bekräftigen, schüttelte er energisch den Kopf. »Wohin sollte sie denn gehen?«

»Ihr besucht doch gelegentlich die Dorfleute«, erwiderte Lucardis. Pfarrer Richwin öffnete einen Flügel der schweren, eisenbeschlagenen Kirchentür und Lucardis betrat vor ihm das Innere des Gotteshauses. »Sicher führten Eure Besuche Euch in der letzten Zeit auch zu Wenzel und Elsbeth.«

Er nickte. »Es ist noch nicht lange her, dass ich bei ihnen war. Ich erinnere mich, dass Theresia mir noch stiller vorkam als sonst.«

Gleichzeitig tauchten Lucardis und Pfarrer Richwin einen Finger in den Marmorkessel mit Weihwasser, bekreuzigten sich und verneigten sich in Richtung des Allerheiligsten am Altar.

»Was hattet Ihr für einen Eindruck?«, flüsterte Lucardis ihm zu, während sie an der geschnitzten Holzfigur des Heiligen Kilian vorbei zur Sakristei gingen.

»Ich sprach sie an, aber sie blieb stumm. Erst als Wenzel sie aufforderte, erwiderte sie etwas auf meine Frage. Sehr einsilbig. Ich konnte sie kaum verstehen. Sie hielt den Kopf gesenkt, sodass mir ihr Gesicht verborgen blieb. Etwas stimmte nicht mit ihr.«

»Habt Ihr eine Erklärung für ihr Verhalten? War sie krank? Oder ist es möglich, dass sie … wie soll ich sagen … dass etwas sie bekümmerte?«

»Ich weiß, dass Wenzel und Elsbeth sich bemühen, ihr gute Eltern zu sein. All die Jahre, in denen sie bei ihnen lebt, ist mir nie etwas Gegenteiliges zu Ohren gekommen.« Der Ring mit den Kirchenschlüsseln klirrte in Richwins Händen, als er ihn im Gehen von einer in die andere Hand wechselte. »Sehen wir davon ab, dass sie hin und wieder ungerechterweise Schelte von Wenzel bekommt. Wir kennen ihn ja. Wenn er aus der Wirtschaft kommt, hat er sein Mundwerk nicht im Griff.«

Lucardis, deren Befürchtungen sich durch das Gehörte verstärkten, nickte zustimmend. »Elsbeth sagte, dass sie keinen Streit hatten.«

»Die Leute reden, Schwester Lucardis, sie reden sich das Leben so, wie sie es gern hätten. Vielleicht macht Elsbeth die Augen zu und verstopft sich die Ohren, damit ihr verborgen bleibt, wenn Wenzel ausfallend wird.«

Lucardis blieb stehen. »Ich hoffe nicht, dass Theresia etwas zugestoßen ist. Es treibt sich ein Gesindel in der Gegend herum, da wird es einem Angst und Bange. Das Leben eines Mädchens zählt da nicht viel.«

Pfarrer Richwin öffnete die Tür zur Sakristei und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Möglicherweise kann Thilde Euch mehr sagen als ich.« Jeder im Dorf wusste, dass er Thilde mit großem Nachsehen duldete. Andernorts galten kräuterkundige Frauen wie sie als schadenbringende Weiber bei den geistlichen Herren und mussten um Leib und Leben fürchten. Seit Thilde aber im vergangenen Frühjahr ein nicht heilen wollendes Geschwür an Richwins Hals mit Auflagen aus Spitzwegerich kuriert hatte, stand sie in seiner Gunst und hatte nichts zu befürchten.

Lucardis dankte Pfarrer Richwin mit einem Kopfnicken, wandte sich um und verließ die Kirche durch den Seitengang.

Die Schneedecke glitzert. Früher sind ihm solche Nichtigkeiten nie aufgefallen. Er bemerkt sie erst, seit sie ihn darauf aufmerksam gemacht hat. Silberne Punkte aus Sonnenlicht auf dem Wesbach. Glitzernder Schnee. Wolkentiere. Tauperlen auf Farnblättern. Die knarzenden Äste der Eichen, wenn sie sich der Kraft des Windes beugen.

Noch ist das Tageslicht der Dämmerung nicht vollständig gewichen, aber schon beginnt der Schnee unter dem Atem des Nachtfrostes zu funkeln.

Er hat keine Fackel bei sich, keine Laterne. Heimatlose wie er finden sich im Dunkeln zurecht. Er kennt den Weg und fürchtet sich nicht.

Um nicht entdeckt zu werden, drängt er seinen Körper dicht an die Wände von Gehöften und Schuppen, dankbar für das Halbdunkel, in dem er sich wie ein Schutz suchendes Tier verbirgt. Fest behält er den Mann im Blick, dem er seit einiger Zeit folgt und der jetzt auf der gegenüberliegenden Seite der Straße ein Haus betritt. Schwacher Lichtschein flutet aus der Türöffnung, wirft ein helles Rechteck in den Schnee, nur kurz. Schon schiebt sich die Gestalt ins Innere des Hauses. Die Tür fällt ins Schloss.

Ein eisiger Windstoß fährt durch die Gasse und beißt ihm in die Haut. Er versucht, die Kälte, die durch seine lumpigen Kleider dringt, nicht zu beachten.

Ein rascher Blick nach rechts und links. Niemand ist zu sehen. Die Gasse liegt im Dunkeln. Mit zwei langen Schritten hastet er auf die gegenüberliegende Seite, gerade so schnell, dass er nicht auf dem gefrorenen Schneematsch ausrutscht. Wieder presst er sich an die Hauswand. Unterhalb der Fensteröffnung verharrt er. Die Leinendecke zum Schutz vor der Kälte schluckt die Stimmen, die gedämpft aus dem Inneren zu vernehmen sind. Die Männerstimme versteht er deutlich, die Frauenstimme ist zu leise. Von ihr dringen nur Wortfetzen zu ihm nach draußen.

»Die Schwester aus dem Kloster? Was wollte sie?«, bellt die Männerstimme. Für einen Moment schweigt sie, um sich gleich darauf wieder zu erheben. »Sie soll für die armen Seelen beten und uns in Ruhe lassen. Sag ihr das, wenn sie wieder kommt!«

Ein Stuhl scharrt, die Männerstimme brummt etwas, eine Tür schlägt zu. Dann ist es still.

Er löst sich aus dem Schatten. Sein Herz hämmert. Mit staubtrockenem Mund hastet er die Gasse entlang und aus dem Dorf heraus, so schnell der gefrorene Schnee es zulässt. Als er Seck hinter sich gelassen hat, hält er inne, legt den Kopf in den Nacken und blinzelt nach oben. Schneeflocken schmelzen auf seinen Wangen. Noch immer wartet er darauf, dass sie sein Herz still machen.

Die Glocke von St. Kilian verkündete die dritte Stunde nach Mitternacht. Lucardis wälzte sich auf ihrer strohgestopften Matratze von einer Seite auf die andere. Die Grübeleien nahmen nicht ab. Die Sorgen um den Verbleib des Mädchens gruben sich in ihr Herz und je tiefer sie darin wurzelten, desto dunkler und bedrohlicher erschienen sie ihr. Ein eisiges Schaudern kroch quälend langsam über ihren Körper. Wie eine Katze rollte sie sich zusammen, umschlang mit den Armen ihre an den Körper angezogenen Beine. Sie blieb in dieser Haltung, auch wenn sie wusste, dass sich damit die Kälte nicht vertreiben ließ. Mit offenen Augen starrte Lucardis ins Dunkel und als die Glocke eine halbe Stunde später erneut schlug, wusste sie, dass sie nicht aufhören durfte, nach Theresia zu suchen. Sie setzte all ihre Hoffnung auf Thilde, die Kräuterkundige.

Beim Morgenlob in der Klosterkirche bemühte sie sich, ihre Gedanken auf das Gebet zu richten, was ihr trotz aller Anstrengung nur unzureichend gelang. Außerdem machte sich die durchwachte Nacht bemerkbar. Das Gnadenbild der Madonna mit dem Kind verschwamm vor ihren halb geschlossenen Lidern. Sie hätte gern den Rauch der in der Nähe brennenden Talglichter dafür verantwortlich gemacht, wusste aber, dass es in Wirklichkeit dem fehlenden Schlaf geschuldet war.

Eingehüllt in den vielstimmigen Lobpreis ihrer Mitschwestern und in das dämmrige Halbdunkel ringsumher nickte Lucardis ein, wurde jedoch beim Benedictus, mit dem die Schwestern das aufstrahlende Licht aus der Höhe begrüßten, sanft von Edmunda in die Seite gestoßen.

»Mir scheint, du hast die Nacht nicht zum Schlafen genutzt«, raunte sie Lucardis beim Hinausgehen zu.

Lucardis gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Ich werde nach ihr suchen«, entgegnete sie wortkarg. Sie durcheilten nebeneinander den zugigen Kreuzgang, an dessen Ende sie durch eine Tür ins Dormitorium gelangten, in dem sich der Zellentrakt befand. In mehreren in die Wände eingelassenen Halterungen brannten Kienspäne, flache, harzreiche Holzstücke, deren Flammen im Luftzug flackerten und ihr schwaches Licht verteilten.

»Suchen? Nach wem?« Edmundas Gesichtsausdruck verriet, dass sie sich redlich mühte, Lucardis’ Worten zu folgen.

»Theresia«, erwiderte Lucardis leise. Sie blieb stehen und sah Edmunda fest ins Gesicht. »Ich weiß, dass sie nicht fortgelaufen ist.«

»Weißt du es oder glaubst du es?«

»Ich weiß es.«

»Was macht dich so sicher?«

»Ich weiß es einfach. Bete für sie, Edmunda.«

Lucardis warf ihrer Mitschwester einen letzten, entschlossenen Blick zu, öffnete die Tür zu ihrer Zelle und trat ohne ein weiteres Wort hinein. Obwohl sie nicht an der Richtigkeit ihrer Vorahnungen zweifelte, scheute sie sich davor, sie auszusprechen.

Sie hielt es kaum in ihrer Zelle aus. Die Stunde bis zur Frühmesse diente den Benediktinerinnen zum Gebet oder für die geistlichen Übungen, doch davon war Lucardis so weit entfernt wie ein Sünder vom Himmelreich. Die Schläfrigkeit war wie weggefegt, stattdessen trieb eine sonderbare Unruhe sie auf und ab durch den kleinen Raum. Nicht mehr als zwei lange Schritte waren nötig, ihn von der einen bis zur gegenüberliegenden Wand zu durchschreiten. Zwei Schritte auf, zwei Schritte ab, wieder und wieder, so lange, bis der Plan geschmiedet war.

Als vor dem Zellenfenster das erste Licht des Tages sichtbar wurde, atmete sie auf. Nach Frühmesse und dem gemeinsamen Mahl, das aus einer kleinen Schale Gerstenbrei bestand, den die Schwestern mit gesenkten Köpfen und schweigend einnahmen, schlang Lucardis sich ihr Wolltuch um den Oberkörper und trat ins Freie. Vor der Klosterpforte wickelte sie sich zwei Fetzen aus Sackleinen um die Schuhe und befestigte sie mit zwei Kordeln.

In der Nacht war Neuschnee gefallen. Noch unberührt bedeckte er den vor ihr liegenden Weg. Lucardis unterließ es, den Saum ihres Habits zu raffen – der Schnee war sauber und würde ihr Ordenskleid höchstens durchnässen, aber nicht beschmutzen. Während des Aufstiegs röteten sich ihre Wangen im kalten Wind und sie stieß weiße Atemwölkchen aus. Mehr als einmal geriet sie ins Rutschen und hatte Mühe, den Halt nicht vollends zu verlieren. Auf der Kuppe blieb sie stehen. Sie stemmte die Hände in die Hüften und wartete darauf, dass sich ihr Atem beruhigte. Ihr Blick glitt über das Dorf, eine kleine Ansammlung von Gehöften, Ställen, Gärten und Scheunen, aus deren Mitte sich majestätisch Mauern und Turm von St. Kilian erhoben. Stille lag über den Dächern. Jene, die der Schnee mitbrachte, oder die des frühen Morgens, wenn der Tag noch so müde war wie die Menschen. Lucardis folgte dem Weg ins Dorf. Keine Seele begegnete ihr, der Winter hielt Menschen und Vieh in den Häusern.

Das Gehöft, zu dem sie unterwegs war, befand sich innerhalb eines eingezäunten, schneebedeckten Hofes. Es gab einen Hühnerstall und einen Schuppen, dessen Tür offen stand. Dort, wo Thilde in der wärmeren Jahreszeit hingebungsvoll ihre Kräuterbeete pflegte, ruhte jetzt eine unberührte Schneedecke. Lucardis kannte Thilde und ihren Mann seit vielen Jahren. Es war nicht der erste Besuch bei ihnen.

Sie trat zur Haustür und klopfte. Schneeflocken wirbelten um sie herum. Hinter der Tür vernahm sie Kinderstimmen. Kurz darauf wurde ihr geöffnet. Eine Frau mittleren Alters mit drei quengelnden Jungen an den Rockschößen stand im Türrahmen und trat gleich einen Schritt beiseite, um den Gast eintreten zu lassen.

»Schwester Lucardis! Was treibt Euch bei diesem Wetter ins Dorf?«

Mit einer raschen Handbewegung winkte sie Lucardis herein und scheuchte die Kinder mit einer ebensolchen Geste in den hinteren Teil des Hauses.

»Du wunderst dich zu Recht, Thilde«, antwortete Lucardis, während sie mit beiden Händen die Schneeflocken von ihrem Schleier klopfte. »Aber das, was mich umtreibt, kann ich nicht länger aufschieben.« Thildes Augenbrauen hoben sich. Die Jungen waren still geworden. Sie drückten sich an die Wand und senkten die Köpfe. Den Pfarrer mussten sie grüßen und sich bekreuzigen, sobald sie ihm draußen begegneten. Sie wussten, dass dies bei den Schwestern aus dem Kloster nicht notwendig war, aber wenn sie eine von ihnen in der Stube stehen sahen, mit ihrem schwarzen, wallenden Ordenskleid und dem Schleier, unter dem sie ihre Haare versteckte, konnten sie nicht anders, als vor Ehrfurcht zu verstummen.

»Es geht um Theresia«, begann Lucardis. Ihr Blick streifte die Kinder. Thilde verstand. Eine Kopfbewegung genügte und die Jungen trollten sich in die angrenzende Kammer.

»Ich weiß, dass Elsbeth sich dann und wann Kräuter von dir holt, wenn die Schmerzen sie plagen. Wenn es zu schlimm ist und sie nicht aus dem Haus kann, schickt sie Theresia, nicht wahr?«

Die Kammertür schloss sich. Trotzdem senkten die beiden Frauen ihre Stimmen.

»Sie ist nicht mehr bei ihnen«, sagte Thilde. Sie deutete auf die Bank an der Längsseite des Tisches und nahm ebenfalls dort Platz. Lucardis setzte sich.

»Berichtest du mir, was du weißt?«

»Elsbeth erzählte es mir vor zwei Tagen.«

»Was genau hat sie gesagt?«

»Ich habe Elsbeth noch nie so aufgebracht erlebt. Sie war zornig, weil Theresia sich aus dem Staub gemacht hat. Mehrmals sagte sie, dass es ihr doch immer gut gegangen sei bei ihr und Wenzel und dass Theresia nicht besser sei als ihre Mutter. Aber …«, Thilde unterbrach sich selbst und suchte Lucardis’ Blick. »Theresia ist ein folgsames Mädchen. Es passt nicht zu ihr, einfach fortzulaufen.«

Die beiden Frauen tauschten einen zustimmenden Blick.

»Hast du eine Vermutung?« Die gleiche innere Unruhe wie am frühen Morgen in ihrer Zelle ergriff Lucardis, kroch ihr über den Rücken, den Nacken hinauf und kribbelte unter dem Schleier auf ihrer Kopfhaut. Sie wollte aufspringen, nach draußen laufen und ohne Verzug damit beginnen, jeden Heustall nach Theresia zu durchsuchen. Aber sie holte nur tief Luft und rief sich zur Ordnung.

»Wie soll ich sagen …«, begann Thilde und trommelte mit zwei Fingern auf den von Messerkerben übersäten Tisch. »Wenzel macht ja keinen Hehl draus, dass die Theresia ihm gefällt.«

»Wie meinst du das?« Lucardis’ Augen weiteten sich. »Theresia ist noch ein halbes Kind!«

»Für den Wenzel ist sie wohl keins mehr«, erwiderte Thilde.

»Weißt du das genau?«

»Anfangs kam Elsbeth ein paar Mal zu mir und weinte bitterlich, weil sie bemerkt hatte, mit welchen Stielaugen Wenzel seine Ziehtochter ansah. Aber Elsbeth hat geschwiegen, die ganze Zeit, sogar noch, als er anfing, das Mädchen anzufassen.«

»Woher weißt du es dann?«

»Ich habe Augen im Kopf!« Thilde tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »An einem Abend vor einigen Wochen bin ich rüber zu ihnen. Wenn das Wetter umschlägt, wenn Regen kommt, kriegt Elsbeth diese Schmerzen. Sie reißen ihr den Rücken auseinander, so nennt sie das. Ich hatte einen Sud aus Weidenrinde für sie angesetzt, davon wollte ich ihr etwas bringen. Und wie ich vor der Haustür stand und klopfte, aber keiner mir aufmachte, ging ich ums Haus herum. Als ich am Heustall vorbeikam, hörte ich Wenzels Stimme. Dass er nicht mit Elsbeth sprach, hab ich gleich begriffen. Na komm, zier dich nicht, hat er gesagt und so etwas wie Du willst doch nicht, dass alle im Dorf erfahren, dass du dich mit Männern im Heu herumtreibst.«