Das Geheimnis von Frauenchiemsee - Angela Waidmann - E-Book

Das Geheimnis von Frauenchiemsee E-Book

Angela Waidmann

0,0

Beschreibung

Ein Verbrechen in der Vergangenheit. Ein Mord in der Gegenwart. Hängen sie zusammen?Seit Regina Dernkamp die Fraueninsel betreten hat, fühlt sie sich von einem unbekannten alten Mann verfolgt. Als er tot im Chiemsee treibt, munkeln die Inselbewohner, man hätte ihn umgebracht...Was hat sein Tod mit den Träumen und Visionen zu tun, die Regina quälen? Können der Archäologe Tobias Hoffrichter oder der Arzt Philipp Menander ihr helfen, das Geheimnis der Fraueninsel zu lösen? Ein mysteriöser Krimi, der Sie immer wieder in die Zeit der Gründung des Klosters Frauenwörth zurückversetzt. Wenn Sie ihn gelesen haben, werden Sie die Fraueninsel mit anderen Augen sehen!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 248

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



An­ge­la Waid­mann

Das Ge­heim­nis von Frau­en­chiem­see

Mys­te­ri­öser In­sel­kri­mi

1. Auf­la­ge 2020

Co­py­right © 2020 An­ge­la Waid­mann

Chiem­gau­er Ver­lags­hausDah­li­en­weg 5, 83254 Breit­brunnwww.chiem­gau­e­r­ver­lags­haus.de

Alle Rech­te vor­be­hal­ten

Lek­to­rat: Su­san­ne Rick

Co­ver­de­sign: Con­stan­ze Kra­merwww.co­ver­bou­tique.de

Bild­nach­wei­se: ©CVH, ©pho­to­pi­xel – stock.ad­o­be.com

EBook Er­stel­lung: Con­stan­ze Kra­merwww.co­ver­bou­tique.de

Stimmen in der Dunkelheit

Wie ein Schmuck­s­tück auf blau­em Samt lag die Frauen­in­sel in dem leicht ge­kräu­sel­ten See. El­fen­bein­weiß leuch­te­ten die ho­hen Ge­bäu­de des Klos­ters zwi­schen den gol­de­nen Kro­nen der Bäu­me in ih­rem herbst­li­chen Laub. Da­hin­ter rag­ten die schnee­be­deck­ten Gip­fel der Chiem­gau­er Al­pen in den fast wol­ken­lo­sen Him­mel.

Re­gi­nas Herz schlug schnel­ler. Wie hat­te sie sich auf die­sen Ur­laub ge­freut. Und nun stand sie an der Re­ling der Fäh­re, die sie zu der In­sel brin­gen wür­de und ge­noss den Fahrt­wind, der in ih­ren lan­gen, schwa­r­zen Haa­ren wühl­te und Was­ser­tröpf­chen auf ihre Wan­gen zau­ber­te.

An nächs­ten Mor­gen schon wür­de der Me­di­ta­ti­ons­kurs im Klos­ter Frau­en­wörth be­gin­nen, zu dem sie sich an­ge­mel­det hat­te, und sie frag­te sich, wie sich das Me­di­tie­ren wohl an­füh­len wür­de. Sie hat­te schon so ei­ni­ges dar­über ge­hört und ge­le­sen, aber am ei­ge­nen Leib er­fah­ren hat­te sie es noch nicht.

Schau­kelnd dreh­te die Fäh­re bei und leg­te sacht an ei­nem höl­zer­nen Steg an, der weit in den See hin­ein­reich­te. Als ein­zi­ger Fahr­gast stieg sie aus und ging ohne Eile auf die In­sel zu. Ein paar Bless­hüh­ner lie­ßen sich zu ih­rer Lin­ken von den Wel­len auf den mit kies­be­deck­ten Strand zu­trei­ben, und zahl­rei­che En­ten hat­ten es sich zwi­schen den efeu­be­wach­se­nen, ge­krümm­ten Bäu­men am Ufer be­quem ge­macht, um sich das Ge­fie­der zu put­zen.

Sie blieb ste­hen und schloss für einen Mo­ment die Au­gen. Wie still es hier war … Kein Au­tolärm war zu hö­ren, ja nicht ein­mal Hun­de­ge­bell oder ir­gend­wel­che mensch­li­che Stim­men. Am Ufer bum­mel­ten nur we­ni­ge Spa­zier­gän­ger ent­lang.

Sie stieß einen woh­li­gen Seuf­zer aus. Nun erst spür­te sie, wie er­schöpft sie war. Kein Wun­der, denn hin­ter ihr la­gen an­stren­gen­de Wo­chen. Noch am Mor­gen hat­te sie vor leb­haf­ten Schü­lern Un­ter­richt ge­hal­ten, die mit ih­ren Ge­dan­ken längst in den Herbst­fe­ri­en wa­ren und sich nur noch leid­lich auf den Stoff kon­zen­trier­ten.

Vor ihr stand das hohe, weiß ge­tünch­te Ge­bäu­de ei­nes Gast­hau­ses, das ein Schild über dem Ein­gang als Klos­ter­wirt aus­wies.

Dort, so be­schloss sie, wür­de sie sich nach der lan­gen An­rei­se einen Kaf­fee gön­nen. Doch zu­vor woll­te sie noch ihr Ge­päck los­wer­den. Ein­ge­hend stu­dier­te sie den In­sel­plan, der am Ende des Ste­ges auf­ge­stellt war und nahm den Weg am Klos­ter­wirt vor­bei hü­gel­auf­wärts zum Klos­ter.

Da erst sah sie ihn. Leicht ge­beugt lehn­te der alte Mann am Stamm ei­ner aus­la­den­den Lin­de. We­gen sei­ner dunk­len Klei­dung schien er förm­lich mit dem Schat­ten des ho­hen Bau­mes zu ver­schmel­zen, und we­gen der brei­ten Krem­pe sei­nes schwa­r­zen Huts er­kann­te sie erst, als sie an ihm vor­bei­ging, dass sein lin­kes Auge mil­chig-weiß und blind in sei­ner tie­fen Höh­le schwamm. Doch sein ge­sun­des Auge mus­ter­te sie mit ei­nem ei­gen­ar­tig in­ten­si­ven Blick.

Ob er wohl auf je­man­den war­te­te? Al­ler­dings war sie als Ein­zi­ge hier aus­ge­stie­gen.

Ein we­nig rat­los sah sie sich nach dem Al­ten um und be­merk­te, dass er ihr mit ei­nem An­flug von Er­schre­cken oder viel­leicht auch Er­stau­nen hin­ter­her­schau­te. Un­end­lich ein­sam und bei­na­he zer­brech­lich wirk­te er. Viel­leicht hat­te er sich ja auf Be­such ge­freut, der je­doch nicht ge­kom­men war.

Nach ein paar we­ni­gen Schrit­ten hat­te sie auch schon den ge­wölb­ten Durch­gang der Klos­ter­pfor­te er­reicht, des­sen ei­ser­nes Git­ter ein­la­dend of­fen­stand. Von ei­ner freund­li­chen Emp­fangs­da­me in ei­nem adret­ten Dirndl be­kam Re­gi­na ih­ren Zim­mer­schlüs­sel und einen Ge­bäu­de­plan, der ihr den Weg zu ih­rem Quar­tier für die nächs­ten Tage wies. Ih­ren klei­nen Roll­kof­fer hin­ter sich her­zie­hend durch­quer­te sie einen In­nen­hof mit von He­cken ge­säum­ten Ra­sen­flä­chen und Ro­sen­ra­bat­ten. Sich links hal­tend er­reich­te sie den Gäs­te­trakt, ging über knar­ren­des Par­kett einen Flur ent­lang, dann eine Trep­pe hin­auf in den ers­ten Stock, wo ihr Zim­mer lag.

Die Ein­rich­tung war ein­fach, aber ge­müt­lich: ein Bett mit ei­nem ge­b­lüm­ten Über­wurf, ein klei­ner, run­der Tisch mit zwei Stüh­len, ein an­ti­ker, sorg­sam re­stau­rier­ter Klei­der­schrank und ein be­quem aus­se­hen­der Ses­sel vor ei­nem gro­ßen Fens­ter, durch das viel Licht her­ein­fiel.

Ja, dach­te sie, hier wür­de sie sich wohl­füh­len.

Wäh­rend sie ih­ren Kof­fer öff­ne­te, er­tapp­te sie sich bei dem Ge­dan­ken, am liebs­ten auf das wei­che Bett zu sin­ken und ein biss­chen zu schla­fen. An­de­rer­seits war sie viel zu neu­gie­rig auf die­se ganz be­son­de­re In­sel mit dem ur­al­ten Klos­ter und den wohl eben­so al­ten sa­gen­um­wo­be­nen Lin­den. Und ein Kaf­fee im Klos­ter­wirt wür­de ihre mo­men­ta­ne Mü­dig­keit si­cher­lich ver­trei­ben. Schnell räum­te sie ihre we­ni­gen Sa­chen in den Schrank, steck­te den Rei­se­füh­rer, in dem sie wäh­rend der Zug­fahrt schon so ei­ni­ges ge­le­sen hat­te, in ihre Hand­ta­sche und mach­te sich wie­der auf den Weg.

Un­ter der Ein­gangs­tür des Wirts­hau­ses blieb sie ste­hen und ließ ih­ren Blick durch den fast lee­ren Gas­traum schwei­fen, der un­ter ei­ner von di­cken Säu­len ge­tra­ge­nen Ge­wölbe­de­cke lag. Über dem Ein­gang hat­te sie die Jah­res­zahl 1514 be­merkt, und sie zwei­fel­te kei­nen Mo­ment dar­an, dass die­ser Raum tat­säch­lich über 500 Jah­re alt war. Bei der An­mel­dung hat­te sie er­fah­ren, dass sie hier mit den an­de­ren Kurs­teil­neh­mern früh­stü­cken und zu Abend es­sen wür­de. Das ge­fiel ihr.

Sie setz­te sich auf eine der Holz­bän­ke und be­stell­te einen Cappuc­ci­no. Dann zog sie den Rei­se­füh­rer aus ih­rer Hand­ta­sche, las ein we­nig dar­in und über­leg­te, was sie mit dem Rest des Nach­mit­tags an­fan­gen soll­te. Die In­sel war weit­aus klei­ner, als sie sich das vor­ge­stellt hat­te, und sie über­leg­te, die­se we­nigs­tens ein­mal zu um­run­den. Al­ler­dings wür­de es schon bald dun­kel wer­den, und sie wuss­te nicht, ob es am Ufer Stra­ßen­la­ter­nen gab. Da­her be­schloss sie, sich statt­des­sen lie­ber die ka­ro­lin­gi­sche Tor­hal­le und viel­leicht noch die Klos­ter­kir­che an­zu­se­hen. Vor al­lem auf die Tor­hal­le war sie ge­spannt, denn sie in­ter­es­sier­te sich sehr für Kunst­ge­schich­te, und die Tor­hal­le von Frau­en­chiem­see galt im­mer­hin als ei­nes der äl­tes­ten Ge­bäu­de in ganz Bay­ern. An­geb­lich stamm­te sie noch aus der Zeit der Klos­ter­grün­dung vor über 1200 Jah­ren.

Der Kell­ner brach­te ih­ren Cappuc­ci­no. Vor­sich­tig nipp­te sie dar­an und ge­noss den ers­ten Schluck. Dann ver­tief­te sie sich wie­der in ih­ren Rei­se­füh­rer.

»Hal­lo!«

Re­gi­na zuck­te zu­sam­men und schau­te hoch. Die Frau, die vor ihr stand, moch­te Ende drei­ßig sein, also ein paar Jah­re äl­ter als sie selbst. Mit ih­ren lan­gen, dun­kel­blon­den Haa­ren, dem blau­en Ano­rak, ih­ren läs­si­gen Jeans und sport­li­chen Snea­kern wirk­te sie recht lo­cker und sym­pa­thisch.

»Ent­schul­di­gung, ich woll­te Sie nicht er­schre­cken«, sag­te sie mit ei­nem ver­le­ge­nen Lä­cheln. »Aber wie ich sehe, sind Sie auch zum Me­di­ta­ti­ons­kurs hier.« Da­bei deu­te­te sie auf den Flyer über die Klos­ter­se­mi­na­re, der aus dem Rei­se­füh­rer rag­te.

Re­gi­na lä­chel­te zu­rück. »Rich­tig. Ich bin erst vor ei­ner knap­pen Stun­de hier an­ge­kom­men. Ich hei­ße üb­ri­gens Re­gi­na.«

»Ich bin Hei­d­run«, stell­te sich nun die Frem­de vor. »Darf ich mich zu dir set­zen?«

»Klar«, mein­te Re­gi­na und sah zu, wie Hei­d­run sich auf der Bank ihr ge­gen­über nie­der­ließ.

»Wie schön es hier ist«, seufz­te ihre neue Be­kann­te. »Die­se In­sel ist wirk­lich ein Kraftort.«

Re­gi­na run­zel­te die Stirn. Die­sen Be­griff hat­te sie zwar schon mal ge­hört, al­ler­dings wuss­te sie nicht, was ge­nau es da­mit auf sich hat­te. Aber das muss­te sie ih­rer neu­en Be­kannt­schaft ja nicht un­be­dingt auf die Nase bin­den. Dar­um nick­te sie nur be­stä­ti­gend. »Mhm, ganz be­stimmt.«

Hei­d­run be­stell­te sich eine Lat­te mac­ch­i­a­to und fuhr schwär­me­risch fort: »Die­ses sa­gen­haft alte Klos­ter und die bei­den be­ein­dru­cken­den Lin­den … Vor al­lem der mäch­ti­gen Tas­si­lo-Lin­de sieht man deut­lich an, dass sich un­ter ihr meh­re­re Kraft­li­ni­en kreu­zen.«

Kraft­li­ni­en. Aha. Ver­mut­lich eine wasch­ech­te Eso­te­ri­ke­rin, dach­te Re­gi­na. Men­schen die­ses Schlags hat­te sie bis­her er­folg­reich ge­mie­den, da­her war sie froh, dass der Kell­ner ge­ra­de die Lat­te mac­ch­i­a­to brach­te und sie un­auf­fäl­lig das The­ma wech­seln konn­te. Also griff sie nach ih­rer Tas­se und be­merk­te: »Einen wirk­lich gu­ten Kaf­fee ha­ben die hier.«

Hei­d­run nick­te, ob­wohl sie noch kei­nen Schluck ge­nom­men hat­te. »Weißt du, un­se­re Vor­fah­ren hat­ten noch ein si­che­res Ge­spür da­für, wo sich sol­che Kraftor­te be­fin­den. Es gibt kaum ein al­tes Klos­ter, an dem sich nicht min­des­tens zwei Kraft­li­ni­en kreu­zen. Bei nicht-christ­li­chen Kul­tor­ten ist es ge­nau­so. Sto­ne­hen­ge ist ein gu­tes Bei­spiel oder Ayers Rock in Aus­tra­li­en. Und, was die Klös­ter an­geht, auch die Frauen­in­sel.«

Vor Re­gi­nas in­ne­rem Auge tauch­ten al­ter­tüm­lich ge­klei­de­te Men­schen auf, die in­mit­ten des Stein­krei­ses von Sto­ne­hen­ge die Win­ter­son­nen­wen­de fei­er­ten.

»Was ge­nau be­wirkt ei­gent­lich so ein Kraftort?«, frag­te sie nun, auch auf die Ge­fahr hin, sich in Sa­chen Eso­te­rik als kom­plet­te Igno­ran­tin zu ent­la­r­ven.

Prompt zog ihre Kurs­kol­le­gin kurz die Au­gen­brau­en hoch. »Na, wie der Name schon sagt: Er ver­leiht ei­nem Men­schen neue Ener­gie. Aber er kann auch be­ru­hi­gend wir­ken. Man­che Kraftor­te füh­ren so­gar dazu, das mensch­li­che Be­wusst­sein zu er­wei­tern.«

Was für ein Bullshit, dach­te Re­gi­na und nahm noch einen Schluck von ih­rem Cappuc­ci­no, um das Ge­hör­te zu ver­dau­en. »Und wie ge­nau muss ich mir so eine Be­wusst­seins­er­wei­te­rung vor­stel­len?«, frag­te sie leicht pro­vo­zie­rend, ob­wohl sie das nicht die Boh­ne in­ter­es­sier­te.

Hei­d­run zuck­te die Ach­seln. »Das habe ich selbst noch nicht er­lebt. Fest steht aber: Es gibt kaum eine Stel­le, an der man so gut me­di­tie­ren kann wie an ei­nem Kraftort. Die Frauen­in­sel ist da­her der ide­a­le Platz für un­se­ren Kurs.«

»Das Ge­fühl hat­te ich auch, als ich die In­sel vom Schiff aus ge­se­hen habe«, ge­stand Re­gi­na.

End­lich nipp­te Hei­d­run an ih­rem Kaf­fee. »Stimmt, der schmeckt wirk­lich gut«, be­merk­te sie, be­vor sie wie­der auf ihr Lieb­lings­the­ma zu­rück­kam. »Es ist gut mög­lich, dass du ein be­son­de­res Ta­lent da­für hast, Kraftor­te zu er­spü­ren. Den meis­ten Men­schen er­schließt sich de­ren Wir­kung näm­lich nicht so­fort. Sie müs­sen lan­ge an so ei­nem Platz ste­hen, ganz ru­hig wer­den, die At­mo­sphä­re füh­len und sich öff­nen.«

Viel­leicht brau­chen die­se Leu­te aber auch ein­fach nur Zeit, um ihre Fan­ta­sie so weit zu ak­ti­vie­ren, dass sie sich am Ende tat­säch­lich et­was ein­bil­den kön­nen, dach­te Re­gi­na, be­hielt den Ge­dan­ken aber lie­ber für sich.

»Vie­le Kraftor­te sind von un­sicht­ba­ren Be­woh­nern wie El­fen und an­de­ren gu­ten Geis­tern be­völ­kert«, fuhr Hei­d­run en­thu­si­as­tisch fort. »Sol­che Licht­we­sen hel­fen den Men­schen, die sich ih­nen rück­halt­los an­ver­trau­en und …«

Zu­neh­mend ge­nervt und nur noch mit hal­b­em Ohr hör­te Re­gi­na zu, wie Hei­d­run von Ru­ten­gän­gern, Drui­den und Feen schwa­dro­nier­te und nick­te ab und zu, um sich nicht all­zu sehr an­mer­ken zu las­sen, was sie von sol­chen Kin­der­mär­chen hielt.

Als sie den letz­ten Schluck Kaf­fee ge­trun­ken hat­te, schau­te sie de­mon­s­tra­tiv auf ihre Uhr. »Du musst mich jetzt ent­schul­di­gen«, er­klär­te sie Hei­d­run und gab dem Kell­ner ein Zei­chen. »Aber ich wür­de mir gern noch schnell die Tor­hal­le an­se­hen, we­nigs­tens von au­ßen. Drau­ßen wird es ja schon dun­kel, und in ei­ner gu­ten Stun­de sol­len wir wie­der zum Abend­es­sen hier sein.«

»Du hast ab­so­lut recht«, er­wi­der­te Hei­d­run. »Lei­der ver­ges­se ich im­mer noch, wie früh es jetzt schon wie­der dun­kel wird.«

Drau­ßen warf Re­gi­na zur Ori­en­tie­rung noch ein­mal einen Blick auf den In­sel­plan am Boots­steg und zog sich frös­telnd ih­ren Ano­rak über. Dann be­schloss sie, einen klei­nen Um­weg zu neh­men, wand­te sich nach Nor­den und schlen­der­te an den ab­ge­ern­te­ten Spa­lier­obst-Rei­hen des Klos­ter­gar­tens vor­bei.

Bald wür­de es voll­kom­men dun­kel sein. Die we­ni­gen Wol­ken im Wes­ten glit­ten schon über einen pur­pur­ro­ten Him­mel, und in den Wohn­häu­sern brann­ten be­reits die ers­ten Lich­ter. Vom See her kroch fei­ner Ne­bel über die Ufer­wie­sen.

Nach we­ni­gen hun­dert Me­tern wand­te Re­gi­na sich nach links und ging an ein paar Häu­sern vor­bei die leich­te An­hö­he hin­auf.

Die Tor­hal­le, die nun vor ihr lag, war klei­ner, als sie ge­dacht hat­te. Den­noch wirk­ten die di­cken Mau­ern aus gelb­lich-grau­em Tuff­stein auf eine ar­chai­sche Wei­se im­po­sant, ja bei­na­he wür­de­voll. Das lag vor al­lem an den schma­len, von Säu­len ge­tra­ge­nen Rund­bö­gen, die die Schwe­re des ton­nen­ge­wölb­ten Durch­gangs auf­zu­he­ben schie­nen. Dar­über er­hob sich das Ober­ge­schoss mit nur we­ni­gen schma­len Rund­bo­gen­fens­tern, wie sie ty­pisch für den Bau­stil des frü­hen Mit­tel­al­ters wa­ren.

Wie dun­kel es in den Räu­men dort oben ge­we­sen sein muss­te, selbst wenn drau­ßen die Son­ne schien, dach­te sie. Ob die­se schma­len Öff­nun­gen da­mals wohl schon mit Fens­ter­glas ver­se­hen ge­we­sen wa­ren? So weit sie wuss­te, hat­te man in die­sen Zei­ten auch recht ger­ne dün­ne Häu­te aus Schweins­bla­sen vor die Fens­ter ge­spannt. Sie lä­chel­te, weil der Be­griff vom »fins­te­ren Mit­tel­al­ter« für sie plötz­lich eine ganz neue Be­deu­tung be­kam. Aber war­um, so frag­te sie sich, stand die Tor­hal­le so ganz al­lein für sich im Ge­län­de? Wel­chen Zweck hat­te sie ge­habt, wenn man pro­blem­los rechts und links dar­an vor­bei­ge­hen konn­te?

Doch viel­leicht war der Klos­ter­be­zirk ur­sprüng­lich von Zäu­nen oder ho­hen He­cken um­ge­ben ge­we­sen. Mög­li­cher­wei­se hat­te die Tor­hal­le ja ein­mal zwi­schen ho­hen Stein­mau­ern ge­stan­den.

Sie be­trat den dunk­len Durch­gang und be­trach­te­te ehr­fürch­tig die mas­si­ge, ge­wölb­te De­cke und die Ar­ka­den­gän­ge zu ih­rer Rech­ten und Lin­ken, die das Un­ter­ge­schoss der Tor­hal­le in drei Räu­me glie­der­ten. Der mit run­den Na­tur­stei­nen ge­pflas­ter­te Durch­gang gab den Blick auf einen klei­nen Fried­hof frei, der von der un­ter­ge­hen­den Son­ne nur noch spär­lich er­leuch­tet wur­de. Ne­bel­fet­zen glit­ten schon über die Grä­ber, wan­den sich um al­ter­tüm­li­che Me­tall­kreu­ze und stri­chen um die En­gels­fi­gu­ren am Ran­de des Weges her­um. Da­hin­ter rag­te das In­sel­müns­ter mit sei­nem freiste­hen­den Cam­pa­ni­le in den bei­na­he schon nacht­blau­en Him­mel.

Hier ist es wirk­lich to­ten­still, dach­te Re­gi­na. Wie ru­hig und wie ein­sam muss­te das Le­ben im frü­hen Mit­tel­al­ter ge­we­sen sein, als es noch kei­ne Fäh­re ge­ge­ben hat­te, die im Som­mer un­zäh­li­ge Ta­ges­tou­ris­ten und Se­minar­teil­neh­mer aus­spuck­te.

Plötz­lich ver­nahm sie ein hef­ti­ges Schluch­zen. Er­schro­cken zuck­te sie zu­sam­men und sah sich um. Da hör­te sie es wie­der, und dies­mal schien die schluch­zen­de Stim­me, die ein­deu­tig von ei­ner Frau stamm­te, auch noch ih­ren Na­men zu ru­fen. Aber was um Him­mels Wil­len bil­de­te sie sich da bloß ein? Ver­mut­lich hat­ten ihr ihre Sin­ne ganz ein­fach nur einen Streich ge­spielt. Doch um ganz si­cher zu ge­hen, rief sie: »Hal­lo! Ist da je­mand?«

Ge­spannt horch­te sie in die Däm­me­rung. Doch nun war es wie­der still. An­ge­strengt starr­te sie in die ne­bel­ver­han­ge­ne Dun­kel­heit hin­ein, konn­te je­doch nie­man­den ent­de­cken. Viel­leicht war das Wei­nen auch aus ei­nem der we­ni­gen Häu­ser ge­kom­men, die in der Nähe der Tor­hal­le stan­den.

Frös­telnd zog sie den Reiß­ver­schluss ih­res Ano­raks bis zum Kinn hoch und lausch­te wie­der. Aber da war nichts mehr zu hö­ren.

Ach­sel­zu­ckend setz­te sie ih­ren Weg zum Müns­ter fort. Da kam ihr die alte In­sel­sa­ge in den Sinn, die sie in ih­rem Rei­se­füh­rer ge­le­sen hat­te. An­geb­lich konn­te man in man­chen Ok­to­ber­näch­ten das ver­zwei­fel­te Wei­nen und Kla­gen ei­ner Frau un­ter der Tor­hal­le hö­ren.

Ihr Herz mach­te einen Sprung. Noch war es Ok­to­ber, und so­eben brach die Nacht her­ein …

Reiß dich ge­fäl­ligst zu­sam­men, sag­te sie sich, um sich wie­der zur Ord­nung zu ru­fen. Sa­gen hat­ten zwar oft einen wah­ren Kern, aber der sah fast im­mer ganz an­ders aus als die Ge­schich­ten, die die Leu­te sich er­zähl­ten. Wahr­schein­lich war es so, dass auch ei­ni­ge Kin­der von der In­sel die al­ten Er­zäh­lun­gen kann­ten und sich nun einen Spaß dar­aus ge­macht hat­ten, ei­ner ein­sa­men Tou­ris­tin einen Schre­cken ein­zu­ja­gen. Da­bei dach­te sie an ein paar ih­rer Schü­ler, die es faust­dick hin­ter den Oh­ren hat­ten und muss­te schmun­zeln. Dann warf sie einen Blick auf ihre Arm­band­uhr.

Höchs­te Zeit, zum Klos­ter­wirt zu­rück­zu­keh­ren. Die Müns­ter­kir­che wür­de sie sich an ei­nem der an­de­ren Tage an­se­hen.

Ei­lig ver­ließ sie den Fried­hof, ging am Gast­haus Zur Lin­de vor­bei und bog rechts ab, um auf di­rek­tem Weg auf die Klos­ter­pfor­te zu­zu­steu­ern.

Doch schon nach we­ni­gen Schrit­ten dros­sel­te sie ihr Tem­po. Da lehn­te je­mand an der Klos­ter­mau­er und sah zu ihr her­über. In­zwi­schen war es al­ler­dings so dun­kel, dass sie zu­nächst nicht viel mehr als vage Um­ris­se er­ken­nen konn­te. Den­noch war sie sich fast si­cher, dass es sich bei die­ser ma­ge­ren, ge­krümm­ten Ge­stalt um den ei­n­äu­gi­gen Al­ten han­del­te, dem sie schon kurz nach ih­rer An­kunft auf der In­sel be­geg­net war.

Nun hat­te sie ihn fast er­reicht.

Ja, er war es. Und sein ge­sun­des Auge fi­xier­te sie mit ei­nem der­ar­tig durch­drin­gen­den Blick, dass ihr ein Schau­er über den Rü­cken lief.

Was will er bloß von mir, frag­te sie sich, wäh­rend sie einen so gro­ßen Bo­gen um ihn mach­te, dass sie den Weg ver­las­sen und durchs Gras ge­hen muss­te.

Un­sinn! Was soll­te er schon von ihr wol­len. Er kann­te sie doch gar nicht, zu­mal sie nie zu­vor hier auf der In­sel ge­we­sen war.

Trotz­dem schau­te sie sich noch ein­mal nach ihm um.

Er stand im­mer noch da. Und er sah ihr nach.

*

Die Gast­stu­be des Klos­ter­wirts war hell er­leuch­tet, als Re­gi­na ein­trat, und in dem gro­ßen Raum herrsch­te eine er­war­tungs­vol­le, ja bei­na­he fröh­li­che Stim­mung. Ei­ni­ge Se­minar­teil­neh­mer stan­den in Grup­pen zu­sam­men, an­de­re sa­ßen be­reits an den ge­deck­ten Ti­schen und un­ter­hiel­ten sich an­ge­regt. Sie hat­te den Ein­druck, dass sich hier vie­le schon kann­ten. Lä­chelnd grüß­te sie nach rechts und links, wäh­rend sie auf einen von drei frei­en Plät­zen am Ende ei­nes lan­gen Ti­sches zu­steu­er­te und sich an das Kop­f­en­de setz­te. Aus ei­ner Ka­raf­fe auf dem Tisch goss sie sich ein Glas Was­ser ein und trank. Da die bei­den Frau­en, die ihr am nächs­ten sa­ßen, in ein Ge­spräch ver­tieft wa­ren, lehn­te sie sich zu­rück und ließ ih­ren Blick durch den Gas­traum schwei­fen.

Frau­en wa­ren in die­sem Kurs of­fen­bar weit in der Über­zahl. Die meis­ten Teil­neh­me­rin­nen schie­nen Ende drei­ßig oder An­fang vier­zig zu sein, also ei­ni­ge Jah­re äl­ter als sie selbst. Doch wo steck­te ei­gent­lich Hei­d­run? Just in dem Mo­ment, in dem sie das dach­te, kam Hei­d­run auch schon zur Tür her­ein und steu­er­te ih­ren Tisch an.

»Hal­lo! Wie war dein Spa­zier­gang?«

Sicht­bar frisch ge­duscht und bes­ter Lau­ne ließ sich Hei­d­run auf einen der frei­en Plät­ze ne­ben ihr fal­len.

»Oh, der war schau­rig schön«, ant­wor­te­te Re­gi­na lä­chelnd. »Erst ging die Son­ne un­ter, dann kam der Ne­bel … Und die Tor­hal­le ist wirk­lich be­ein­dru­ckend.«

»Wie ge­fällt’s dir sonst so hier?«, hak­te Hei­d­run nach.

»Gut«, mein­te Re­gi­na. »Mein Zim­mer ist ge­müt­lich ein­ge­rich­tet, und ich habe eine tol­le Aus­sicht auf den Chiem­see. Wenn es mor­gen früh nicht reg­net, kann ich be­stimmt die Al­pen se­hen.«

Hei­d­run nick­te. »Ich kann nur auf den In­nen­hof schau­en. Aber das macht nichts, denn die al­ten Klos­ter­ge­bäu­de sind wirk­lich wun­der­schön, so wür­de­voll und er­ha­ben. An­de­rer­seits …«, sie beug­te sich zu Re­gi­na hin­über und senk­te ihre Stim­me, … herrscht in die­sem Klos­ter doch eine ziem­lich merk­wür­di­ge At­mo­sphä­re, fin­dest du nicht auch? Wer weiß, wel­che Schick­sa­le sich hier zu­ge­tra­gen ha­ben. Ganz ehr­lich: Ich habe das Ge­fühl, als wür­den hier Geis­ter um­ge­hen.«

Re­gi­na ver­kniff sich ein Grin­sen. »Bist du etwa schon ei­nem be­geg­net?«

»Nein, das nicht. Noch nicht«, er­klär­te Hei­d­run in ei­nem be­deu­tungs­schwan­ge­ren Ton­fall. »Aber in al­ten Ge­bäu­den sind ja fast im­mer un­er­klär­li­che Kräf­te am Werk. Au­ßer­dem kann man Geis­ter nicht un­be­dingt se­hen. Manch­mal ist da nur eine Be­rüh­rung, leicht wie ein Wind­hauch, oder eine Vase, die ohne Grund plötz­lich um­kippt. Oder man hört ein lei­ses Seuf­zen, ein Flüs­tern, kör­per­lo­se, kna­r­zen­de Schrit­te auf den Holz­die­len …«

Lau­ter Phä­no­me­ne, die auf Durch­zug schlie­ßen las­sen, dach­te Re­gi­na, be­hielt den Ge­dan­ken aber für sich.

»Zum Glück sind die meis­ten Geis­ter freund­lich«, fuhr Hei­d­run fort. »Weißt du, ich habe eine Kol­le­gin, die lebt in ei­nem über drei­hun­dert Jah­re al­ten Haus und …«

»Gu­ten Abend. Darf ich mich zu Ih­nen set­zen?«, wur­de sie von ei­ner war­men männ­li­chen Stim­me un­ter­bro­chen.

Re­gi­na schau­te hoch. Vor ih­nen stand ein gro­ßer, schlan­ker Mann mit kurz ge­schnit­te­nen, dunk­len Haa­ren, die an den Schlä­fen schon ein we­nig grau wur­den. Er trug Jeans, einen dun­kel­ro­ten Woll­pull­over und dar­un­ter ein hell­blau­es Hemd.

»Ja, na­tür­lich«, er­wi­der­te sie.

Als er sich mit ei­ner flie­ßen­den Be­we­gung auf dem Stuhl rechts von ihr nie­der­ließ, be­merk­te Re­gi­na, dass die bei­den Frau­en am Tisch ihr Ge­spräch un­ter­bra­chen und ihn in­ter­es­siert an­sa­hen.

»Darf ich mich vor­stel­len? Ich bin Phil­ipp, Phil­ipp Me­n­an­der«, sag­te er.

»Hei­d­run«, kam es kurz und tro­cken von links.

Lä­chelnd nick­te der Neu­an­kömm­ling ihr zu.

»Und ich bin Re­gi­na«, sag­te sie.

Der Neu­an­kömm­ling sah sie an, viel­leicht einen Wim­pern­schlag län­ger als Hei­d­run. In sei­nen dunk­len Au­gen, so kam es ihr zu­min­dest vor, leuch­te­te so et­was wie ein in­ten­si­ves, wär­me­n­des Feu­er. Aber sie hat­te kei­ne Ge­le­gen­heit, län­ger dar­über nach­zu­den­ken, da in die­sem Au­gen­blick auch schon der ers­te Gang auf­ge­tra­gen wur­de. Kür­bis­creme­sup­pe mit ge­rös­te­ten Ker­nen und ei­ner Sah­ne­hau­be.

»Wie le­cker!«, freu­te sich Hei­d­run.

»Ja. Und es passt zu Hal­lo­ween«, stell­te Re­gi­na fest. »Das ha­ben wir doch bald. Be­stimmt stel­len auch die Leu­te hier auf der In­sel aus­ge­höhlte Kür­bis­se mit Lich­tern drin vor ihre Tü­ren.«

»Ich kann mir gut vor­stel­len, dass die Men­schen hier ein biss­chen fern­ab von der Welt le­ben«, mein­te Hei­d­run und griff nach ih­rem Löf­fel.

»Nicht un­be­dingt«, wi­der­sprach ihr Phil­ipp. »Die Frauen­in­sel wird jähr­lich vom Früh­jahr bis An­fang Ok­to­ber der­art von Tou­ris­ten über­schwemmt, dass die Be­woh­ner mit Si­cher­heit voll auf der Höhe der Zeit sind.«

»Das ist be­stimmt auch bes­ser so«, mel­de­te sich sei­ne Tisch­nach­ba­rin links ge­gen­über zu Wort, eine rund­li­che Dame mit kur­z­en, blond ge­färb­ten Haa­ren, die Re­gi­na auf Mit­te vier­zig schätz­te. »Üb­ri­gens: Ich hei­ße Lui­sa.«

»Freut mich sehr«, er­wi­der­te Phil­ipp und wand­te sich sei­ner neu­en Ge­sprächs­part­ne­rin zu.

Wäh­rend er sich mit Lui­sa un­ter­hielt, löf­fel­te Re­gi­na schwei­gend ihre Sup­pe. Da­bei fiel ihr auf, dass Hei­d­run Phil­ipp im­mer wie­der mit lan­gen Bli­cken mus­ter­te.

Of­fen­bar fin­det sie ihn be­son­ders nett, dach­te sie und warf noch ein­mal einen prü­fen­den Blick auf ihre blon­de Nach­ba­rin schräg ge­gen­über. De­ren Au­gen glänz­ten nicht min­der, wäh­rend sie sich mit Phil­ipp un­ter­hielt. Hei­d­run war of­fen­sicht­lich nicht die ein­zi­ge, die sich für ihn in­ter­es­sier­te. Er war ja auch tat­säch­lich ein gut­aus­se­hen­der Mann, und dazu noch ei­nes der rar ge­sä­ten Ex­em­pla­re des an­de­ren Ge­schlechts. Aber für ih­ren Ge­schmack ge­noss er das In­ter­es­se der Da­men­welt ein biss­chen zu sehr.

An­schei­nend war sein Small Talk mit Lui­se er­schöpft, denn nun wand­te er sich wie­der ihr zu.

»Wo­her kom­men Sie denn, Re­gi­na?«, frag­te er und sah sie an.

Sei­ne dunk­len Au­gen hat­ten wirk­lich et­was Be­son­de­res, stell­te sie fest, wäh­rend sie ihm er­klär­te, dass sie in der Nähe von Würz­burg wohn­te.

»Was für eine schö­ne alte Stadt! Und sie liegt in so ei­ner hüb­schen Ge­gend mit den vie­len Wein­ber­gen, den al­ten Bur­gen und dem Main«, schwärm­te er. »Im ver­gan­ge­nen Som­mer war ich das letz­te Mal dort, auf ei­nem gro­ßen Kon­gress.«

»Was ma­chen Sie denn be­ruf­lich?«, woll­te nun Hei­d­run wis­sen.

»Ich bin Arzt«, ant­wor­te­te er. »Ge­nau­er ge­sagt In­ter­nist.«

Für einen Mo­ment wei­te­ten sich Hei­druns Au­gen. »Dann müs­sen wir wohl Dok­tor zu Ih­nen sa­gen.«

»Him­mel, nein! Bloß nicht«, wi­der­sprach Phil­ipp. »Dann käme ich mir ja vor wie im Dienst.«

Hei­d­run scheint wirk­lich Feu­er ge­fan­gen zu ha­ben. Sie hat­te so­gar ih­ren Löf­fel aus der Hand ge­legt und ließ ihre Kür­bis­creme­sup­pe kalt wer­den.

Das war in­so­fern nicht wei­ter schlimm, als es auch noch Spa­ghet­ti mit Hack­fleisch­so­ße und Sa­lat und da­nach Rote Grüt­ze und Va­nil­le­sau­ce gab. Am Ende tran­ken sie alle zu­sam­men noch ein Glas Wein, bo­ten sich ge­gen­sei­tig das Du an und un­ter­hiel­ten sich über dies und das, bis ­Phil­ipp einen Blick auf sei­ne Uhr warf. »Oha, es ist schon fast halb elf, und ich hab noch nicht mal mei­nen Kof­fer aus­ge­packt.«

»Ich wer­de mich auch mal zu­rück­zie­hen«, schloss Re­gi­na sich ihm an. »Sonst schla­fe ich mor­gen beim Me­di­tie­ren noch ein.«

Phil­ipp lä­chel­te be­lus­tigt, und zu­sam­men mit Hei­d­run ver­lie­ßen sie den Spei­se­saal, spa­zier­ten den Weg zum Klos­ter hin­auf und ver­ab­schie­de­ten sich im ers­ten Stock des Gäs­te­trak­tes von­ein­an­der.

»Schlaft gut«, rief Phil­ipp ih­nen zu, be­vor er sich auf den Weg in die zwei­te Eta­ge mach­te.

»In­ter­es­san­ter Typ, oder?«, flüs­ter­te Hei­d­run, als er ver­schwun­den war. »Na dann, bis mor­gen.«

»Trä­um schön«, ant­wor­te­te Re­gi­na und ging auf ihr Zim­mer. Als sie die Türe hin­ter sich schloss, wur­de ihr schlag­ar­tig be­wusst, wie hun­de­mü­de sie war. Sie zog ih­ren Schlaf­an­zug an, putz­te sich die Zäh­ne und ließ sich ins Bett fal­len. Kei­ne fünf Mi­nu­ten spä­ter war sie ein­ge­schla­fen.

Alpträume

Drau­ßen war es noch dun­kel, als der We­cker ih­res Smart­pho­nes sie aus dem Schlaf riss. Un­wil­lig öff­ne­te sie die Au­gen, schal­te­te das ner­vi­ge Piep­sen aus und ver­such­te, ihre wir­ren Ge­dan­ken zu ord­nen. Sie hat­te so merk­wür­dig ge­träumt …

Wie­der hat­te sie im Schlaf die kör­per­lo­se, weib­li­che Stim­me ge­hört. Sie war ganz lei­se ge­we­sen, hat­te je­doch ab­grund­tief ver­zwei­felt ge­klun­gen. Und dies­mal hat­te sie klar und deut­lich ih­ren Na­men ge­ru­fen, im­mer und im­mer wie­der. Der Schre­cken am Abend zu­vor in der Tor­hal­le war ihr wohl mehr in die Kno­chen ge­fah­ren als ge­dacht.

Nach ei­ner Wei­le schal­te­te sie die Nacht­tisch­lam­pe an, stand auf, ging zum Fens­ter und schau­te hin­aus.

Das Licht der Lam­pe schien auf wa­bern­den Ne­bel, der die Bäu­me auf der an­de­ren Sei­te des schma­len Ufer­wegs in un­deut­li­che Schat­ten ver­wan­del­te. Doch dann ging auch ir­gend­wo im Erd­ge­schoss ein Licht an und er­leuch­te­te die klei­ne Grün­flä­che vor dem Klos­ter und die etwa manns­ho­he He­cke da­hin­ter.

Und Re­gi­na sah, dass dort je­mand am Weges­rand stand. In dem grau­en Ne­bel­dunst wirk­te er un­wirk­lich, ja bei­na­he durch­sich­tig. Den­noch zwei­fel­te sie kei­nen Au­gen­blick dar­an, dass es sich um nie­mand an­de­ren als den ei­n­äu­gi­gen Al­ten han­del­te, dem sie tags zu­vor schon zwei­mal be­geg­net war. Sei­ne dür­re, ge­krümm­te Ge­stalt hat­te sich tief in ihr Ge­dächt­nis ein­ge­gra­ben.

Er schau­te zu ih­rem Fens­ter hoch.

Är­ger­lich senk­te sie den Kopf. Was woll­te er bloß von ihr?

Am liebs­ten hät­te sie sich ihre Ja­cke über­ge­wor­fen und wäre zu ihm hin­un­ter­ge­gan­gen, um ihn zur Rede zu stel­len.

Doch dann fiel ihr ein, dass er viel­leicht gar nicht wuss­te, was er tat. Mög­li­cher­wei­se war er de­ment, und sein ver­ne­bel­tes Ge­hirn trieb ihn dazu, hal­be Näch­te lang drau­ßen her­um­zu­lau­fen. Viel­leicht er­in­ner­te sie ihn ja auch an je­man­den, bei­spiels­wei­se an sei­ne längst ver­stor­be­ne Frau …

Nun misch­te sich Mit­leid in ih­ren Zorn, und sie sah wie­der aus dem Fens­ter.

Doch der Alte war ver­schwun­den.

*

Als sie eine drei­vier­tel Stun­de spä­ter den Klos­ter­wirt be­trat, war ihre Lau­ne wie­der bes­ser. Und sie war ge­spannt auf ihre ers­te Me­di­ta­ti­on. Lei­se vor sich hin sum­mend setz­te sie sich auf den glei­chen Platz wie am Abend zu­vor und in­spi­zier­te aus der Fer­ne das Früh­stücks­buf­fet.

»Gu­ten Mor­gen«, wur­de sie von ei­ner rund­li­chen, auf­fäl­lig blas­sen Kell­ne­rin be­grüßt, die ein Schild mit dem Na­men Traudl Kamm­bich­ler am Re­vers trug. »Was darf ich Ih­nen brin­gen, Kaf­fee, Tee oder Ka­kao?«

Sie be­stell­te Kaf­fee und stand auf, um sich et­was zu es­sen zu ho­len.

Weil sie recht früh dran war, stand sie ganz al­lei­ne am Buf­fet, und eine jun­ge Ser­vice­kraft war noch da­bei, wei­te­re Plat­ten mit Wurst und Käse auf­zu­ti­schen.

Re­gi­na nahm sich ein Crois­sant und über­leg­te, ob sie noch ein Stück von dem herr­lich duf­ten­den Mohn­zopf auf ih­ren Tel­ler le­gen soll­te, als die Kell­ne­rin na­mens Traudl zu der Ser­vice­kraft trat.

»Sag mal, Rosi, hast du’s auch schon ge­hört?«, frag­te sie mit merk­wür­dig wa­cke­li­ger Stim­me.

»Was denn?«, hak­te die jun­ge Frau na­mens Rosi nach.

»Na, das mit dem ei­n­äu­gi­gen al­ten An­ton«, er­klär­te ihre Kol­le­gin.

Re­gi­na hat­te nach dem Mohn­ku­chen grei­fen wol­len, doch jetzt zuck­te ihre Hand zu­rück.

»Stell dir vor: Er ist in die­ser Nacht im Chiem­see er­trun­ken«, er­klär­te die Kell­ne­rin.

»Du mei­ne Güte!« Rosi schlug die Hän­de vors Ge­sicht.

»Schlimm ist das«, be­kräf­tig­te Traudl. »Der Chef hat mir ge­sagt, dass An­ton noch ges­tern Abend hier im Gast­haus war. Er muss sich lan­ge mit ei­nem Frem­den un­ter­hal­ten ha­ben, am Ende hat er sich so­gar rich­tig mit ihm ge­strit­ten. Und er hat wohl zu viel ge­trun­ken, denn als er ge­gen elf Uhr nach Hau­se ge­gan­gen ist, hat er ziem­lich ge­schwankt. Heu­te Mor­gen um kurz vor sechs hat mein Nach­bar sei­ne Lei­che im Was­ser trei­bend ge­fun­den. Du kannst dir gar nicht vor­stel­len, was da­nach bei uns los war!«

»Das ist ja schreck­lich!«, seufz­te Rosi. »Der An­ton war doch so ein lie­ber Kerl. In den letz­ten Jah­ren ist er zwar ein biss­chen starr­köp­fig und wun­der­lich ge­wor­den, aber na ja, so ist das halt, wenn man alt wird. Ich kann mich je­den­falls noch gut dar­an er­in­nern, wie er mir als Kind öf­ter mal eine Sem­mel mit Räu­cher­fisch in die Hand ge­drückt hat.«

Fas­sungs­los schüt­tel­te Traudl den Kopf. »Dass er aus­ge­rech­net er­trin­ken muss­te, wo er doch sein Le­ben lang hier Fi­scher war.«

Re­gi­na nahm ih­ren Tel­ler und kehr­te zu ih­rem Tisch zu­rück. Selt­sam, dach­te sie. Wie war es mög­lich, dass sie an die­sem Mor­gen ge­gen sie­ben Uhr einen Mann ge­se­hen hat­te, der an­geb­lich um sechs Uhr tot im Was­ser trei­bend ge­fun­den wor­den war?

Bis ihr eine lo­gi­sche Er­klä­rung ein­fiel, dau­er­te es eine ge­rau­me Wei­le. Es konn­te also gar nicht der ei­n­äu­gi­ge An­ton ge­we­sen sein, der vor ih­rem Fens­ter ge­stan­den hat­te. Folg­lich muss­te das je­mand an­ders ge­we­sen sein, der dem al­ten Fi­scher ein­fach nur ver­blüf­fend ähn­lich sah. Viel­leicht hat­te An­ton ja einen Bru­der oder einen Vet­ter von der glei­chen ma­ge­ren, ge­beug­ten Sta­tur …

Sie at­me­te ein­mal tief durch, schenk­te sich Kaf­fee aus der Ther­mo­s­kan­ne ein, die mitt­ler­wei­le auf dem Tisch stand und biss in ihr Crois­sant.

Re­gi­na hat­te noch nicht ganz auf­ge­ges­sen, als Phil­ipp in die Gast­stu­be kam. Als er sie sah, hob er lä­chelnd die Hand und kam zu ihr an den Tisch.

»Gut ge­schla­fen?«, be­grüß­te er sie.

»Und ob«, schwin­del­te sie.

»Ja, ich auch. Darf ich mich zu dir set­zen?«

»Klar«, ant­wor­te­te sie und schob die fast noch vol­le Kan­ne Kaf­fee zu ihm hin­über.

Als er kurz dar­auf zum Buf­fet ging, schloss sie sich ihm an. Sie nahm sich eine Schüs­sel, füll­te sie mit Müs­li und Obst­sa­lat und goss Milch dar­über. Als sie an den Tisch zu­rück­kam, saß Phil­ipp schon auf sei­nem Platz und schmier­te sich ein Wurst­brot.

»Heu­te Mor­gen war mir die Stil­le auf die­ser In­sel glatt ein biss­chen un­heim­lich«, er­klär­te sie und rühr­te in ih­rem Müs­li.

Phil­ipp nick­te. »Ja, dar­an muss man sich erst mal ge­wöh­nen. Für mich ist das nichts Neu­es, weil ich im­mer wie­der mal ein paar freie Tage hier ver­brin­ge. Schon als Kind bin ich öf­ter mit mei­nen El­tern hier auf der In­sel ge­we­sen.«

Re­gi­na leg­te ih­ren Löf­fel zur Sei­te. »Dann kennst du die In­sel­be­woh­ner be­stimmt ganz gut.«

Phil­ipp wieg­te den Kopf. »Nicht alle, aber man­che schon.«

»Auch den al­ten Mann, der nur noch ein Auge hat?«, hak­te Re­gi­na nach.

Für einen Mo­ment schien so et­was wie Über­ra­schung in sei­nen Au­gen auf­zu­blit­zen. »Meinst du den An­ton Grub­ner?«

»Kei­ne Ah­nung«, ge­stand sie. »Ges­tern habe ich den Mann nur kurz ge­se­hen, und da fand ich ihn … hmm … sehr un­ge­wöhn­lich. Nicht nur we­gen sei­nes blin­den Au­ges.«

Phil­ipp run­zel­te die Stirn. »Das kann tat­säch­lich nur der An­ton sein. Je­der, der öf­ter auf der Frauen­in­sel zu Gast ist, kennt ihn. Frü­her war er mal Fi­scher. Und er ist ein ziem­li­cher Ein­zel­gän­ger.«

Re­gi­na nick­te. »Mir ist er gleich auf­ge­fal­len, als ich von der Fäh­re kam. Da lehn­te er da drau­ßen am Stamm der gro­ßen Lin­de.«