Das Geheimnis von Herrenchiemsee - Angela Waidmann - E-Book

Das Geheimnis von Herrenchiemsee E-Book

Angela Waidmann

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Beschreibung

Ein rätselhafter Überfall • Dunkle Gestalten im Neuen Schloss • Ein Mord • Und der Tod des Märchenkönigs Gibt es einen Zusammenhang? Regina Dernkamp kehrt ein Jahr nach ihrem Abenteuer auf der Fraueninsel an den Chiemsee zurück. Sie begleitet ihren Freund, den Archäologen Tobias Hofrichter, der auf der Herreninsel einen sagenumwobenen Geheimgang sucht. Doch kaum hat Regina die Insel betreten, wird sie wie damals von unheimlichen Visionen und Träumen heimgesucht, die sie in die Zeit König Ludwigs II. zurückversetzen. Wieder versucht jemand aus der Vergangenheit, mit ihr in Kontakt zu treten. Davon ist Regina bald fest überzeugt. Und sie muss schnell herausfinden, was derjenige von ihr will, bevor ein Unglück geschieht. Aber Tobias schenkt ihren Ahnungen diesmal keinen Glauben … Wird der freundliche Museumsleiter Dr. Friedberg Regina helfen, Das Geheimnis von Herrenchiemsee aufzuklären? Oder plant er ein Verbrechen? Ein mysteriöser Inselkrimi, der die Leser*innen immer wieder ins 19. Jahrhundert entführt, als das Neue Schloss Herrenchiemsee erbaut wurde. Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie den Märchenkönig mit anderen Augen sehen!en!

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An­ge­la Waid­mann

Das Ge­heim­nis von Her­ren­chiem­see

Mys­te­ri­öser In­sel­kri­mi

1. Auf­la­ge 2021Co­py­right © 2021 An­ge­la Waid­mann

Chiem­gau­er Ver­lags­hausDah­li­en­weg 5, 83254 Breit­brunnwww.chiem­gau­e­r­ver­lags­haus.de

Alle Rech­te vor­be­hal­ten

Co­ver­de­sign und Satz: Con­stan­ze Kra­merwww.co­ver­bou­tique.de

Bild­nach­wei­se: © pho­to­pi­xel, © An­drei vis­hnya­ko, © An­ton Iva­nov Pho­to – stock.ad­o­be.com© sq­back – De­po­sit­pho­to.com

Druck: Chiem­gau­er Ver­lags­hauswww.chiem­gau­e­r­ver­lags­haus.de Prin­ted in Ger­ma­nyISBN 978-3-94529-259-4

Rückkehr

Lang­sam pflüg­te das Schiff durch die dun­kel­blau­en Wel­len des Chiem­sees. Re­gi­na stand am Fens­ter der Fäh­re und schau­te zu der be­wal­de­ten In­sel hin­über, der sie sich all­mäh­lich nä­her­ten.

Sie war in ei­ner merk­wür­di­gen Stim­mung, hin- und her­ge­ris­sen zwi­schen Freu­de und Furcht. Denn sie freu­te sich tat­säch­lich dar­auf, eine gan­ze Wo­che mit To­bi­as ver­brin­gen zu kön­nen, mit dem sie seit ei­nem Jahr eine lei­den­schaft­li­che Fern­be­zie­hung führ­te. Dass sie die­se kost­ba­ren ge­mein­sa­men Tage aus­ge­rech­net auf der Her­ren­in­sel ver­brin­gen wür­den, in Sicht­wei­te je­nes Or­tes, an dem sie im Jahr zu­vor so merk­wür­di­ge, be­ängs­ti­gen­de Tage er­lebt hat­te, fand sie al­ler­dings we­ni­ger be­rau­schend. Zu­mal die Er­leb­nis­se da­mals für sie und To­bi­as bei­na­he töd­lich aus­ge­gan­gen wa­ren.

Ei­gent­lich hat­te sie nicht den ge­rings­ten Wunsch ver­spürt, je­mals wie­der an den Chiem­see zu­rück­zu­keh­ren. Doch To­bi­as soll­te für die Ar­chäo­lo­gi­sche Staats­samm­lung in Mün­chen For­schun­gen auf der Her­ren­in­sel durch­füh­ren und hat­te sie mehr als ein­mal dar­um ge­be­ten, ihn doch dort­hin zu be­glei­ten. Ir­gend­wie konn­te sie ihn ja ver­ste­hen, schließ­lich sa­hen sie sich nur an den viel zu kur­z­en Wo­chen­en­den, und auch das nicht im­mer. Lan­ge hat­te sie mit sich ge­run­gen, ob sie ihm die­sen Wunsch er­fül­len soll­te, denn der Schre­cken von da­mals saß im­mer noch tief. Nach wie vor wur­de sie des Öf­te­ren von Pa­nik er­grif­fen, etwa wenn sie dunk­le Flu­re oder enge Kor­ri­do­re be­tre­ten soll­te, und im­mer noch wach­te sie mit­un­ter schweiß­ge­ba­det auf, als hät­te sie im Schlaf mit fins­te­ren Mäch­ten ge­run­gen.

Ei­gent­lich war das nicht wei­ter ver­wun­der­lich nach dem, was sie im Jahr zu­vor auf der Frauen­in­sel er­lebt hat­te. Aus dem ge­plan­ten Me­di­ta­ti­ons­kurs war da­mals ein ve­ri­ta­bler Alp­traum ge­wor­den. Be­gon­nen hat­te es gleich nach ih­rer An­kunft, als sie ei­nem al­ten In­sel­be­woh­ner be­geg­net war, den man we­nig spä­ter tot aus dem See ge­bor­gen hat­te. Dann hat­ten sie auch noch un­er­klär­li­che Vi­si­o­nen und Träu­me heim­ge­sucht, die sie in die Zeit der Grün­dung des Klos­ters Frau­en­wörth zu­rück­ver­setzt hat­ten. Alte Sa­gen und Ge­rüch­te, die un­ter den In­sel­be­woh­nern kur­sier­ten, hat­ten ein Üb­ri­ges ge­tan, sie da­mals zu­neh­mend an ih­rem Ver­stand zwei­feln zu las­sen. Bei dem Ver­such, dem selt­sa­men Spuk auf den Grund zu ge­hen, war sie schließ­lich auf einen Ge­heim­gang ge­sto­ßen und hat­te einen Schatz ent­deckt, von dem To­bi­as als Ar­chäo­lo­ge nicht ein­mal zu träu­men ge­wagt hat­te.

Ach, To­bi­as! Wäre er ihr da­mals nicht zu Hil­fe ge­kom­men, dann wäre sie ei­nem Wahn­sin­ni­gen in die Hän­de ge­fal­len. Und um ein Haar wäre der Ge­heim­gang ih­rer bei­der Grab ge­wor­den, als er ein­ge­stürzt und von den Was­ser­mas­sen des Chiem­sees ge­flu­tet wor­den war.

Ei­ner al­ten Sage nach soll­te der Ge­heim­gang von der Frauen­in­sel un­ter dem Chiem­see hin­durch bis zur Her­ren­in­sel hin­über ge­führt ha­ben. Und nach der spek­ta­ku­lä­ren Ent­de­ckung im Jahr zu­vor soll­te To­bi­as nun her­aus­fin­den, ob dar­an et­was Wah­res war.

»Ist doch schön hier, oder?«, frag­te er, leg­te von hin­ten sei­ne Arme um sie und hauch­te einen Kuss auf ihre Schlä­fe.

»Ja klar.« Mit ei­nem Seuf­zer schloss Re­gi­na die Au­gen und lehn­te ih­ren Kopf an sei­ne Schul­ter.

Eine Wei­le stan­den sie so da, dann flüs­ter­te er ihr ins Ohr: »Schau mal wie­der hin!«

»Wenn du meinst …«

Di­rekt vor ih­nen lag das be­rühm­te Schloss des Mär­chen­kö­nigs Lud­wig II. Das pracht­vol­le Ge­bäu­de mit sei­nen ho­hen Bo­gen­fens­tern, Säu­len und Sta­tu­en schien sich schüch­tern hin­ter den herbst­lich bun­ten Bäu­men zu du­cken.

»Drück’ dir bloß nicht die Nase platt!« La­chend schlang To­bi­as sei­ne Arme um ih­ren Ober­kör­per.

Da war das Schloss schon fast wie­der im Wald ver­schwun­den.

Trotz ih­rer be­ängs­ti­gen­den Er­in­ne­run­gen war Re­gi­na ge­spannt auf die Her­ren­in­sel. Das lag nicht nur an Kö­nig Lud­wigs Schloss und To­bi­as’ For­schungs­auf­trag, son­dern auch an der Münch­ner Uni­ver­si­täts­do­zen­tin Maxi. Auf der In­sel gab es näm­lich auch noch das Chor­her­ren­stift, ein ehe­ma­li­ges Män­ner­klos­ter, des­sen Wur­zeln bis in das sieb­te Jahr­hun­dert zu­rück­reich­ten, so­wie eine kel­ti­sche »Vier­eck­schan­ze«, einen mit Wall und Gra­ben be­fes­tig­ten Bau­ern­hof aus vor­christ­li­cher Zeit. Dort wür­de Maxi mit ei­ni­gen Ar­chäo­lo­gie­stu­den­ten in den nächs­ten Wo­chen eine Aus­gra­bung ma­chen.

Ge­ra­de um­run­de­te das Schiff in ei­ner sanf­ten Kur­ve die Nord­spit­ze der In­sel, an de­ren Ufer eine hüb­sche, grau­blau ge­stri­che­ne Ka­pel­le stand. An ih­rer dem See zu­ge­wand­ten Au­ßen­mau­er stand in ei­ner stei­ner­nen Ni­sche die Sta­tue ei­nes Hei­li­gen, und Re­gi­na hat­te aus der Fer­ne den Ein­druck, als wür­de die Fi­gur sie mit ei­ner leich­ten Ver­beu­gung be­grü­ßen.

Merk­wür­dig, dach­te sie. Viel­leicht wür­de sie sich die­sen ko­mi­schen Hei­li­gen abends noch ge­mein­sam mit To­bi­as ge­nau­er an­schau­en.

Die Fäh­re dreh­te bei und steu­er­te auf den Steg zu, der die An­le­ge­stel­le mit der Her­ren­in­sel ver­band.

»Schau mal, da ist ja schon die Maxi«, sag­te To­bi­as und wink­te. Maxi stand tat­säch­lich schon am Ufer, wink­te er­freut zu­rück und kam ih­nen ent­ge­gen­ge­lau­fen. To­bi­as wuch­te­te den gro­ßen Roll­kof­fer, aus dem sie bei­de in den nächs­ten Ta­gen le­ben wür­den, vom Schiff auf den Steg. Ge­mein­sam gin­gen sie auf Maxi zu, die sie mit Küss­chen rechts und links be­grüß­te.

Re­gi­na kann­te To­bi­as’ Kol­le­gin von meh­re­ren Ausstel­lungs­er­öff­nun­gen und hat­te sie schnell ins Herz ge­schlos­sen. Sie moch­te Ma­xis fröh­li­che, bur­schi­ko­se und zu­pa­cken­de Art.

»Wie ist eure Aus­gra­bung denn an­ge­lau­fen?«, frag­te sie, wäh­rend sie ge­mein­sam den Steg ent­lang zum Ufer gin­gen.

»Wir fan­gen erst mor­gen früh so rich­tig an«, ant­wor­te­te Maxi. »Ges­tern Abend und heu­te Mor­gen ha­ben wir erst mal die Zel­te auf­ge­stellt, un­ser Ar­beits­ma­te­ri­al aus­ge­packt und einen gro­ben Plan ge­macht. Euer Zelt steht üb­ri­gens auch schon. Und mei­ne Stu­den­ten sind to­tal auf­ge­regt. Für die meis­ten ist es ja die ers­te Aus­gra­bung ih­res Le­bens.«

Sie hat­ten das Ende des Ste­ges er­reicht und steu­er­ten auf das höl­zer­ne War­te­häus­chen der Schiff­fahrts­ge­sell­schaft zu. Vor ih­nen, auf ei­nem Hü­gel, la­gen die mäch­ti­gen Ge­bäu­de des Chor­her­ren­stifts.

To­bi­as grins­te. »Ich kann mich noch gut an un­se­re ers­te Lehr­gra­bung er­in­nern. Das war un­ter dem al­ten Dr. Bohns­ten­gel. Weißt du noch?«

»Den wer­de ich mit Si­cher­heit nie­mals ver­ges­sen«, sag­te Maxi und lach­te. »Aber was ihr bei­den hier vor­habt, ist auch ziem­lich span­nend. Erst recht nach eu­rer aben­teu­er­li­chen Ent­de­ckung auf der Frauen­in­sel.«

Re­gi­na lief ein Schau­er über den Rü­cken.

»Aben­teu­er­li­che Ent­de­ckung ist gut«, brumm­te To­bi­as. »Ich habe Wo­chen ge­braucht, um mich von mei­ner Ver­let­zung zu er­ho­len.«

»Das weiß ich doch«, sag­te Maxi be­schwich­ti­gend. »Trotz­dem: Die Ta­ges­zei­tun­gen in ganz Deut­sch­land ha­ben dar­über be­rich­tet, was auf un­se­rem Ge­biet ja nicht all­zu oft pas­siert. Al­lein schon die klei­ne Fi­gur, die ihr aus dem Ge­heim­gang ge­ret­tet habt, war eine ech­te Sen­sa­ti­on. Die hat nicht von un­ge­fähr einen Eh­ren­platz im Baye­ri­schen Na­ti­o­nal­mu­se­um be­kom­men.«

Re­gi­na nick­te. Sie dach­te noch oft an den fei­er­li­chen Akt, bei dem das 1200 Jah­re alte, el­fen­bei­ner­ne Männ­lein vom Herr­scher­stab des Bay­ern­her­zogs Tas­si­lo im Na­ti­o­nal­mu­se­um ent­hüllt wor­den war. So­gar der Mi­nis­ter­prä­si­dent war da ge­we­sen und hat­te eine Rede ge­hal­ten, in der er sie und To­bi­as als »Hel­den« be­zeich­net hat­te.

Sie über­quer­ten den Platz vor der An­le­ge­stel­le und bo­gen nach links auf einen Weg ab, der um den Klos­ter­hü­gel her­um­führ­te.

»Wisst ihr ei­gent­lich, dass mei­ne Stu­den­ten euch to­tal be­wun­dern?«, frag­te Maxi. »In ih­ren Au­gen ist selbst In­di­a­na Jo­nes ein klei­nes Licht ge­gen euch.«

Re­gi­na grins­te. So­gar im fer­nen Würz­burg, wo sie als Leh­re­rin ar­bei­te­te, hat­te ihre Ent­de­ckung da­mals hohe Wel­len ge­schla­gen. Seit­dem war sie in der Ach­tung ih­rer Schü­ler enorm ge­stie­gen.

To­bi­as da­ge­gen warf Maxi einen ent­setz­ten Blick zu.

»Kei­ne Angst«, be­ru­hig­te sie ihn. »Die sind er­wach­sen und ha­ben ihre Be­wun­de­rung im Griff.«

Re­gi­na hat­te nur noch halb zu­ge­hört, denn zwi­schen den knor­ri­gen Bäu­men am Ufer sah sie die an­de­re In­sel mit der weiß ge­tünch­ten Kir­che und dem in die Höhe ra­gen­den Cam­pa­ni­le aus dem 12. Jahr­hun­dert.

Die Frauen­in­sel, dach­te sie schau­dernd. Woll­te sie wirk­lich eine gan­ze Wo­che lang in de­ren Sicht­wei­te ver­brin­gen?

Aber sie hat­te sich nun mal da­für ent­schie­den, To­bi­as hier­her zu be­glei­ten, und jetzt mach­te es kei­nen Sinn mehr, noch wei­ter dar­über nach­zu­den­ken. Bes­ser, sie schau­te sich ein biss­chen um.

Rech­ter Hand, am Hang des gras­be­wach­se­nen Hü­gels, auf dem das Chor­her­ren­stift stand, sah sie die Zel­te der Aus­gra­bungs­mann­schaft. Ge­schäf­tig wu­sel­ten ein paar jun­ge Leu­te da­zwi­schen her­um.

Maxi war ih­rem Blick ge­folgt. »Der Bo­den hier ist im­mer noch ziem­lich auf­ge­weicht, ob­wohl der Som­mer so tro­cken war. Des­halb hat man uns den Platz dort oben zu­ge­wie­sen.«

Je nä­her sie dem Zelt­la­ger ka­men, umso deut­li­cher konn­te Re­gi­na fröh­li­che Stim­men und lau­tes La­chen hö­ren.

Stu­den­ten in den ers­ten Se­mes­tern, noch bei­na­he so jung wie ihre ei­ge­nen Schü­ler. Ihr wur­de warm ums Herz. So be­drü­ckend, wie sie be­fürch­tet hat­te, wür­de ihr Auf­ent­halt auf der Her­ren­in­sel wohl doch nicht wer­den.

Sie hat­ten das Zelt­la­ger er­reicht und grüß­ten im Vor­bei­ge­hen eine Grup­pe Stu­den­ten, die über eine Kar­te ge­beugt um einen Tisch her­um stand.

Maxi führ­te sie zu ei­nem ge­räu­mi­gen Zelt, das am obe­ren Rand des La­gers auf­ge­baut wor­den war. »Bit­te­schön, das ist euer Reich. Üb­ri­gens dür­fen wir drü­ben im Schloss­ho­tel du­schen. Dort gibt es auch Früh­stück und Mit­tag­es­sen.«

Sie bück­te sich und hielt die Zelt­pla­ne hoch. »Jetzt macht es euch erst mal ge­müt­lich.«

Dann wa­ren sie al­lei­ne.

Re­gi­na ließ sich auf einen der bei­den Cam­ping­stüh­le sin­ken, die ne­ben ei­nem wa­cke­li­gen Tisch­chen in ei­ner Ecke stan­den. »Eine gan­ze Wo­che lang nur du und ich. Schon schön, oder?«

To­bi­as stell­te den Kof­fer ab und sah sich um. »Du bist gut. Son­der­lich viel Pri­vat­sphä­re ha­ben wir hier wohl nicht, fürch­te ich.«

Re­gi­na lach­te. »Dann müs­sen wir halt ab und zu gaaanz lei­se sein.«

*

Die Son­ne ging schon un­ter, als sie Hand in Hand zu ei­nem ge­müt­li­chen Spa­zier­gang zu dem blau ge­stri­che­nen Kirch­lein auf­bra­chen, das sie am Nach­mit­tag vom Schiff aus ge­se­hen hat­ten. Doch auf dem Zelt­platz kam Maxi mit zwei Stu­den­ten auf sie zu. Ehe Re­gi­na es sich ver­sah, hat­te sie To­bi­as in ein Fach­ge­spräch ver­wi­ckelt.

»Ich fürch­te, das hier wird ein biss­chen dau­ern«, mein­te er schon nach ein paar Sät­zen. »Wie wäre es, wenn du ein­fach schon mal vor­gehst? Ich kom­me dann nach.«

Ei­gent­lich war das Re­gi­na gar nicht recht, denn sie hat­te kei­ne Lust, aus­ge­rech­net auf der Her­ren­in­sel al­lei­ne in der Däm­me­rung un­ter­wegs zu sein. Aber den schö­nen Herb­s­t­a­bend mit kal­ten Fü­ßen ne­ben ei­ner Grup­pe fach­sim­peln­der Ar­chäo­lo­gen zu ver­brin­gen, dazu hat­te sie auch kei­ne Lust.

»Al­les klar«, sag­te sie da­her, nick­te Maxi und den Stu­den­ten zu und mach­te sich auf den Weg.

Sie spa­zier­te an der Klos­ter­kir­che vor­bei, stieg über eine Trep­pe den Hü­gel hin­un­ter und bog an der Schiffs­an­le­ge­stel­le nach links ab. Die Luft roch an­ge­nehm nach Holz und feuch­ten Blät­tern, und zwi­schen den Bäu­men sah sie den Chiem­see, der im Licht der un­ter­ge­hen­den Son­ne rot und gol­den fun­kel­te.

Ob­wohl sie nun schon eine ge­rau­me Zeit lang un­ter­wegs war, war von To­bi­as im­mer noch nichts zu se­hen. Aber schließ­lich wuss­te sie ja, wie sehr er für sei­nen Be­ruf brann­te. Dar­um gönn­te sie ihm die Freu­de, mit Fach­kol­le­gen plau­dern zu kön­nen, von gan­zem Her­zen.

We­nig spä­ter hat­te sie die hüb­sche Ba­rock­ka­pel­le er­reicht. Neu­gie­rig spa­zier­te sie um das klei­ne Ge­bäu­de her­um zu sei­ner dem See zu­ge­wand­ten Sei­te. Dann blieb sie ste­hen und be­trach­te­te die Hei­li­gen­fi­gur, die sie schein­bar mit ei­ner leich­ten Ver­beu­gung ge­grüßt hat­te, als sie noch an Bord der Fäh­re ge­we­sen war.

Der Hei­li­ge trug ein lan­ges Pries­ter­ge­wand und einen mit Ster­nen ge­schmück­ten Hei­li­gen­schein. Er schien sich tat­säch­lich zu ver­beu­gen, aber in Wirk­lich­keit wand­te er sich dem Kreuz in sei­ner rech­ten Hand zu.

Das könn­te der hei­li­ge Ne­po­muk sein, über­leg­te Re­gi­na. Er galt ja als Schutz­pa­tron der Schif­fer und pass­te so ge­se­hen sehr gut hier­her an den See.

Sie warf dem in An­dacht Ent­rück­ten einen letz­ten Blick zu, ging zum Ufer und be­trat einen klei­nen Steg, der aufs Was­ser hin­aus führ­te.

Die Son­ne war mitt­ler­wei­le hin­ter dem Ho­ri­zont ver­schwun­den, aber der Him­mel leuch­te­te im­mer noch oran­ge und pur­pur­rot. Über dem Ufer lag ein hauch­dün­ner Ne­bel­schlei­er. Wie dunk­le Schat­ten zeich­ne­ten sich dar­in die Um­ris­se ei­ni­ger Boo­te ab.

Am Ende des Ste­ges blieb Re­gi­na ste­hen und be­ob­ach­te­te fas­zi­niert, wie sich die Däm­me­rung über die In­sel senk­te und der im­mer dich­ter wer­den­de Ne­bel wei­ter und wei­ter das Ufer hin­auf­kroch.

»Re­gi­na …«

Sie zuck­te zu­sam­men.

Die Stim­me war kaum lau­ter ge­we­sen als das Ra­scheln der Blät­ter im leich­ten Wind. Den­noch hat­te sie klar und deut­lich ih­ren Na­men ver­nom­men.

Aber das konn­te doch gar nicht sein!

Wie­der hör­te sie ein Ge­räusch. Es klang wie das Schnau­ben ei­nes Pfer­des. Und es kam von der Ka­pel­le.

Lang­sam dreh­te sie sich um.

Im Ne­bel konn­te sie die klei­ne Kir­che nur un­deut­lich se­hen, aber sie war sich si­cher, dass dort nie­mand war.

Oder etwa doch?

Vage Um­ris­se schie­nen sich aus dem zie­hen­den Dunst zu schä­len. All­mäh­lich nah­men sie deut­li­che­re Kon­tu­ren an.

Sie gli­chen der Ge­stalt ei­nes Rei­ters auf ei­nem Pferd.

Stock­steif stand Re­gi­na da und starr­te zu der Ka­pel­le hin.

Da fuhr ein Wind­s­toß über den Strand und trug einen Teil des Ne­bels mit sich fort.

Das merk­wür­di­ge Trug­bild war ver­schwun­den.

Mit wild klop­fen­dem Her­zen ver­such­te Re­gi­na, sich einen Reim auf das Er­leb­te zu ma­chen.

Sie at­me­te ein paar Mal tief durch, bis sich ihr Herz­schlag wie­der ei­ni­ger­ma­ßen be­ru­higt hat­te.

Un­sinn, dach­te sie. Da war nichts. Da konn­te ja auch gar nichts ge­we­sen sein.

Är­ger­lich schüt­tel­te sie den Kopf und mach­te sich auf den Rü­ck­weg. Dies­mal nahm sie al­ler­dings den Kreuz­ka­pel­len­weg, der über das Zen­trum der Land­zun­ge zum Chor­her­ren­stift führ­te. Die Ge­fahr, To­bi­as zu ver­pas­sen, nahm sie bil­li­gend in Kauf. Denn sie hat­te nicht die ge­rings­te Lust, wie­der am ne­bel­ver­han­ge­nen Ufer vor­bei­zu­ge­hen und sich da­bei viel­leicht noch ein­mal ir­gend­wel­che Hirn­ge­spins­te ein­zu­bil­den.

*

»Ist al­les in Ord­nung mit dir?«, frag­te To­bi­as. »Du warst eben so still.«

Nach dem Abend­es­sen hat­ten sie noch lan­ge mit Maxi und ih­ren Stu­den­ten um ein La­ger­feu­er ge­ses­sen. Da­bei hat­te Re­gi­na tat­säch­lich sehr we­nig ge­spro­chen.

»Ich bin ein­fach nur tod­mü­de«, ant­wor­te­te sie.

Das ent­sprach na­tür­lich nur halb der Wahr­heit. Sie hat­te noch ein­mal über das merk­wür­di­ge Fan­ta­sie­ge­bil­de an der Ka­pel­le ge­grü­belt. Da­bei gab es weiß Gott ge­nug an­de­re Din­ge, auf die sie sich wirk­lich freu­en konn­te. Zum Bei­spiel auf die Füh­rung am nächs­ten Vor­mit­tag. Dr. Fried­berg, der Chef der Chiem­seer Schlös­ser­ver­wal­tung höchst­per­sön­lich wür­de die Stu­den­ten­grup­pe durch das Neue Schloss füh­ren, und beim Es­sen hat­te sie er­fah­ren, dass sie und To­bi­as dar­an teil­neh­men durf­ten.

To­bi­as zog sich ge­ra­de mit ein paar schnel­len Hand­grif­fen Ano­rak, Sweatshirt und Un­ter­hemd gleich­zei­tig aus, warf das wil­de Klei­der­knäu­el auf einen Cam­ping­stuhl und öff­ne­te ei­lig den Kof­fer.

»Nun wühl doch nicht al­les durch­ein­an­der!«, sag­te sie.

»Mir ist aber kalt.« Er nahm das Ober­teil sei­nes Schlaf­an­zu­ges her­aus und zog es sich schnell über.

Män­ner, dach­te Re­gi­na kopf­schüt­telnd und sta­pel­te die Klei­dungs­stü­cke we­nigs­tens halb­wegs or­dent­lich wie­der in den Kof­fer.

Sie scho­ben ihre Feld­bet­ten eng zu­sam­men, kro­chen in ihre ge­füt­ter­ten Schlaf­sä­cke und ku­schel­ten sich eng an­ein­an­der. To­bi­as leg­te sei­nen Arm um sie und war kurz dar­auf schon tief und fest ein­ge­schla­fen. Sie da­ge­gen dös­te zwar ein, schreck­te aber nach kur­z­er Zeit wie­der hoch, weil sie wie­der ein­mal von ih­ren un­heim­li­chen Er­leb­nis­sen auf der Frauen­in­sel ge­träumt hat­te. Und am Ende hat­te sie wie­der die lei­se Stim­me ge­hört, die am ver­gan­ge­nen Abend an der Ka­pel­le ih­ren Na­men ge­flüs­tert hat­te.

Vor­sich­tig, weil sie To­bi­as nicht we­cken woll­te, dreh­te sie sich zu ihm um und strei­chel­te sein Ge­sicht.

Ein Jahr zu­vor hat­te sie die­ses Aben­teu­er in sei­ne Arme ge­führt. Bei dem Ge­dan­ken dar­an, dass er da­mals fast ver­blu­tet wäre, schau­der­te ihr, und sie schmieg­te sich noch en­ger an ihn.

Eine Wei­le spiel­te sie noch mit ei­nem Strang sei­ner lan­gen blon­den Haa­re, die ihm of­fen über den Rü­cken fie­len. Dann glitt sie in den Schlaf hin­über.

Re­gi­na er­schrak sich fast zu Tode. Sie hat­te kei­ne Ah­nung, wo sie sich be­fand, und der Lärm um sie her­um war oh­ren­be­täu­bend. Hin­ter ihr stampf­ten und kreisch­ten Ma­schi­nen. We­ni­ge Me­ter vor ihr schnauf­te pfei­fend eine Dampf­lo­ko­mo­ti­ve her­an, die ganz nahe an ih­rer rech­ten Sei­te vor­bei­fuhr. Lin­ker Hand, nur ein paar Schrit­te ent­fernt, hol­per­ten von Pfer­den ge­zo­ge­ne Ge­span­ne über einen ge­kies­ten Wald­weg.

All­mäh­lich wur­de ihr klar, dass sie im­mer noch auf der Her­ren­in­sel war. Sie stand auf ei­ner gro­ßen Lich­tung. An der Ufer­sei­te war eine brei­te Schnei­se in den Wald ge­schla­gen wor­den, und sie konn­te über einen Schilfrand hin­weg auf den Chiem­see schau­en. Dort ent­deck­te sie meh­re­re Dampf­schif­fe, die mit Back­stei­nen be­la­de­ne Käh­ne hin­ter sich her zo­gen. Und in der Fer­ne sah sie die Chiem­gau­er Al­pen.

Vor­sich­tig, um nicht un­er­war­tet mit ir­gen­d­et­was zu­sam­men­zu­sto­ßen, dreh­te sie sich um.

Der krei­s­chen­de Ma­schi­nen­lärm stamm­te von ei­nem Sä­ge­werk, das wohl eben­falls mit Dampf be­trie­ben wur­de. Die Ei­sen­bahn hat­te dort an­ge­hal­ten. Ei­ni­ge Män­ner in zer­schlis­se­nen Hem­den und Ho­sen und gro­ben Schu­hen eil­ten her­bei, um die Wag­g­ons mit­hil­fe ei­nes Krans mit lan­gen Bret­tern zu be­la­den. Und aus dem Wald zo­gen meh­re­re Holz­rü­cke­pfer­de frisch ge­schla­ge­ne Baum­stäm­me her­an.

Die vie­len Pfer­de, die ver­al­te­ten Dampf­ma­schi­nen und die fremd­ar­ti­ge Klei­dung der Hand­wer­ker um sie her­um lie­ßen nur einen Schluss zu: Es war ge­nau­so wie ein Jahr zu­vor auf der Frauen­in­sel; sie war wie­der in ei­nem Traum ge­fan­gen, der sie in eine an­de­re Zeit ver­setzt hat­te.

Die Er­kennt­nis fuhr Re­gi­na durch Mark und Bein.

Nein, sie woll­te nicht hier sein! Da­mals hat­ten ihre Träu­me sie auf die Spur ei­nes Ver­bre­chens ge­führt – und an die Schwel­le des To­des!

Ihre Ver­zweif­lung war so groß, dass sie eine Zeit lang ganz still ste­hen blieb. Dann stieg zö­gernd eine Ah­nung in ihr auf. War sie etwa …?

Noch ein­mal sah sich Re­gi­na nach al­len Sei­ten um.

Tat­säch­lich. Al­les deu­te­te dar­auf hin, dass sie sich im 19. Jahr­hun­dert be­fand. Und auf der In­sel wur­de of­fen­bar mäch­tig ge­baut. Viel­leicht ar­bei­te­ten die vie­len Leu­te ja am Neu­en Schloss …

Aber konn­te es denn wirk­lich sein, dass man ex­tra zu die­sem Zweck ein gan­zes Sä­ge­werk und eine rich­ti­ge Ei­sen­bahn­stre­cke er­rich­tet hat­te?

Re­gi­na dach­te an die Bil­der von Lud­wigs präch­ti­gen Schlös­sern und prunk­vol­len Wohn­räu­men, die sie in ih­rem Rei­se­füh­rer ge­se­hen hat­te.

Ja. Die Bau­wut die­ses Kö­nigs war of­fen­sicht­lich so gi­gan­tisch ge­we­sen, dass so­gar das mög­lich war.

Nicht all­zu weit ent­fernt stand ein Pfer­de­fuhr­werk, das ein paar Ar­bei­ter mit höl­zer­nen Stan­gen be­lu­den. Re­gi­na über­leg­te kurz, dann ging sie zu dem Wa­gen und blieb ne­ben dem Kutsch­bock ste­hen.

»Ent­schul­di­gung«, sag­te sie laut und deut­lich zu dem Kut­scher.

Der Mann be­ach­te­te sie nicht.

»Ent­schul­di­gung!«, rief sie noch ein­mal.

Nun kram­te er eine Pfei­fe und eine Ta­baks­do­se aus sei­ner Ho­sen­ta­sche her­vor, ohne sie ei­nes Bli­ckes zu wür­di­gen.

Re­gi­na run­zel­te die Stirn. Of­fen­bar nahm er sie gar nicht wahr. Wirk­lich al­les schien ge­nau­so zu sein wie in ih­ren Träu­men da­mals auf der Frauen­in­sel.

Si­cher­heits­hal­ber ver­such­te sie es trotz­dem noch ein­mal.

»HAL­LO!!!«, brüll­te sie so laut, wie sie nur konn­te. Aber der Kut­scher stopf­te un­ge­rührt sei­ne Pfei­fe und zün­de­te sie an, nahm einen tie­fen Zug und stieß eine Qualm­wol­ke aus.

»Dann fah­re ich halt ein­fach mit«, mur­mel­te sie.

Ent­schlos­sen stieg sie auf den Kutsch­bock, der un­ter ih­rem Ge­wicht ein win­zi­ges biss­chen ins Wan­ken ge­ri­et. Der rau­chen­de Kut­scher schau­te ir­ri­tiert in ihre Rich­tung, aber dann zuck­te er mit den Schul­tern, er­griff die Zü­gel und schna­lz­te mit der Zun­ge. Die Pfer­de zo­gen kräf­tig an, und durch den Wa­gen ging ein hef­ti­ger Ruck. Re­gi­na ver­lor das Gleich­ge­wicht und fiel un­sanft auf den höl­zer­nen Sitz.

»Das fängt ja gut an«, brumm­te sie und rieb sich ih­ren schmer­zen­den Rü­cken.

Der Wa­gen war schwer be­la­den, und sie ka­men nur äu­ßerst lang­sam vor­an. Eine Zeit lang ging es am Ufer ent­lang durch dich­ten Wald, dann lenk­te der Kut­scher die Tie­re nach rechts einen Hü­gel hin­auf.

Die Pfer­de schnauf­ten vor An­stren­gung, und das Fell an ih­ren Hälsen be­gann vor Schweiß zu glän­zen.

Oben an­ge­kom­men, bo­gen sie noch ein­mal rechts ab, und we­nig spä­ter öff­ne­te sich der Wald. Schon von Wei­tem konn­te Re­gi­na er­ken­nen, dass ein Stück wei­ter vorn em­si­ge Be­trieb­s­am­keit herrsch­te.

Ihr Herz schlug schnel­ler. Ob sie sich der Bau­stel­le des Neu­en Schlos­ses nä­her­ten?

Dann hat­ten sie den Wald­rand er­reicht und fuh­ren auf einen weit­läu­fi­gen Platz zu.

Re­gi­na at­me­te tief durch.

Sie be­fan­den sich vor der Fas­sa­de des Neu­en Schlos­ses. Es war zu­min­dest von au­ßen schon so gut wie fer­tig, den­noch ging es auf der Bau­stel­le zu wie in ei­nem Bie­nen­stock: Hand­wer­ker mit schwe­ren Ge­rä­ten und hoch be­la­de­nen Schub­kar­ren lie­fen hin und her; über­all klopf­te und häm­mer­te es, Hufe trap­pel­ten, Wa­gen­rä­der quietsch­ten, Men­schen rie­fen durch­ein­an­der.

Lin­ker Hand ho­ben meh­re­re Ko­lon­nen schwit­zen­der Män­ner zwei gro­ße, fla­che Gru­ben aus. Und ge­gen­über war­te­ten ei­ni­ge von Pfer­den ge­zo­ge­ne Wa­gen dar­auf, ent­la­den zu wer­den.

Re­gi­na sah meh­re­re Holz­hüt­ten mit gro­ben Ti­schen da­vor, an de­nen Frau­en mit Hau­ben auf dem Kopf und Schür­zen über ih­ren lan­gen Klei­dern Tel­ler und Be­cher ver­teil­ten.

Sie sah sich wei­ter um und run­zel­te ver­wirrt die Stirn. Je nä­her sie der nörd­li­chen Sei­te des Neu­en Schlos­ses ka­men, des­to mehr sah es da­nach aus, als soll­te dort noch ein vier­ter Flü­gel ent­ste­hen, der ein paar Me­ter nach hin­ten ver­setzt war.

Das konn­te doch gar nicht sein, dach­te Re­gi­na. In ih­rem Rei­se­füh­rer und auf al­len Fo­tos hat­te das Neue Schloss schließ­lich nur drei Flü­gel. Au­ßer­dem wäre wohl nicht ein­mal Kö­nig Lud­wig II. so ver­mes­sen ge­we­sen, die­ses oh­ne­hin schon un­glaub­lich pracht­vol­le und teu­re Ge­bäu­de noch grö­ßer zu bau­en. Aber be­deu­te­te das nicht, dass sie sich gar nicht wirk­lich in ei­ner an­de­ren Zeit be­fand? Dann war al­les, was sie in die­sem Au­gen­blick hier zu er­le­ben glaub­te, nie­mals wirk­lich ge­sche­hen, son­dern wohl nur Teil ei­nes ganz nor­ma­len Trau­mes. Gott sei Dank!

Ab­grund­tief er­leich­tert schloss sie die Au­gen.

»Fahr ein Stück wei­ter vor, Mann, sonst kön­nen wir nicht wei­ter­ma­chen!«

Die raue Män­ner­stim­me ließ sie auf­schre­cken.

Ich stei­ge jetzt wohl bes­ser aus, dach­te sie und er­hob sich. Da­bei blieb ihr Blick an ei­ner Men­schen­grup­pe hän­gen.

Da wa­ren ja auch Sol­da­ten, nahm sie über­rascht zur Kennt­nis.

Die Män­ner tru­gen blaue Uni­for­men und hat­ten sich in ei­nem gro­ßen Kreis um eine Männer­grup­pe in Zi­vil auf­ge­stellt.

Neu­gie­rig klet­ter­te Re­gi­na vom Kutsch­bock und ging zu den Wach­leu­ten hin­über.

Ver­dutzt blieb sie ste­hen, als ei­ner der Wäch­ter sie mit durch­drin­gen­dem Blick an­sah.

Aber nein. Er sah zu ei­nem Hand­wer­ker hin, der mit ei­ner Fei­le in der Hand dicht hin­ter ihr stand.

»Bit­te ent­schul­digt«, mein­te der Mann ver­le­gen. »Herr von Doll­mann, der Chef­a­r­chi­tekt, hat mich ru­fen las­sen.«

Der Sol­dat nick­te. »In Ord­nung. Aber du musst mir so­lan­ge dei­ne Fei­le ge­ben.«

»Selbst­ver­ständ­lich.« Der Hand­wer­ker ver­beug­te sich leicht, hän­dig­te dem Wach­sol­da­ten das Werk­zeug aus und ging wei­ter.

Re­gi­nas Hand­flä­chen wur­den feucht, als sie ihm folg­te.

Nach we­ni­gen Schrit­ten sah sie, dass die Grup­pe in Zi­vil um einen Tisch her­um stand, auf dem ein Bau­plan aus­ge­brei­tet war.

Ei­ner der Män­ner rich­te­te sich auf und sprach ein paar Wor­te mit sei­nem Nach­barn. Er hat­te kur­ze, schwa­r­ze, lo­cki­ge Haa­re und einen dunk­len Bart.

»Das ist ja Kö­nig Lud­wig II.«, mur­mel­te Re­gi­na über­rascht.

Al­lei­ne in Prien und auf der Her­ren­in­sel hat­te sie sein Ge­sicht min­des­tens ein dut­zend Mal auf Post­kar­ten und Pos­tern, Bü­chern und Denk­mä­lern ge­se­hen. Trotz­dem hat­te sie kei­ne Ah­nung ge­habt, dass er so groß ge­we­sen war.

Der Kö­nig über­rag­te je­den in sei­ner Um­ge­bung um min­des­tens einen Kopf. Er moch­te etwa Mit­te drei­ßig sein und war ein biss­chen fül­lig. Doch als er sich um­dreh­te, war es, als trä­fe der Blick aus sei­nen gro­ßen, dunk­len Au­gen Re­gi­na mit­ten ins Herz.

Ei­gent­lich sah er aber den Hand­wer­ker an, der ne­ben ihr ste­hen ge­blie­ben war. Als der eine tie­fe Ver­beu­gung mach­te, zog sich ein freund­li­ches Lä­cheln über das Ge­sicht des Kö­nigs.

Was für eine cha­ris­ma­ti­sche Er­schei­nung, dach­te Re­gi­na. Sei­ne Traum­schlös­ser wa­ren wahr­schein­lich gar nicht der ein­zi­ge Grund ge­we­sen, wes­halb ihn sei­ne Un­ter­ta­nen so ver­ehrt hat­ten und man ihn selbst heu­te noch den »Mär­chen­kö­nig« nann­te.

Ein Herr mit bu­schi­gen Au­gen­brau­en und präch­ti­gem Schnurr­bart wand­te sich ihm zu. »Bit­te ent­schul­digt mich, Eure Ma­je­stät. Ich muss mich mit ei­nem mei­ner Mau­rer­meis­ter be­spre­chen.«

»Na­tür­lich, Herr von Doll­mann.« Lud­wig nick­te ihm noch ein­mal zu und wand­te sich wie­der dem Bau­plan zu.

Re­gi­na nutz­te ihre Chan­ce und stell­te sich in die Lü­cke, die der Mann mit dem Schnurr­bart hin­ter­las­sen hat­te. Neu­gie­rig be­trach­te­te sie den Plan.

Mein Gott, was hat­te die­ser Kö­nig da bloß vor­ge­habt, dach­te sie völ­lig per­plex.

Nicht nur der vier­te Flü­gel, den sie auf der Fahrt hier­her ge­se­hen hat­te, war auf dem Plan ein­ge­zeich­net. Auf der an­de­ren Sei­te des zen­tra­len Ge­bäu­des soll­te of­fen­sicht­lich noch ein wei­te­rer et­was nach hin­ten ver­la­ger­ter Trakt ent­ste­hen, in dem so­gar noch eine Kir­che un­ter­ge­bracht wer­den soll­te.

An­geb­lich hat­te Lud­wig II. mit sei­nen Pracht­bau­ten ja bei­na­he den baye­ri­schen Staat ru­i­niert, fiel ihr ein. Wie um Him­mels wil­len hat­te er auch noch die­se rie­si­gen An­bau­ten fi­nan­zie­ren wol­len?

Sie warf dem Kö­nig einen rat­lo­sen Blick zu. War es wirk­lich mög­lich, dass die­ser freund­li­che, um­wer­fend char­man­te Mann am Ende der­art jeg­li­ches Maß ver­lo­ren hat­te?

Schwei­gend be­trach­te­te Lud­wig II. noch ein­mal den Grund­riss sei­nes neu­en Mär­chen­schlos­ses, be­vor er das Wort an die Um­ste­hen­den rich­te­te. Er re­de­te schnell und ein we­nig un­deut­lich, aber sei­ne Ide­en wa­ren prä­zi­se und sehr durch­dacht for­mu­liert. Die Män­ner am Tisch hin­gen re­gel­recht an sei­nen Lip­pen, und ei­ni­ge mach­ten sich eif­rig No­ti­zen.