Das Geheimnis von Moonheaven - Eileen Sattelmair - E-Book

Das Geheimnis von Moonheaven E-Book

Eileen Sattelmair

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Beschreibung

Es ist irgendetwas Unerklärliches mit Luci, einem 14-jährigem Mädchen aus einem kleinen Dorf geschehen. Sie hat eine geheimnisvolle Welt - Moonheaven und ihren verborgenen zweiten Teil ihrer Familie kurz kennen gelernt. Diese fantastische Welt wurde von einer bösen Frau bedroht und Luci hat sie mehr oder weniger durch Zufall gerettet. Nachdem sie nun aus Moonheaven zurückgekehrt ist, fällt sie erschöpft in einen tiefen Schlaf. Sie macht eine Reise in die Vergangenheit. Sie sieht ihre Mutter und ihre Tante wieder und lernt noch andere Familienmitglieder und Wesen aus Moonheaven kennen. Sie stolpert wieder in ein Abenteuer, aber diesmal nur als Beobachter. Und da ist noch das große Geheimnis um ihre Mutter Alisa. Ob Luci je wieder aufwachen will?

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Seitenzahl: 328

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Eileen und Susanne Sattelmair

Das Geheimnis von Moonheaven

Eileen und Susanne Sattelmair

Das Geheimnis von Moonheaven

Weitere Serien von Eileen und Susanne Sattelmair:

Die Rose von Moonheaven - Teil 1

Der Sandprinz von Ghuhuul -Teil 3

© 2022 Eileen Sattelmair, Susanne Sattelmair, Berlin

Umschlaggestaltung, Illustration: Susanne Sattelmair

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition

Designer. Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH,

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

ISBN Softcover: 978-3-347-47794-0, ISBN Hardcover: 978-3-347-47797-1, ISBN E-Book: 978-3-347-47801-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Luci schläft in dieser Nacht tief und fest.

Kein Wunder, bei dem, was sie alles in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebt hat…

…Nebel. Dichter grauer Nebel. Es ist kein Geräusch zu hören. Totenstille. Egal wohin der Kopf gedreht wird, nichts als wabernde graue Undurchsichtigkeit. Langsam, fast unmerklich lichtet sich die Wand aus dem unwirklichen Grau. Einzelne Farben kristallisieren sich heraus. Stück für Stück nehmen diese Konturen an und fügen sich zu einem Bild zusammen…

Eine Blumenwiese. So fantastisch, fast schon magisch. Das Gras steht dicht und hoch und erstreckt sich, soweit das Auge reicht. Hier und da stehen Blumen von unbekannter Schönheit. Große gelbe Blütenkelche verströmen einen herrlichen Duft. Daneben recken kleine lila und blau schimmernde Veilchenarten ihre Köpfchen in die Höhe. An denen tummeln sich kleine Wesen. Diese sind flauschig und weich mit kurzen Beinchen und einem Puschel als Schwanz. Sie sehen aus wie kleine Flauschebällchen. Jedes schimmert im Sonnenlicht anders. Leises fiepen und gurren ist von ihnen zu hören. Die Luft flimmert im warmen Sonnenlicht. Der Himmel ist strahlend blau. Hier und da fliegt etwas vorbei. Jedes dieser Flugwesen sieht anders aus. Manche sehr komisch, einige ungewöhnlich und der Rest lustig. Es ist ein friedvoller Anblick. Die Blumenwiese breitet sich über sanft abfallende Hügel aus. Bis zum Horizont. Verstreut stehen große Pilze. Jeder Pilz sieht anders aus. Es gibt welche mit weißem Stiel und roten oder brauen Köpfen, aber auch lila Stiele mit gelben Köpfen. Am hübschesten sind die Regenbogenfarbenen mit den goldenen Hütchen. Verschiedene kleine Buscharten stehen überall auf der Wiese verstreut- dicke blaue oder türkisfarbene schmale, ausladende meergrüne oder schlanke purpurne.

Der Horizont wird von einem dichten dunklen Wald eingenommen. Große mächtige Bäume stehen dicht an dicht und spenden Schatten. Er wirkt aber nicht unheimlich, sondern eher träumerisch und verwunschen. Ein kleiner Bach windet sich durch den Wald und zwischen den großen Felsbrocken und Steinen hin und her. Er sammelt sich gelegentlich in kleine Becken und fließt dann weiter stufenweise auf die Blumenwiese.

Die kleinen Wasserfälle, die zwischen den einzelnen Becken entstehen, laden verschiedenste Wesen ein, dort zu verweilen. Die Luft hier ist frisch und feucht. Die einzelnen Sonnenstrahlen, die sich durch das dicke Geäst mogeln, kitzeln die Besucher des Wasserfalls. Der Bach verästelt sich zu mehreren kleinen Bächlein und verteilen sich über die gesamte Blumenwiese und versorgen diese mit Wasser. In der Mitte dieser wundersamen Umgebung ragt ein großer Berg majestätisch auf. Auf dem Berg befindet sich ein gepflasterter Platz. Viele verschiedene Mosaikbilder sind im Boden eingelassen. Sie stellen Szenen dar, die, wenn man alle betrachtet, eine Geschichte erzählen. Die Geschichte von Moonheaven. Dieser Platz hat eine besondere Wirkung auf diejenigen, die sich darauf befinden. Sofort spürt ein jeder Ehrfurcht, Friede und Demut in sich.

In der Mitte des Platzes steht ein dunkler Felsen. Darin ist ein goldenes Blumensymbol eingraviert. Über dem Felsen schwebt etwas Durchsichtiges. Ein schalenförmiges Gebilde. Es sieht aus wie eine riesengroße gebogene Kristallschale. Der Platz wird von den ältesten und mächtigsten Bäumen umgeben und man kann von hier aus das ganze Reich überblicken, die Blumenwiese, die Bäche und den Wald, der alles umschließt und der bis weit hinter dem Horizont zu reichen scheint. Was sich dahinter befindet, das kann man von hier aus nicht sehen.

Kinderlachen, das sich schnell nähert, ist plötzlich zu hören. Drei junge Mädchen kommen den Berg hoch und nähern sich dem heiligen Platz. Sie sind vielleicht sieben oder acht Jahre alt und springen und hopsen fröhlich herum. Eine von ihn springt besonders wild. Sie hat blond gelockte Haare und ist dünn und ungelenk und sieht aus wie ein knallbunter Vogel mit ihrer hellgrünen Flatterhose, dem orangen Oberteil und dem knallpinken Haarband. Die andern beiden albern miteinander herum und eilen hinter dem kunterbunten Mädchen her. »Vallerie, nicht so schnell. Wir kommen gar nicht hinterher!«, keucht eine davon.

Als die Mädchen oben ankommen, verschlägt es ihnen die Sprache. Staunend gehen sie langsam auf den Platz. Man merkt sofort, dass die Drei die besondere Magie des Platzes spüren. Mit staunenden Augen sehen sie sich um. Eines der Mädchen bemerkt plötzlich, dass jeder von ihnen in einer anderen Farbe erstrahlt. Sie stupst die anderen an und verweist darauf. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, murmelt das Mädchen mit dem goldenen Haar gerührt. Neugierig sehen sie sich alle an und schauen jeweils bei dem anderen, ob die Farbe abzuwischen geht. Das Mädchen mit dem goldenen Haar leuchtet lila, der bunte Vogel erstrahlt in einem satten pink und das ruhige, ernste Mädchen hat einer weißen Aura. Die kunterbunte Vallerie schaut traurig die beiden anderen an. »Was ist den los, Vallerie?«, fragt das Mädchen mit der weißen Aura. »Muss das unbedingt pink sein. Ich würde so gern orange nehmen. Idalia, ob man die Farbe wechseln kann?« Das Mädchen mit der weißen Aura hebt nichts ahnen die Schultern.

»Vallerie, das frage lieber Idalias Mutter. Die weiß das bestimmt. Die weiß alles«, schlägt das Mädchen mit den goldenen Haaren vor und dreht sich weg. Sie schaut neugierig zum Felsen rüber. Dort ist etwas, was sie brennend interessiert. »Das geht nicht, dann weiß meine Mutter doch, dass wir hier waren und ich bekomme eine Menge Ärger. Genaugenommen dürfen wir nämlich gar nicht hier sein. Ihr kennt alle das Verbot der Weisen. Bestimmt passiert etwas Schlimmes, wenn wir es tun«, jammert das ernste Mädchen. Sie heißt Idalia und ist nicht nur sehr klug, sondern auch immer etwas ängstlich. »Spielverderberin«, murmelt das Mädchen mit den goldenen Haaren und schaut immer noch interessiert zum Felsen. »Das habe ich gehört, Alisa. Ich wollte euch nur darauf hinweisen.« Idalia schüttelt kurz ihren Haarschopf. Das macht sie immer, wenn sie etwas, was sie gesagt hat, in dessen Bedeutung unterstreichen will.

»Kommt, lasst uns verstecken spielen!«, schlägt Alisa beiden schelmisch vor. »Hier?« und Idalia macht ein entsetztes Gesicht. »Na klar. Was soll denn schon passieren, du Schisser.« Alisa bewegt sich schon in Richtung Felsen. Nicht so mutig, wie sie sonst immer tut, aber dennoch bewegt sie sich auf ihn zu. Vallerie und Idalia beobachten sie aufmerksam und warten darauf, ob irgendwas passiert. Aber es bleibt alles still. Kein Weltuntergang erfolgt oder eine Sintflut kommt herbei.

»Was war das vorhin eigentlich mit Lora?«, fragt Vallerie von der Seite ganz nebenbei Idalia. »Was meinst du damit?« Idalia schaut unschuldig. Vallerie dreht nun ihren Kopf zu ihr und schaut sie an: »Als Lora gefragt hat, ob sie mitkommen kann, hast du sofort entsetzt »nein« gesagt. Warum?« Idalia schaut sie trotzig an.»Darum!« Valleries Blick wird jetzt forschender. Idalia schmollt. Vallerie schüttelt den Kopf: »Ne, Idalia, das ist keine Antwort. Hat dir Lora etwas getan?« Valleries Kleidung raschelt, als sie sich ganz zu ihrer Cousine umdreht. Die antwortet: »Nö, die ist mir nur unheimlich und irgendwie komisch.« Idalia blickt wieder zu Alisa rüber und wundert sich. Was macht die da? »Ich finde sie nett. Für ihre roten Augen kann sie nichts. Und außerdem lebt sie allein mit ihrem Vater. Ohne Mutter! Stell dir das mal vor. Da wärst du auch manchmal komisch drauf, oder!«, redet Vallerie unbeirrt weiter und schaut Idalia jetzt streng an. Die bekommt einen roten Kopf und druckst herum: »Sie ist halt… so anders. Und dauernd in schwarz.« Valleries Augenbrauen schießen nach oben. »Ich renne auch wie ein bunter Vogel herum, na und. Lora mag eben schwarz. Du solltest nicht so schnell Vorurteile haben. Lerne sie doch erst mal kennen. Und außerdem bist du auch ab und zu anders. Besonders, wenn du immer alles besser wissen willst. Und ich habe dich trotzdem gern und mache das hier zum Beispiel mit dir.« Vallerie schwenkt ihre Arme im Halbkreis. »Du hast ja recht«, lenkt Idalia ein. »Beim nächsten Mal nehmen wir sie mit. In Ordnung?« Vallerie nickt zufrieden.

»Na, kommt schon ihr beiden, sonst kenne ich bereits die besten Verstecke!«, ruft Alisa, die schon am Felsen steht. Sie winkt den beiden Mädchen ungeduldig zu. Vallerie und Idalia gehen zügig zu ihr.

…Die Szene beginnt zu verschwimmen. Die Konturen lösen sich langsam auf und formen sich zu einem neuen Bild…

Ein Pilz, so groß wie ein Haus, steht auf der Blumenwiese. Es handelt sich um keinen gewöhnlichen Pilz, sondern um einen Wohnpilz. In der Frontseite befinden sich viele Fenster mit Blumenkästen. Darin wachsen die schönsten Blumen und ranken sich stilvoll herunter. Besonders die roten Großen duften herrlich und geben dem Pilz ein besonderes Flair. Jedes Fenster hat verschieden bunte Fensterläden. Sie zeigen dadurch das jeweilige Stockwerk an. Im Schirm des Wohnpilzes ist ein einzelnes, kleines, geschwungenes Fenster. Dahinter befindet sich das gemütlichste Zimmer der ganzen Wiese.

Zwei Betten stehen im Raum, eines davon ist mit einem Schleier aus Tüll umgeben. Es sieht aus wie ein Himmelbett. Unter dem Bett stehen viele verschiedene Truhen und Kästchen, in denen sich lauter Pergamentrollen und ältere Landkarten befinden. In dem kleinen Regal neben dem Himmelbett, liegen oder stehen viele unterschiedlich große und dicke Bücher. Zwischen denen befinden sich mehrere Tintenfässer. Auf dem Nachtisch liegt ein kleines dickes Buch. Um das andere Bett, das dicht unterm Fenster steht, ist eine Girlande voller bunter Federn befestigt. Besonders die Farbe Orange dominiert dabei. Neben diesem Bett befindet sich auch ein kleiner Nachtisch. Auf dem steht ein Bild mit goldenem Rahmen. Eine nett dreinblickende Frau mit zwei Mädchen sind darauf zu sehen - ein Mädchen mit gelocktem blondem Haar und einem pinken Haarband und ein anderes Mädchen mit goldenen, aber langen glatten Haaren. Die sieht der älteren Frau in der Mitte des Bildes sehr ähnlich. Alle drei wirken sehr glücklich.

Zwischen den beiden Betten steht an der Wand ein großer alter Bauernschrank, der mit blauen und grünen Blumen bemalt ist. Um die zwei oberen Knäufe sind Blumen so gemalt, dass die Knäufe die Krone der Blüten darstellen. Darunter gibt es zwei große Schubladen. An der Wand daneben befinden sich mehrere Haken, an denen knallbunte Taschen hängen. Wenn man von diesem Zimmer die Treppe heruntergeht, kommt man direkt in eine urige alte Küche. In deren Mitte steht ein großer runder Tisch. Er ist aus schwerem Holz gehauen und ist so präsent, dass er den Raum auszufüllen scheint. Dahinter thront ein großes Regal, das mit allen möglichen Sachen und Einweggläsern vollgestopft ist. Trotz der Fülle darin wirkt es gut sortiert. Die Wände sind geweißt und auf verschieden großen Hängeregalen stehen Gläser mit Gewürzen, sowie Salben und Tinkturen. Von der Decke hänge Bündel mit Sträußen voller Kräuter und Blumen herab, sowie mit Dingen, die nicht zu identifizieren sind.

Neben dem Regal steht ein riesiger gemauerter Herd mit einer offenen Feuerstelle. Im Moment ist sie kalt. Auf einem Gitter, welches die Hausherrin über die Feuerstelle gelegt hat, stehen unzählige Töpfe und Pfannen. Über dem Herd befinden sich noch weitere Kochutensilien an metallenen Haken. Daneben hängt eine kleine Eisenschale mit grünen Kräutern von der Decke herab. Weiter hinten, versteckt hinter dem Regal, befindet sich noch eine einfache Schlafstelle. Eine Art Holztrog steht auch noch in der Küche. Welche Verwendung dieser hat, erschließt sich dem Betrachter nur bei genauerem Hinsehen. Aus der Wand darüber ragt ein kleines Rohr heraus. Daran ist so etwas wie ein Öffnungsmechanismus angebracht. Es handelt sich um eine Wasser - oder Waschstelle. Gleich neben dem Holztrog befindet sich eine schwere Tür, durch die man direkt in den Kräutergarten gelangt. Dieser ist durch eine kleine Mauer von der Wiese getrennt. In der Mauer wurde eine Tür aus Holz eingelassen.

Eine untersetzte Frau mit goldenem Haar und weißem Morgenmantel öffnet vorsichtig die schwere Holztür zum Garten und schleicht sich leise aus dem Haus. Sie trägt einen großen Beutel um ihre Schultern und hält in ihrer rechten Hand gedankenverloren einen Zettel. Sie eilt über die Wiese. Dabei öffnet sich ihr Morgenmantel und ein gelbes Blümchenkleid weht hervor. Erst am verwunschenen Wald macht sie einen kurzen Stopp. Sie schaut sich prüfend zu allen Seiten um und legt den Kopf etwas schräg und horcht. Nur das Rauschen des Windes in den Blättern ist zu hören. Sie wirft noch schnell einen letzten Blick zum Wohnpilz zurück und geht dann zügig den Pfad in den Wald hinein.

***

Etwas später im Pilzhaus: Die zwei Mädchen, vom Bild oben auf dem Nachtisch, stehen ratlos in der Küche. »Wo ist sie nur hin?«, fragt die eine. »Ich habe keine Ahnung«, gibt die andere als Antwort. »Sie hat ja noch nicht mal ein Zettel hinterlassen, Vallerie«, mault die erste wieder. »Vielleicht ist sie bei Tante Avvanina.« Vallerie versucht ihre Schwester zu beruhigen und nimmt sie in den Arm. »Komm, wollen wir hingehen und nachsehen?« Vallerie schaut Alisa aufmunternd an. »Oh ja, dann können wir endlich mal das neue Haus sehen und uns mit Idalia treffen.« Sie schaut ihre Schwester aufgeregt an und hüpft vor Freude. Beide verlassen das Haus und gehen den kleinen Pfad zwischen Haus und Bach entlang bis zu dem Baum, in dem ihre Tante seit neustem mit ihrer Tochter Idalia wohnt. Der riesige Mantanobaum bietet für eine Familie, wie Avvanina und Idalia eine sind, genügend Platz.

Beide Mädchen sind gerade sehr aufgeregt, denn diesen Weg sind sie noch nie allein gegangen. Auch das Haus haben sie bisher nur von außen gesehen. Dort angekommen ziehen sie stürmisch an der Türglocke und ihre Tante macht verwundert die Tür auf. Sie starrt die beiden ein paar Sekunden lang entgeistert an, denn so frühen Besuch hat sie nicht erwartet. »Kommt rein«, sagt sie schließlich und winkt die beiden zu sich ins Haus. Vallerie und Alisa schauen ihre Tante zögerlich an. Avvanina ist eine sehr kluge, aber auch strenge Frau. Die Kinder haben einen großen Respekt vor ihr. Avvanina macht die einladende Handbewegung erneut und lächelt beide freundlich an. Schüchtern treten die Schwestern ein. Staunend laufen sie ihrer Tante durch einen langen sich windenden Baumtunnel hinterher. Links und rechts gehen Türen ab. Da diese verschlossen sind, können die beiden Kinder nicht sehen, was sich dahinter befindet.

An den Wänden sind Jahresringe zu erkennen und auch einige Astaugen. Am Ende des Tunnels öffnet sich ein großer Raum. In der Mitte steht ein runder Tisch. Der ist viel filigraner als der Tisch bei den beiden Mädchen in der Küche. Darauf steht in einer Vase ein prächtiger Blumenstrauß. An den Wänden hängen einige seltsame Dinge. Alisa nähert sich neugierig einem solchen Ding. Ihre Schwester Vallerie versucht sie zurückzuhalten, doch Alisa lässt sich nicht abhalten und geht weiter. Das Ding, was sie interessiert, sieht aus wie ein großes Thermometer mit goldenen Federn. Diese springen je näher sie kommt immer stärker auf und ab. Alisa kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Ihre Tante beobachtet die beiden belustigt. Sie freut sich über ihren Besuch, findet aber die Uhrzeit etwas merkwürdig. »Womit kann ich euch denn helfen?«, fragt sie nun ihre Nichten freundlich. »Mama ist nicht da und hat keinen Zettel hinterlassen. Wir dachten, sie wäre hier«, antwortet Vallerie und schaut sich suchend um. »Nein, tut mir leid. Sie ist nicht hier.« Die Tante schüttelt den Kopf. Alisas Interesse an dem Magiometer weckt deren Aufmerksamkeit erneut. »Weißt du was das ist?«, fragt sie ihre Nichte. »Nein.« Alisa sieht sie zuerst ratlos, dann aber neugierig an.

»Das ist ein Magiometer«, sagt Idalia müde. Sie ist gerade in den Raum gekommen und reibt sich noch verschlafen die Augen. »Was macht ihr denn eigentlich so zeitig hier«, fragt sie weiter und gähnt ausgiebig. »Wir haben unsere Mutter gesucht. Wir dachten die sei hier?« Vallerie macht ein enttäuschtes Gesicht. »Nö, ich glaube nicht, oder Mama?« und Idalia wendet sich ihrer Mutter zu. Statt ihrer Tochter zu antworten, sagt sie an ihre Gäste gerichtet: »Wollt ihr denn vielleicht mit uns Frühstücken. Ich bin sicher, eure Mutter kommt bald wieder« und sie macht eine einladende Geste zum bereits gedeckten Tisch. Alisa schaut Vallerie bittend an. Diese hat nichts dagegen und so frühstücken sie alle gemeinsam. Danach waschen sie ab, albern herum und erzählen sich die neusten Sachen. Dabei stellen Alisa und Vallerie viele Fragen bezüglich des Baumes, in dem sie sich befinden. Sie finden ihre Tante nunmehr super und überhaupt nicht mehr streng. Später schlägt Avvanina vor, dass beide noch bis zum Nachmittag mit Idalia spielen können. Dann bringe sie die beiden wieder nach Hause. Die Kinder finden diese Idee großartig und haben eine sehr schöne gemeinsame Zeit.

Am späten Nachmittag gehen, wie von Avvanina vorgeschlagen, alle gemeinsam zum Wohnpilz von Alisa und Vallerie zurück. Als sie die Tür öffnen, kommt ihnen Manina entgegen. Die beiden Kinder laufen fröhlich auf ihre Mutter zu und umarmen sie stürmisch. »Wo warst du denn heute Morgen?«, fragt Vallerie, als sie sich aus der Umarmung gelöst hat, vorwurfsvoll ihre Mutter. »Das habe ich euch doch auf einen Zettel geschrieben.« Manina ist erstaunt. »Da war kein Zettel, Mama«, gibt Vallerie entrüstet zurück. »Doch, ich habe ihn auf den Küchentisch gelegt und meine Tasche geholt und bin los.« Vallerie schüttelt energisch den Kopf. »Da lag wirklich keiner, Mama«, bestätigt nun auch Alisa. Stirnrunzeln sieht die Mutter ihre beiden Töchter an. »Schau mal in deiner Tasche nach, Manina. So wie ich dich kenne, ist der Zettel da drin!« Avvanina sieht ihre Schwester auffordernd an. Die geht zum Tisch und durchsucht den großen Beutel, der darauf liegt. Konzentriert schaut sie alles durch. »Ups, da ist er ja! Tut mir leid ihr beiden. Ich weiß gar nicht, wie der da reingekommen ist!« Manina sieht ziemlich ratlos aus. »Ich aber«, meint Avvanina amüsiert.

Manina zuckt kurz mit ihren Schultern und holt dann etwas Großes aus ihrem Beutel. »Was ist das denn?« Alisa zeigt verwundert auf das große Buch in den Händen ihrer Mutter. »Das ist ein Märchenbuch.« Vallerie macht große Augen. »Aber wir haben doch schon eins!« Alisa sieht zuerst ihre Mutter, dann ihre Schwester und zum Schluss ihre Tante und Cousine verwundert an. »Das stimmt, meine Kleine. Aber nicht so eins!« Manina zeigt es ihren Kindern nun ganz. Auf dem Umschlag des Buches sehen sie einen blauen Hintergrund mit goldenen Ranken und Blüten. In der Mitte befinden sich zwei Wesen. Darüber goldene Buchstaben. Aber diese Buchstaben sind den Kindern völlig unbekannt. »Was ist das für ein Märchenbuch? Ich kann nicht lesen, was da geschrieben steht!« Entrüstet sieht Vallerie ihre Mutter an. »Das ist ein Märchenbuch aus der Menschenwelt.« Manina schlägt liebevoll die ersten Seiten auf. »Du warst in der Menschenwelt, Manina?«, fragt Avvanina erschrocken. »Ja, warum nicht?« Der fragende Blick trifft auf die besorgten Augen ihrer Schwester. »Das ist gefährlich!«, sagt die schließlich. »Menschenwelt?« Idalias quietschende Stimme unterbricht die eingetretene Stille. »Liebe Schwester, das ist nicht gefährlich. Das ist aufregend. Aber das kannst du ja nicht verstehen. Mach den Kindern nicht unnötig Angst. Ich habe außerdem noch andere großartige Sachen mitgebracht« und sie holt ein gefülltes Glas aus dem Beutel. »Das hier ist Marmelade!«

»Ohhhhhh.«

»Was macht man damit?«, fragt Alisa neugierig. Sie schaut mit großen begeisterten Kulleraugen das Gefäß in den Händen ihrer Mutter an. »Du kannst es essen.« Manina reicht Alisa das Glas. Die beißt hinein und jault vor Schmerzen auf. »Du Dummerchen, nicht das Glas. Das kannst du nicht essen, sondern den Inhalt. Dazu musst du den Deckel aufdrehen« und Manina macht mit ihrer Hand eine Drehbewegung. Alisa versucht eifrig die Anweisung ihrer Mutter umzusetzen. Währenddessen schauen sich Vallerie und Idalia neugierig das Märchenbuch an.

»Du kannst nicht einfach so in die Menschenwelt, Manina. Wenn dir dort etwas passiert. Ich muss das vorher wissen.« Avvanina schaut ihre Schwester streng an. »Ja, damit du es den Weisen verrätst…!«, kontert Manina. »Das ist gemein, dass du so denkst.« Avvanina schaut beleidigt weg. Manina tut es sofort leid, so etwas nur von ihrer Schwester gedacht zu haben. »Tut mir leid, Avvanina. Du verstehst aber nicht, wie spannend und aufregend ich die Menschenwelt finde. Dort gibt es so viel Interessantes und Fremdartiges zu erforschen.« Avvanina lässt aber nicht locker: »Und was ist, wenn du zur Blume wirst?« Maninas Gesichtszüge bekommen einen entspannten Ausdruck. »Ich habe ein altes Rezept gefunden, da kann ich länger dortbleiben als nur ein paar Minuten. Ich werde es noch verfeinern und dann kann ich auch mal länger als nur einen Tag dort verweilen.« Maninas Augen bekommen schon wieder den gewissen Ausdruck, den Avvanina schon kennt, wenn ihre Schwester etwas wirklich Aufregendes plant.

Was die beiden nicht mitbekommen ist, dass Alisa ihnen ganz genau zuhört. »Wie ist es in der Menschenwelt?«, fragt die so ganz nebenbei. »Es ist ein anderer Ort, so wie wir ihn nicht kennen.« Maninas Augen bekommen einen besonderen Glanz, den ihre Kinder selten bei ihr sehen. »Was für ein Rezept? Was für einen Trank?«, nuschelt Alisa jetzt mit dem Mund voller Marmelade. Sie hat das Glas endlich aufbekommen und schöpft mit den Fingern der linken Hand Marmelade aus dem Glas in ihren Mund hinein. Sie sieht ihre Mutter und ihre Tante abwechselnd mit wissbegierigen Augen an. Etwas Marmelade tropft ihr vom Kinn aufs Kleid. Ihre Mutter schaut sie kopfschüttelnd an.

»Nun ja, das ist so…«

»Das muss Alisa jetzt nicht wissen, Manina. Viel wichtiger ist, warum hast du das Buch mitgebracht? Und die anderen Sachen. Was bezweckst du damit?« Avvanina schaut sich missbilligend um. » wissen, dass es noch eine andere Welt außer Moonheaven gibt. Und dass sie so unterschiedlich sind. Nur so verstehen sie, wie wichtig es ist, diese hier zu schützen. Außerdem lehrt es meine Kinder zu akzeptieren, dass es Dinge und Wesen gibt, die anders sind und auch diese nicht zu verurteilen.« Manina sieht ihre Schwester scharf an. »Aber dann sag ihnen auch, was passiert, wenn sie ohne Trank dorthin gehen. Und wie hast du den Durchgang gefunden?« Avvanina gibt auf. Aber sie merkt auch, dass sie bei diesem Thema bei ihrer Schwester auf Granit beißt. »Durchgang?«, meldet Vallerie sich nun. Gleichzeitig fragt Alisa ihre Mutter was denn passiert, wenn sie ohne Trank in die Menschenwelt geht. »Alles zu seiner Zeit! Ich erzähle es euch später. Zuerst muss ich einiges mit eurer Tante besprechen« und sie schickt alle drei Kinder auf die Wiese.

…Schnell verändert sich die Szene und formt sich neu…

Manina sitzt mit Vallerie und Alisa am Tisch und sie frühstücken. Sie sind schon fast fertig, da läutet die Türglocke. Alisa geht schnell hin und öffnet diese. Idalia steht freudestrahlend davor. »Mama hat es mir erlaubt! Ist das nicht toll!« und sie strahlt Alisa an. »Komm schnell rein, dann können wir anfangen. Wir wollen gerade beginnen.« In der Zwischenzeit haben die anderen beiden den Tisch abgeräumt. Manina holt das große blaue Märchenbuch hervor und legt es auf den Tisch. Sie nimmt einen weißen Zettel und einen Stift. »Schön, dass deine Mutter dir erlaubt Menschenschrift lesen zu lernen. Hat ihr bestimmt viel Überwindung gekostet.« Manina sieht ihre Nichte schmunzelnd an. »Nein, sie meint, ich nerve sie sowieso so lange bis ich es darf, also kann ich auch gleich mitmachen.« Alisa lächelt wissend, denn sie kennt ihre Cousine nur zu gut. Wenn die sich mal was in den Kopf gesetzt hat, dann will sie es auch unter allen Umständen und gibt erst auf, wenn sie ihren Willen bekommen hat.

»Warum ist die Menschenschrift anders als unsere, Mama?«, fragt Vallerie. »Weil es eine andere Welt ist, mit anderen Gesetzen, anderen Wesen, anderen Dingen und Schriftzeichen.« Manina schaut die Kinder jetzt genauso an, wie eine Lehrerin ihre Schüler anblickt. »Woher kannst du die?« Alisa beobachtet ihre Mutter genau. »Weil ich es genauso gelernt habe, wie ihr jetzt.« Alisa lässt nicht locker: »Von wem hast du es gelernt?« Vallerie schubst sie an. »Ist schon gut, Vallerie. Alisa ist halt sehr neugierig. Von meinem Vater.« Maninas Augen bekommen einen wehmütigen Ausdruck. »Siehst du, jetzt ist sie traurig. Wir sollen doch nicht über Opa reden«, wirft Vallerie ihrer Schwester vor. »Ist schon gut, Vallerie. So, wo beginnen wir am besten?« Manina schlägt das Buch auf. Sie erklärt den drei Kindern jeden einzelnen Buchstaben und malt diese auf das Blatt. Sie zeigt ihnen im Anschluss, wie sie die Buchstaben zusam- menziehen müssen und wie diese ausgesprochen werden. Für die Münder der Kinder klingen diese Worte so fremdartig und geheimnisvoll. Den ganzen Vormittag lernen sie Buchstaben und Wörter, bis ihnen der Kopf schwirrt.

Nach ein paar Stunden merkt Manina, dass sich die Drei nicht mehr konzentrieren können und schlägt vor, eine Geschichte daraus nachzuerzählen, denn vorlesen kann sie die noch nicht. Erst, wenn die Drei alle Wörter kennen. Manina entscheidet sich für den Froschkönig. Die Drei hängen ihr gespannt an den Lippen und saugen jedes Wort auf. Begeistert klatschen sie in die Hände, als aus dem Frosch ein Prinz wird. »Was ist ein Prinz?«, fragt Idalia verträumt. »Das ist so was wie Thore. Ein Weiser, nur in der Menschenwelt«, gibt Manina zur Erklärung und schaut alle nacheinander an. »Und warum war der ein Frosch?« Idalia sieht ihre Tante stirnrunzelnd an. »Idalia, hast du nicht aufgepasst! Das hat Mama doch erzählt!« Idalia ist beleidigt. Manina erklärt ihr, dass es Geschichten sind, die sich zwei Brüder ausgedacht haben. So wie Alisas Geschichten, die sie sich manchmal ausdenkt. Idalias Gesicht hellt sich auf: »Das ist gar keine Wirklichkeit!«

»Sie hat es verstanden!«, stellt Vallerie fest. »Ich muss eben immer erst alles verstehen. Ich glaube nicht alles, was man mir sagt.« Sie streckt ihrer Cousine die Zunge raus. Vallerie dreht sich ihrer Schwester zu. »Was ist denn mit dir los?« Alisa schaut traurig vor sich hin. »Ich will später auch einen Frosch küssen und ein schöner Prinz kommt dann hervor!« Sie wickelt verträumt eine Locke um ihren Finger. Vallerie und Idalia lachen laut auf. »Igitt, der Frosch ist bestimmt glitschig und Alisa will so etwas küssen. Iiiiiiiiiiiihhhhh…« Idalia schüttelt sich angewidert. Alisa macht eine abwehrende Handbewegung. »Ihr beide habt keine Ahnung!«, mault sie. »Der treue Diener wäre mir lieber«, gibt Vallerie zu. Ihre Mutter Manina bekommt große Augen. »Kinder, das ist ein Thema, wo ihr, glaube ich, noch zu jung seid. Los raus mit euch« und sie scheucht sie nach draußen in den Garten.

…Das Haus verschwimmt und das Zimmer unter dem Dach des Wohnpilzes kommt langsam zum Vorschein…

Draußen ist es schon dunkel. Die Sonne ist bereits untergegangen. Die Nachttierchen fangen an zu leuchten und die Flüsse und Felder schimmern in der sternklaren beginnenden Nacht. Überall öffnen die Nachtblumen ihre Köpfe. Leuchtende Farbenteppiche entstehen. Die Nachtwesen machen sich bereit für ihre Arbeit. Dieser Zauber bleibt von Alisa unbemerkt. Sie sitzt in ihrem Himmelbett hoch oben unter dem Pilzdach. Auf ihrem Nachtisch, neben ihrem Bett, steht ein Nachtlicht. Das kleine Wesen gibt sich viel Mühe, genügen Licht zu erzeugen. Alisa fordert es dauernd auf, immer mehr abzugeben.

Manina und Vallerie schlafen schon tief und fest. Alisa blättert gerade eine Seite um. Mühevoll entziffert sie die seltsame Schrift unter dem Bild. Die ist anders als die Schriften, die sie von den Büchern aus ihrer Schule her kennt. Sie bekommt dort nicht nur das Neu-Elfisch gelehrt, sondern auch die uralte Schrift, die nur noch wenige lesen können. Idalia lernt diese auch. Vallerie interessiert sich nicht dafür. Sie besucht einen anderen Kurs, Kommunikation zwischen Wesen und Gewächsen. Da zeigt ihre Schwester große Talente.

Leise wiederholt sie die Wörter immer wieder und kontrolliert, ob sie die auch richtig ausspricht. Jeden Abend übt sie heimlich. Sie findet die Sprache und die Bedeutung der Geschichten im Buch faszinierend. Sie weiß nicht warum, aber sie ist sich sehr sicher, dass es für sie wichtig ist, die Sprache zu kennen. Sie fühlt dann immer etwas Vertrautes. Wie ein Teil ihrer selbst. Vallerie und Idalia verstehen das nicht. Sie hat aufgehört ihnen damit auf die Nerven zu gehen und liest lieber abends bis in die Nacht hinein allein. Mit jedem Wort, welches sie richtig ausspricht und versteht wird ihr diese Menschenwelt ihr immer vertrauter. Oft träumt sie, wie es wohl sein würde, wenn sie diese Menschenwelt besuchen könnte. Sie muss unbedingt ihre Mutter nach dem Trank fragen. Und vor allem nach den Gefahren, die ihr dort drohen. Aber jetzt schaut sie sich lieber die schönen Bilder an. Diese sind fein gemalt. Sie liebt die Dar- stellungen der Prinzessinnen und Prinzen, Blumen und Bäume, Flüsse und Bäche.

»Oh wow, der sieht ja aus wie unser Herd in der Küche unten«, flüstert sie und liest die fettgedruckten Buchstaben über dem Bild: »A-S-C-H-E-N-P-U-T-T-E-L.« Sie wiederholt dieses Wort mehrmals leise und genießt den Klang. Dann blättert sie einige Seiten weiter und schaut auf ein Mädchen mit langen goldenen Haaren, die ihren sehr ähneln. »Unfassbar, ich bin in der Menschenwelt berühmt«, schießt es ihr durch den Kopf. »Wer ist das da? Ich vielleicht? Handelt es über mich?« R-A-P-U-N-Z-E-L steht dort in fettgedruck- ten Buchstaben. »Oh, wie schade.« Sie liest den Text dazu. »Oh ha, wie die leben muss. Die Arme! Der Mutter hätte ich aber was erzählt. Ich hätte mir das nicht gefallen lassen.«

Vallerie schnarcht kurz auf und dreht sich zur Seite. Alisa streckt sich und gähnt ausgiebig. Ihr schmerzt bereits der Rücken, aber nur noch ein paar Seiten, sagt sie zu sich selbst. Sie blättert erneut weiter bis zu dem Bild mit dem Turm. Dort sieht sie einen hübschen Prinzen. Der kniet vor einem Bett. Drei kleine Feen schweben an seiner Seite. Ein wunderschönes Mädchen mit blonden Haaren, sanft geformten Lippen und einer roten Blume in den Händen liegt im Bett davor. D-O-R-N-R-Ö-S-C-H-E-N steht dort. Wie wunderschön die roten Blumen sind. Alisa zeichnet mit ihrem Finger die Form nach. Ihre Mutter hat ihr erklärt, dass es Rosen sind. Alisa hat sich sofort in diese Blume verliebt.

Sie liest jetzt den dazu gehörigen Text. »Das ist traurig«, sagt sie leise und eine Träne kullert ihr die Wange runter. »Das ist ja wie bei uns, da trauern auch alle, wenn jemand stirbt.« Auf einmal wird ihr bewusst, dass ihre und die Menschenwelt doch nicht so verschieden sind. Hastig blättert sie zu dem Bild, was sich am Ende dieser Geschichte befindet. Lange Zeit starrt sie es an. Es zeigt das wunderschöne Mädchen mit den Prinzen Hand in Hand und ihre beiden Lippen liegen aufeinander und sie küssen sich. »Oh, wie schön wäre es, wenn mir auch mal so etwas passieren würde. Nur mit dem Frosch aus der anderen Geschichte«, murmelt sie noch leise und legt das Buch auf ihren Nachtschrank. Außer das Schicksal mit Rapunzel, das muss ich nicht gerade haben! Für mehrere Jahre in einen Turm eingeschlossen sein. Undenkbar geht es ihr beim Ausmachen des Lichtes durch den Kopf. Und kaum hat sie sich umgedreht, schläft sie auch schon ein und träumt von ihrem Prinzen.

…Das Zimmer wird dunkel und Alisa verschwindet…

Ein Küchentisch. Eine putzmuntere Vallerie schnattert fröhlich vor sich hin. Alisa hat den Kopf auf beide Arme gestützt und die Augen zu. »Alisa, wie lange hast du gestern noch gelesen?« Ihre Mutter sieht sie prüfend an. »Nicht lange«, kommt verschlafen zurück. »Ja, das sehe ich!«, sagt Manina lachend, während sie eine rot schimmernde Flüssigkeit in einen Becher gießt. Langsam versucht Alisa ihre Augen zu öffnen. Ihr ist eingefallen, dass sie ihre Mutter etwas fragen will: »…der Trank, der es erlaubt, dass man für mehrere Stunden in der Menschenwelt verweilen kann, muss man den frisch brauen oder gibt es da einen Vorrat?« Manina zieht eine Augenbraue hoch. »Warum fragst du?«

»Nur so. Ich interessiere mich halt dafür.«

Diese Antwort lässt in Manina alle Alarmglocken schrillen. »Mit deinen vierzehn Jahren bist du noch zu jung dafür. Wenn du volljährig bist, verrate ich dir das Geheimnis. Jetzt bist du noch nicht reif dafür. Und lass dir gesagt sein, wenn du ohne Trank in die Menschenwelt gehst, dann wirst du eine Blume!« Manina denkt, dass das als Warnung für ihre Tochter ausreicht und sie endlich still ist. »Können Menschen zu uns kommen?«, fragt Alisa statt dessen unbeirrt weiter. Sie hat die Warnung ihrer Mutter deutlich gehört, aber beschlossen, die jetzt erst einmal zu ignorieren. »Nein, auf keinen Fall. Sie werden dann sofort zu Blumen.« Manina schaut ihre Tochter genervt an. »Also können nur wir hin mittels eines Tranks?« Jetzt reicht es ihrer Mutter: »Ja genau, junge Dame und jetzt ist Schluss damit.«

»Wann gehst du das nächste Mal hin?«

Manina sieht ihre Tochter streng an. »Was denn? Ich wollte dich nur fragen, ob du wieder Marmelade mitbringen kannst.« Alisa setzt eine Unschuldsmiene auf. »Oh ja und ich möchte Pflaumenmus und Törtchen haben«, stimmt Vallerie fröhlich ein, die bisher ruhig zugehört hat. Sie kann die Versessenheit ihrer Schwester bezüglich der Menschenwelt nicht verstehen, bis auf den Pflaumenmus oder die kleinen Törtchen, die ihre Mutter das letzte Mal mitgebracht hat, findet sie nichts Besonderes an der Menschenwelt. Sie schaut an sich herunter und entdeckt ihr kleines Bäuchlein. »Ich nehme doch nur die Törtchen.« Manina zwinkert ihrer großen Tochter zu. »In Ordnung, die Bestellung habe ich aufgenommen. Einmal Marmelade und einmal Törtchen. Noch etwas?« und sie schaut ihre beiden Kinder an. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.« Alisa sieht ihre Mutter auffordernd an. »Ich wollte heute gehen.« Alisa lässt nicht locker. Sie spürt, dass das jetzt hier eine gute Chance ist: »Wo ist der Durchgang? Wie kann ich es mir vorstellen?« Manina seufzt. Sie weiß, dass ihre Tochter nicht aufhören wird zu fragen. »Wo der Durchgang ist, erfährst du vielleicht, wenn du volljährig bist. Vor- ausgesetzt du nervst mich nicht weiter. Und ihr müsst es euch so vorstellen, als wenn man aus einem Zimmer rausgeht und in ein Neues rein. Mehr ist es nicht. Und jetzt ist Schluss. Ich will los.« Alisa merkt, dass sie heute bei ihr leider nicht weiterkommt. Sie nimmt sich vor, ihr zu folgen, um zu sehen, wohin sie geht.

Als ihre Mutter aufbricht, schleicht sie sich hinter ihr her. Immer aufpassend, von ihr nicht gesehen zu werden. Als Alibi hat sie sich das Märchenbuch der Menschenwelt unter die Arme geklemmt. Falls ihre Mutter sie sieht, kann sie so tun, als wenn sie sich gerade einen schönen Platz zum Lesen sucht. In dem Moment, wo ihre Mutter den Kräutergarten verlässt und den Pfad zum Wald nimmt, kommt Idalia um die Ecke und ruft freudestrahlend ihren Namen und stürmt auf sie zu. »Wo willst du hin?«, fragt sie nach der heftigen Umarmung. Meiner Mutter folgen und sehen, wohin sie geht, will Alisa am liebsten antworten. Sie weiß nicht warum, aber sie entscheidet sich für eine Ausrede. »Auf die Wiese und im Märchenbuch lesen« und nickt dabei in Richtung Buch, dass unter ihrem Arm klemmt. »Da komme ich mit. Kommt Vallerie auch mit?« Alisa zuckt mit den Schultern. »Musst du sie selbst fragen. Sie ist drin.« Idalia geht in die Küche und kommt wenig später mit Vallerie wieder heraus. So bleibt Alisa nichts weiter übrig, als mit den beiden tatsächlich auf die Wiese zu gehen. Das mit dem Verfolgen muss sie auf ein anderes Mal verschieben.

Die Drei setzen sich unter einen großen Baum. In der Mitte sitzt Alisa mit dem Buch auf dem Schoss und zeigt die schönen Bilder. Die zwei neben ihr sind zu ihrer großen Überraschung auch begeistert und wollen, dass sie daraus vorliest. Da Vallerie in der Menschensprache noch nicht so vertraut ist, wie Idalia und sie, übersetzt Alisa das Märchen. Wie in Trance hören die beiden ihr zu. »Schau mal Alisa, das bist ja du«, ruft Idalia, als sie das Bild in der Geschichte Rapunzel sieht.

Unbemerkt hat sich Lora, ein dürres, schwarzhaariges, bleiches Mädchen, welches so alt ist wie Alisa, zu ihnen gesellt. Sie trägt immer schwarze Kleidung und ist bei allen nicht sonderlich beliebt. Sie hat rote eng zusammenstehende Augen und lebt mit ihrem Vater allein am Rande des Waldes. Sie trägt immer einen blauen geheim- nisvollen Saphir am Hals. »Ich finde nicht, dass du aussiehst wie die. Die hat eine kleine Stupsnase, die du nicht hast. Deine ist weit davon entfernt. Und die Haare sind auch viel schöner als deine.« Alle drehen sich erschrocken zu ihr um. Keiner hat ihr Kommen bemerkt. Alisa schaut Lora wütend an. Vallerie bemerkt dies und sagt schnell: »Lora, du kannst gern hierbleiben. Aber lass so etwas wie das gerade sein. Das war unnötig von dir, in Ordnung?« Lora nickt, aber ihre Lippen kräuseln sich zu einem kleinen bösen Lächeln. »Was sind das für Schriftzeichen?«, will sie jetzt wissen und zeigt auf die Buchstaben. »Die kenne ich gar nicht.«, ergänzt sie noch erstaunt. »Du musst ja auch nicht alles wissen! Sei einfach still und höre zu«, meint Idalia angesäuert zu Lora. Sie will, dass Alisa endlich weiterliest. »Ich wollte doch nur wissen, was das ist, was Alisa euch da vorliest.« Lora setzt ein Schmollgesicht auf.»Das sind Märchen. Märchen sind ausgedachte Geschichten mit einer Lehre darin. Die sollen uns zeigen, was wir machen sollen und was nicht«, imitiert Idalia, zum Erstaunen der anderen, perfekt ihre Tante Manina. »Oh ha, ist das aus der Menschenwelt?« Lora schaut alle listig an. »Nö, aus der Bibliothek meiner Mutter«, lügt Idalia blitzschnell. Alisa wundert sich, wie flott das bei der rauskommt. Sie hat sie noch nie so schnell lügen hören. »Soll Alisa nun weiterlesen oder nicht?«, fragt Vallerie Lora. Die nickt nur und so fängt Alisa eine neue Geschichte an. »Woher wisst ihr, dass das, was Alisa vorliest, auch dasteht? Sie kann ja sonst was sagen!« unterbricht Lora erneut. Alle blicken sie böse an.

»Alisa hat gelernt das zu lesen. Dazu muss man Talent haben, weißt du, Lora« Idalia macht ihr hochmütigstes Gesicht »und nicht jeder hat Talent. Manche sind absolut talentfrei«, beendet die ihren Satz und fixiert Lora. Deren Augen beginnen tiefrot zu funkeln, sagt aber nichts mehr. Langsam setzt sie sich zu den anderen hin. Alisa schaut in die Runde. Alle blicken sie jetzt an. Auch Lora zeigt keine Anzeichen, noch eine Frage zu stellen und so liest sie im neuen Märchen von Hänsel und Gretel weiter.

Als sie zum Bild mit der bösen Hexe kommen, sagt Idalia scherzhaft zu Lora: »Schau mal Lora, du bist auch in dem Märchenbuch verewigt. Die Hexe sieht genauso aus wie du, sogar die Nase und die Ohren stimmen. Nur das schwarze Kleid