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Als Mella für einen Rechercheauftrag von Köln auf die schwedische Insel Gotland reisen soll, hält sie dies für einen Wink des Schicksals. Gotland ist die Heimat ihrer Mutter, die der Insel noch vor Mellas Geburt den Rücken gekehrt hat und nie wieder dorthin zurückgekehrt ist. Zu schmerzlich sind die Erinnerungen an Mellas Vater, der bei einem Bootsunglück ums Leben kam. Nun ist Mella entschlossen, ihre Wurzeln zu suchen ...
Siri hingegen hat ihr ganzes Leben auf Gotland verbracht. Doch jetzt verspürt sie den Wunsch nach Veränderung. Als ihre Mutter unerwartet verstirbt, findet sie in deren Nachlass eine Fotografie, die sie nicht loslässt ...
Ein fesselnder Roman über Familie, Liebe und eine Wahrheit, die nie ans Licht kommen darf.
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Seitenzahl: 551
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
Siri
Mella
18. Februar 1982
Siri
Mella
25. Februar 1982
Siri
Mella
2. März 1982
Siri
Mella
6. März 1982
Siri
Mella
9. März 1982
Siri
Mella
12. März 1982
Siri
Mella
20. März 1982
Siri
Mella
25. März 1982
Siri
Mella
2. April 1982
Siri
Mella
5. April 1982
Siri
Mella
8. April 1982
Siri
Mella
9. April 1982
Siri
Mella
15. April 1982
Siri
Mella
25. April 1982
Siri
Mella
10. Mai 1982
Siri
Mella
14. Mai 1982
Siri
Mella
Siri
Mella
Siri
Mella
Siri
Ingrid
Epilog
Ein paar Gedanken zum Schluss
Über das Buch
Als Mella für einen Rechercheauftrag von Köln auf die schwedische Insel Gotland reisen soll, hält sie dies für einen Wink des Schicksals. Gotland ist die Heimat ihrer Mutter, die der Insel noch vor Mellas Ge burt den Rücken gekehrt hat und nie wieder dorthin zurückgekehrt ist. Zu schmerzlich sind die Erinnerungen an Mellas Vater, der bei einem Bootsunglück ums Leben kam. Nun ist Mella entschlossen, ihre Wur zeln zu suchen … Siri hingegen hat ihr ganzes Leben auf Gotland ver bracht. Doch jetzt verspürt sie den Wunsch nach Veränderung. Als ihre Mutter unerwartet verstirbt, findet sie in deren Nachlass eine Fotografie, die sie nicht loslässt … Ein fesselnder Roman über Familie, Liebe und eine Wahrheit, die nie ans Licht kommen darf.
Über die Autorin
Michaela Abresch wurde 1965 im Westerwald geboren. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Sie arbeitet in der pflegerischen Beratung und als Dozentin für Palliative Care. Das Schreiben ist für sie das Eintauchen in eine andere Welt. Ihr Leitsatz »Jedes Jahr an einen Ort zu reisen, an dem ich noch nie war« führte sie vor einiger Zeit in die schwedischen Schären. Inspiriert von der Einzigartigkeit der Küstenlandschaft östlich Stockholms, entstanden ihre ebenso fesselnden wie berührenden Familiengeheimnis-Romane vor skandinavischer Kulisse.
Michaela Abresch
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2025 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Trainingkünstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven von: © mauritius images/Angela to Roxel/imageBROKER und © shutterstock: DashaDasha | Javier Ruiz | BK foto | Pakhnyushchy | stock_wicheleBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-6146-8
luebbe.delesejury.de
Schweden – März 2023
Der Kies knirschte unter Rikard Engdahls Schuhen, den guten braunen Lederschuhen, die während des Winters ungetragen in der Kommode gestanden hatten. Zwischen den verharschten Schneeresten zu beiden Seiten der schmalen Hofeinfahrt strebte er der Scheune auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses zu. Es war ein klarer Märztag, die Kälte biss ihm in die Hände, als er die Tasche mit den Notenheften zwischen die Knie klemmte und mit steifen Fingern das Schloss entriegelte. Die Kälte setzte seinen Gelenken zu, immer öfter in der letzten Zeit. Bald würde er die fünfundsechzig überschreiten, seine Knochen kamen in die Jahre, aber noch bereitete ihm das Klavierspielen keine Schwierigkeiten – wie ehedem glitten seine Finger über die Tasten.
Mit einer kraftvollen Bewegung zog er zuerst den einen, dann den zweiten Torflügel weit auf. Die Scharniere ächzten, als würden sie es ihm übel nehmen, dass er sie vor der Zeit aus dem Winterschlaf weckte. Nun warf die Märzsonne ein helles Rechteck ins Innere der Scheune, halb auf den sauber gefegten Boden, halb auf die Motorhaube des moosgrünen Geländewagens.
Rikard blieb in der Toröffnung stehen. Es war die erste Fahrt nach dem Winter, der Västerbotten mit Schneestürmen und Minusgraden in seinem eisigen Griff gehalten hatte. Wochenlang waren die Zufahrtsstraßen unpassierbar gewesen. In manchen Jahren zog sich die kälteste Jahreszeit in Nordschweden bis in den Mai hinein, den Frühling nur flüchtig streifend, um gleich darauf in den Sommer mit seinen hellen Nächten und blühenden Wiesen überzugehen. In diesem Jahr weckte das verheißungsvolle Licht der Sonne jedoch bereits jetzt die Lebensgeister der Winterschläfer.
Rikard betrat die Scheune, liebevoll ließ er seine Hand über die Motorhaube seines Wagens wandern.
»Freitag«, murmelte er, ging um die Karosserie herum und besah sie sich mit gerunzelter Stirn, als wäre es unerlässlich, nach dem Winter eine Bestandsaufnahme durchzuführen.
Die Delle in der Beifahrertür. Wie eine nicht verheilte Wunde. Seine Fingerspitzen glitten darüber hinweg. Es war in Umeå passiert, im letzten Herbst. Das Gitarrenmuseum hatte ihn immer schon interessiert, er hatte sich die Sammlung ansehen wollen, von der es hieß, sie sei die weltweit größte und schönste in Privatbesitz. Sechzig Kilometer, eine Kleinigkeit. Seinen Wagen hatte er auf dem Parkplatz vor dem Museum abgestellt und die Delle erst gesehen, nachdem er wieder zu Hause gewesen war. Er hatte die Polizeidienststelle in Umeå angerufen und Anzeige erstattet, doch die war ins Leere gelaufen. Umeå war eine Großstadt, wahrscheinlich schlugen dort jeden Tag Leute Dellen in fremde Autotüren, ohne dass es möglich war, jeden Einzelnen dafür zur Rechenschaft zu ziehen.
Er öffnete die Tür und glitt auf den Sitz. Die Tasche mit den Noten legte er neben sich.
Den Weg hinunter zur Küstenstraße säumten Schneewiesen, die hier und da kleine Grasinseln freigaben. Rikard fuhr gemäßigt, seine Füße mussten sich nach der langen Zeit erst wieder an den Kontakt mit Gas- und Bremspedal gewöhnen.
Sein Blick wanderte über das felsengesäumte Ufer hinweg aufs offene Meer, auf dem sich funkelnd die Sonnenstrahlen brachen, und weiter bis zu der feinen Linie am Horizont, die das helle Blau des Himmels von dem kräftigen der See trennte. Er bog in die Küstenstraße ein, die von Lövånger nach Ånäset führte, an schneebedeckten Wiesen, verwaisten Viehweiden und Nadelwäldchen vorbei. Hier und da passierte er einsame Gehöfte und abgelegene rote Holzhäuser, aus deren Schornsteinen weißer Rauch stieg.
Den Freitagen haftete etwas Besonderes an. Heilige Freitage nannte er sie manchmal im Stillen. Seit fünf Jahren. Seit er nach seiner Frühpensionierung hergekommen war. Sie unterbrachen sein selbst gewähltes Leben in Einsamkeit – mit Ausnahme der Wintermonate. Zwischen November und März wurde er zu einem Igel, der sich eingerollt in sein Quartier zurückzog.
Deshalb verursachte der erste heilige Freitag nach dem Winter stets eine Art Beben in seinem Inneren. Es war, als zitterte sein Herz ein wenig, als schlüge es in einem anderen Takt, in einer Melodie, die dem Frühjahr gehörte, dem Sommer und auch dem Herbst, die aber während der zahllosen dunklen Wintermonate schwieg.
Er nahm den Abzweig, hinter dem sich das baumbestandene Ufer des Rickleån erstreckte, und folgte ihm ein paar Kilometer. Dann erreichte er sein Ziel, eine Ansiedlung einfacher, rot gestrichener Häuser, in deren Gärten Obstbäume ihre winterkahlen Äste in die kalte Luft reckten – von einem Dorf zu sprechen wäre übertrieben gewesen.
Rikard parkte den Wagen in der Nähe eines gemauerten Brunnens in der Ortsmitte und stieg aus. Währenddessen hob auf der Veranda des Hauses, das dem Platz am nächsten stand, ein graubrauner Vierbeiner undefinierbarer Rasse seinen Kopf, beäugte ihn, den Ankömmling, und schien es schließlich für angebracht zu halten, sich müde die Treppe herunterzubewegen und ihn zu begrüßen. Ein Lächeln zog über Rikards Gesicht.
»Hej, Dvärg, alter Bursche, lange nicht gesehen. Komm her.«
Er beugte sich zu dem Tier hinunter, griff in sein zotteliges Fell und kraulte es. Anstandslos ließ Dvärg sich die Begrüßung gefallen. Sie beide kannten sich, seit Rikard beschlossen hatte, regelmäßig in dieses Haus zu kommen, in dem Menschen lebten, die seine Leidenschaft teilten und in dem es ein Klavier gab.
Ergeben trottete Dvärg neben ihm zurück zum Haus und die Treppe zur Veranda hinauf. Ein untersetzter, bärtiger Mann mit einem Gesicht voller Falten, erschien in der Tür. Als er den Gast erkannte, hellten sich seine Züge auf, sein Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln, und in seinen kleinen blauen Augen blitzte es.
»Rikard! Zuverlässig wie sonst nichts auf der Welt. Rein mit dir!«
»Hej, Olof, konnte es kaum erwarten!«
Sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern und wechselten ein paar Worte zur Begrüßung im Dialekt der Leute von Västerbotten, doch es war unüberhörbar, dass in Rikards Stimme die Färbung einer anderen Gegend mitschwang.
Dvärg zwängte sich an ihnen vorbei ins Innere des Hauses und suchte sich ein Plätzchen in der Nähe des Holzofens, wo er sich ausstreckte und den Kopf auf die Vorderpfoten legte. Olofs Haus war eine Mischung aus Wohnhaus, Gaststube und Lebensmittelladen. Es gab einen Tresen, ein paar Tische mit Stühlen und einen abgetrennten Bereich mit Regalen, in denen er das Notwendigste an Lebensmitteln lagerte.
Rikard setzte sich an den Fenstertisch, von wo aus er seinen Wagen im Auge hatte. Hier brauchte er ihn nicht abzuschließen. Niemand würde ihm an diesem Ort eine Delle in die Tür drücken und sich aus dem Staub machen.
Olof hantierte hinter dem Tresen, und noch ehe er mit drei Flaschen hellem Bier an den Tisch kam, öffnete sich eine Nebentür.
»Endlich, Rikard!«
»Anders!«
Der Eintretende hatte die Statur eines Bären, er füllte beinahe den gesamten Türrahmen aus und zog den Kopf ein, um sich nicht zu stoßen. Kurz darauf saßen sie beisammen. Gläser waren überflüssig, das Bier schmeckte ihnen aus der Flasche am besten. Rikard packte die Notenhefte aus. Sie reichten sie herum, blätterten darin, suchten nach einem Stück für den Anfang – das erste nach dem Winter. Hey Jude. Sie waren mit den Beatles groß geworden, doch Rikard hatte Olof und Anders nie offenbart, welche Bedeutung die Musik der vier Briten darüber hinaus für ihn hatte, welche warmen und zugleich bitteren Erinnerungen sie in ihm weckte.
In dem kleinen Probenraum unterm Dach war alles noch genau so, wie sie es Ende Oktober verlassen hatten. Zwei Stühle, ein alter Tisch mit drei Bierdeckeln unter einem seiner Beine, eine Glühbirne an der Decke und an der Wand neben der Tür ein an den Seiten ausgefranstes Konzertplakat. Paul McCartney in der Stockholm Globe Arena im Oktober 1993. Olof war der Einzige von ihnen, der ihn live erlebt hatte, und er bekam noch immer glänzende Augen, wenn er davon berichtete.
Rikards Blick streifte das Schlagzeug in der Ecke, die beiden Mikrofonständer, das Piano. Es war nichts Besonderes, längst nicht von solch hochwertiger Qualität wie sein eigenes, aber es passte hierher, in das verschlafene Dorf am Rickleån. Es hatte einen ganz passablen Klang, Olf ließ es einmal im Jahr von einem Klavierstimmer überprüfen, wie Rikard es ihm ans Herz gelegt hatte.
Er setzte sich auf den Klavierhocker und klappte den mit etlichen Kratzern versehenen Deckel auf. Olof hängte sich seine Bassgitarre um, und Anders blies ein paarmal probehalber ins Mundstück seines Saxofons. Bald fanden sie in den vertrauten Gleichklang, harmonierten miteinander wie immer. Rikards Finger glitten sicher über die Tasten, und er sang die Strophen, während Olof in den Refrain miteinstimmte.
»Hey Jude, don’t make it bad, take a sad song and make it better …«
Sie spielten über eine Stunde lang, die Töne ihrer Instrumente verschmolzen zu einer Einheit. Es war, als hätte es nie eine Unterbrechung ihrer Freitagstradition gegeben. Sie machten eine Pause, Olof brachte Zimtschnecken, die seine Schwester für sie gebacken hatte und die noch warm waren, und sie tranken schwarzen Kaffee aus Henkelbechern.
»Hab noch was für dich«, sagte Olof irgendwann zu ihm. Er stand auf, ging in den Nebenraum und kam mit einer Papiertüte zurück, die er zwischen die geleerten Kaffeebecher und die Teller mit den Krümeln auf den Tisch stellte. Dann setzte er sich wieder auf seinen Platz. »Meine Schwester sorgt sich, du könntest verhungern«, erklärte er mit einem Augenzwinkern.
Rikard zog die Tüte näher zu sich und linste hinein. Kaffeepulver, Butter, zwei geräucherte Heringe, ein Stück kalter Braten.
»Sie weiß, was du brauchst«, stellte Anders mit einem Grinsen fest.
»Und den hier hast du bestellt«, sagte Olof. Er schob Rikard über den Tisch hinweg etwas zu, das in Zeitungspapier eingeschlagen war.
Rikards Augen funkelten vor Freude. »Mein Schinken!«
Eilig schlug er das Papier auseinander, und schon stieg ihm der würzige Duft des Räucherfleischs in die Nase. Mit geschlossenen Augen sog er ihn ein. Er stellte sich vor, wie er den Schinken später in die Speisekammer hängen würde, an den Haken, den er eigens dafür in die Decke getrieben hatte. Der winzige Raum, in dem er seine Vorräte lagerte, würde innerhalb kürzester Zeit erfüllt sein von dem köstlichen Aroma. Und natürlich würde er schon am Abend davon kosten.
Rikard öffnete die Augen, bedankte sich und nickte seinem Freund zu. Er war bereits dabei, den Schinken wieder einzuwickeln, da streifte sein Blick die schwarz-weiß bedruckte Seite der Zeitung. Er hielt inne, als er feststellte, dass es einer Ausgabe der Gotlands Tidningar vom letzten September entstammte, einer Lokalzeitung, die hauptsächlich auf der Insel Gotland verbreitet war. Wie war sie bis hierher nach Västerbotten gelangt?
Gotland … Den Namen der Insel zu lesen war, als öffnete sich vor seinen Augen ein Raum, den er ewig nicht betreten hatte. Schnell fuhr er mit dem Einwickeln fort, da stutzte er erneut. Eine Schwarz-Weiß-Abbildung. Rechts unten in einem Artikel, in den zwei weitere Fotos eingebettet waren. Er hob die Zeitungsseite etwas an, um besser sehen zu können.
Anders und Olof unterhielten sich weiter. Ihre Stimmen drangen gedämpft zu ihm herüber, als wäre er mit einem Mal durch eine unsichtbare Wand von ihnen getrennt.
Das kann nicht sein!
Er presste die Lippen aufeinander. Eine Falte grub sich zwischen seine Augenbrauen. War das …? Nein, unmöglich! Sie war achtzehn gewesen, damals, Anfang der Achtziger, als sie sein Leben von einem Tag zum anderen auf den Kopf gestellt hatte. Vierzig Jahre waren seither vergangen. Er hatte sie nie wiedergesehen. Nie wiedergesehen, aber nicht vergessen. Keinen einzigen Tag, keinen Augenblick hatte er vergessen. Sein Blick verharrte auf dem Gesicht der jungen Frau. Er fühlte sich außerstande, sich davon zu lösen. Ihr Anblick war wie ein Schlüssel, der sich jetzt langsam in einem unsichtbaren Schloss drehte. Eine Tür sprang auf und gab den Blick frei auf die Erinnerungen, die er fest in seinem Herzen verschlossen hatte und die ihn nun, eine nach der anderen, mit ungeheurer Wucht überrollten.
»Was ist, Jungs, noch ein Stück zum Abschluss?« Olofs Stimme riss ihn zurück in den Augenblick.
Mit fahrigen Handgriffen schlug Rikard das Zeitungsblatt um den Schinken und verstaute ihn eilig in der Tüte mit den anderen Köstlichkeiten, erleichtert, dass der sentimentale Moment unbemerkt geblieben war.
Das letzte Stück spielte er unkonzentriert, verpasste zweimal seinen Einsatz, machte Patzer, die ihm sonst nie passierten. Wortreich schob er sie auf seine Müdigkeit, sein Alter, auf den Winter, auf das Bier. Olof und Anders nahmen ihm seine Zerstreutheit nicht übel, sie scherzten darüber und machten Witze, über die Rikard mit ihnen lachte.
Sie verabschiedeten sich.
Zu Hause angekommen stellte er die Papiertüte auf den Küchentisch. Ungeduldig zerrte er den Schinken aus dem Zeitungsblatt, breitete es auf dem Tisch aus, glättete es. Sein Blick suchte den Artikel, das Foto. Ein Bericht über eine Veranstaltung im Gotland Museum in Visby. Er neigte den Kopf, überflog die Zeilen und blieb wieder an dem Bild hängen, an dem Gesicht dieser Frau, in dem er die Züge seiner großen Liebe erkannte, ihre Augen, ihren Blick.
Er dachte an die Schachtel ganz oben im Kleiderschank seines Schlafzimmers, wo er nur mithilfe einer Leiter hinreichte. Eine Pappschachtel mit Deckel, doppelt verschnürt mit einer dicken Kordel.
Er sprang auf, holte die Leiter aus der Abstellkammer und trug sie ins Schlafzimmer. Zwei Stapel Pullover musste er beiseiteräumen, ehe er ertastete, was er suchte. Er zog die Schachtel heraus, hielt sie an sich gepresst, als wäre sie ein lebendiges Wesen. Eine Kostbarkeit.
Nachdem er die Sprossen hinuntergestiegen war, stand er einen Moment unschlüssig da, dann setzte er sich auf die Bettkante. Wie von selbst schnürten seine Finger die Kordel auf. Er nahm den Deckel ab, sah in die Schachtel. Die Briefe darin verschwammen vor seinen Augen …
Gotland – September 2022
Siris Nervosität stieg. Trockener Mund, eiskalte Hände, hämmerndes Herz. Dabei war sie es doch gewohnt, vor Leuten zu stehen und zu sprechen. Tag für Tag führte sie Touristen zu den Sehenswürdigkeiten der Inselhauptstadt Visby, schilderte Einzelheiten zur gotländischen Geschichte und wusste auf beinahe jede Frage eine Antwort. Seit fast zehn Jahren. Ganz unaufgeregt. Warum also jetzt diese Nervosität? Im Grunde würde sie doch nichts anderes tun als genau das, auch wenn die Umgebung eine andere war und sie Eugénie dabeihatte.
Gedämpft drangen Wortfetzen, Geraune, Kinderstimmen und ab und zu ein Lachen zu ihr in den Nebenraum, der sich an das Foyer des Gotland Museums anschloss. Die Halle füllte sich, das hörte Siri, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Eine junge Akkordeonistin, die das Programm musikalisch auflockern würde, stand nur ein paar Schritte von ihr entfernt am Fenster und ließ ihre Finger in der immergleichen Abfolge von Tönen virtuos über die Tasten gleiten. Die Art ihrer Aufwärmübung wirkte, als hätte sie ebenfalls Eisfinger.
Siri zerrte am Reißverschluss der Sporttasche. Der zerschlissene Nylonstoff und der herausgerissene Druckknopf am Außenfach waren der Prinzessin mit dem zarten cremefarbenen Tüllkleid, die darin lag, nicht würdig, darüber war Siri sich im Klaren. Es bestand kein Zweifel, dass sie auf lange Sicht eine angemessenere Transportmöglichkeit finden musste. Das hatte sogar Elin angemerkt, als sie dabei zugesehen hatte, wie Siri die aus Buchenholz gefertigte Marionette mit den filigranen Fäden an Armen und Beinen in der Tasche verstaut hatte.
»Sie braucht eine Kiste mit einem Kissen drin«, hatte die Zehnjährige sachlich festgestellt. »Damit sie weich liegt.«
»Du hast völlig recht«, hatte Siri geantwortet. »Eugénie ist ja noch nicht so lange bei mir. Ich werde herausfinden, was das Richtige für sie ist.«
Elin hatte sich längst einen Platz in der ersten Reihe gesichert, wo sie jetzt wahrscheinlich mit Armen und Beinen zappelnd saß und auf den Beginn der Veranstaltung wartete. Für die Preisverleihung des Leuchtturmwettbewerbs interessierte sie sich genauso wie für den Premierenauftritt von Prinzessin Eugénie. Mattis würde es wahrscheinlich nicht rechtzeitig zum Beginn der Veranstaltung schaffen, wie er tags zuvor bedauernd mitgeteilt hatte. Siri fragte sich, was ihn trauriger stimmte: dass er ihrer ersten Marionettenaufführung nicht beiwohnen oder dass er seine Tochter nicht begleiten konnte, die mit ihrer Klasse am Leuchtturmwettbewerb teilgenommen hatte und nun angespannt wie ein Gummiseil darauf hoffte, dass die Jury ihren Pappmaché-Leuchtturm auf einen der ersten drei Plätze wählen würde.
Sie zog den Reißverschluss auf, griff mit der Rechten nach dem Pendelkreuz und mit der Linken nach dem feingliedrigen Holzkörper, den sie in wenigen Augenblicken zum Leben erwecken würde. Langsam richtete sie sich auf, den Arm etwas angewinkelt, sodass die Fäden sich streckten und es Prinzessin Eugénie erlaubten, tänzelnd auf ihren Holzfüßen zu stehen. Die Akkordeonistin nickte ihr lächelnd zu, beendete ihre Übung und schob sich an ihr vorbei nach draußen.
»Sie sieht wunderschön aus!« Eine Frauenstimme. Die mitschwingende Bewunderung war unüberhörbar.
Ulrika Karlsson, die Assistentin der Museumsleitung, stand plötzlich neben ihr, wie immer in ein farbenfrohes, weit geschnittenes Leinenkleid gehüllt, das ihren robusten Körperbau nur bedingt kaschierte. Mit ihrer senfgelben Strumpfhose, den Gesundheitsschuhen und einer Kette aus winzigen bunten Filzkugeln nahm sie sich wie ein Farbklecks vor der weiß getünchten Wand aus. Sie musste inzwischen über sechzig sein, ihr Name war auf eine ähnlich untrennbare Weise mit dem Gotland Museum verbunden wie die Bildsteine im ersten Besichtigungsraum oder der wikingerzeitliche Silberschatz.
Siri hatte sich für ihr dunkelblaues Strickkleid entschieden, bewusst dezent, um ihrer Marionettenprinzessin die Aufmerksamkeit nicht zu stehlen. »Ja, das finde ich auch«, erwiderte sie mit einem Lächeln.
Ulrika beugte sich zu Eugénie hinunter und nahm sie näher in Augenschein. »Sie muss ein Vermögen gekostet haben«, murmelte sie, warf Siri einen fragenden Blick zu und tastete vorsichtig nach der zartgelben Blumenranke, die sich von Eugénies Taille über den Chiffonrock nach unten wand.
Siri lächelte. »Das hätte sie bestimmt, wenn ich sie einem Marionettenmacher hätte abkaufen müssen.«
Ulrikas Augenbrauen hoben sich. »Jetzt machst du es spannend.«
»Sie ist in den Händen meines überaus talentierten Bruders Jerik entstanden.«
Siri bewegte das Pendelkreuz, sodass die Prinzessin anmutig den Kopf zur Seite neigte und eine Verbeugung andeutete. Über Ulrikas Gesicht zog ein Lächeln. Dass sie vom feenhaften Aussehen der Marionette, ihrem herzförmigen Gesicht und den dunklen Augen ebenso verzaubert war wie Siri selbst, war unschwer zu erkennen.
»Dein Bruder ist Marionettenmacher?«
Mit einem Ächzen richtete sich die Museumsmitarbeiterin auf. Die Bewegung brachte ihre tropfenförmigen Ohrringe zum Schaukeln.
Siri schüttelte den Kopf. »Er hat eine kleine Tischlerei auf dem Festland, in Nynäshamn. Schon als kleiner Junge hat er sich Holzreste gesucht und Figuren, Kerzenhalter und Schälchen aus ihnen geschnitzt. Er macht das immer noch gern und hat es mit den Jahren perfektioniert.«
»Und jetzt schnitzt er Marionetten?«
»Normalerweise nicht. Diese Majestät ist seine erste.«
Sie ließ die Prinzessin ein wenig tänzeln und erinnerte sich dabei an den Moment, als Jerik ihr Eugénie in die Arme gelegt hatte, eingewickelt in eine weiche Baumwolldecke. Siris Augen waren beim Auspacken vor Staunen immer größer geworden. Nur einmal hatte sie zuvor in Jeriks Gegenwart darüber gesprochen, wie sehr sie sich eine handgeschnitzte Marionettenprinzessin nach dem Vorbild der ehemaligen schwedischen Prinzessin Eugénie, der einzigen Tochter von König Oskar I., wünschte, die Anschaffung ihr finanzielles Budget jedoch überstieg. Schon so lange träumte sie davon, ihre Stadtführungen auf diese Weise abzurunden und die Geschichte Gotlands, vor allem für die Kinder, mithilfe der Prinzessin ansprechender zu gestalten. Jerik hatte nichts weiter dazu gesagt, viele Wochen hatten sie das Thema nicht mehr angeschnitten. Und dann hatte er dagestanden mit der unter der Baumwolldecke verborgenen Marionette, hatte sie Siri so sachte in die Arme gelegt, als befände sich der wertvollste Schatz der Welt darunter. Unsicher hatte er sie angesehen. »Ich hoffe, ich hab das mit den Fäden richtig gemacht.« Sie war außer sich gewesen vor Freude. Tränen waren ihr in die Augen geschossen. Jeriks Gesicht war dahinter verschwommen mitsamt der Marionette. »Sie braucht noch was zum Anziehen«, hatte er etwas betreten hinzugefügt, als hätte er sich dafür geschämt, seiner Schwester den rohen Holzkörper zu übergeben.
»Das Kleid hat Ann-Marie genäht«, fügte sie, an Ulrika Karlsson gewandt, hinzu. »Die Schwester meines Lebensgefährten. Bevor sie Lehrerin wurde, hat sie eine Weile bei einem Kostümbildner gejobbt und da eine Menge gelernt.«
»Ulrika, noch fünf Minuten«, rief jemand in den Raum und unterbrach damit ihr Gespräch und Siris Gedanken.
Ulrika hob eine Hand. »Bin gleich da«, rief sie in Richtung Tür, und an Siri gewandt sagte sie: »Du hast noch ein bisschen Zeit.« Ihr Blick glitt ein weiteres Mal anerkennend über die Gliederpuppe, dann verließ sie den Raum und strebte dem Foyer zu.
Siri prüfte die Funktionen des Pendelkreuzes, drehte es in der Hand und stellte mit einer gewissen Beruhigung fest, dass sich Eugénies Arme und Beine harmonisch bewegen ließen. Im Stillen rief sie sich die anrührende Lebensgeschichte der Prinzessin vor Augen, die diese gleich mit dem Publikum teilen würde. Dabei ließ sie die Marionette ein paar Schritte nach rechts trippeln. Vor dem großen antiken Wandspiegel, der mit seinem üppig verzierten goldfarbenen Rahmen aussah, als stammte er aus der Zeit, in der Prinzessin Eugénie gelebt hatte, blieb sie stehen.
Ihr Blick glitt von der Marionette zu der Frau im Spiegel. Allmählich gewöhnte sie sich an ihre brünett gefärbten Haare, die sie bis auf Schulterlänge hatte kürzen lassen. Äußerliche Veränderungen bewirkten oft auch etwas im Inneren, das hatte sie einmal irgendwo gelesen. Sie strich sich die Ponyfransen aus der Stirn. Ihr vierzigster Geburtstag stand bevor, nur noch drei Monate waren es bis dahin.
Früher, als sie ein junges Mädchen gewesen war, da war sie davon ausgegangen, mit vierzig ihren Platz im Leben gefunden zu haben. Angekommen zu sein. Im Job, privat, bei einem Mann, sie hatte sich eine Familie vorgestellt, ein Haus, am liebsten in Küstennähe, mit großem Garten und zwei kleinen Mädchen, die dort lachend über den Rasen tollten. Immer waren es zwei Mädchen gewesen, ein kleiner Junge war in ihrer Vorstellung nicht vorgekommen, ohne dass sie es sich hätte erklären können. Außer bei ihrer Arbeit, die sie mochte und für die man sie schätzte, war sie allerdings noch nirgendwo angekommen. Und in stillen dunklen Stunden, wenn die Grübeleien sie nicht loslassen wollten, zweifelte sie daran, dieses Ziel jemals erreichen zu können.
Keine ihrer bisherigen Beziehungen hatte sie dauerhaft erfüllen können. Keine hatte nach dem Stadium anfänglicher Verliebtheitseuphorie und dem Zustand vollkommener Glückseligkeit dem ungeschminkten Alltag standgehalten. Sie alle waren zerbrochen an ihrer Vorstellung, ein Mann könnte die Kälte vertreiben, die sie unterschwellig immerzu spürte. Nach vier gescheiterten Versuchen hatte dieses Bedürfnis brennender denn je in ihr gelodert, und im bodenlosen Kummer des Trennungsschmerzes hätte sie beinahe sich selbst, ihre Gefühle und ihre Bedürfnisse aufgegeben. Doch dann war Mattis Lindholm in ihr Leben getreten. Durch eine Tür, die vorher nicht existiert hatte, und mit einer Selbstverständlichkeit, die von Anfang an den Eindruck in Siri erweckt hatte, dass es mit ihm anders sein würde. Mattis, der Schlaks mit den dunklen Haaren, die ihm bis auf die Schultern reichten, und dieser von Grün zu Blau wechselnden Augenfarbe, die niemand sonst hatte. Mattis, der darin aufging, sakrale Malereien in schlecht geheizten Kirchen zu restaurieren, mit einer Akribie, die seinesgleichen suchte. Er hatte sie verstanden, hatte gewusst, was sie fühlte, wonach sie sich sehnte, und ihr allein dadurch, dass keine Erklärungen notwendig gewesen waren, die Hoffnung geschenkt, dass das mit dem Ankommen und dem Vertreiben der inneren Kälte vielleicht doch möglich sein würde. Dass es mit ihm möglich sein würde. Sie hatte ihm geglaubt, ihm vertraut, hatte sich in seine Arme gestürzt, ihn in ihr Herz gelassen und war zu ihm gezogen.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nie mit einem Mann unter einem Dach zusammengelebt. Und nun wohnte sie schon über ein Jahr bei Mattis, seiner Tochter Elin und seiner unverheirateten Schwester Ann-Marie in der Villa Märta, dem Haus seiner verstorbenen Großeltern, das nach seiner Großmutter benannt war.
Die Gedanken in ihrem Kopf lenkten sie ab, dabei sollte sie sich auf den Text, die geübte Handführung und ihre Schritte konzentrieren.
Nicht nur die Teilnehmer des Wettbewerbs und Kinder und Lehrer aus Elins Schule waren anwesend, auch der Bürgermeister und Leute der Stadtverwaltung, die den Leuchtturmwettbewerb zusammen mit der Museumsleitung ausgeschrieben hatten, außerdem ein Redakteur der Lokalzeitung. Sie hoffte, dass der erste öffentliche Auftritt von Prinzessin Eugénie in seinem Artikel Erwähnung finden würde. Dass sie ihre Marionette im Foyer des Gotland Museums, das in einem gelb angestrichenen Bau in der kopfsteingepflasterten Strandgata untergebracht war, im Rahmen der Preisverleihung erstmals präsentieren durfte, hatte sie niemand anderem als Elin zu verdanken. Mattis’ Tochter hatte ihrer Lehrerin von der hölzernen Prinzessin erzählt, die fortan bei ihr zu Hause wohnen und im Rahmen der Stadtführungen auftreten würde. Mehr als zwei Anrufe waren seitens der Lehrerin nicht nötig gewesen, einer bei der Museumsleitung, einer bei ihr, Siri Svensson, und so hatte man die Marionettenpremiere ohne großes Federlesen in die Preisverleihung integriert.
Langsam verließ Siri den Raum. Sie näherte sich dem Durchgang ins Foyer, wo Ulrika soeben ihre Ansprache beendete und die Akkordeonistin ankündigte. Von hier aus konnte Siri einen Teil der Halle einsehen. Wie in einer Ausstellung hatte man die eingereichten Kunstwerke, Leuchttürme in allen erdenklichen Varianten, an und vor den Wänden drapiert. Nicht alle Stühle waren besetzt, vor allem in den hinteren Reihen bemerkte sie viele freie Plätze. Erfolglos suchte sie nach Mattis, in der illusorischen Hoffnung, dass er es vielleicht doch rechtzeitig geschafft hätte. Ganz vorn entdeckte sie Elin mit ihrer mausgrauen Basecap, die Mattis ihr geschenkt hatte und die sie seitdem zu jeder sich bietenden Gelegenheit trug.
Siri dachte an die Diskussion, die sie zu Hause mit Elin geführt hatte. Wieder einmal war es um Sid gegangen. Elin hatte drauf bestanden, ihn mit ins Museum zu nehmen, Sid, ihren großen Bruder, der für jedermanns Augen unsichtbar war, mit dem sich außer ihr niemand unterhalten konnte und dem sie bei jedem Anlass einen Platz sicherte. Regelmäßig saß er bei den Mahlzeiten mit ihnen am Tisch, abends rollte Elin eine Isomatte in ihrem Zimmer aus und legte Kissen und Decke dazu. Die Diskussion hatte Siri zermürbt, weshalb sie schließlich nachgegeben hatte, und so teilte Elin sich ihren Stuhl mit dem unsichtbaren Sid.
Das Mädchen mit dem Akkordeon spielte eine Weise, die entfernt an ein bekanntes schwedisches Volkslied erinnerte. Sie spielte nicht ganz sauber, nicht treffsicher, wie Siri bemerkte, vielleicht war sie aufgeregter, als es nach außen hin schien. Doch am Ende sparte das Publikum nicht mit Applaus, das Mädchen lächelte scheu und mit hochroten Wangen in die Kamera des Zeitungsreporters und eilte mit ihrem Instrument von der kleinen Bühne und an Siri vorbei in den Nebenraum.
Ulrika trat erneut ans Mikrofon. Siri hörte, wie sie als nächsten Programmpunkt vor der Preisverleihung Siri Svensson zusammen mit der liebreizenden Prinzessin Eugénie ankündigte. Mit der Zunge befeuchtete Siri ihre trockenen Lippen, versuchte, ihrem wild schlagenden Herzen keine allzu große Bedeutung zu schenken, und ging gemessenen Schrittes hinaus ins Foyer und auf die kleine Bühne, die eigens errichtet worden war. Jemand dimmte das Licht, nur die Mitte des Podestes war im Lichtkegel eines Scheinwerfers ausgeleuchtet. Die Leute empfingen sie mit Applaus. Obwohl Siri nicht ganz im Schatten verschwand, wusste sie, dass sie nur die Prinzessin sahen, nicht sie, die Puppenspielerin.
Mit einer grazilen Armbewegung winkte Eugénie huldvoll in die Menge. »Vielen Dank, verehrtes Publikum.« Schon nach den ersten Worten beruhigte sich Siris Herzschlag. »Mein Name ist Charlotta Eugénie Augusta Amalia Albertina, Prinzessin von Schweden und Norwegen, aus dem Hause Bernadotte.« In einer fließenden Bewegung verneigte sich die Prinzessin. »Ich bin das vierte Kind von König Oskar I. und seiner Gemahlin Josephine von Leuchtenberg.«
Siris Blick glitt über die Menge hinweg, streifte Elin, die sich auf dem Rand ihres Stuhls ganz schmal gemacht hatte, mit einem Lächeln, und wanderte weiter bis zur letzten Reihe, wo in diesem Augenblick ein Zuspätkommender Platz nahm, der Statur nach ein Mann. Mattis?
Nein …
Die für einen flüchtigen Moment aufgeflammte Hoffnung erlosch sogleich. Sie senkte den Blick, heftete ihn auf die Marionette, die sie nun langsam an der Bühnenkante entlangwandern ließ, als folgte sie während des Sprechens dem Weg in der königlichen Parkanlage.
»Warum ich als zweiundzwanzigjährige junge Frau unser Schloss in Stockholm für eine Weile verließ und nach Gotland reiste, hatte einen traurigen Anlass. Aber manchmal geschieht etwas Trauriges, damit etwas Gutes entstehen kann. Deshalb will ich meine Geschichte erzählen.«
Mit jedem Wort wurde sie sicherer. Dass der Zeitungsredakteur sich von seinem Stuhl erhoben und an den Bühnenrand getreten war, bemerkte sie erst, als sie den Auslöser seiner Kamera leise klicken hörte. Doch sie ließ sich nicht unterbrechen, sprach weiter, ließ Eugénie im Lichtkegel der Scheinwerfer über die Holzbretter der Bühne schweben, und manchmal tat sie es mit ein wenig Schwung, sodass das Chiffonkleid sich im Luftzug bewegte. Am Ende erhob sich tosender Applaus, das Deckenlicht flammte auf, und Siri verneigte sich. Sie lächelte erst Elin zu, dann Ulrika, dann den Gesichtern im Publikum.
Wieder fiel ihr Blick auf den zu spät gekommenen Mann, der sich in die letzte Reihe gesetzt hatte. Er war aufgestanden und eilte nun an der Wand entlang zu dem Durchgang, durch den man in den angrenzenden Nebenraum gelangte. Jerik? Tatsächlich! Er war extra aus Nynäshamn gekommen, um seine Marionette zum ersten Mal in Aktion zu sehen! Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit durchströmte Siri.
Sie verließ die Bühne, der Applaus verebbte, Ulrika übernahm das Mikrofon. Siri huschte durch die Tür in den Nebenraum. Jerik wartete dort bereits auf sie. Sie strahlte ihn an, doch ihre Züge froren augenblicklich ein, als sie den Ernst in seinem Gesicht bemerkte.
»Papa hat angerufen«, sagte er ohne eine Begrüßung. In seinem Blick lag etwas, das Siri nicht an ihm kannte.
»Ist was passiert?«, fragte sie tonlos.
Wenn Jerik ohne Ankündigung vom Festland herüberkam, musste es sich um etwas Dringendes handeln. Etwas Ernstes. Etwas Schlimmes.
»Mama.«
»Was, Jerik?«
»Pack deine Sachen, wir fahren zu ihr. Ich warte draußen auf dich.«
Deutschland – Februar 2023
Umständlich sank Mella auf den mit beigefarbenem Kunststoff bezogenen Stuhl in der Wartezone. Sie war die Zweite, wie sie mit einem Anflug von Erleichterung bemerkt hatte. Es würde also nicht lange dauern. Etwas unbeholfen lehnte sie ihre beiden Gehstützen an die Sitzfläche des Nachbarstuhls. Sie streckte das rechte Bein aus, soweit das Scharnier ihrer Knieorthese dies zuließ. Eine der Schwestern auf der Station hatte ihr geholfen, dieses Monstrum vernünftig anzulegen, weil Mella noch die nötige Routine darin fehlte. Nachsichtig hatte sie gelächelt, als Mella diesen Begriff gebraucht hatte. Die Beinschienen, hatte sie ihr erklärt, die man nach Kreuzbandoperationen tragen müsse, seien echte Leichtgewichte im Gegensatz zu den Anfangsmodellen.
Mella sah an ihrem Bein hinunter. Sie trug schwarze Leggings unter der Beinorthese, die mit vier breiten Klettverschlüssen von der Mitte ihres Oberschenkels bis oberhalb des Fußgelenks reichte. Dazwischen fixierten zwei Führungsstäbe mit Scharnier das operierte Knie in der gewünschten Gelenkstellung. Die nächste Zeit würde sie in Leggings herumlaufen müssen. Sechs Wochen, hatte Dr. Wiesner nach der Operation zwölf Tage zuvor gemeint. Mella hatte sich darum bemüht, nicht entnervt die Augen zu verdrehen, und sich klargemacht, dass das Tragen des Monstrums das kleinere Übel war, wenn sie bedachte, wie viel schlimmer der Unfall hätte ausgehen können. Außer einem komplexen Kreuzbandriss und diversen Prellungen war sie unbeschadet geblieben. Im Gegensatz zum Unfallverursacher, einem angetrunkenen jungen Mann, der ohne Fahrerlaubnis unterwegs gewesen war. Man hatte Mella berichtet, dass er sich mit schweren Kopfverletzungen auf der Intensivstation befand.
Sie warf einen raschen Blick auf einen wartenden Patienten im Sportanzug, der an der gegenüberliegenden Wandseite saß. Er mochte um die fünfzig sein, war von drahtiger Statur und hatte wache Augen, aus denen er sie freundlich anblickte. Ein Monstrum, das irgendein Gelenk an ihm stabilisierte, suchte Mella vergeblich.
»Auch heute nach Hause?«, fragte er.
Wer sich morgens um diese Zeit vor dem Sprechzimmer am Ende des Stationsflurs einfand, saß praktisch auf gepackten Koffern.
»Abschlussgespräch«, sagte sie. »Sie auch?«
Er nickte. »Wird Zeit, ich krieg hier noch einen Lagerkoller.«
»Sie haben Glück«, sagte sie und deutete auf ihre Orthese. »Ich muss dieses Ding noch ein paar Wochen tragen.«
»Wenn’s der Heilung dient«, sagte er. »Was sind schon ein paar Wochen?«
Sie nickte abwesend.
Ein paar Wochen …
Frühestens im April würde sie wieder arbeiten gehen können, noch viele Monate auf ihr Fahrrad verzichten müssen, aufs Autofahren sowieso, für jeden Handgriff außer Haus Hilfe benötigen, ihre Einkäufe nicht selbst erledigen können, und ob sie sich allein um ihre Wohnung kümmern konnte, stand in den Sternen. Die Termine in der Physiotherapiepraxis würden die Highlights jeder Woche sein. Sie zwang sich dazu, die Aussicht auf die nächste Zeit nicht allzu schwarzzumalen, stellte aber fest, dass es ihr nicht gelingen wollte. Die Tür des Sprechzimmers öffnete sich, ein Name wurde genannt, und der Mann im Sportanzug erhob sich. Er bewegte sich langsam, als müsste er sich bei jedem Schritt ausbremsen. Auf seinem Rücken prangte das Logo eines Kölner Karatevereins. Die Tür schloss sich. Mella nutzte die Wartezeit, um ihrer Freundin eine Nachricht zu schreiben.
Hi, Fränzi, tippte sie in ihr Handy, bin die Zweite, wird schnell gehen, melde mich, sobald ich abholbereit bin. Dank dir schon mal im Voraus.
Sie fügte ein Smiley mit Herzaugen hinzu und sendete die Nachricht ab. Sie musste sich unbedingt etwas für ihre Freundin einfallen lassen, etwas Besonderes, womit sie ihr danken könnte für all das, was sie in der letzten Zeit für sie getan hatte. Für all das, was für Fränzi selbstverständlich war, was in ihrer seit dreißig Jahren bestehenden Freundschaft selbstverständlich war, und was Mella in ihrer derzeitigen Verfassung mehr denn je zu schätzen gelernt hatte.
Vielleicht ein gemeinsames Wochenende in einer aufregenden Stadt. Berlin. Dort waren sie zusammen mit dem Leistungskurs Geschichte gewesen, und seither träumten sie davon, die Stadt noch einmal zu besuchen.
Doch kaum hatte Mellas Herz sich für den Gedanken erwärmt, schaltete sich der Verstand ein. Fränzi trug Verantwortung. Sie betrieb eine Physiotherapiepraxis, war verheiratet und hatte zwei Jungs. Sie war nicht mehr ohne Weiteres abkömmlich, aber hatte alles, was Mella sich dringend wünschte. Fränzi hatte ihr Glück gefunden.
Sie ließ ihren Blick zur Fensterseite wandern. Der Himmel über Köln präsentierte sich in allen denkbaren Grauschattierungen und mit solch regenschweren Wolken, dass der Eindruck nahelag, er wollte die Stadt unbedingt an sein diesiges Novembergesicht erinnern.
Eine weitere Patientin erschien, eine ältere Dame mit sorgfältig frisiertem Haar in einem Morgenmantel aus dunkelrotem Samt, den sie bis obenhin zugeknöpft hatte. Sie wurde von der jungen Stationspraktikantin in einem Rollstuhl in die Wartezone geschoben. Mella lächelte der Patientin zu. Sie hatte sie in den letzten Tagen ein paarmal in der Physioabteilung gesehen. Die Frau erwiderte Mellas Lächeln.
»Sie haben Glück«, sagte sie und deutete mit ihrer blassen Hand auf Mellas Gehstützen. »Sie können laufen.«
»Ja«, sagte Mella. Ein Gefühl der Dankbarkeit wallte in ihr auf. »Sie lernen das auch wieder.«
Was für ein Unsinn! Sie wusste doch überhaupt nichts über den Gesundheitszustand der Frau und wie es um ihre Mobilität vor dem Krankenhausaufenthalt bestellt gewesen war.
»Daran glaube ich fest«, hörte sie die alte Dame mit rheinisch gefärbtem Dialekt sagen. »Die Hoffnung stirbt zuletzt, oder nicht?« Sie kicherte wie ein kleines Mädchen.
Die Tür öffnete sich, der Mann im Sportanzug verließ das Sprechzimmer.
»Frau Haglund bitte.«
So umständlich, wie sie sich zuvor hingesetzt hatte, stand Mella nun mithilfe ihrer Gehstützen auf. Es war ihr noch nicht erlaubt, das Knie wieder voll zu belasten, weshalb sie sich auf jeden Schritt konzentrieren musste.
»Alles Gute, junge Frau«, rief die Patientin im Morgenmantel ihr nach.
»Danke, das wünsche ich Ihnen auch.«
Sie betrat das Sprechzimmer. Dr. Wiesner deutete auf die Untersuchungsliege an der Längsseite des Raumes und half ihr mit den Gehstützen, während sie sich wenig elegant auf die Kante der Liege setzte.
Zwei Röntgenaufnahmen waren auf einem überdimensionalen, an der Wand angebrachten Bildschirm erkennbar. Ihr Kniegelenk. Auf die Entfernung konnte sie keine Einzelheiten erfassen, aber dass sich nun irgendetwas aus Metall in ihrem Knie befand, Schrauben, Drähte oder etwas in der Art, war mühelos zu sehen. Dr. Wiesner und der Oberarzt hatten ihr das Verfahren vor und nach der Operation erklärt, aber sie hatte nicht so recht verstanden, welche Gewebestrukturen bei dem Unfall verletzt worden und auf welche Weise sie nun wieder miteinander verbunden waren.
»Tja, Frau Haglund, was für ein Glück, dass Sie jetzt hier sitzen und ich Ihre Entlassungspapiere ausstellen kann. Das hätte ja weitaus schlimmer ausgehen können mit Ihrem Unfall, was?« Dr. Wiesner rückte seine Brille mit dem dunklen Horngestell zurecht und schob sich mitsamt seinem Bürostuhl so nah an den Schreibtisch heran, wie es der üppige Bauch zuließ, der sich unter seinem Kittel deutlich abzeichnete. Er trug knallrote Sportschuhe, Mella konnte sie von ihrem Platz aus sehen. Vielleicht wollte er mit ihnen von seiner Leibesfülle ablenken. »Wie geht es Ihnen? Noch Schmerzen?« Er hielt den Blick auf den Computerbildschirm gerichtet, wo er offenbar ihre Akte einsehen konnte.
»Kaum«, antwortete Mella wahrheitsgemäß.
»Die OP-Wunde ist ja bestens verheilt, die Klammern wurden entfernt, die Physio ist auch zufrieden …« Er scrollte, las, sprach wie zu sich selbst. »Prima«, sagte er dann und drehte sich mitsamt seinem Schreibtischstuhl zu ihr um. »Wir haben bei der letzten Visite ja soweit alles besprochen. Hier …«, er deutete auf ein Briefkuvert, das vor ihm auf dem Tisch lag, »… stehen die wichtigsten Infos für Ihren weiterbehandelnden Physiotherapeuten drin. Und hier …«, er tippte auf einen zweiten Umschlag gleich daneben, »… ist der Entlassungsbrief für Ihren Hausarzt. Ich schaue mir das Knie jetzt noch mal an.«
Schwerfällig erhob er sich, die Sohlen seiner Sportschuhe verursachten ein quietschendes Geräusch auf dem Fußboden, als er sich ihr näherte.
»Muss ich dieses Monstr… die Schiene ablegen?«
»Das wäre gut. Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
Schon war er neben ihr. Sie hob die Beine auf die Liege, öffnete nacheinander alle Klettverschlüsse und sah Dr. Wiesner dabei zu, wie er ihr mit routinierten Handgriffen die Orthese abnahm. Sie streifte sich die Leggings vom rechten Bein und legte sich auf den Rücken, die Hände übereinander auf dem Bauch.
»Werden Sie bitte regelmäßig in unserer orthopädischen Sprechstunde vorstellig. Der nächste Termin steht im Entlassungsbrief. Und bringen Sie jedes Mal einen Therapiebericht Ihres Physiotherapeuten mit. Ich hatte Ihnen ja schon gesagt, dass es nicht nur um den Muskelaufbau geht …«, er betastete ihr Knie und inspizierte die Einstellung der Orthesenscharniere, »… auch um das Ausdauertraining, die neuromuskuläre Kontrolle und insgesamt natürlich die Beweglichkeit des Kniegelenks. Haben Sie die Therapie schon in die Wege geleitet? Ist wichtig, dass es lückenlos weitergeht.« Er warf Mella einen prüfenden Blick zu.
»Meine Freundin ist Physiotherapeutin mit eigener Praxis, sie kümmert sich bestens um mein Knie.«
»Hervorragend. Dann grüßen Sie Ihre Freundin von mir, sie gehört ab sofort zum Behandlungsteam.« Er unterstrich das Gesagte mit einem Augenzwinkern. Dann half er Mella, sich aufzurichten. »Sie sind damit offiziell aus der stationären Behandlung entlassen, Frau Haglund. Alles Gute für Sie.« Mella verzog beim Druck seiner Hand das Gesicht. Der Arzt stockte. »Ah, entschuldigen Sie, ich hab nicht dran gedacht.« Seinem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass es ihm ehrlich leidtat. »Dabei wurde es doch bei Ihrer Aufnahme extra angemerkt.«
Mella biss sich auf die Unterlippe. »Schon gut, Sie können sich ja nicht jedes Zipperlein Ihrer Patienten merken.«
Aus einem inneren Impuls heraus zog sie den Ärmel etwas weiter übers linke Handgelenk, eine vertraute Geste seit vielen Jahren. Sie beeilte sich, ihre Leggings wieder hochzuziehen. Ihre langen blonden Haare fielen ihr vors Gesicht und verbargen zum Glück die Röte, die ihr in die Wangen geschossen war.
»Mir scheint, Sie hatten auch damals einen ausgesprochen zuverlässigen Schutzengel.«
Er sagte es mit einem solchen Ernst, dass sie nichts Scherzhaftes darauf zu erwidern wusste. Dabei waren Humor und Sarkasmus die einzigen Mittel, die ihr über die Verlegenheit in solchen Situationen hinweghalfen. Die die Gewissheit, dass die Vernarbungen ihren Arm seit dem Drama vor Jahren für immer entstellt hatten, halbwegs erträglich machten. »Das hat dich traumatisiert für den Rest deines Lebens«, hatte Fränzi irgendwann einmal festgestellt.
»Ich rede nicht so gern drüber.«
»Okay, verstehe.«
Mit Schwung setzte sie sich auf die Kante der Untersuchungsliege. Dr. Wiesner half ihr beim Anlegen der Orthese und reichte ihr die Gehstützen. Bedrückt verließ sie das Arztzimmer.
18. Februar 1982
Lieber Rikard,
da ich in der Schule keine Gelegenheit finde, dir ungestört zu sagen, wie sehr mich dein Lob gefreut hat, habe ich mich entschlossen, es dir zu schreiben. Danke dafür, ein ganz großes Danke! Dass du mich für eine talentierte Gitarristin hältst, bedeutet mir viel, so hat es damals nicht einmal mein Gitarrenlehrer ausgedrückt, so hat es genau genommen noch nie irgendjemand ausgedrückt. Aber mein Unterricht liegt ja auch ein paar Jahre zurück, wahrscheinlich war die Neigung, die du mir bescheinigst, damals noch nicht sichtbar, und so war mir lange gar nicht bewusst, dass ein musikalisches Talent in mir schlummern könnte. Da musstest erst du an unsere Schule nach Visby kommen, um es zu wecken.
Und dann danke ich dir noch dafür, dass du mir deine wunderschöne Gitarre überlassen hast – meine ist tatsächlich nicht die beste. Meine Mutter hat sie zu Beginn meiner Gitarrenstunden für mich angeschafft, weil sie sich kein besseres Instrument leisten konnte, ich konnte dir das heute Morgen nicht so sagen. Jetzt, mit dem Stift auf dem Papier, ist es leichter. Ich war damals glücklich mit dem gebrauchten Instrument, das aber, da gebe ich dir völlig recht, keinen schönen Klang hat, da helfen auch die teuren Saiten nur bedingt. Auf deiner Gitarre zu spielen, macht viel mehr Spaß. Sie klingt tausendmal besser, und mit der ausgefallenen Holzmaserung ist sie dazu auch optisch etwas ganz Besonderes. Ich fühle mich geehrt und privilegiert und weiß gar nicht, womit ich das verdient habe.
Ahnst du eigentlich, dass ganz viel in Bewegung gekommen ist, seit du vor einer Woche mit dem Musikprojekt an unserer Schule gestartet bist? Du hast etwas Mitreißendes an dir, das brauchen wir alle gerade sehr. Es bricht unseren eingeschlafenen Schulalltag auf, und du bringst frischen Wind mit, der uns guttut. Danke auch dafür. Ich freue mich auf unser Beatles-Projekt und noch mehr darüber, dass du mich für die beiden Solostücke und das Duo mit dir ausgewählt hast. Ich werde fleißig üben, versprochen. Sei gewiss, dass ich deine Gitarre wie ein Heiligtum behandele.
Freue mich auf alles, was kommt.
Grüße, Griddy
Gotland – September 2022
Mit fahrigen Handgriffen verstaute Siri die Holzprinzessin in der Tasche und zerrte den Reißverschluss zu. Jerik war schon nach draußen gegangen, wo er auf sie wartete, und sie zwang sich zur Ruhe, um klar denken zu können. Ihre Mutter war jetzt Mitte siebzig und immer bei guter Gesundheit gewesen. In all den Jahren hatte sie so vielen gotländischen Kindern auf die Welt geholfen, dass es sinnlos war, sie auf eine Zahl festzulegen. Tag und Nacht war sie erreichbar gewesen, hatte werdenden Müttern und auch den Vätern mit sanftmütigem Wesen und sicherem Auftreten beigestanden.
Dass irgendetwas Jördis Svensson aus der Bahn werfen könnte, hatte bis vor wenigen Augenblicken nicht in Siris Vorstellung existiert. Undenkbar. Ihre Mutter war unverwüstlich, und das würde sie bleiben. Genau genommen war Jördis ihre Adoptivmutter, doch das machte für Siri keinen Unterschied. Schon als Achtjährige hatte sie darüber Bescheid gewusst, dass sie als Neugeborenes in einem Babykörbchen, eingehüllt in eine hellgrüne Häkeldecke, an der Tür des Mutter-Kind-Heims in der Smedjegata in Visby, das Jördis in den Siebzigerjahren gegründet und geleitet hatte, abgelegt worden war. Es hatte niemanden gegeben, der sich um so ein kleines Mädchen hätte kümmern können. Ihr wäre ein Leben im Waisenhaus beschieden gewesen, hätten Jördis und ihr Mann Arvid sich ihrer nicht angenommen.
Jerik war damals drei Jahre alt gewesen. Er hatte nicht hinterm Berg damit gehalten, dass ihm ein kleiner Bruder lieber gewesen wäre, aber als Jördis mit ihr, Siri, nach Hause gekommen war und er sie zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, da hatte er sie mit leuchtenden Augen angesehen und sie nicht wieder hergeben wollen. So hatten Jördis und Arvid es Jahre später noch erzählt, und Siri fragte sich manchmal, ob die Verbindung zwischen ihr und Jerik wohl ebenso innig wäre, hätte das Schicksal sie als leibliche Geschwister aufwachsen lassen.
Hastig schlüpfte sie in ihren Trenchcoat und griff nach der Tasche. Die Veranstaltung ohne ein Wort zu verlassen, entsprach nicht ihrer Art der Höflichkeit, aber die Dringlichkeit in Jeriks Worten ließ nichts anderes zu. Sie würde Ulrika Karlsson später anrufen und ihr alles erklären. Nur … was war mit Elin? Sie war mit ihr hergekommen, und wenn Mattis nicht doch noch auftauchte, was Siri nahezu ausschloss, war Elin auf sich gestellt und hatte niemanden, der sie nach Hause bringen würde. Mattis’ Schwester befand sich für drei Tage mit ihrem Chor auf einer Konzertreise in Linköping, auch sie konnte also nicht einspringen.
Mit einem stillen Seufzer verließ Siri den Nebenraum. Sie warf einen Blick ins Museumsfoyer, wo soeben die Preisverleihung begonnen hatte und stürmischer Applaus für die Gewinner des dritten Platzes aufbrandete. Siri entdeckte Elin, zappelnd vor Aufregung, inmitten der Kinder ihrer Klasse. Sie alle konnten sich vor Ungeduld kaum auf ihren Stühlen halten, dem möglichen Gewinn entgegenfiebernd. Elin aus diesem einzigartigen Augenblick der Vorfreude zu reißen, brachte sie nichts übers Herz. Hastig eilte Siri zurück in den Nebenraum. Dort kramte sie ihr Handy aus der Jackentasche und rief Jerik an.
»Wo bleibst du?«, fragte er. In seiner Stimme klang eine nicht zu überhörende Anspannung durch.
»Fahr schon vor«, sagte sie. »Elin ist noch bei der Preisverleihung, ich kann sie nicht allein hierlassen, und ich will sie auch nicht da rausholen, sie hat sich so auf diesen Tag gefreut.«
Sie dachte an ihre Mutter, die sie vielleicht brauchte. Den Grund dafür nicht zu kennen, trug nicht gerade zu Siris Beruhigung bei. In einer Geste der Nervosität rieb sie sich über die Stirn. Sie hörte Ulrikas Stimme aus der Halle, die den Sieger des zweiten Platzes verkündete. Erneut brandete Beifall auf.
»Kann denn niemand sonst sie nach Hause bringen? Ist Mattis nicht da?«
»Nein, ist er nicht. Ich könnte ihre Lehrerin oder jemanden aus der Klasse fragen.« Ihre Gedanken drifteten in alle Richtungen. »Aber ich sollte bei ihr bleiben, Jerik. Sie hat schon so viele Enttäuschungen hinnehmen müssen. Ich habe ihr versprochen, dabei zu sein.«
»Sie ist Mattis’ Tochter.«
»Irgendwie ist sie auch meine.«
»Du bist zu gut für diese Welt, Siri.« Jerik stieß einen Seufzer aus.
»Erzähl mir in zwei Sätzen, was mit Mama ist.«
»Ich weiß es nicht. Papa hat am Telefon kaum was gesagt, nur dass ich kommen soll, dass es was Ernstes ist, und dass ich dich mitbringen soll. Er hat dich nicht erreicht. Sicher hast du dein Handy lautlos gestellt.«
Dass es was Ernstes ist … Herzinfarkt, Schlaganfall, Hirnblutung, Koma. Grell wie Blitzlichter schossen ihr die Begriffe durch den Kopf. Ein Leben konnte von einem zum anderen Augenblick durch einen solchen Schicksalsschlag nicht mehr dasselbe sein oder gar beendet werden.
»Ist sie in der Klinik?«
Eine überflüssige Frage. Mit dem Handy am Ohr eilte sie wieder zurück. Sie linste durch die offen stehende Tür, sah Ulrika am Mikrofon, hörte ihre Stimme, die den Sieger des Wettbewerbs ankündigte.
»Nein«, erwiderte Jerik. »Papa sagte, dass ich nach Hause kommen soll.«
Siri runzelte die Stirn. Wenn ihre Mutter sich nicht in stationärer Beobachtung befand, konnte es so schlimm nicht um sie stehen. Sie drängte die gerade in ihren Gedanken aufgetauchten Szenarien zurück.
»Fahr schon vor, ich komme nach, sobald ich kann. Das wird hier nicht mehr lange dauern, schätze ich.«
»Okay, beeil …«
Der Rest des Satzes verlor sich im Jubel und im Applaus ringsumher. Die Kinder in der ersten Reihe sprangen auf, rissen kreischend die Arme nach oben. Elin war unter ihnen, ein Mädchen mit hochroten Wangen drückte sie an sich, ein paar Jungen rannten umher und klatschten sich ab. Die Erwachsenen erhoben sich von ihren Plätzen, lächelten und applaudierten. Einige zückten ihre Handys und hielten den Moment der Begeisterung fest, der Zeitungsredakteur tippte auf seinem Tablet herum. Siri betrat das Foyer, blieb an der Wand stehen, klatschte nun ebenfalls. Da drehte Elin sich um, ihr suchender Blick tastete sich die Stuhlreihen entlang. Als sie Siri entdeckte, winkte sie ihr mit leuchtenden Augen zu, und Siri winkte zurück. Sie versuchte sich an einem Lächeln, in der Hoffnung, dass es ihr einigermaßen gelang.
Schon wandte Elin sich wieder dem Geschehen auf der Bühne zu, denn jetzt überreichte Ulrika Karlsson einem Jungen der Siegerklasse den Umschlag mit dem Preisgeld. Sie sparte nicht mit Lob, würdigte aber wortreich auch die übrigen Teilnehmer des Wettbewerbs. Siri warf einen Blick zur Uhr und schob das Handy in die Jackentasche. Die Unruhe in ihrem Inneren wuchs, sie konnte kaum stillstehen, ging ein paar Schritte auf und ab. Sie dachte an ihre Mutter, fragte sich wieder und wieder, was geschehen sein mochte und warum ihr Vater Jerik gegenüber nicht deutlicher gewesen war. Sie ließ eine ältere Dame vorbei, fing ihren freundlichen Blick auf und hörte wie durch einen Nebel ihre wohlwollenden Worte hinsichtlich des Puppenspiels. Siri brachte ein verkrampftes Lächeln zustande, sah erneut nach vorn zu Elin.
Nun dirigierte ihre Lehrerin die gesamte Schulklasse auf der Bühne in einen Halbkreis, den prämierten Pappmaché-Leuchtturm in ihrer Mitte. Ein Dutzend Eltern bewegte sich wie auf ein unhörbares Kommando nach vorn, alle fotografierten ihre stolzen Sprösslinge mit den Handykameras, der Redakteur der Lokalzeitung schoss ebenfalls ein paar Fotos. Unaufhörlich knetete Siri ihre Hände. Alles Blut war aus ihnen gewichen, sodass sie sich beinahe so kalt anfühlten wie vor ihrem Auftritt. Sie wusste nicht, ob es die Ungeduld war, die mit jeder Sekunde mehr an ihr zerrte, oder die Sorge um ihre Mutter.
»Hej, haben sie wirklich gewonnen?«
Plötzlich war Mattis neben ihr. Er wirkte abgehetzt, ein paar Haarsträhnen hingen ihm in die Stirn. Vielleicht hatte er alles daran gesetzt, rechtzeitig da zu sein und ärgerte sich darüber, dass er den Großteil der Veranstaltung trotzdem verpasst hatte.
»Endlich bist du da!«, stieß sie ohne eine Begrüßung hervor. Sein Lächeln hatte nicht die Kraft, sie zu wärmen. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher. Dass ihre Worte wie ein Vorwurf geklungen hatten, merkte sie erst jetzt, aber in Gedanken war sie bereits auf dem Weg zu ihrer Mutter, was Mattis als Erklärung hoffentlich genügen würde. »Jerik war hier, es ist was mit Mama passiert, ich muss hin, erkläre es Elin später.«
Sie sprach, ohne Luft zu holen, war schon an ihm vorbei, schnappte sich ihre Tasche und verließ mit eiligen Schritten das Gebäude. Durch den Geräuschpegel ringsumher hörte sie, dass er ihr etwas nachrief, aber es verlor sich im Lärm, und sie drehte sich nicht mehr zu ihm um.
Ein leichter Nieselregen lag in der Luft, als sie das Museum durch den Seitenausgang verließ und über das Kopfsteinpflaster in Richtung ihres Autos eilte. Da hielt neben ihr der Caddy ihres Bruders. Die Tür wurde aufgestoßen.
»Komm, steig ein«, hörte sie Jeriks Stimme.
Sie glitt auf den Beifahrersitz und schloss die Tür. Die Tasche mit der Marionette stellte sie zwischen ihre Füße. Der Sicherheitsgurt rastete ein, Jerik fuhr los. Siri lehnte den Kopf nach hinten. Durchatmen, endlich.
»Warum hast du gewartet?« Sie streifte ihn mit einem Seitenblick.
»Du hast gesagt, es dauert nicht lange, außerdem hab ich Mattis reingehen sehen. Für Elin ist also gesorgt.«
»Danke«, sagte sie leise. »Ist mir ganz recht, nicht selbst fahren zu müssen. Kann gar nicht richtig denken.«
Die Stille im Wagen und das monotone Brummen des Motors hüllten Siri ein. Winzige Regenspritzer sprenkelten die Frontscheibe, während Jerik die Stadt verließ und der 140 in südlicher Richtung folgte. Auf Gotlands Straßen herrschte nie viel Verkehr, um diese Zeit erst recht nicht. Es war kurz vor halb sieben. Sie hatte einen Kartoffelauflauf vorbereitet, den sie nur noch in den Ofen hatte schieben wollen, und der Nachtisch, Zimtcreme mit Blaubeeren, Elins Lieblingsdessert, wartete bereits im Kühlschrank.
»Ich weiß«, sagte Jerik nur. Er verströmte eine Ruhe, die Siri am liebsten mit Haut und Haaren aufgesogen hätte. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und schrieb ein paar Worte an Mattis.
Streu noch Käse auf den Auflauf, er braucht 50 Minuten im Ofen. Dessert steht im Kühlschrank. Feiert den ersten Platz!
»Was denkst du, was mit ihr ist?«, fragte sie, den Blick auf die Straße gerichtet, auf die Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge, die mit ihrem milchigen Licht die Dämmerung durchbrachen.
»Papa hat sie nicht ins Krankenhaus bringen lassen«, murmelte sie. Die Tatsache beruhigte sie ein wenig.
»Dann kann es kein Notfall sein.«
Jerik sprach aus, was sie dachte. Sie nickte, spielte fahrig mit dem Verschluss ihrer Handytasche. Die Fahrt schien endlos zu dauern, dabei waren es nur gut zwanzig Minuten bis nach Eskelhem.
Ihr Elternhaus war das letzte Haus der Straße unmittelbar am Waldrand, umgeben von einer niedrigen Bruchsteinmauer und einem Garten mit Blaubeersträuchern, einem Nussbaum und gepflegten Blumenbeeten. Früher einmal war das Haus ein Bauernhof gewesen, davon zeugten die angrenzende Scheune und die Stallgebäude, in denen Jerik anfangs seine Tischlerwerkstatt untergebracht hatte. Dass er zehn Jahre zuvor fortgegangen war – wie so viele junge Leute, die sich auf dem Festland bessere Aussichten erhofften −, hatte seinerzeit für reichlich Diskussionsstoff bei den Svenssons gesorgt. Siri hatte Partei für Jerik ergriffen, hatte seine Pläne unterstützt, weil sie gespürt hatte, wie wichtig ihrem Bruder der Schritt in die Selbstständigkeit gewesen war, und nie hatte sie auch nur ein Wort darüber verloren, wie schwer sich ihr Herz angefühlt hatte, als er gegangen war. Spätestens als er mit seiner Freundin Elsa zusammengekommen war, die ebenfalls in Nynäshamn lebte, war Siri sich im Klaren darüber gewesen, dass er drüben bleiben würde.
Jerik lenkte den Caddy in die Hofeinfahrt und parkte neben dem Wagen ihres Vaters, einem dunkelroten Volvo, den er fuhr, seit Siri denken konnte. Sie bemerkte ein zweites Auto direkt vor dem Scheunentor.
»Weißt du, wem das gehört?«, fragte sie, während sie daran vorbei auf das Haus zugingen.
Jerik zuckte mit den Schultern. »Nie gesehen.«
Die Haustür war unverschlossen wie üblich. Sie traten ein.
»Wir sind da!«, rief Jerik.
Er ging voran, durch den schmalen Flur, von dem zwei Türen abzweigten und der am gegenüberliegenden Ende in die große Küche führte. Es roch schwach nach Zitrone, dem Putzmittel, das ihre Mutter seit eh und je verwendete. Alles schien wie immer.
»Papa? Mama?« Siri folgte ihrem Bruder.
Warum antwortete niemand? Das Auto ihrer Eltern stand vor der Tür, sie mussten also zu Hause sein.
Da tauchte plötzlich ein Mann im Türrahmen der Küche auf. Siri schätzte ihn auf Mitte dreißig. Sein akkurat gestutzter Vollbart und die Brille mit dem feinen Goldrand verliehen ihm etwas Intellektuelles. Ein Fremder. In Siris Kopf begannen die Gedanken einander zu jagen.
»Jerik und Siri?«
Mit einer einladenden Handbewegung deutete der Fremde in die Küche, als wären sie beide Gäste, die zum ersten Mal zu Besuch kamen.
»Was ist …? Wer …?«
Siri unterbrach ihr Stammeln, suchte Jeriks Blick, der ebenso verunsichert wirkte, wie sie sich fühlte. Sie wünschte sich, ihr Bruder würde etwas sagen, würde mehr herausbringen als ein paar Wortfetzen. Sie folgten dem Fremden in die Küche. In Bruchteilen von Sekunden flog Siris Blick über den großen Tisch vor dem Fenster. Über die blau-weiß karierte Tischdecke, die beiden Tassen, den Zuckerstreuer, den kleinen Milchkrug mit dem angeschlagenen Rand, bis zur Anrichte, zum Herd, dem achtlos neben der Spüle liegenden Küchenhandtuch, dem Topf auf der hinteren Herdplatte. Durch das Fenster hindurch erkannte sie einen Teil des knorrigen Nussbaums. Nichts deutete darauf hin, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Doch ein untrügliches Gespür, das mehr und mehr Raum in ihr forderte, sagte ihr, dass irgendetwas mit Macht eingebrochen war in diesen trügerischen Anstrich von Normalität.
»Ich bin Sören Lund, der Hausarzt Ihrer Eltern. Setzen wir uns doch.«
Er nahm auf einem der Stühle Platz. Siri erinnerte sich, dass der alte Dr. Lund seine Praxis vor einiger Zeit an seinen Sohn übergeben hatte.
»Was ist passiert? Wo sind unsere Eltern? Was ist mit unserer Mutter?« Siri konnte wieder in vollständigen Sätzen sprechen. Fragen stellen. Ein leichtes Zittern erfasste ihre Beine. Sie tastete nach dem Griff des Kühlschranks direkt hinter ihr, weil sie etwas zum Festhalten brauchte. Sie dachte an Mattis, wünschte sich, er könnte hier sein, bei ihr, könnte hinter ihr stehen und sie halten. Sie wusste, dass aus dem Mund des Arztes nichts Gutes kommen würde. Sie wusste es, ohne dass sie es hätte erklären können. »Papa!«
Sie hatte laut nach ihm rufen wollen, aber ihre Stimme klang dünn wie Glas, das im nächsten Augenblick zerspringt.
»Ich bringe Sie gleich zu ihm«, hörte sie die Stimme Dr. Lunds.
Ihre Knie fühlten sich plötzlich schwach an, sie wusste, dass sie sich setzen sollte, bevor sie den Halt verlieren würde, doch die Unfähigkeit, auch nur einen Schritt zu tun, lähmte sie. Da spürte sie einen Arm, der sich um ihre Schultern legte. Sanft und stark. Jerik, ihr großer Bruder. Ich bin für dich da, Siri, immer.
Sie standen dicht nebeneinander, eine Einheit aus zwei Körpern, die die geschwisterliche Zusammengehörigkeit zum Ausdruck brachte.
Als der Arzt begriff, dass weder Siri noch Jerik Anstalten machten, sich zu ihm an den Tisch zu setzen, stand er auf.
»Es tut mir sehr leid, aber die Nachricht, die ich …« Siri sah, wie sich sein Mund öffnete und schloss, sie hörte seine Stimme gedämpft wie durch eine Scheibe, und etwas in ihr weigerte sich, die Worte aufzunehmen.
Hat sich gegen Mittag hingelegt … fühlte sich schon die ganze Woche nicht gut … wollte keinen Arzt …
»Nach einer Stunde hat Ihr Vater nach ihr gesehen …«, er machte eine Pause, ehe er weitersprach und blickte Siri und Jerik mitfühlend an, »… und sie leblos vorgefunden.«
»Leblos?«, hauchte Siri mit einer Überwindung, die ihr körperlich wehtat. »Was heißt das?«
Jerik drückte sie an sich.
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ihrem Vater war klar, dass jede Maßnahme zur Wiederbelebung nutzlos sein würde und auch ein Notarzt nicht mehr helfen könnte.«
»Wie konnte er das wissen?« Siris Stimme hatte sich nach oben geschraubt. »Wo ist er? Und wo ist unsere Mutter?«